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Elke G. Montanari / Argyro Panagiotopoulou

Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen

 

UVK Verlag München

Inhalt

Fußnoten

1.1 Individuelle Mehrsprachigkeit im Kontext von Institutionen und Gesellschaft

Art. 55 des EU Vertrags, https://dejure.org/gesetze/EU/55.html, zuletzt abgerufen am 26.6.2018

An staatlichen Schulen in Deutschland werden heute – außer Englisch – noch folgende (Fremd-) Sprachen gelehrt: „Chinesisch, Dänisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Niederländisch, Polnisch, Russisch, Schwedisch, Spanisch, Tschechisch und Türkisch sowie Altgriechisch, Althebräisch und Latein.“ Darüber hinaus werden weitere Sprachen als studienbegleitende Fremdsprachenkurse an deutschen Hochschulen und Universitäten angeboten. Doch ist dies „angesichts der Fülle der Hochschulen kein besonders umfassendes Angebot, wenn man bedenkt, dass somit etwa die Hälfte der offiziellen EU-Sprachen an keiner deutschen Hochschule studienbegleitend gelernt werden kann“ (Marten 2016:153).

1.2 Ein- und Mehrsprachigkeit in Bildungsinstitutionen

„Da die Forschung hier jedoch noch ganz am Anfang steht, werden weitere Studien notwendig sein, die es ermöglichen, das Konstrukt ‚Bildungssprache‘, seine Operationalisierung und die Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten genauer zu umreißen“ (Berendes u.a. 2013:37).

2.1  Sprachmischung: zur translingualen Praxis mehrsprachiger Kinder

Der Begriff Kanak Sprak wurde vom Schriftsteller Feridun Zaimoglu im deutschsprachigen Raum eingeführt. Die in seinem Roman beschriebene Sprachpraxis basiert nicht auf empirisch gewonnenen Merkmalen des gemischten Sprachgebrauchs, obwohl dies vom Schriftsteller unterstellt und vom öffentlichen Diskurs entsprechend wahrgenommen wurde. Mit der Verbreitung solch defizitärer Betrachtungen hängen Diskriminierungserfahrungen türkisch-deutschsprachiger Kinder und Jugendlicher im Kontext der deutschen Schule zusammen (vgl. Dirim 2010: 99ff.).

Im englischsprachigen Raum beziehen sich die Begriffe „Bilingualism“ und „bilingual“ nicht nur auf zwei Sprachen bzw. auf „Zweisprachigkeit“, sondern auch auf mehrere Sprachen und somit auf „Mehrsprachigkeit“.

3.1  Frühe Literacy-Praktiken mehrsprachiger Kinder: von der Bilderbuchbetrachtung bis zur Verschriftlichung erster Sätze

Der Begriff „Bildungsferne“ ist aus mehreren Gründen problematisch, u.a. wird damit das Fehlen der (deutschen) Bildungssprache gemeint, was wiederum die gelebte Mehrschriftlichkeit in mehrsprachigen Familien nicht berücksichtigt.

3.2 Über (fehlende) Literacy-Erfahrungen junger Kinder aus zugewanderten Familien

Berendes, Dragon, Weinert, Heppt und Stanat (2013:19f.) definieren den Begriff „Bildungssprache“ u.a. im Zusammenhang mit einem hohen „Maß an konzeptioneller Schriftlichkeit (Orientierung an der Schriftsprache)“ in Anlehnung an Koch/Oesterreicher (1985).

Solche Beobachtungen sollten jedoch immer auch etwas differenzierter interpretiert werden: Genau diese Praxis könnte schließlich auch als eine bewusste Strategie der Eltern, jungen Kindern das „Zuhören“ beizubringen, gedeutet werden. Aus didaktischer Sicht wäre sie eventuell nicht besonders effektiv (zumindest bei vierjährigen Kindern), aber dennoch als unterrichtsnah und keinesfalls als nicht bildungsnah bzw. als „bildungsfern“ zu betrachten.

4.1  Kinder als angehende Mehrsprachige: zur Bedeutung metasprachlicher Fähigkeiten

„Thinking of these students as emergent bilinguals has important consequences not only for the children, but also for teachers, policy makers, parents, the language education profession (…)“ (García & Kleifgen 2010:3; Hervorhebung d. Panagiotopoulou).

