Über das Buch

Florida, Anfang der sechziger Jahre. Der sechzehnjährige Elwood lebt mit seiner Großmutter im schwarzen Ghetto von Tallahassee und ist ein Bewunderer Martin Luther Kings. Als er einen Platz am College bekommt, scheint sein Traum von gesellschaftlicher Veränderung in Erfüllung zu gehen. Doch durch einen Zufall gerät er in ein gestohlenes Auto und wird ohne gerechtes Verfahren in die Besserungsanstalt Nickel Academy gesperrt. Dort werden die Jungen missbraucht, gepeinigt und ausgenutzt. Erneut bringt Whitehead den tief verwurzelten Rassismus und das nicht enden wollende Trauma der amerikanischen Geschichte zutage. Sein neuer Roman, der auf einer wahren Geschichte beruht, ist ein Schrei gegen die Ungerechtigkeit.

Colson Whitehead

Die Nickel Boys

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Carl Hanser Verlag

Für Richard Nash

Prolog

Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger.

Der geheime Friedhof lag am Nordrand des Nickel-Geländes auf einem verwilderten Hektar Land, zwischen der ehemaligen Werkscheune und der Müllkippe der Anstalt. Als man dort noch Kühe hielt und die Milch an lokale Kunden verkaufte — eine Maßnahme des Staates Florida, um den Steuerzahlern die Kosten für die Jungs zu ersparen —, war diese Brache eine Viehweide gewesen. Die Entwickler des Büroviertels hatten das Feld als Lunch-Plaza vorgesehen, mit vier Wasserspielen und einem Musikpavillon für gelegentliche Konzerte. Die Entdeckung der Toten war eine teure Komplikation, sowohl für das Immobilienunternehmen, das auf grünes Licht durch das ökologische Gutachten wartete, als auch für den Staatsanwalt, der die Ermittlungen wegen der Missbrauchsvorwürfe kürzlich eingestellt hatte. Nun musste er schon wieder ermitteln, die Identität der Toten und die Todesursachen klären, und niemand wusste, wann man diesen ganzen verfluchten Ort endlich räumen, plattmachen und komplett aus der Geschichte tilgen konnte, was, darin waren sich alle einig, längst überfällig war.

Jeder Junge kannte diesen schlimmen Ort, aber es musste erst eine Studentin der University of Tampa kommen, um den Rest der Welt darauf hinzuweisen, Jahrzehnte nachdem man den ersten Jungen in einen Kartoffelsack verschnürt und in eine Grube versenkt hatte. Auf die Frage, wie sie die Gräber entdeckt habe, antwortete Jody: »Die Erde sah komisch aus.« Der eingesunkene Boden, das struppige Unkraut. Jody und alle anderen Archäologiestudenten der Uni waren seit Monaten damit beschäftigt, den offiziellen Anstaltsfriedhof auszugraben. Der Staat konnte erst nach der Umbettung aller sterblichen Überreste über das Grundstück verfügen, und die Archäologiestudenten mussten Praxis-Punkte sammeln. Sie teilten das Gelände mit Pflöcken und Draht in Suchfelder auf, gruben mit Handschaufeln und schwerem Gerät. Nach dem Durchsieben der Erde lag ein Durcheinander von Knochen, Gürtelschnallen und Limonadenflaschen auf ihren Tabletts, eine rätselhafte Ausstellung.

Die Nickel-Jungs nannten den offiziellen Friedhof Boot Hill, ein Name, aufgeschnappt in Samstagsmatineen, bevor man sie in die Anstalt steckte und solcher Freizeitvergnügen beraubte. Der Name blieb hängen, er war noch Generationen später in Gebrauch, unter jüngeren Schülern aus Tampa, die noch nie einen Western gesehen hatten. Boot Hill lag im Norden des Anstaltsgeländes gleich jenseits des hohen Hügels. Die weißen Zementkreuze, mit denen die Gräber markiert waren, fingen an lichten Nachmittagen den Sonnenschein ein. Zwei Drittel der Kreuze trugen eingeritzte Namen, alle anderen waren anonym. Die Identifizierung erwies sich als schwierig, aber der Konkurrenzkampf unter den jungen Archäologen sorgte für stete Fortschritte. Die Akten der Besserungsanstalt, obwohl lückenhaft und schlampig geführt, erlaubten Rückschlüsse auf die Identität von WILLIE 1954. Verkohlte Überreste deuteten auf Opfer des Wohnheimbrandes im Jahr 1921 hin. Positive DNA-Vergleiche mit lebenden Angehörigen — jenen, die die Studenten aus Tampa aufspüren konnten — verknüpften die Toten wieder mit der Welt der Lebenden, die sich auch ohne sie weitergedreht hatte. Von dreiundvierzig Toten blieben sieben namenlos.

Die Studenten türmten die weißen Zementkreuze neben der Ausgrabungsstätte auf. Als sie eines Morgens wieder an die Arbeit gehen wollten, hatte man die Kreuze zu Bruch und Staub geschlagen.

Boot Hill ließ seine Jungen nacheinander aus den Fängen. Jody war aufgeregt, als sie beim Abspritzen diverser Objekte aus einem der Gräber erste Funde machte. Professor Carmine meinte, der kleine, schmale Knochen in ihrer Hand stamme gewiss von einem Waschbären oder irgendeinem anderen Kleintier. Der geheime Friedhof entschädigte sie dafür. Jody stieß darauf, als sie auf der Suche nach einem Handysignal über das Gelände irrte. Ihr Professor ermunterte sie, ihrem Instinkt zu folgen, denn auf dem Boot-Hill-Friedhof hatte es Ungereimtheiten gegeben; all die Knochenbrüche und eingeschlagenen Schädel, die Brustkörbe voller Schrotkugeln. Und wenn die Überreste auf dem offiziellen Friedhof schon zum Himmel stanken, was mochte dann mit jenen sein, die an dieser anonymen Stätte ruhten? Zwei Tage später schufen Leichenspürhunde und Radarbilder Gewissheit. Weder weiße Kreuze noch Namen. Nur Gebeine, die darauf warteten, entdeckt zu werden.

