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Uta Pohl-Patalong

Bibliolog

Impulse für Gottesdienst, Gemeinde und Schule. Band 3: Handlungsfeld Religionsunterricht

Verlag W. Kohlhammer

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Titelbild: Marc Chagall, Hymne an die Musik (Deckengemälde in der Opéra Garnier, Paris) © lapas77 – fotolia.com

 

1. Auflage 2019

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-031135-0

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-031136-7

epub: ISBN 978-3-17-031137-4

mobi: ISBN 978-3-17-031138-1

 

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Inhalt

Prolog: Zum Charakter dieses Buches

Kapitel 1: Der Bibliolog – eine Einführung

Kapitel 2: Charakteristika des Bibliologs – zum Verständnis des Ansatzes

2.1  Die Lehrkraft als Bibliologin

2.2  Das Rollenprofil und die geforderten Kompetenzen

2.3  Schüler*innen als Ausleger*innen der Bibel?

2.4  Risiken und Gefahren

2.5  Bibliolog als Widerspruch zur Realität der Schule?

Kapitel 3: Bibliolog in den Rahmenbedingungen der Schule – eine Verhältnisbestimmung

3.1  Schule heute – und der Bibliolog

3.2  Schüler*innen heute – und der Bibliolog

3.3  Religion heute – und der Bibliolog

3.4  Religionsunterricht heute – und der Bibliolog

Kapitel 4: Bibliolog im Religionsunterricht – Möglichkeiten des Einsatzes

4.1  Texte für Bibliologe in der Schule

4.2  Bibliolog in den verschiedenen Schulformen und Klassenstufen

4.3  Bibliolog im Spiegel der Lehrpläne/Fachanforderungen

4.4  Bibliolog im Rahmen von Unterrichtseinheiten

4.5  Bibliolog in erweiterten Formen

Kapitel 5: Bibliolog im konkreten Unterrichtsgeschehen – Tipps und Ideen

5.1  Mit dem Bibliolog in der Schule beginnen

5.2  Störungen und Herausforderungen beim Bibliolog

5.3  Die Weiterarbeit nach dem Bibliolog

5.4  Bibliolog in heterogenen Lerngruppen

5.5  Bibliolog in Gruppen mit besonderen Inklusionsherausforderungen

Kapitel 6: Exemplarische Stundenentwürfe – Beispiele für die Praxis

Epilog: Bibliolog als religiöser Bildungsprozess

Bibelstellenregister

Prolog: Zum Charakter dieses Buches

Wenn Sie dieses Buch zur Hand nehmen, interessieren Sie sich für den Bibliolog im schulischen Religionsunterricht – sei es, weil Sie den Ansatz bereits gelernt haben, oder sei es, weil Sie sich dafür interessieren, ihn näher kennenzulernen. In den letzten Jahren ist der Bibliolog unter evangelischen wie unter katholischen Lehrkräften immer bekannter geworden. Etliche haben diesen Ansatz bereits erlernt und praktizieren ihn in der Schule – mit überwiegend sehr guten Erfahrungen. Andere haben davon gehört oder einmal einen Bibliolog als Teilnehmer*in erlebt und überlegen, ob sie den Bibliolog selbst erlernen möchten, um ihren Religionsunterricht damit zu bereichern.

Für beide Zielgruppen ist dieses Buch geschrieben: Für Religionslehrkräfte (und natürlich auch Schulpfarrer*innen sowie Religions- bzw. Gemeindepädagog*innen und Diakon*innen, die Religion unterrichten) beider Konfessionen in allen Schulformen, die den Bibliolog bereits im Unterricht einsetzen oder überlegen, ob sie dies künftig tun möchten. Zwar ist der Bibliolog ein handlungsfeldübergreifender bibeldidaktischer Ansatz, der ebenso in kirchlichen und auch in säkularen Kontexten praktiziert werden kann. Die Rahmenbedingungen der Schule und der Charakter des Religionsunterrichts heute erfordern jedoch auf den schulischen Kontext zugeschnittene Überlegungen: Was bedeutet es, Bibliolog in der Schule einzusetzen und was muss in diesem Rahmen berücksichtigt werden, damit dies für alle zufriedenstellend gelingen kann? Dazu möchte dieses Buch beitragen.