4.4 ‚Sprachenporträts‘ – aus der Perspektive mehrsprachiger Kinder

Die Beschäftigung mit diesem Thema ist nicht banal und die Frage, wie genau die Modalitäten Sprechen und Denken zusammenhängen, stellen sich früher oder später viele Kinder. Es handelt sich außerdem um eine Frage, die bis heute im internationalen Fachdiskurs intensiv behandelt wird (vgl. hierzu das Buch von Charles Taylor mit dem Titel „Das sprachbegabte Tier“, 2016).

Für eine kritische Betrachtung der Methode „Sprachenporträts“ auch innerhalb der Professionalisierung angehender pädagogischer Fachkräfte vgl. Panagiotopoulou/Rosen 2016b.

Erzählungen nach Abbildungen: Sprechen wir über Frösche

0 Punkte: keine/falsche Antwort; 1 Punkt: eine korrekte Antwort; 2 Punkte: Zeit und Ort korrekt genannt

Die Niveaubeschreibungen Deutsch als Zweitsprache

www.foermig.uni-hamburg.de/pdf-dokumente/sh-niveaubeschreibung-2010.pdf

6  Mehrsprachigkeit im Unterricht

Sämtliche Zitate dieses Kapitels sind aus dem Korpus Montanari 2017. Alle Äußerungen wurden für diese Veröffentlichung redaktionell bearbeitet.

Translanguaging. Ein Konzept

If we are truly interested in knowing what bilingual students know and what they can do with language, we must separate their ability to use certain forms of one language or another from their ability to use language. For example, in schools, students are asked to find the main idea of a text, to support an argument with text-based evidence, to infer, to make a convincing oral presentation, to work out a math problem. Especially emergent bilingual students may not be able to show that they can do these things if only allowed to use the language legitimized in school. Only by drawing from their entire language repertoire will bilingual students be able to demonstrate what they know, and especially what they can do with language. Being able to perform with language-specific features legitimized in schools is not the same as having general language ability or being knowledgeable of content. Ofelia Garcia im Interview. https://www.psychologytoday.com/us/blog/life-bilingual/201603/what-is-translanguaging. Abgerufen am 14.5.2018

Der Multiliteralitätenansatz

Für dieses Beispiel danke ich den Studierenden der Stiftung Universität Hildesheim, Seminar „Multiliteracies“, Wintersemester 2018.

Zweisprachige Alphabetisierung als koordinierte Alphabetisierung KOALA

Umfangreiches Material für Türkisch und Portugiesisch zeigt die website www.koala-projekt.de

Mit diesem Buch wenden wir uns an Dozierende und Studierende in den Einführungsveranstaltungen in der Frühen Bildung und im Studium mit dem Abschlussziel Lehramtsoption. Das Ziel ist es, angehende pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte für Mehrsprachigkeit und Translingualität zu sensibilisieren, wichtige Grundlagen und relevante Forschungsergebnisse transparent zu machen und die Verzahnung von Linguistik, Pädagogik und Didaktik aufzuzeigen.

Aus der Entwicklung Europas zu einer der weltweit bedeutenden Zielregionen internationaler Migration resultieren laut Michael Bommes „kulturelle Pluralisierung und Mehrsprachigkeit, auf die die europäischen Staaten nicht mehr in der Weise reagieren, dass sie diese für ein Übergangsphänomen halten, das durch forcierte kulturelle und sprachliche Assimilation aufgehoben werden kann“ (Bommes 2011:149). Der Erwerb der „Schrift- und Verkehrssprache[n]“ heutiger Mehrheitsgesellschaften wird zwar nach wie vor als notwendige Voraussetzung „für soziale Teilnahmekompetenz“ angesehen, aber dies geschieht „im Kontext einer im Übrigen sozial weitgehend freigegebenen Mehrsprachigkeit“: Angestrebt wird damit Inklusion „und nicht kulturelle Homogenisierung“ (ebd.). Aus diesen Gründen rechnen heute Einrichtungen frühkindlicher und schulischer Erziehung und Bildung in den meisten europäischen Ländern einerseits mit einer mehrsprachigen Klientel, mit Eltern und Kindern, die ein vielfältiges Sprachenrepertoire mitbringen, unabhängig davon, ob und unter welchen Umständen und wie genau sie die sogenannten nationalen Sprachen verwenden.