»Und das war angeblich eine Besserungsanstalt«, meinte Professor Carmine. Auf einem Hektar kann man vieles verbergen, unter der Erde.

Einer der Nickel-Jungs, vielleicht auch ein Angehöriger, gab den Medien einen Tipp. Nach den vielen Interviews hatten die Studenten einen Draht zu einigen ehemaligen Nickel-Jungs bekommen, Männer, die sie an mürrische Onkel und Käuze aus ihren alten Vierteln erinnerten und die nach einer Weile etwas auftauten. Trotzdem behielten sie ihren harten Kern. Die Archäologiestudenten erzählten den Jungs von dem zweiten Friedhof, informierten Angehörige über die Toten, die sie bereits exhumiert hatten, und dann schickte ein Lokalsender aus Tallahassee einen Reporter. Einige Jungs hatten schon vor Jahren auf den geheimen Friedhof aufmerksam gemacht, aber wie üblich, glaubte man ihnen erst, als andere darüber berichteten.

Die überregionale Presse griff die Story auf, und die Öffentlichkeit erhielt zum ersten Mal ein wahres Bild von der Besserungsanstalt. Das Nickel war seit drei Jahren dicht, was das verwahrloste Anwesen und den typischen Teenager-Vandalismus erklärte. Selbst die harmloseste Szene — in einem Speisesaal oder auf dem Footballfeld — wirkte auf den Bildern gruselig, man musste gar nicht tricksen. Die Aufnahmen waren verstörend. An den Rändern zitterten Schatten, und alle Flecke und Male sahen aus wie geronnenes Blut. Als würde jedes mit der Videokamera gefilmte Bild seine dunkle Wesensseite enthüllen, wenn es wieder zum Vorschein kam, das Nickel, das man hineingehen sah, und das Nickel, das man nicht herauskommen sah.

Und wenn es bei den harmlosen Orten so war, wie mochten dann die schrecklichen aussehen?

Nickel-Jungs waren billiger als Amüsierdamen, und boten mehr für’s Geld, hieß es. In den letzten Jahren organisierten sich Ehemalige in Selbsthilfegruppen, fanden über das Internet zusammen, trafen sich im Diner oder bei McDonald’s. Versammelten sich nach einer Stunde Fahrt um irgendeinen Küchentisch. Sie führten ihre Phantom-Archäologie gemeinsam durch, gruben sich durch die Dekaden und restaurierten die Scherben und Artefakte von damals. Jedermann steuerte seine eigenen Bruchstücke bei. Er sagte immer: Ich komme später bei dir vorbei. Die wackelige Kellertreppe im Schulgebäude. In meinen Tennisschuhen schmatzte das Blut zwischen den Zehen. Sie setzten die Fragmente zusammen, und was entstand, war die Bestätigung eines geteilten Grauens: Wenn es bei dir so war, dann war es auch bei anderen so, dann bist du damit nicht mehr allein.

Big John Hardy aus Omaha, Teppichhändler im Ruhestand, pflegte eine Website mit aktuellen Informationen für die Nickel-Jungs. Er hielt die anderen über die Petition für eine neue Untersuchung auf dem Laufenden und informierte sie darüber, wie es mit der offiziellen Entschuldigung der Regierung voranging. Ein blinkendes Widget zeigte die Fortschritte des Fundraising für das geplante Denkmal an. Man schickte Big John eine E-Mail mit seiner Nickel-Geschichte, und er postete sie mit einem Porträtfoto. Und wenn man der eigenen Familie einen Link schickte, war das eine Möglichkeit zu sagen: Dort wurde ich zu dem, der ich bin. Eine Erklärung und eine Entschuldigung.

Die jährliche Zusammenkunft, nun im fünften Jahr, war ebenso belastend wie notwendig. Die Jungs waren jetzt alte Männer mit Frauen und Ex-Frauen und Kindern, mit denen sie redeten oder auch nicht, mit skeptischen Enkeln, die sie manchmal mitnahmen, und mit Enkeln, von denen man sie fernhielt. Sie hatten es entweder geschafft, sich nach dem Nickel ein Leben zusammenzuschustern, oder sie waren mit Menschen, die eine normale Vergangenheit hatten, nie klargekommen. Die letzten Raucher von Zigarettenmarken, die keiner mehr kennt, zu spät dran für das Selbsthilfe-Regiment, immer kurz davor, sich in Luft aufzulösen. Im Knast gestorben oder in wöchentlich gemieteten Zimmern vermodernd, im Wald erfroren, nachdem sie Terpentin gesoffen hatten. Die Männer versammelten sich im Konferenzraum des Eleanor Garden Inn, um anschließend in Kolonne zur bedrückenden Führung durch das Nickel zu fahren. In manchen Jahren hielt man sich für stark genug, um dem Zementweg in dem Wissen zu folgen, dass er zu einem der persönlichen Angst-Orte führte, in anderen Jahren nicht. Man mied ein Gebäude oder stellte sich ihm, je nachdem, wie groß die Kraftreserven an dem jeweiligen Tag waren. Big John postete nach jedem Treffen einen Bericht für all jene, die nicht hatten kommen können.

