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Olaf Müller

Allerseelenschlacht

Kriminalroman

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Zum Buch

Der Krieg war nicht genug Henri-Chapelle, amerikanischer Militärfriedhof in Belgien, nahe bei Aachen. US-Veteran Ray Bell, mittlerweile 85 Jahre alt, reist an, um seine Kameraden Eric und Gerald beim Memorial Day zu ehren. Sie kämpften Ende des II. Weltkriegs in der Allerseelenschlacht im Hürtgenwald und bei der Ardennenoffensive. Beide Kameraden wurden von drei SS-Soldaten grausam ermordet. Paul Verhoven, einer der SS-Männer, treibt kurz vor den Feierlichkeiten tot im Stausee von Obermaubach. Der Aachener Kommissar Fett übernimmt den Fall. Rache und Nazi-Raubkunst könnten Motive sein. Verhoven arbeitete im Leopold-Hoesch-Museum in Düren. Dort gab es mysteriöse Verluste hochwertiger Kunstwerke. Weitere Spuren führen nach Maastricht und Reims. Dort leben die beiden anderen SS-Männer. Doch wie lange noch? Und welche Rolle spielt der Sohn von Ray Bell, ein CIA-Agent aus Arlington in Virginia? Fett kooperiert mit den Kommissarinnen Catherine Kaufmann in Reims und Chantal Kalumba in Lüttich. Ein Wettlauf gegen den Tod beginnt.

Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien sowie Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Olaf Müller hält Vorträge u. a. zum Thema Heimat und Identität. Als Segelflieger kennt er die Eifel aus der Luft.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Rurschatten (2018)

Allerseelenschlacht (2019)

Die Macht am Rhein (2019, mit Maren Friedlaender)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Gottfried Carls / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6148-4

Anfang

Ray Bell duckte sich. Die Erde zitterte. Äste prasselten auf ihn. Sein Trommelfell brannte. Blut tropfte aus der Nase. Eine Verständigung war nicht möglich. Neben ihm lag der Arm von Lou. Er qualmte an der Stelle, wo Kruppstahl Haut und Knochen durchtrennt hatte. Das Heulen der Raketenwerfer nahm seit Stunden kein Ende, jetzt kam das dumpfe Dröhnen der Königstiger. Ray versank in seinem Schützenloch, das bis zu den Knöcheln voll Wasser stand. Er murmelte: »Oh my God! Oh my God!« Ein weiterer Einschlag. Mörsergranate. Sie schaufelte Dreck und nasses Laub auf ihn. Er hörte nicht die Rufe von Mastersergeant Elias, er hörte keine Stimmen mehr, nur das Dröhnen der Königstiger eines SS-Verbandes, in dem niederländische und französische Freiwillige neben deutschen SS-Junkern kämpften. Er lag in seinem Schützenloch und konnte sich nicht bewegen. Die Panzermotoren wurden immer lauter. Die 8,8-Zentimeter-Kanone des Kampfpanzers nahm die Bunker unter Beschuss. Er hörte deutsche Befehle, manche brüllten auf Niederländisch oder Französisch. Das Schreien der Kameraden wuchs an. Handgranaten flogen. Auf seinen Helm prasselten Erde und Äste. Ray schaute aus dem Schützenloch. Er sah, wie sich Eric und Gerald ergaben. Sie gingen mit erhobenen Händen auf zwei SS-Männer zu. Die lachten und winkten sie heran. Ein dritter SS-Mann näherte sich von der Seite. Er schleppte etwas auf dem Rücken, das nach einem Essensbehälter aussah. Es war ein Flammenwerfer Modell 41. Er richtete ihn auf Eric und Gerald. Ray konnte den Blick nicht abwenden. »Mach, Paul. Komm op! Allez! Mach schon! Komm op!« Paul, Paul, Paul. Es hämmerte im Kopf von Ray. Dann hörte er das Rauschen der Flammen.

Blick zurück im Zorn

Stöhnend wachte Ray Bell an diesem Sonntag im Best Western Hotel in Eupen auf, in dem er vor zwei Tagen abgestiegen war. Er war nass. Nass vor Schweiß. Wieder der Albtraum. Wieder Ardennenoffensive, wieder SS.