Andererseits und obwohl „keine gewaltsamen nationalstaatlich kulturellen Homogenisierungsprogramme mehr zur Herstellung einer nationalen Gemeinschaft“ umgesetzt werden, „wie dies noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts der Fall war“ (ebd.), wird auch in Bildungseinrichtungen die mehrsprachige familiale Alltagspraxis von jungen Kindern, Schülerinnen und Schülern heute oft noch als Abweichung von einer monolingualen Norm betrachtet. Die Förderung von Mehrsprachigkeit ist zwar ein explizites sprachenpolitisches Ziel der Europäischen Union, die national verfassten Bildungssysteme und so auch die deutsche Bildungspolitik haben aber bis heute – beispielsweise in curricularer Perspektive – weder in Bildungsempfehlungen für Kindertageseinrichtungen, noch in schulischen Lehrplänen auf diese Realität adäquat reagiert.

Mit unserem Buch möchten wir die Konzepte „Mehrsprachigkeit“ und „Bildung“ systematisch verbinden und dabei den Schwerpunkt auf die (frühe) Kindheit in Kindertageseinrichtungen und in Grundschulen setzen. Wenn alle Kinder in ihren Möglichkeiten als potentielle Mehrsprachige gesehen werden können, dann sind die Unterstützung ihres Sprachenerwerbs und die Förderung einer grundlegenden Bildung von Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit wichtige Aufgabenbereiche der Bildungsinstitutionen. Dieses Buch soll die angehenden pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte darauf vorbereiten, diese Aufgabenbereiche wahrzunehmen und umsetzen zu können.

Wir sehen die beiden Bildungsbereiche Elementar- und Primarbereich als Forschungsfelder und als Praxisfelder unserer Studierenden bzw. der angehenden pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte eng verknüpft. Unter Berücksichtigung der Sprach- und Lernbiographien von Kindern und Jugendlichen sind die langfristigen Verläufe und die Übergänge von der Familie in die KiTa und von der KiTa in die Grundschule bedeutsam. Jedoch haben wir uns für dieses Buch für eine inhaltliche Aufteilung entschieden, weil wir auf diese Weise die spezifischen Besonderheiten des pädagogischen Alltags in Kitas und Grundschulen in den Mittelpunkt stellen wollen. Dieses Buch ist daher in ein gemeinsam verfasstes einleitendes Kapitel mit dem Titel „Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit“ (Abschnitt A.: Montanari & Panagiotopoulou) und in die Abschnitte „Mehrsprachigkeit und Bildung in der

Im 1. Kapitel diskutieren wir zentrale Grundbegriffe. Dabei wird Mehrsprachigkeit auf mehreren Ebenen dargestellt und mit den zentralen Begriffen Heteroglossie und Translanguaging in Verbindung gebracht.

Die Kapitel 2, 3 und 4 behandeln – in Anlehnung an den Translanguaging-Ansatz – grundlegende Themen frühkindlicher Erziehung und Bildung im Zusammenhang mit der Frage nach neuen Konzepten und Methoden zur Mehrsprachigkeitsförderung von Anfang an.

Im 2. Kapitel wird auf den dynamischen Mehrspracherwerb im Kindesalter sowie auf entsprechende Ansätze einer Didaktik der Mehr- und Quersprachigkeit eingegangen. Kapitel 3 widmet sich den frühkindlichen Erfahrungen mit Mehrschriftlichkeit, problematisiert den auf Einsprachigkeit basierenden Terminus Bildungssprache und verweist auf die Bedeutung der Förderung von Pluri- und Multiliteracy im Kontext der KiTa. Bezugnehmend auf den grundlegenden Begriff angehende Mehrsprachigkeit werden im 4. Kapitel Methoden zur Beobachtung und Dokumentation kindlicher Sprachbiographien im KiTa-Alltag und beim Übergang in die Grundschule diskutiert.

Die Kapitel 5, 6 und 7 widmen sich der Thematik Mehrsprachigkeit und Bildung in der Grundschule: Das 5. Kapitel stellt die Diagnose in den Mittelpunkt. Dafür werden zunächst Eigenschaften mehrsprachiger Sprachbeherrschung und mehrsprachigen Handelns geklärt und mehrsprachige sowie einsprachige Modi thematisiert. Das Komplementaritätsprinzip (Complementarity Principle) wird ebenfalls dort vorgestellt. Im weiteren Verlauf werden mehrsprachige Diagnostikverfahren diskutiert. Das Kapitel 6 legt den Fokus auf Mehrsprachigkeit im Unterricht und zeigt Unterrichtsmöglichkeiten auf, die Translanguaging und mehrsprachige Unterrichtsdiskurse einbeziehen. Das letzte Kapitel widmet sich der Aneignung von Literalität in mehreren Schriften im Schulalter. Unter anderem wird dort der Multiliterätenansatz in seiner Anwendung in der Grundschule in das Blickfeld genommen.