In New York lebte ein Nickel-Junge namens Elwood Curtis. Er recherchierte die alte Besserungsanstalt ab und zu im Netz, um sich über neue Entwicklungen zu informieren, mied aber die Treffen und setzte seinen Namen auf keine Liste, dies aus mehreren Gründen. Wozu das Ganze? Erwachsene Männer. Reichten sie einander Kleenex-Tücher? Einer erzählte in einem Post, eines Abends vor Spencers Haus geparkt und stundenlang die Fenster observiert zu haben, die Silhouetten der Bewohner, bis er beschloss, doch keine Rache zu nehmen. Er hatte einen selbst gefertigten Lederriemen dabei, mit dem er den Oberaufseher verprügeln wollte. Elwood begriff das nicht: Wenn man so weit war, konnte man die Sache doch auch durchziehen.

Als man den geheimen Friedhof entdeckte, stand fest, dass er wieder dorthin musste. Der Anblick des Kieferngehölzes hinter dem Fernsehreporter weckte seine Erinnerung an die Hitze auf seiner Haut, das Kreischen trockener Hosenschlitze. All das war nicht weit weg. Wird es nie sein.

Teil Eins

Eins

Zu Weihnachten 1962 bekam Elwood das schönste Geschenk seines Lebens, nur stürzten ihn die Ideen, die es ihm einpflanzte, am Ende ins Verderben. Martin Luther King At Zion Hill war sein einziges Album, und es lag permanent auf dem Plattenteller. Seine Großmutter Hattie besaß ein paar Gospelplatten, die sie aber nur hörte, wenn die Welt wieder mal eine fiese Möglichkeit gefunden hatte, sie zu quälen, und Elwood durfte weder Motown-Bands noch Popsongs hören, denn beides galt als schlüpfrig. Alle anderen Geschenke waren Klamotten — ein neuer, roter Pullover und Strümpfe —, die er tatsächlich trug, bis sie zu klein waren, aber nichts wurde so ausdauernd und gewinnbringend genutzt wie die Platte. Jeder Kratzer und jede Delle, die sie im Laufe der Monate davontrug, symbolisierte seine fortschreitende Aufklärung, markierte jedes Hören, das die Worte des Reverends weiter erhellte. Das Knacken der Wahrheit.

Sie hatten keinen Fernseher, aber die Reden Dr. Kings waren eine so lebendige Chronik — sie enthielten alles, was der Neger gewesen war, und alles, was er sein würde —, dass die Platte dem Fernsehen in nichts nachstand. Vielleicht sogar besser und prächtiger war wie die große Leinwand im Davis Drive-in, wo Elwood zweimal gewesen war. Er sah alles vor sich: Afrikaner, gegeißelt durch die weiße Sünde der Sklaverei, von der Rassentrennung unterdrückte und gedemütigte Neger und die strahlende Zukunftsvision, die Zutritt zu allen Orten verhieß, die seiner Rasse verschlossen waren.

Die Reden waren an allen möglichen Orten aufgezeichnet worden, in Detroit und Charlotte und Montgomery, und sie verbanden Elwood mit dem landesweiten Kampf um Rechte. Eine Rede gab ihm sogar das Gefühl, zur Familie King zu gehören. Jedes Kind hatte von Fun Town gehört, war selbst dort gewesen oder beneidete jemanden, der dort gewesen war. Im dritten Beitrag auf der A-Seite erzählte Dr. King, wie sehr sich seine Tochter nach einem Besuch des Vergnügungsparks in der Stewart Avenue in Atlanta sehnte. Yolanda bat ihre Eltern jedes Mal darum, wenn sie das große Schild vom Expressway aus erblickte oder im Fernsehen eine Werbung sah. Dr. King musste ihr dann mit seinem tiefen, traurigen Knurren erklären, dass das System der Rassentrennung farbige Jungen und Mädchen auf die äußere Seite des Zauns verbannte. Musste das irregeleitete Denken mancher Weißer erklären — nicht aller Weißer, aber ausreichend vieler Weißer —, das diesem System Macht und Geltung verlieh. Er riet seiner Tochter, der Verlockung von Hass und Bitterkeit zu widerstehen, und versicherte ihr: »Obwohl du Fun Town nicht betreten darfst, bist du genauso viel wert wie jeder, der hineindarf.«

Das war Elwood — genauso viel wert wie jeder andere. Hundert Meilen südlich von Atlanta, in Tallahassee. Wenn er bei seinen Cousins in Georgia zu Besuch war, sah er manchmal einen Fun-Town-Werbespot. Sausefahrten und beschwingte Musik, fröhliche weiße Kinder, die vor dem Wild Mouse Roller Coaster oder vor Dick’s Minigolf Schlange standen. Bitte für den Flug zum Mond in der Atomrakete anschnallen. Mit einem Eins-a-Zeugnis sei freier Eintritt garantiert, hieß es in der Werbung, der Lehrer müsse nur den roten Stempel daraufsetzen. Elwood hatte nur Einser und hortete seinen Stapel mit Beweisen für den Tag, an dem man die Tore von Fun Town, wie von Dr. King verheißen, für alle Kinder Gottes öffnen würde. »Ich komme einen ganzen Monat umsonst rein, locker«, erklärte er seiner Großmutter im Wohnzimmer auf dem Teppich liegend und eine fadenscheinige Stelle mit dem Daumen nachziehend.