Das Buch ersetzt daher nicht die grundlegende hermeneutische und methodische Einführung in den Bibliolog, die in den beiden ersten Bänden zu diesem Ansatz dargestellt wird.1 Das Buch ist zwar ohne die beiden anderen Bände in sich verständlich und kann als Erstbegegnung und Entscheidungshilfe dienen, ob man ihn erlernen möchte; um ihn selbst zu praktizieren und Bibliologe als Lehrkraft anzuleiten, ist allerdings ein Grundkurs erforderlich (für den der erste Band dann begleitend konzipiert ist). Insofern bildet dieses Buch in doppelter Hinsicht nicht den unmittelbaren praktischen Einstieg in die Arbeit mit dem Bibliolog, sondern reflektiert die Bedingungen und Möglichkeiten seines Einsatzes in der Schule.

Dabei ist es allerdings sehr praktisch angelegt. Nach einer Einführung in den Bibliolog anhand eines Beispiels, die einen lebendigen Eindruck für »Neueinsteiger*innen« vermittelt (Kap. 1), werden seine typischen Merkmale konkret auf seinen Einsatz in der Schule bezogen (Kap. 2). Was bedeutet es für die Rolle der Lehrkraft, wenn sie zur Bibliologin wird? Welche Fähigkeiten benötigt sie dafür? (Wie) können mit dem Bibliolog die Schüler*innen wirklich zu Ausleger*innen der Bibel werden? Welche Risiken gehe ich ein, wenn ich den Bibliolog einsetze? Steht er nicht in manchem im Widerspruch zu dem Charakter von »Schule«? Diese Rahmenbedingungen der Schule werden dann genauer in den Blick genommen und der Bibliolog auf die heutige Schule, die heutigen Schüler*innen, die heutigen Formen von Religion und den heutigen Religionsunterricht bezogen (Kap. 3) – was bedeuten all diese Faktoren für den Einsatz des Bibliologs? Anschließend wird gezeigt, mit welchen Texten man gut bibliologisch starten kann, was in den verschiedenen Schulformen und Klassenstufen zu berücksichtigen ist, wie sich der Bibliolog zu den Lehrplänen bzw. Fachanforderungen verhält und welche Möglichkeiten es gibt, den Bibliolog im Rahmen von Unterrichtseinheiten einzusetzen; zudem werden seine Erweiterungsformen vorgestellt (Kap. 4). Dabei sind die Ausführungen zu den Lehrplänen bzw. Fachanforderungen überblicksartig und summarisch gehalten. Unter https://blog.kohlhammer.de/theologie/Bibliolog-in-der-Schule-Material/ sind ausführlichere Darstellungen zu den Lehrplänen einzelner Bundesländer und Schulformen zu finden, die auch für andere, dort nicht aufgeführte Ländern Anregungen bieten können. Konkrete Tipps und Ideen für den Einsatz von Bibliolog in der Schule bietet dann Kap. 5: Wie kann ich mit dem Bibliolog in der Schule beginnen? Wie begegne ich Störungen und Herausforderungen? Wie kann ich nach dem Bibliolog sinnvoll weiterarbeiten? (Wie) kann ich ihn in religiös heterogenen Lerngruppen einsetzen? Und wie in Lerngruppen mit besonderen Inklusionsherausforderungen?

Abschließend zeigen in Kap. 6 elf Stundenentwürfe mit ausgearbeiteten Bibliologen beispielhaft auf, wie der Einsatz von Bibliolog in der Schule aussehen kann. Diese sind von unterschiedlichen Autor*innen erstellt, sodass ein großes Spektrum von Stilen und Ansätzen zur Geltung kommt und deutlich wird, auf welche vielfältige Weise der Bibliolog den Religionsunterricht bereichern kann. Auf dieses Kapitel bin ich nur zögerlich zugegangen, weil es die Gefahr erhöht, die Einheiten zu kopieren und Bibliolog einzusetzen, ohne ihn erlernt zu haben. Ich bitte herzlich darum, dies nicht zu tun – die Gründe dafür sind unter 2.4 ausführlich zu lesen. Alle Kurse, in denen man den Bibliolog in einer Woche oder an zwei Wochenenden erlernen kann, sind zu finden unter www.bibliolog.de und alle sind auch für Lehrkräfte geeignet, auch wenn dies nicht eigens vermerkt ist.

Ein »Epilog« reflektiert abschließend, wie sich religiöse Bildung als vorrangige Aufgabe des Religionsunterrichts in der Perspektive des Bibliologs darstellt.