Alle Kapitel sind für die Hochschullehre konzipiert, sodass für jeden Themenbereich ein bis zwei Sitzungen verwendet werden können. Wir wünschen den Dozentinnen und Dozenten sowie den Studierenden viel Spaß und interessante Einblicke!

 

Hildesheim und Köln, im Februar 2019

Elke G. Montanari und Julie A. Panagiotopoulou

Wer ist eigentlich mehrsprachig?

1 Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit

In welcher Sprache denkst du, wenn du rechnest?“

„Auf Spanisch.“

Und wenn du Notizen während des Unterrichts machst: In welcher Sprache machst du das?“

„Auf Deutsch, aber auf Spanisch auch.“

 

Ausschnitt aus einem Gespräch mit einer jugendlichen neu zugewanderten Schülerin (Korpus Montanari 2017)

 

„Also als ich das jetzt gehört habe, fiel mir ein, dass wir in meiner Schulzeit immer zwischen Sprachen geswitcht sind, besonders eben mit Kindern, mit Freunden, die auch beide Sprachen konnten, Deutsch und Türkisch. Da haben wir fast ausschließlich beide Sprachen benutzt, also nie, fast nie, durchgehend eine Sprache, einen Satz in einer Sprache fertig gebracht, würde ich sagen, wenn ich jetzt daran denke.“

 

(Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Lehramtsstudierenden im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Universität zu Köln (Panagiotopoulou/Rosen 2016a:183))

In deutschen Bildungsinstitutionen sind zahlreiche Bezüge zur Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen zu finden, wie diese Interviewausschnitte aus zwei aktuellen Forschungsprojekten verdeutlichen. Das erste Zitat zeigt, dass neu zugewanderte mehrsprachige Schülerinnen und Schüler ihr gesamtes Sprachenrepertoire beim Lernen nutzen. Das zweite Beispiel wirft ein Licht darauf, wie angehende Lehrkräfte aus zugewanderten Familien zurückblickend ihre

1.1 Individuelle Mehrsprachigkeit im Kontext von Institutionen und Gesellschaft

Mehrsprachigkeit kann auf gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Ebene beschrieben werden.

Multilingualism conveys the ability of societies, institutions, groups, and individuals to have regular use of more than one language in their everyday lives over space and time. Language is impartially understood as a variety that a group admits to using as a habitual communication.

(Franceschini 2011:346)

Bei der Betrachtung von individueller Mehrsprachigkeit steht der einzelne Mensch mit den mehrsprachigen Fähigkeiten im Zentrum der Betrachtung. Es werden u.a. Fragen wie die folgenden diskutiert:

Über den einzelnen Menschen hinaus können Institutionen mehrsprachig sein, z.B. Familien, Bildungseinrichtungen oder andere gesellschaftliche Institutionen. Institutionelle Praktiken werden dann in mehreren Sprachen durchgeführt. Offensichtliche Beispiele für mehrsprachige Institutionen sind zwei- und mehrsprachige Schulen, z.B. die Staatlichen Europaschulen in Berlin oder die Internationalen Kindertagesstätten und Schulen, in denen pädagogische Fachkräfte, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler mehrsprachig sind. Nicht in allen Fällen sind jedoch alle Mitglieder einer mehrsprachigen Institution mehrsprachig bzw. beherrschen alle in der Institution verwendeten Sprachen. Die Europäische Union ist solch eine Institution, in der die Beschäftigten eine, zwei oder drei Sprachen verwenden, innerhalb der Institution aber insgesamt