Seine Großmutter Hattie hatte den Teppich nach der letzten Renovierung des Richmond Hotel aus der Gasse hinter dem Gebäude geborgen. Der Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer, der winzige Tisch neben Elwoods Bett und drei Lampen waren ebenfalls Ausschuss des Richmond. Hattie hatte schon mit vierzehn begonnen, gemeinsam mit ihrer Mutter in der Putzkolonne des Hotels zu arbeiten. Als Elwood auf die Highschool gekommen war, hatte der Hotelmanager, Mr. Parker, erklärt, er stelle ihn jederzeit gern als Portier ein, falls er das wolle, so ein kluges Kind, und als der Junge dann einen Job bei Marconi’s Tobacco & Cigars antrat, war der weiße Mann enttäuscht. Mr. Parker war der Familie stets freundlich gesinnt, selbst dann noch, als er Elwoods Mutter wegen Diebstahls feuern musste.

Elwood mochte das Richmond, und er mochte Mr. Parker, aber die Vorstellung, die Geschäftsbücher des Hotels um eine vierte Generation seiner Familie zu bereichern, weckte ein schwer zu beschreibendes Unbehagen in ihm. Und das war noch vor den Lexika. Als er kleiner war, saß er nach der Schule in der Hotelküche in einer Kiste und las Comichefte und die Hardy Boys, während seine Großmutter oben schrubbte und aufräumte. Da beide Eltern abgehauen waren, hatte sie ihren Enkel lieber in ihrer Nähe, anstatt ihn zu Hause allein zu lassen. Wenn sie Elwood mit dem Küchenpersonal sah, glaubte sie, diese Nachmittage seien auch eine Art Schule, fand es gut, dass er männliche Gesellschaft hatte. Köche und Kellner behandelten den Jungen wie ein Maskottchen, spielten Verstecken mit ihm und bombardierten ihn mit halb garen Weisheiten zu diversen Themen: das Wesen des weißen Mannes, der Umgang mit Flittchen, die besten Geldverstecke in den eigenen vier Wänden. Elwood verstand in den meisten Fällen nicht, was die Männer da redeten, nickte aber höflich, bevor er sich wieder in seine Abenteuergeschichten vertiefte.

Wenn der Hochbetrieb abgeflaut war, forderte Elwood die Tellerwäscher manchmal zu einem Wettkampf im Geschirrabtrocknen heraus, dann mimten sie angesichts seiner Überlegenheit gutmütige Enttäuschung. Sie sahen ihn gern lächeln und genossen seine Freude über jeden Sieg. Irgendwann wechselte die Belegschaft. Die neuen Hotels im Zentrum warben Personal ab, Köche kamen und gingen, einige Kellner kehrten nicht zurück, als die Küche nach der Behebung der Flutschäden wieder öffnete. Der Personalwechsel hatte zur Folge, dass Elwoods Wettkämpfe keine nette Abwechslung mehr waren, sondern mieser Betrug; man steckte den neuen Tellerwäschern, dass der Enkel einer Putzfrau ihre Arbeit erledigte, wenn sie ihm diese als Spiel verkauften, aber immer aufgepasst. Wer war dieser ernste Junge, der rumgammelte, während sich alle anderen den Arsch aufrissen, dem Mr. Parker den Kopf tätschelte, als wäre er ein scheiß Welpe, der seine Nase ständig in ein Comicheft steckte, als hätte er keine Sorgen auf dieser Welt? Das neue Küchenpersonal hatte auch neue Lektionen für einen jungen Geist parat — einen ganzen Batzen Weltweisheiten. Elwood merkte nicht, dass die Wettkämpfe nun unter einem anderen Vorzeichen standen. Wenn er eine Herausforderung aussprach, mussten sich alle in der Küche ein Grinsen verkneifen.

Elwood war zwölf, als die Lexika auftauchten. Ein Hilfskellner schleppte mehrere Kartons in die Küche und berief ein Powwow ein. Elwood quetschte sich dazwischen — es war eine komplette Lexikon-Ausgabe, von einem Handlungsreisenden oben in einem Zimmer zurückgelassen. Über die Wertsachen, die Weiße in ihren Zimmern vergaßen, kursierten Legenden, aber dass dieser Plunder nach unten in ihre Domäne gelangte, war die Ausnahme. Barney, der Koch, öffnete den obersten Karton und hielt einen ledergebundenen Band von Fisher’s Universal-Lexikon, A-Bar in die Höhe. Er reichte ihn Elwood, den das Gewicht überraschte, ein Wackerstein aus Seiten mit rotem Schnitt. Der Junge blätterte darin, beäugte die winzigen Wörter — Ägäis, Argonaut, Archimedes — und stellte sich vor, auf dem Sofa im Wohnzimmer zu liegen und Wörter zu kopieren, die ihm gefielen. Wörter, die auf der Seite interessant aussahen oder interessant klangen, jedenfalls in der Aussprache, die er sich vorstellte.

Cory, der Hilfskellner, fragte, wer seinen Fund haben wolle — er konnte nicht lesen und hatte auch nicht vor, dies in absehbarer Zeit zu lernen. Elwood meldete Bedarf an. Wenn man bedachte, wie die Küchenangestellten gestrickt waren, war es fast undenkbar, dass es noch einen Interessenten für die Lexika gab. Aber dann forderte Pete, ein neuer Tellerwäscher, einen Wettkampf um die Bücher.