Sehr herzlich danke ich allen, die zur Entstehung des Buches maßgeblich beigetragen haben:

• den Lehrkräften und Lehramtsstudierenden meiner Grundkurse, die die Fragen gestellt haben, auf die das Buch antworten möchte

• den Schüler*innen in verschiedenen Schulen und im reli:labor der Kieler Forschungswerkstatt, die mir mit ihren lebendigen und erkenntnisreichen Äußerungen in den biblischen Rollen gezeigt haben, wie kompetent sie die Bibel auslegen, und die in ihren Rückmeldungen formuliert haben, wie wertvoll der Bibliolog für sie sein kann

• den Teilnehmer*innen des Fachtags »Bibliolog in der Schule« an der Kieler Uni, die mir sehr wertvolle Anregungen und Tipps aus ihrer bibliologischen Praxis für dieses Buch gegeben haben und von denen viele jetzt das Manuskript oder Teile davon gelesen und hilfreiche Hinweise gegeben haben: Saskia Eisenhardt, Peter Gregersen, Eske Gröhn, Gabriela Muhl und Andrea Wermker. Besonders zu nennen ist Christiane Flachsenberg als abgeordnete Lehrkraft an der Theologischen Fakultät, die mir bereits im Entstehungsprozess des Buches permanent Rückmeldungen aus schulischer Perspektive gegeben hat.

• den weiteren Erstleser*innen aus süddeutscher und/oder katholischer Perspektive, die das Buch um ihre langjährigen Erfahrungen und unterschiedlichen Kontexte bereichert haben: Gisela Hahn-Riedberg, Dorothea Kleele-Hartl, Ulrich Jung (ihm besonders für die Überlegungen zu Lerngruppen mit besonderen Inklusionsherausforderungen) und Andrea Rückert

• den Student*innen und den Lehrkräften, die ihre Unterrichtsentwürfe für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben

• meinen studentischen Hilfskräften Arne Hansen und Hannah Looks für ihre engagierten Korrekturarbeiten und die Erstellung des Bibelstellenregisters

• Herrn Weigert und Herrn Specker vom Kohlhammer-Verlag für ihre gewohnt freundliche und kompetente verlegerische Begleitung und für ihre Geduld hinsichtlich des eigentlich schon deutlich früher geplanten Erscheinungstermins.

Nun bleibt mir, Ihnen eine ertragreiche und inspirierende Lektüre zu wünschen, die dazu beiträgt, den Bibliolog noch mehr Lerngruppen und Schüler*innen zugänglich zu machen und auf diesem Wege lebendige und lebensrelevante Erfahrungen mit der Bibel zu eröffnen!

 

Kiel, im November 2018 Uta Pohl-Patalong

Kapitel 1: Der Bibliolog – eine Einführung

Eine der Fragen, die Religionslehrkräfte heute häufig besonders beschäftigen, ist die Bedeutung der christlichen Tradition und vor allem der Bibel für ihre Schüler*innen. Wie kann es gelingen, dass Jugendliche des 21. Jahrhunderts sich für Texte interessieren, die vor 2000 oder 3000 Jahren entstanden sind, eine andere Denkwelt und völlig andere soziale Verhältnisse als die heutigen voraussetzen und in heutiger Perspektive ganz einfach fremd sind? Diese Herausforderung stellt sich natürlich prinzipiell auch in Fächern wie Geschichte oder Latein. Im Fach Religion gewinnt das Problem jedoch noch einmal eine andere Qualität, da die christliche Perspektive davon ausgeht, dass die Texte nicht nur historische Quellen sind, sondern für Menschen heute existenziell wichtig sein können. Die Erfahrung, dass die »alten Texte« für heute nicht nur interessant, sondern auch lebensrelevant sind, bringen manche Schüler*innen natürlich in den Religionsunterricht auch mit – aber diese bilden in vielen Regionen mittlerweile die Minderheit. Gar nicht so selten treffen Kinder und Jugendliche in der Schule zum ersten Mal auf biblische Texte. Dies geschieht manchmal vorurteilsfrei und neugierig, aber nicht selten mit dem Bild, dass die Bibel trocken, langweilig und/oder veraltet ist und im Widerspruch zur naturwissenschaftlichen Weltsicht steht. Nehmen nicht religiös gebundene oder anderen Religionsgemeinschaften angehörende Schüler*innen am Religionsunterricht teil, wie es in vielen Bundesländern mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme ist, verschärft sich das Problem.