3.47 Uhr zeigte seine Armbanduhr. Ray Bell schlurfte zum Badezimmer, drehte den Hahn auf und schaute in den Spiegel. Er sah das Gesicht eines 85-Jährigen, der mit 17 Jahren in der Normandie an Land gespuckt worden war, Omaha-Beach, Abschnitt »Easy Red«, zweite Welle, Überlebenschance 40 bis 50 Prozent. Er hatte überlebt. So gerade. Das zählte. Er öffnete das Fenster, ging zu seinem Nachttisch und nahm die Packung »Sweet Afton«. Ray Bell zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich aus dem Fenster und schaute auf die Sterne und den Springbrunnen vor dem Hotel. Seine Zigarette glühte wie ein kleiner Stern. Seit er in die USA zurückgekehrt war, damals, 1945, rauchte er. Täglich. Altersflecken bedeckten beide Handrücken, die grauen Haare waren akkurat geschnitten. Er war gut in Form für sein Alter.

Ray Bell arbeitete nach dem Krieg als Lehrer in Arlington, Virginia. Er unterrichtete an der Arlington Mill High School Politik und Geschichte. Von den Veteranentreffen hielt er sich fern, denn nach den Begegnungen waren die Albträume schlimmer. Überlebt hatten Küchenpersonal, Fahrer, Fernmelder und Funker. Von denen, die bei der Ardennenoffensive in einem Erdloch lagen, war er einer der wenigen Soldaten. Ein Gegenstoß der Charlie-Kompanie rettete ihm das Leben. Sie fanden ihn traumatisiert im Erdloch, begraben unter Laub, Ästen. Er kam nach Spa. Als er zwei Wochen später erstmals sprach, fragte er nach Eric und Gerald. Die Krankenschwester holte den Arzt, der wusste mehr.

»Sie sind tot. Verbrannt. Ist kein Trost, aber die Charlie-Kompanie hat die SS-Truppe fast vollständig vernichtet.«

»Flammenwerfer, was wurde aus dem Flammenwerfer?«, fragte Ray. »Paul, er hieß Paul. Der hat sie verbrannt. Haben sie den erwischt?«

»Sorry«, sagte der Arzt, »davon weiß ich nichts. Ich hoffe es. Verdammter Bastard.«

Kurz danach wurde Ray zu seiner Einheit gebracht. Seine Einheit? Er kannte kaum einen der jungen Soldaten, die im Schnelldurchlauf in Fort Bragg ausgebildet wurden und vielleicht 14 Tage überlebten. Allein Mastersergeant Elias war noch da. Er grüßte ihn stumm.

Die jungen Soldaten fragten ihn, wie es im Hürtgenwald bei der Allerseelenschlacht und bei der Ardennen­offensive war. Er sagte nur »FUBAR«. Sie schauten ihn mit naiven Augen fragend an. »Fucked up beyond all recognition, boys. Beschissen jenseits alles Erdenklichen.«

Der gute Hirte

Sonntag, der 20. Mai 2012. Am Freitag war Ray mit seinem Sohn William in Brüssel gelandet. Linienflug von Washington Dulles International Airport. Er wollte im Jahr seines 85. Geburtstags zu den Gräbern von Eric und Gerald in Henri-Chapelle, dem amerikanischen Militärfriedhof, nicht weit von Eupen und Aachen gelegen. Schließlich kamen sie jede Nacht zu ihm, seit 67 Jahren. Seine Frau Janet wehrte sich gegen die Reise. Sie wollte nicht mit ihm nach Europa, nicht auf das Schlachtfeld. Sie fürchtete sich und hatte Angst um Ray und vor der Wiederkehr der traumatischen Erinnerungen. 2008 starb sie an Brustkrebs. Ray Bell lebte von da an alleine; zuerst in seinem Bungalow in Arlington. 2010 zog er ins Goodwin House Alexandria, in der Fillmore Avenue, eine Seniorenresidenz. Er fühlte sich dort gut aufgenommen.