Pete war ein grobschlächtiger Texaner, der zwei Monate zuvor die Arbeit angetreten hatte. Er hatte eigentlich an den Tischen bedienen sollen, wurde aber nach einigen Zwischenfällen in die Küche versetzt. Er warf bei der Arbeit Blicke über seine Schulter, als befürchtete er, beschattet zu werden, und er war wortkarg, obwohl sein heiseres Lachen dazu führte, dass die anderen Männer in der Küche ihm Witze erzählten. Pete wischte seine Hände an der Hose ab und sagte: »Wir haben noch Zeit bis zum Dinner, falls du genug Mumm hast.«

Dieses Mal veranstaltete die Küche einen richtigen Wettkampf. Den bislang größten. Man beschaffte eine Stoppuhr und gab sie Len, einem grauhaarigen Kellner, seit über zwanzig Jahren im Hotel tätig. Er war extrem penibel, was seine schwarze Dienstuniform betraf, und behauptete, stets der am besten gekleidete Mann im Speisesaal zu sein und die weißen Gäste in den Schatten zu stellen. Mit seiner Pedanterie wäre er ein guter Schiedsrichter geworden. Man schichtete zwei Stapel mit jeweils fünfzig Tellern auf, die unter Aufsicht von Elwood und Pete zuvor gut eingeweicht worden waren. Die beiden Hilfskellner agierten in diesem Duell als Sekundanten, die auf ein Zeichen hin sofort ein trockenes Geschirrtuch reichten. Für den Fall, dass ein Chef hereinschneite, stand jemand an der Küchentür Schmiere.

Elwood neigte zwar nicht zur Angeberei, hatte in vier Jahren aber keinen Wettkampf im Geschirrabtrocknen verloren, war also zuversichtlich. Pete wirkte konzentriert. Elwood sah in dem Texaner trotzdem keine Bedrohung, weil er bei allen bisherigen Wettkämpfen jeden übertrumpft hatte. Und Pete war ja ein guter Verlierer.

Len zählte von zehn an rückwärts, und sie legten los. Elwood benutzte die Methode, die er im Laufe der Jahre perfektioniert hatte, mechanisch und sanft. Er hatte nie einen nassen Teller fallen lassen oder angeknackst, indem er ihn zu hastig auf den Tresen gestellt hätte. Das Küchenpersonal feuerte sie an, aber Petes wachsender Stapel abgetrockneter Teller irritierte Elwood. Der Texaner war ehrgeizig und hatte ungeahnte Energie. Im Publikum wurde Erstaunen laut. Elwood wienerte wie wild, angetrieben durch das Bild der im Wohnzimmer stehenden Lexika.

Len sagte: »Stopp!«

Elwood siegte mit einem Teller Vorsprung. Die Männer johlten und lachten und tauschten Blicke, deren Bedeutung Elwood erst später erfasste.

Harold, einer der Hilfskellner, gab Elwood einen Klaps auf den Rücken. »Du bist der geborene Tellerwäscher, Superhirn.« Die ganze Küche lachte.

Elwood tat den Band A-Bar wieder in den Karton. Das war eine tolle Belohnung.

»Hast du dir verdient«, meinte Pete. »Ich hoffe, du hast viel Gewinn davon.«

Elwood bat die leitende Hausdame, seiner Großmutter auszurichten, er erwarte sie zu Hause. Er fieberte dem Gesicht entgegen, das sie beim Anblick der eleganten, edlen Lexika in den Bücherregalen ziehen würde. Er schleppte die Kartons zur Bushaltestelle in der Tennessee. Wer ihn von der anderen Straßenseite aus sah — ein ernsthafter junger Kerl, beladen mit der Fracht allen Wissens dieser Welt —, musste das Gefühl haben, Zeuge einer von Norman Rockwell illustrierten Szene zu sein, wäre Elwood nur weiß gewesen.

Zu Hause räumte er im Wohnzimmer die Hardy-Boys- und Tom-Swift-Bände aus dem grünen Bücherregal und packte den ersten Karton aus. Bei Ga hielt er inne, weil er wissen wollte, wie die klugen Köpfe bei Fisher den Begriff Galaxie erklärten. Die Seiten waren nicht bedruckt — keine einzige. Jeder Band in der ersten Kiste bestand nur aus weißen Seiten, außer jenem, den er in der Küche in der Hand gehabt hatte. Als er die anderen beiden Kartons öffnete, begann sein Gesicht zu glühen. Alle Bücher hatten leere Seiten.

Als seine Großmutter heimkehrte, meinte sie kopfschüttelnd, vielleicht seien es Mängelexemplare oder Dummys, mit denen der Vertreter den Kunden vorführe, wie ein kompletter Satz Lexika in der guten Stube wirke. Als Elwood abends im Bett lag, tickten und surrten seine Gedanken wie ein Uhrwerk. Wie ihm schließlich dämmerte, mussten sowohl der Hilfskellner als auch alle Küchenangestellten gewusst haben, dass die Seiten leer waren. Sie hatten ihn verarscht.

Er ließ die Lexika trotzdem im Regal stehen. Sie sahen beeindruckend aus, obwohl sich die Einbände in der Feuchtigkeit wellten. Das Leder war auch nicht echt.

Der nächste Nachmittag war der letzte, den er in der Küche verbrachte. Jeder musterte sein Gesicht viel zu gründlich. Cory probierte es mit: »Na, wie gefallen dir die Wälzer?«, und lauerte auf eine Reaktion. Der vor der Spüle stehende Pete hatte ein Lächeln aufgesetzt, das wie mit einem Messer in sein Gesicht geschnitten worden zu sein schien. Sie wussten es. Seine Großmutter stimmte zu, als er meinte, er sei jetzt alt genug, um allein zu Hause zu sein. Während seiner Highschool-Zeit kaute er die Frage, ob ihn die Tellerwäscher jedes Mal hatten gewinnen lassen, immer wieder durch. In seiner Naivität und Dummheit war er unsagbar stolz auf sein Können gewesen. Er legte sich erst auf eine Antwort fest, als er in das Nickel kam, denn dort konnte er die Augen nicht mehr vor dem verschließen, was in Wahrheit hinter Wettkämpfen steckte.