Gleichzeitig bildet die Bibel eine wesentliche Grundlage des Christentums. Evangelischer wie katholischer Religionsunterricht kann kaum sachgerecht erteilt werden, ohne biblische Texte in irgendeiner Weise zu berücksichtigen. Vor allem aber ist es vielen Religionslehrkräften ein Anliegen, ihren Schüler*innen einen Kontakt zu biblischen Texten zu eröffnen, wenn sie sie selbst kennengelernt haben als Texte mit Schönheit und Sprachkraft, mit erhellenden Einsichten und überraschenden Erkenntnissen, mit Weisheit und produktiver Irritation.

Gefragt sind also Zugänge zu biblischen Texten für Kinder und Jugendliche des 21. Jahrhunderts, die Interesse wecken, neugierig machen und die Chance bieten, ihre Aktualität und Lebensrelevanz erfahrbar werden zu lassen. Gleichzeitig müssen sie gerade in der religiös heterogenen Schule genügend Distanzierungsmöglichkeiten eröffnen, damit sie nicht als übergriffig empfunden werden. Und sie müssen sich gut in die Rahmenbedingungen der Schule einfügen, sodass sie nicht mehr Zeit brauchen als zumindest in einer Doppelstunde zur Verfügung steht und kompatibel sind mit Fachanforderungen und Kompetenzorientierung.

Einen solchen didaktischen Ansatz bildet der Bibliolog. Er wird seit ca. 20 Jahren im deutschsprachigen Raum sowohl in der Kirche als auch in der Schule und sowohl im evangelischen als auch im katholischen Bereich praktiziert und hat sich seitdem in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in anderen europäischen Ländern und mittlerweile auch in einigen Ländern anderer Kontinente rasch verbreitet – ca. 11.000 Menschen haben den Ansatz des Bibliologs in einem Grundkurs gelernt. Ursprünglich ist der Bibliolog jedoch von einem jüdischen Nordamerikaner, Peter Pitzele, zusammen mit seiner Frau Susan Pitzele entwickelt worden. Wer sich ein wenig mit dem Midrasch (dem klassischen jüdischen Zugang zur Tora) beschäftigt hat, wird rasch merken, warum Bibliolog auch als »moderne Form des Midrasch« bezeichnet werden kann: Wie jener legt er die biblischen Texte dadurch aus, dass er ihre Lücken oder »Leerstellen« – also das, was der Text offen lässt – kreativ füllt. Mit einer Formulierung der Rabbiner der Antike schürt der Bibliolog das »weiße Feuer«, den Raum zwischen den Buchstaben des Textes. Füllt man diesen Raum zwischen den Buchstaben mit seinen Ideen und Erfahrungen, kann sich ein ganz anderer Zugang zum »schwarzen Feuer«, also dem Text selbst, eröffnen. Man kommt dem Text in neuer Weise nahe und erlebt ihn manchmal ganz anders als sonst, wenn man sich selbst und seine Lebenserfahrungen in die »Leerstellen« des Textes einträgt.

Im Bibliolog geschieht dies (anders als im klassischen Midrasch) über eine Identifikation mit biblischen Rollen. Die Schüler*innen werden eingeladen, den Text von innen heraus zu erkunden und sich nacheinander in unterschiedliche Gestalten der Geschichte hineinzuversetzen. In diesen Rollen werden sie durch Fragen dazu angeregt, aus verschiedenen Perspektiven mit ihren Lebenserfahrungen und ihrer Fantasie das »weiße Feuer« zu schüren und dadurch das »schwarze Feuer« als spannende, aktuelle und lebensrelevante Geschichte zu entdecken.

Wie das konkret aussieht, möchte ich an einem Bibliolog zum Anfang der Josefsgeschichte erläutern.

Jeder Bibliolog beginnt mit einem Prolog:

Wir unternehmen heute eine Reise in das Land und in die Zeit der Bibel. Wir reisen in die Hebräische Bibel, in eine andere Zeit und eine andere Welt, die aber in mancher Hinsicht auch gar nicht so anders ist als unser Leben. Dies tun wir auf eine besondere Art und Weise, in der wir eine Geschichte nicht nur hören und darüber sprechen, sondern selbst entdecken und erleben. »Bibliolog« nennt sich das.