Memorial Day fiel auf den 26. Mai 2012, ein Samstag. Dann würde er Eric und Gerald besuchen und einen Kranz nur für sie mitbringen. Sie lagen dort neben 7.900 anderen US-Soldaten. Am Memorial Day wird am letzten Montag im Mai an die gefallenen US-Soldaten erinnert. Die Feier findet in Henri-Chapelle an dem Samstag vor dem Montag statt. Amerikaner, Belgier und ehemalige Alliierte sind unter sich. Lange waren Deutsche nicht gewünscht. Heute könnten sie kommen. Sie tun sich schwer mit ihrer Verantwortung für die Tausenden Toten, darunter die drei Brüder der Familie Tester, die nebeneinander in Gräbern liegen. 37 Brüderpaare und auch die Soldaten einer Versorgungseinheit, bestehend aus farbigen Soldaten, die bei der Ardennenoffensive überrannt wurden, haben ihre letzte Ruhe in Henri-Chapelle gefunden. Die farbigen Soldaten versteckten sich bei der Ardennen­offensive in einem Bauernhof bei Wereth. Sie wurden entdeckt, gefoltert und von der Waffen-SS ermordet.

Ray Bell zog den Vorhang zurück, ging zum Bett und legte sich hin. Nacht in Eupen.

Sein Sohn Will, 1962 geboren, begleitete ihn und wusste von den Albträumen. Als Kind traf er seinen Vater nachts auf der Veranda, wenn er, Will, ein Glas Milch aus dem Kühlschrank holte. Er sah das Glühwürmchen draußen und wusste, dass sein Vater dort saß und rauchte. Warum er das tat, erfuhr Will, als er mit 18 Jahren Soldat werden wollte. Ray nahm seinen Sohn beiseite und erklärte ihm, was Krieg bedeutet: Schmerz, Lüge, Grausamkeit und Tod. Er erzählte ihm von seinen Albträumen, von Eric und Gerald und von dem Mann namens Paul. Ein Name, den Ray kaum aussprechen konnte. Wer war dieser SS-Mann, der zwei wehrlose Soldaten verbrannte? Seine Rachefantasien kamen und gingen. Will hörte aufmerksam zu. Es bestärkte ihn in seinem Willen, den USA zu dienen. Will kämpfte bei der Befreiung Kuwaits und meldete sich danach für die Agency, die CIA. Er wurde Verbindungsmann zum Simon-Wiesenthal-Zentrum und Spezialist für Wehrmachtsverbrecher, die weiter unerkannt in den USA und in Südamerika lebten. Seit der Amtszeit von Clinton war der Druck auf die Regierung gewachsen, endlich dieses Kapitel zu beenden. Schließlich waren zahlreiche schwer belastete Offiziere der Wehrmacht und der SS direkt nach dem Krieg in den USA untergetaucht; andere setzten ihr Wissen im Kampf gegen den Kommunismus für die USA ein. Will war ein guter Jäger, ein verdammt guter Nazi-Jäger. Er war entschlossen, den Albträumen ein Ende zu bereiten.

Er trug alle Unterlagen über die Kämpfe an den ersten Tagen der Ardennenoffensive zusammen, erhielt Auskunft vom Bundesarchiv und Amtshilfe der deutschen Dienste. Er fand Paul Verhoven, so wie er viele gefunden hatte. Große und kleine Verbrecher, Wachleute in den Vernichtungslagern und Führungsoffiziere im Reichssicherheitshauptamt. Will wusste, wie er mit einigen Suchbefehlen die Namen der Soldaten ermitteln konnte. Er hatte ihn gefunden. Paul, den Paul, der 1944 den Flammenwerfer bediente: Paul Verhoven. Keine große Nummer. Ein seit Frühjahr 1945 vermisster SS-Standartenjunker einer Einheit, die aus jungen niederländischen und französischen Nazis und SS-Nachwuchs bestand. Er leitete einen Zug oder eine Gruppe der dritten Kompanie des vierten Regiments. Sie waren fanatisch, machten keine Gefangenen. Die meisten dieser jungen SS-Soldaten kamen ums Leben, andere versuchten unterzutauchen, gaben sich als Widerstandskämpfer aus, versteckten sich. Paul Verhoven, wie es aussah, lebte in Kreuzau bei Düren. Will hatte alles recherchiert. Er kannte den Wohnort und den Lebensweg. Das Dossier »Memorial Day« war in Will Bells Computer. Er würde den Albtraum beenden. So oder so.