Auf der Ebene von Gesellschaften liegt Mehrsprachigkeit vor, wenn neben den lokalen Sprachen, den Sprachen angrenzender Sprachgebiete und den Familiensprachen von Migrantinnen und Migranten weitere überregionale Sprachen gesprochen werden. Beispiele für Regionen mit offizieller gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit sind die Schweiz mit Rätoromanisch, Italienisch, Französisch und Deutsch, Luxemburg mit Luxemburgisch, Deutsch und Französisch oder Südafrika mit elf offiziellen Amtssprachen. Mehrsprachigkeit in Gesellschaften zeigt sich in heteroglossischen, d.h. vielsprachigen, Situationen durch die Verwendung einer Varietät als Standardvarietät und anderer Varianten als Umgangsvarietäten einer (Landes-)Sprache. Das Spektrum kann durch Handelssprachen und Linguae francae, also Verkehrssprachen, noch erweitert werden. Derartige Sprachkonstellationen haben in Europa eine lange Tradition. So wurden sakrale und wissenschaftliche Texte in Latein, Aramäisch, Hebräisch, Arabisch und Griechisch verfasst, während für den alltäglichen Verkehr regionale Sprachen verwendet wurden. In Europa ist erst zwischen 1500 und 1800 ein engagierter Streit darüber geführt worden, ob „vulgäre“, d.h. gewöhnlich gebrauchte, Sprachen wie das moderne Italienisch oder Deutsch als Sprachen der Wissenschaft geeignet seien, oder ob nicht vielmehr die bisherige Wissenschaftssprache Latein weiter benutzt werden müsse (Pörksen 1983). Gegenwärtig sind viele Nationalsprachen und staatenübergreifende Sprachen wie z.B. Arabisch, Englisch, Russisch und Spanisch Wissenschaftssprachen, auch wenn dort, wo die Forschung durchgeführt wird, andere Sprachen gesprochen werden. Gleichzeitig ist zu fragen, inwiefern eine Konzentration auf wenige Wissenschaftssprachen die Vielfalt wissenschaftlicher Ausdrucksformen und somit auch die Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse einschränkt.

Europäische Gesellschaften waren zu vielen Zeiten mehrsprachig und durch Arbeits- und Fluchtmigration sowie durch berufliche und Freizeitmobilität geprägt – und das seit Entstehung der Menschheit. Migration ist also kein junges Phänomen. In urbanen Regionen (Redder 2013), in Grenzregionen und

Einige Beispiele für die zahlreichen Migrationsbewegungen, die mehrsprachige Konstellationen in Europa befördert haben, sind die Einwanderung der Hugenotten aus Frankreich nach Deutschland im 17. Jahrhundert, die Arbeitsmigration Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegend um die Ruhr aus dem ehemaligen Königreich Polen, aus Oberschlesien, den Masuren und der Kaschubei sowie die Auswanderung Deutscher nach Russland ab dem 12. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert. Einer einheitlichen Sprache, einer Standardsprache, kam im Wesentlichen erst mit der Entstehung der Nationalstaaten, dem Interesse an breit verständlichen Texten, der Bibelübersetzung Luthers, die durch den damals neu erfundenen Letternbuchdruck eine bis dahin nie gekannte Verbreitung erlangen konnte, und den Bemühungen um ein einheitliches Schulsystem eine neue Bedeutung zu (Ehlich 2001). Die Standardsprache entwickelte sich von einer nützlichen überregionalen Verkehrssprache nun zu einem identitätsstiftenden gesellschaftlichen Element. In diesem Zuge erfuhr die Standardsprache als Konzept eine herausgehobene Interpretation, sollte sie doch eine einsprachige Nationalstaatlichkeit unterstützen (Krumm 2003), was auch als Einsprachigkeitsideologie kritisiert wird, wie das Li Wei (2011) in Anknüpfung an Cook (1992) formuliert.

Eine reflektierte und demokratische Politik zum Umgang mit individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ist daher nötig. Eine grundlegende Voraussetzung für eine glaubwürdige Sprachenpolitik auf gesellschaftlicher Ebene ist aber erst gegeben, wenn die Gleichwertigkeit der Sprachen anerkannt wird:

Sprache bzw. Sprachen und ihre politische und gesellschaftliche Dimension sind regelmäßiger Bestandteil von Diskussionen in der Politik und im Alltag vieler Menschen. Dennoch fehlt gerade in Deutschland ein allgemeines Bewusstsein dafür, dass Sprach(en)politik etwas Normales ist, dass Diskussionen über Sprachen zu einer Gesellschaft gehören wie Debatten über Kultur-, Sozial- oder Bildungspolitik.

(Marten 2016:11)

Sprachenpolitik betrifft sowohl Institutionen als auch Individuen, weil sie beide gleichzeitig Mitglieder von Sprachgemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft sind. Auf gesellschaftlicher Ebene besteht eine Wechselwirkung zwischen

1.2 Ein- und Mehrsprachigkeit in Bildungsinstitutionen