Wie das geht, ist eigentlich ganz einfach: Ich sage zuerst etwas zur Geschichte und lese sie dann vor. Dabei unterbreche ich aber ab und zu. An den Stellen bitte ich euch, euch in eine biblische Gestalt hineinzuversetzen. Ihr seid dann sozusagen diese Person aus der Bibel und ich stelle euch eine Frage. In dieser Rolle werdet ihr vermutlich eine Antwort auf diese Frage finden. Wenn ihr möchtet, könnt ihr die auch laut sagen. Ihr meldet euch dann bitte und ich komme zu euch und wiederhole das, was ihr gesagt habt, in meinen Worten, damit eure wertvollen Äußerungen nicht so schnell verklingen. Dabei muss niemand etwas sagen, es kann für euch genauso wertvoll und wichtig sein, wenn ihr die Antworten nur für euch selbst wisst. Es wird aber lebendiger und spannender, wenn wir unterschiedliche Äußerungen hören. Und ihr könnt euch ruhig trauen, etwas zu sagen, denn ihr werdet merken: Auf diese Fragen gibt es nur richtige Antworten – und gerade wenn sie ganz verschieden sind, helfen sie uns allen zu entdecken, was in diesem Text alles steckt.

Der Prolog macht deutlich, wie ein Bibliolog abläuft, was die Schüler*innen erwartet und was von ihnen erwartet wird: Sie werden in eine biblische Geschichte hineingeführt und sollen sich mit biblischen Gestalten identifizieren. Gleichzeitig macht der Prolog deutlich (und wiederholt es jedes Mal, gerade weil es so ungewöhnlich ist), dass einige typische Merkmale von »Schule« hier nicht gelten: Antworten sind nicht richtig oder falsch, sondern wertvolle Entdeckungen auf einem gemeinsamen Weg und eigene Erkenntnisse für sich sind genauso wertvoll wie die Beteiligung am Unterricht. Der Prolog kann auch bildhafter formuliert werden; so kann beispielsweise bei Grundschulkindern mit der Vorstellung einer »Zeitmaschine« gearbeitet werden. Wichtig ist, dass die »Spielregeln« klar sind, um Sicherheit zu vermitteln und den Schüler*innen zu helfen, sich auf diesen zunächst ja durchaus ungewohnten Zugang einzulassen.

Es folgt die Hinführung, die in die konkrete Geschichte einführt, um die es jetzt gehen soll:

Unsere Reise führt uns ungefähr 3000 Jahre zurück in die Wüste zu einer Großfamilie, die als Nomaden große Herden von Ziegen und Schafen hat, von denen sie lebt. Die vielen Kinder – 12 Söhne und eine Tochter – sind überwiegend schon erwachsen und hüten die Tiere. Sie stammen allerdings nicht alle von der gleichen Mutter – wie damals üblich hat ihr Vater Jakob mehr als eine Frau. Er hatte zwei Schwestern geheiratet und hat mit ihnen, aber auch mit deren beiden Mägden Kinder bekommen. Seine Lieblingsfrau, Rahel hieß sie, hatte allerdings lange auf Kinder warten müssen und als sie ihren ersten Sohn Josef bekam, war Jakob schon recht alt. Bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb sie dann. Der Vater ist wie in allen Familien das Oberhaupt der Familie und entscheidet über die Frauen und auch über die erwachsenen Kinder. Josef ist mittlerweile herangewachsen und Teil dieser Familie mit vielen Halbgeschwistern, unter denen es nicht nur friedlich zugeht. In dieser Geschwisterschar hat er eine besondere Rolle und gleichzeitig ist er Hirte wie alle seine Brüder.

Die Hinführung erzählt den Hintergrund und den Kontext der biblischen Geschichte. Sie vermittelt historische und sozialgeschichtliche Informationen, die die Schüler*innen benötigen, um den Text zu verstehen – sie müssen wissen, wie Großfamilien mit einem Mann und mehreren Frauen damals strukturiert waren, welche Rolle der Vater hatte und wie Nomaden lebten. Indem die Hinführung alles erzählt, was man wissen muss, um den Text zu verstehen, löst sie ihre Versicherung aus dem Prolog ein, dass es keine falschen Antworten geben wird. Es wird ermutigt, der Bibel auch ohne Voraussetzungen zu begegnen ohne Nachteil gegenüber denjenigen, die schon viel Kontakt zu ihr hatten.