Zwei

Der Abschied aus der Küche bedeutete auch den Abschied von einem Spiel, das er stets im Stillen gespielt hatte: Immer, wenn die Tür zum Speisesaal aufschwang, wettete er mit sich selbst, ob dort farbige Gäste säßen. Laut des Urteils »Brown vs. the Board of Education« mussten Schulen mit der Rassentrennung Schluss machen — es wäre nur eine Frage der Zeit, bis alle unsichtbaren Mauern fielen. Am Abend, als das Gerichtsurteil im Radio mitgeteilt wurde, kreischte seine Großmutter, als hätte man ihr heiße Suppe in den Schoß gekippt. Sie fing sich wieder und straffte ihr Kleid. »Jim Crow verschwindet nicht einfach so«, sagte sie. »Sein böser Geist.«

Am Morgen nach dem Urteil ging die Sonne auf, und alles sah aus wie gehabt. Elwood wollte von seiner Großmutter wissen, wann die ersten Neger im Richmond wohnen würden, und sie antwortete, es sei das eine, die Leute aufzufordern, etwas zu tun, aber etwas anderes, ob sie das tatsächlich täten. Zum Beweis führte sie bestimmte Verhaltensweisen Elwoods an, und er nickte: Kann sein. Aber früher oder später würde die aufschwingende Tür eine farbige Person zeigen — vielleicht einen flotten Geschäftsmann, der sich beruflich in Tallahassee aufhielt, vielleicht auch eine elegante Dame, die sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt anschauen wollte —, die die in der Küche zubereiteten, köstlich duftenden Speisen genösse. Da war er sich sicher. Er begann dieses Spiel mit neun, und drei Jahre später beschränkten sich die Farbigen im Speisesaal immer noch auf jene, die Teller oder Drinks oder einen Mopp trugen. Er beendete das Spiel erst, als seine Nachmittage im Richmond gezählt waren. Ob der Gegner in diesem Spiel seine eigene Dummheit oder die dickfellige Beharrlichkeit der Welt war, blieb unklar.

Mr. Parker war nicht der einzige, der in Elwood den idealen Angestellten sah. Weiße Männer boten ihm wiederholt Jobs an, weil sie seinen Fleiß und seine Ehrlichkeit bemerkten, jedenfalls ahnten, dass er sich von seinen farbigen Altersgenossen unterschied, und dies als ein Indiz für Beflissenheit ansahen. Mr. Marconi, Eigentümer des Tabakladens in der Macomb Street, hatte Elwood schon im Auge, seit dieser als Baby in einem quietschenden, rostigen Kinderwagen geschrien hatte. Elwoods Mutter, schlank und mit dunklen, müden Augen, rührte keinen Finger, um ihr Kind zu beruhigen. Sie kaufte stets Berge von Filmzeitschriften und verschwand danach mit dem wie am Spieß schreienden Elwood auf die Straße.

Mr. Marconi verließ seinen Posten neben der Kasse möglichst selten. Gedrungen und leicht schwitzend, mit flacher Pompadour-Frisur und schmalem schwarzem Schnauzer, war er abends stets zerzaust. Im vorderen Teil des Ladens duftete alles nach seinem Haartonikum, und an heißen Nachmittagen zog er einen würzigen Schweif hinter sich her. Mr. Marconi beobachtete von seinem Hocker aus, wie Elwood heranwuchs und sich nach seiner ganz eigenen Sonne reckte, einen anderen Weg wählte als die meisten Jungs im Viertel, die es weitertrieben wie gehabt, in den Gängen des Ladens Radau machten und Red-Hot-Packungen im Blaumann verschwinden ließen, wenn sie glaubten, Mr. Marconi würde gerade nicht hinschauen. Er sah alles, sagte nichts.

Elwood gehörte zur zweiten Generation seiner Kunden in Frenchtown. Mr. Marconi eröffnete seinen Laden 1942, kurz nach der Einrichtung der Armeebasis. Schwarze Soldaten kamen im Bus aus Camp Gordon Johnson oder dem Mabry Airfield, tobten sich das ganze Wochenende in Frenchtown aus und sackten dann in einen Zug, der sie in den Krieg schaffte. Er hatte Verwandte, die in der Innenstadt florierende Läden betrieben, aber ein Weißer, der sich auf die Ökonomie der Rassentrennung verstand, konnte richtig Geld scheffeln. Marconis Laden war nur ein paar Türen vom Bluebell Hotel entfernt. Die Tip Top Bar und Marybelle’s Pool Hall lagen gleich um die Ecke. Er machte einen stabilen Umsatz mit diversen Tabaksorten und Dosen mit Kondomen der Marke Romeo.

Nach Kriegsende verlagerte er die Zigarren in den hinteren Teil des Ladens, strich die Wände weiß, stellte Zeitschriftenständer auf und ergänzte sein Sortiment um Gläser mit Süßigkeiten und einen Getränkekühler, was maßgeblich dazu beitrug, den Ruf seines Ladens zu verbessern. Er engagierte einen Helfer. Ein fester Angestellter war eigentlich überflüssig, aber seine Frau erzählte gern herum, er habe einen, und vielleicht, dachte er, verlöre der bessergestellte Teil des farbigen Frenchtown dadurch die Berührungsängste.