Gleichzeitig weckt die Hinführung die Fantasie der Teilnehmenden zu dieser Geschichte und ermöglicht erst die Identifikation. Sie führt in die so genannte »trance« hinein, in der Menschen von heute sich darauf einlassen, eine Geschichte einer anderen Zeit und Kultur von innen heraus zu erleben. Dass dies gelingt, wird dann deutlich, wenn sie anschließend in der Ich-Form sprechen.

Der eigentliche Bibliolog beginnt:

Die Situation ist so (Gen 37,2–3 werden gelesen [hier nach der Einheitsübersetzung]): Als Josef siebzehn Jahre zählte, also noch jung war, weidete er mit seinen Brüdern, den Söhnen Bilhas und Silpas, den Frauen seines Vaters, die Schafe und Ziegen. Josef hinterbrachte ihrem Vater, was die Brüder Böses taten. Jakob liebte Josef unter allen seinen Söhnen am meisten, weil er ihm noch in hohem Alter geboren worden war. Er ließ ihm einen Ärmelrock machen.

Als erstes werden die Schüler*innen gebeten, sich in Josef hineinzuversetzen: Ihr seid Josef. Josef, du hast ein besonderes Verhältnis zu deinem Vater. Du erzählst ihm, was deine Brüder Böses tun und er liebt dich mehr als deine Geschwister. Nun schenkt er dir ein besonderes Kleidungsstück. Josef, wie ist das für dich?

Die Lehrkraft spricht die Schüler*innen als »Josef« an (auch Oberstufenschüler*innen werden in den Rollen geduzt) und stellt ihnen eine Frage, die in dieser Szene nahe liegt, jedoch offen bleibt (»enroling«): Was ist eigentlich der erste spontane Gedanke des beschenkten und damit bevorzugten Sohnes? Dabei werden keine Fragen gestellt, die durch den Verlauf der weiteren Geschichte beantwortet werden – Josef wird beispielsweise nicht gefragt, ob er das Geschenk annimmt oder zurückweist. Die Fragen knüpfen an Lebenserfahrungen der Schüler*innen an und nutzen auf diese Weise die Erfahrungsanalogien der biblischen Geschichten zum heutigen Leben. Hier können Erfahrungen von Beziehungen zu den Eltern, Geschwisterrivalitäten, ungleichen Verhältnissen, Bevorzugungen, überraschenden großen Geschenken, dem Anprobieren neuer Kleidungsstücke etc. eingebracht werden.

Verschiedene »Josefs« (je nach Alter und Schulform in unterschiedlichen Sprachformen) antworten darauf beispielsweise:
»Cool, der steht mir bestimmt richtig gut. Macht mich besonders …«
»Was hat der nur immer, ich bin doch nichts Besonderes!«
»Oh danke, den kann ich gut gebrauchen, der alte war schon kaputt.«
»Papa ist echt der Beste, der weiß einfach, was ich brauche und das Geld sitzt auch ziemlich locker.«
»Das macht meine Brüder bestimmt total neidisch. Und die mögen mich sowieso nicht besonders. Jetzt werde ich erst richtig gemobbt. Keine gute Idee, Papa!«
»Die anderen werden das blöd finden, aber das macht mir nichts. Die könnten ja auch mal ein bisschen netter zu Papa sein.«

Was welcher Schüler und welche Schülerin äußert, wird dabei von seinem bzw. ihrem spontanen Zugang zum Text geprägt und ist immer auch eine eigene Deutung des Textes. Dabei fließen die persönlichen Lebenserfahrungen und auch die jeweilige Persönlichkeit ein – für die eine mag der Stolz über das besondere Kleidungsstück näher liegen, für den anderen die Zuneigung des Vaters und für wieder andere die Sorge vor dem Ärger mit den Geschwistern. Gleichzeitig werden in der Regel Lebenserfahrungen nicht unbedingt direkt in eine Äußerung umgesetzt, sondern oft wird auch eine andere Rolle ausprobiert als man sie im Alltag hat: Wer sich als jüngere Schwester sonst eher anpassen muss, kann sich im Bibliolog vielleicht gerade mal über die Geschwister hinwegsetzen.