Elwood war dreizehn, als Vincent, der lange Jahre die Regale aufgefüllt hatte, freiwillig zur Armee ging. Vincent war nicht der beflissenste Angestellte, aber flink und stets gut gepflegt, zwei Eigenschaften, die Mr. Marconi nicht nur an sich selbst, sondern auch an anderen schätzte. An Vincents letztem Tag lungerte Elwood wie an fast jedem Nachmittag vor dem Comicregal herum. Er hatte die schräge Angewohnheit, jeden Comic von vorn bis hinten zu lesen, bevor er ihn kaufte, und er kaufte alle, die er in der Hand gehabt hatte. Mr. Marconi wollte wissen, warum er das tue, denn er kaufe die Hefte ja sowieso, egal, ob sie gut seien oder nicht, und Elwood antwortete: »Um sicherzugehen.« Der Ladenbesitzer erkundigte sich, ob er einen Job brauche. Elwood schloss das Journey Into Mystery-Heft und meinte, da müsse er seine Großmutter fragen.

Hattie hatte zig Regeln für das, was akzeptabel oder inakzeptabel war, und manchmal konnte Elwood nur herausfinden, wie dieses Regelwerk funktionierte, indem er einen Fehler beging. An jenem Abend wartete er, bis sie den gebratenen Wels und die Bohnen verputzt hatten und seine Großmutter aufstand, um abzuräumen. In diesem Fall hatte sie keine Vorbehalte, obwohl ihr Onkel Abe Zigarren geraucht hatte, und denk nur, was mit ihm passiert ist, obwohl die Macomb Street eine lange Geschichte als Sündenpfuhl hatte und obwohl sie eine Jahrzehnte zurückliegende üble Behandlung durch einen italienischen Verkäufer zu ihrem Lieblingsgroll erkoren hatte. »Ich glaube nicht, dass die beiden verwandt sind«, meinte sie, als sie ihre Hände abwischte. »Und wenn doch, dann wohl um zig Ecken.«

Sie erlaubte Elwood, nach der Schule und an Wochenenden im Laden zu arbeiten, und kassierte stets die Hälfte seines Lohns, für Kost und Logis und für das zukünftige College. Elwood hatte im letzten Sommer angedeutet, auf ein College gehen zu wollen, ohne zu ahnen, welche Wirkung diese Worte entfalten würden. Sehr unwahrscheinlich, dass es zu einem Fall wie »Brown vs. the Board of Education« käme, aber es grenzte trotzdem an ein Wunder, dass jemand aus Hatties Familie eine höhere Bildung anstrebte. Alle Vorbehalte gegen den Tabakladen verblassten vor diesem Wunsch.

Elwood ordnete Zeitungen und Comichefte in den Gestellen, fegte Staub von den weniger begehrten Süßigkeiten und sorgte dafür, dass die Anordnung der Zigarrenkisten Marconis Theorien über die Verpackung und deren stimulierende Wirkung auf »den heiteren Teil des menschlichen Gehirns« entsprach. Er las weiter Comics, die er so behutsam anfasste, als würde er mit Dynamit hantieren, aber die Nachrichtenmagazine hatten auch ihre Anziehungskraft. Er verfiel dem Bann des luxuriösen Life Magazine. Donnerstags wurde immer ein Bündel Life von einem großen weißen Lkw geworfen, dessen Bremsgeräusch Elwood bald verinnerlicht hatte. Sobald er die Remittenden geordnet und die neuen Nummern einsortiert hatte, hockte er auf der Trittleiter, um die aktuellsten Ausflüge des Magazins in unbekannte Winkel Amerikas zu verfolgen.

Er kannte Frenchtowns Anteil am Kampf der Neger, wusste, wo sein Viertel endete und das Gesetz der Weißen begann. Die Fotoreportagen in Life beförderten ihn an die vorderste Front, zu Bus-Boykotten in Baton Rouge und Sit-ins in Greensboro, wo sich junge Leute, kaum älter als er selbst, in der Bewegung engagierten. Sie wurden mit Eisenstangen verprügelt, mit Wasserwerfern bekämpft und von wutentbrannten weißen Hausfrauen bespuckt, und sie erstarrten auf den Aufnahmen zu Tableaus hehren Widerstands. Die kleinen Details waren ein Wunder: Die Krawatten der jungen Männer blieben sogar im Tumult der Gewalt gerade, schwarze Pfeile; die Schwünge der makellosen Damenfrisuren schwebten vor den Quadraten ihrer Protestschilder. Irgendwie glamourös, selbst wenn ihnen Blut übers Gesicht lief. Junge Ritter, die den Kampf zu den Drachen trugen. Elwood war schmalschultrig und spindeldürr, und er sorgte sich wegen seiner teuren Brille, die in seinen Albträumen von Schlagstöcken, Stemmeisen oder Baseballschlägern zertrümmert wurde, doch er wollte sich der Bewegung anschließen. Es musste sein.

Wenn Elwood während seiner Schichten bei Marconi in den Zeitschriften blätterte, entdeckte er Vorbilder für den Mann, der er später einmal sein wollte, ein ganz anderer Typus als der landläufige Frenchtown-Junge, dem er ohnehin nicht entsprach. Seine Großmutter hatte stets verhindert, dass er sich mit den anderen Kindern aus dem Viertel herumtrieb, weil sie diesen eine manchmal in Ungestüm umschlagende Faulheit unterstellte. Der Tabakladen war ein ebenso sicheres Revier wie die Hotelküche. Hattie erzog ihn streng, das wussten alle, und die anderen Eltern in ihrem Abschnitt der Brevard Street trugen zu Elwoods Isolierung bei, indem sie ihn zum Vorbild stilisierten. Wenn ihn die Jungs, mit denen er Cowboy und Indianer gespielt hatte, auf der Straße verfolgten oder mit Steinen bewarfen, was ab und zu geschah, dann weniger aus Jux, sondern eher aus Groll.