Durch die verschiedenen Äußerungen entsteht ein Interpretationsspektrum, das im Text angelegt ist und in jedem Bibliolog auf unterschiedliche Weise gehoben wird. Auch wenn man den gleichen Text mit ähnlichen Lerngruppen öfter als Bibliolog inszeniert, gibt es immer wieder Neuentdeckungen und Überraschungen. Dabei sind tatsächlich alle Äußerungen wertvoll und wichtig, sie werden nicht nach ihrer »Qualität«, ihrem »Tiefgang« oder gar ihrer »Originalität« beurteilt.

Methodisch wird dies auch dadurch deutlich, dass die Lehrkraft alle Äußerungen im so genannten »echoing« in eigenen Worten wertschätzend wiedergibt. Damit macht sie sie zudem für alle hörbar und sorgt dafür, dass sie noch etwas länger im Raum stehen. Die Würdigung wird durch Tonfall und Gestik unterstrichen. Die Bibliologin hebt dabei vielleicht nur angedeutete emotionale Gehalte hervor und spitzt Andeutungen zu. Es besteht auch die Möglichkeit, im »interviewing« noch einmal nachzufragen. Durch die wertschätzende und offen-neugierige Haltung der Lehrkraft ohne jede Korrektur, Ergänzung oder Wertung wird der Unterschied zum – mit Recht verpönten – »Lehrerecho« deutlich, das Äußerungen von Schüler*innen durch die Wiederholung der Lehrkraft ab- statt aufwertet. Von den Schüler*innen wird das wertschätzende echoing in der Regel als sehr unterstützend erfahren. Auch Äußerungen, die die Lehrkraft selbst theologisch oder als Mensch nicht teilt (wie vielleicht die eines Josefs, der sich durch das Geschenk berechtigt fühlt, auf seine Brüder herabzublicken) gibt sie ebenso wertschätzend wieder wie solche, die auf ihrer eigenen Linie liegen – denn alle sind mögliche Deutungen einer biblischen Gestalt, die unseren Zugang zu diesem Text erweitern und bereichern. Gerade dadurch, dass unterschiedliche Antwortmöglichkeiten laut werden, wird eine bestimmte Deutung nicht verabsolutiert und das reiche Potenzial des Textes wird sichtbar. Auch dadurch wird der Eindruck gebannt, man wüsste nun, wie es »wirklich« gewesen sei.

Dann geht der Bibliolog weiter:

Nach einigen Äußerungen führt die Lehrkraft die Geschichte weiter, liest einen nächsten Satz oder Abschnitt oder bittet die Teilnehmenden, eine nächste Rolle zu übernehmen.

(Gen 37,4) Als seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, hassten sie ihn und konnten mit ihm kein gutes Wort mehr reden.

Einer der Brüder wird gefragt: Ihr alle seid Gad, einer der Brüder von Josef. Gad, als du deinen Bruder mit diesem Geschenk von eurem Vater siehst, hasst du ihn und kannst nicht mehr freundlich zu ihm sein. Was ärgert, was trifft dich am meisten?

Anschließend wird der erste Traum des Josef gelesen (Vv.5–7): Einst hatte Josef einen Traum. Als er ihn seinen Brüdern erzählte, hassten sie ihn noch mehr. Er sagte zu ihnen: Hört, was ich geträumt habe. Wir banden Garben mitten auf dem Feld. Meine Garbe richtete sich auf und blieb auch stehen. Eure Garben umringten sie und neigten sich tief vor meiner Garbe.

Dazu kann Josef gefragt werden: Was bringt dich dazu, deinen Brüdern von diesem Traum zu erzählen?

Dann wird weitergelesen (Vv.8–11): Da sagten seine Brüder zu ihm: Willst du etwa König über uns werden oder dich als Herr über uns aufspielen? Und sie hassten ihn noch mehr wegen seiner Träume und seiner Worte. Er hatte noch einen anderen Traum. Er erzählte ihn seinen Brüdern und sagte: Ich träumte noch einmal: Die Sonne, der Mond und elf Sterne verneigten sich tief vor mir. Als er davon seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sagte zu ihm: Was soll das, was du da geträumt hast? Sollen wir vielleicht, ich, deine Mutter und deine Brüder, kommen und uns vor dir zur Erde niederwerfen?

Dazu kann die Schwester Dina gefragt werden: Dina, dein Bruder erzählt bereits zum zweiten Mal einen Traum, in dem er eine besondere Rolle euch gegenüber hat. Was meinst du dazu?

Zu jeder Frage äußern sich Einzelne, und es erfolgen echoing und interviewing.

Der Perspektivenwechsel zu einer anderen Rolle beleuchtet die Geschichte von verschiedenen Seiten und ermöglicht tiefere Einsichten in diese. Ambivalenzen können deutlich werden, Verständnis für die vermeintlich »Bösen« kann geweckt werden (als solche werden die Brüder in manchen Kinderbibeln geschildert, wenn sie ihren Bruder später töten wollen und dann verkaufen). Er ermöglicht auch, unterschiedliche Zugänge zwischen Gefühl und Verstand, Erleben und Gedanken anzusprechen. Nicht jede Rolle liegt jedem Menschen gleichermaßen, sodass sich bei verschiedenen Rollen oft unterschiedliche Schüler*innen melden.

Zu Wort kommen im Bibliolog nicht nur die namentlich genannten Hauptpersonen, sondern auch Nebenrollen wie die Schwester Dina (von der wir aus Gen 30,21 und 46,15 aber wissen); es kann aber auch der Knecht sein, der die Brüder gut kennt. Wenn Klassen mit dem Bibliolog bereits vertraut sind oder solche Zugänge aus anderen Zusammenhängen kennen, kann auch der »Ärmelrock«, also eine nicht-menschliche Rolle, gefragt werden, wie er das Ganze eigentlich erlebt. Manchmal sind solche sonst rasch »übersehenen« Rollen Schlüsselrollen zum Verständnis der Geschichte. Sie bieten zudem eine Möglichkeit, die männliche Überlast biblischer Rollenangebote auszugleichen und dabei indirekt zu vermitteln, dass Frauen und Männer, Mädchen und Jungen im Licht der biblischen Botschaft gleichwertig sind.

Schon jetzt dürfte deutlich werden: Auch wenn die Lehrkraft inhaltlich zurücktritt, liegt es ganz entscheidend an ihrer Vorbereitung und Leitung, ob die Begegnung zwischen Text und Teilnehmenden gelingen kann. Ihre sorgfältige theologisch, hermeneutisch und methodisch reflektierte Vorbereitung bahnt den Weg für diese Art von Auseinandersetzung mit dem biblischen Text. Ihre Aufgabe ist es, durch die Auswahl der Szenen, Rollen und Fragen die Wahrnehmung auf Aspekte zu lenken, die der Linie des Textes gerecht werden und wertvolle Einsichten in ihn ermöglichen, ohne jedoch die Perspektive der Teilnehmenden so stark zu lenken, dass diese auf eine Sicht festgelegt werden. Dies braucht bestimmte Kompetenzen (für die das Erlernen des Bibliologs wichtig ist), aber auch eine von Wertschätzung und Vertrauen getragene Haltung sowohl gegenüber den Schüler*innen als auch gegenüber den biblischen Texten (mehr dazu unter 2.2).

Der Bibliolog kommt dann an sein Ende:

Nach in der Regel drei bis fünf Rollen schließt der Bibliolog mit dem »deroling«, mit dem die Schüler*innen aus den Rollen entlassen werden. Möglicherweise gibt es noch einen Ausblick, wie die Geschichte weitergeht. In jedem Fall wird der Text noch einmal gelesen, damit das »schwarze Feuer« das letzte Wort hat und der Unterschied zwischen Text und seinen Deutungen kenntlich wird. Die unterschiedlichen Aussagen und damit auch die unterschiedlichen Zugänge zum biblischen Text bleiben nebeneinander stehen und werden nicht in eine einheitliche Botschaft aufgelöst.

Der Bibliolog inszeniert die Bibel damit als ein deutungsoffenes Buch, das keinen Autoritätsanspruch stellt, sondern zur Auseinandersetzung und eigenen Positionierung auffordert. Er geht daher davon aus, dass biblische Texte nicht den einen Sinn und die eine Aussage haben, die man nur finden muss. Im Gegenteil nimmt er – und darin ist er sich mit der heutigen Bibelwissenschaft übrigens einig – eine Mehrdeutigkeit biblischer Texte an. Dass keine Deutung die einzig richtige ist, wird dadurch unterstrichen, dass andere Äußerungen, die andere Deutungen beinhalten, im echoing ebenso wertschätzend wiedergegeben werden wie die eigene.