Immer wieder erschienen Leute aus seinem Block in Marconis Laden, dann überlappten sich seine Welten. Eines Nachmittags bimmelte die Glocke über der Tür, und Mrs. Thomas trat ein.

»Hallo, Mrs. Thomas«, sagte Elwood. »Wir haben eisgekühlte Orangenlimonade.«

»Ich glaube, ich fühle mich versucht, El«, erwiderte sie. Mrs. Thomas, eine Kennerin der neuesten Modetrends, trug an diesem Nachmittag ein selbst genähtes Kleid mit großen Tupfen, das sie von einem Zeitschriftenporträt Audrey Hepburns abgekupfert hatte. Sie wusste durchaus, dass es im Viertel nur eine Handvoll Frauen gab, die dieses Stück mit einem solchen Selbstbewusstsein tragen konnten, und wenn sie so dastand, war der Verdacht, dass sie posierte und auf das Knacken der Blitzbirnchen wartete, nicht von der Hand zu weisen.

Mrs. Thomas war die beste Jugendfreundin von Evelyn Curtis gewesen. Eine der frühesten Erinnerungen Elwoods bestand darin, an einem heißen Tag auf dem Schoß seiner Mutter gesessen zu haben, während die beiden Freundinnen Rommé spielten. Er quengelte, weil er die Karten seiner Mutter sehen wollte, und sie sagte, er solle nicht nerven, es sei viel zu heiß. Als sie aufstand, um zum Plumpsklo zu gehen, durfte er an der Orangenlimonade von Mrs. Thomas nippen. Seine orange Zunge verriet ihn, und Evelyn schalt ihn halbherzig, während die beiden kicherten. Elwood bewahrte sich die Erinnerung an diesen Tag.

Mrs. Thomas öffnete ihr Portemonnaie, um zwei Limonaden und die neue Jet zu bezahlen. »Machst du auch fleißig Schulaufgaben?«

»Ja, Ma’am.«

»Ich nehme den Jungen nicht zu hart ran«, sagte Mr. Marconi.

»Hmm«, sagte Mrs. Thomas. Sie klang argwöhnisch, denn die Weiblichkeit Frenchtowns hatte die Zeit, als der Tabakladen einen üblen Ruf gehabt hatte, nicht vergessen, und schob dem Italiener eine Mitverantwortung für häusliches Elend zu. »Immer hübsch auf das Wesentliche konzentrieren, El.« Sie nahm das Wechselgeld entgegen, und Elwood sah ihr nach. Seine Mutter hatte sie beide verlassen; gut möglich, dass sie ihrer Freundin Postkarten von diesem oder jenem Ort schrieb, obwohl sie vergaß, ihrem Sohn zu schreiben. Eines Tages hätte Mrs. Thomas vielleicht Neuigkeiten für ihn.

Mr. Marconi führte Jet und natürlich Ebony. Elwood überredete ihn, auch The Crisis, The Chicago Defender und andere schwarze Zeitungen in das Sortiment aufzunehmen. Seine Großmutter und ihre Freundinnen waren Abonnentinnen, und er fand es komisch, dass der Laden die Zeitungen nicht führte.

»Ja, du hast recht«, sagte Mr. Marconi. Er kniff sich in die Lippe. »Ich glaube, wir hatten sie mal. Keine Ahnung, was passiert ist.«

»Super«, sagte Elwood.

Mr. Marconi hatte die Kaufgewohnheiten seiner Stammkunden längst vergessen, da wusste Elwood immer noch, was jeden Kunden in den Laden führte. Sein Vorgänger Vincent hatte ab und zu einen schmutzigen Witz gerissen, um für Stimmung zu sorgen, aber man konnte nicht behaupten, dass er Eigeninitiative entwickelt hätte. Über diese verfügte Elwood in rauen Mengen: Er erinnerte Mr. Marconi daran, welcher Tabaklieferant bei der letzten Lieferung geschummelt hatte und welche Süßigkeiten nicht mehr nachbestellt werden mussten. Mr. Marconi hatte große Schwierigkeiten, die Frauen in Frenchtown auseinanderzuhalten — bei seinem Anblick zog jede eine Grimasse —, und Elwood erwies sich als kompetenter Diplomat. Mr. Marconi musterte den Jungen, wenn dieser in seine Magazine vertieft war, und versuchte zu begreifen, wie er tickte. Seine Großmutter war streng, so viel war sicher. Der Junge war intelligent und fleißig und eine Zierde für seine Rasse. Andererseits war Elwood im Falle der einfachsten Dinge oft schwer von Begriff. Er wusste nicht, wann man die Klappe hielt und den Dingen ihren Lauf ließ. Zum Beispiel, als er vermöbelt wurde.

Kinder, egal welcher Hautfarbe, klauten nun mal Süßigkeiten. Mr. Marconi hatte in seiner Jugend selbst so manche Dummheit begangen. Ja, man musste da und dort mit einem kleinen Verlust rechnen, aber das relativierte sich — die Kinder klauten einen Schokoriegel, aber später trugen sie und ihre Freunde jahrelang das Geld in den Laden. Und ihre Eltern obendrein. Jagte man sie wegen einer Lappalie auf die Straße, dann sprach sich das herum, zumal in einem solchen Viertel, wo jeder mit jedem auf die eine oder andere Art geschäftlich zu tun hatte, und dann blieben die Eltern aus, weil es ihnen peinlich war. Die Kinder beim Klauen gewähren zu lassen, war in seinen Augen deshalb so etwas wie eine Investition.