Chinatown, Montagmorgen,
21. Mai 2012

Kriminalhauptkommissar Michael Fett lief eine Runde über den Lousberg. Mitte Mai war die Luft frisch, unverbraucht, klar. Der Winter war endgültig verschwunden. Er atmete tief ein, lief im Uhrzeigersinn über die Wege rund um den Berg und schaute auf die Türme der Studentenwohnheime. Dort ermittelte er mit seinem Kollegen Bernd Schmelzer. Eine chinesische Studentin war aus der siebten Etage eines Studentenwohnheims gestürzt. Sie hatte Kleidungsreste unter den Fingernägeln. Ein verdächtiger Student saß in Untersuchungshaft. Seltsamer Fall, dachte Fett und beschleunigte das Tempo. Es war Montagmorgen, der 21. Mai 2012, 6.30 Uhr. Die Sonne schien auf seinen Rücken, als er die Wohntürme betrachtete, wo auf manchen Etagen nur ausländische Studenten lebten. Er hatte sich gut gehalten für einen Mann Ende 50. Volles grau-braunes Haar, Sportabzeichen jedes Jahr, keine Brille, die blauen Augen waren wach, mit seinen 1,80 Meter dampfte er über den Waldweg. Der Arzt war zufrieden, bis auf die Cholesterinwerte. Die verwechselte Michael Fett immer, die guten und die schlechten. Und ändern würde er nichts mehr. Vielleicht weniger Fast Food. Junge Studenten zogen an ihm vorbei. Er hielt sein Tempo; noch 15 Minuten, dann Kaffee, Toast mit Erdbeermarmelade, vielleicht ein Ei zur Freude des Cholesterinspiegels.

Am 17. Mai hatte Wolfgang Schäuble den Karlspreis erhalten. Bei ihm galt höchste Sicherheitsstufe. Die Bankenkrise katapultierte den Finanzminister in das Auge des Orkans und der Kapitalismusgegner. Deshalb mussten bei diesem Karlspreis sämtliche Kräfte für die Sicherheit sorgen. Urlaubssperre für die Aachener Polizei und Unterstützung aus Köln und Düsseldorf. Alles war glatt gelaufen. Christine Lagarde hielt die Dinnerspeech und Jean-Claude Juncker die Laudatio. Keine besonderen Vorfälle. Fett und Schmelzer observierten in ziviler Kleidung in der Innenstadt. Sie hätten den Vatertag gerne anders verbracht. Fett wäre zu Iska Sonntag gefahren und Schmelzer wäre lieber mit seinem vierjährigen Sohn nach Bubenheim ins Spieleland aufgebrochen. Justus Schmelzer, so der Sohn, bekam vom Vater heimlich die Vorzüge fleischhaltiger Nahrung beigebracht: Mailänder Salami, Ardenner Schinken, Fleisch- und Bratwürste. Seine Frau entspannte auf einem Fortgeschrittenenkurs zur vegetarischen Küche in der VHS. Das hätte alles gepasst. Finanzminister und Karlspreis hatten ihre Planung durcheinandergebracht.

Um 8 Uhr war Fett im Polizeipräsidium in der Hubert-Wienen-Straße: Nachbesprechung des Karlspreis-Einsatzes.

»Morgen, Kollege Bäcker, woher der Sonnenbrand?«

Otto Bäcker saß in der Pförtnerloge des Polizeipräsidiums und lächelte mit roten Backen, roter Stirn, roter Nase.

»Garten oder Malle?« Fett mochte den Kollegen, der immer lächelte. Andere, die immer lächelten, waren ihm suspekt.

»Garten nach der Reha«, lachte Bäcker.

»Reha wegen Sonnenbrand?«

»Rücken, Bandscheibe.« Otto Bäcker verzog das Gesicht.

»Rücken hab ich auch. Nationalkrankheit. Also alles im Lot. Sogar die Kanzlerin hat Rücken und unser Polizeipräsident. Du bist in bester Gesellschaft.«

Bäcker lachte über beide Backen.

»Bis später. Und viel Spaß bei der Massage.«

Fett nahm die Treppen zum Besprechungsraum, begrüßte einige Kollegen und lächelte der neuen Leiterin vom Staatsschutz, Hauptkommissarin Ventzke, zu. Sie lächelte zurück. Na, dachte Fett, endlich fängt eine Woche gut an.

»Ist der Platz neben Ihnen frei, Frau Kollegin?«

»Nur für Sie, Herr Fett, nur für Sie.« Gabi Ventzke mochte den humorvollen Kollegen von der Mordkommission. Kein schlechtes Aftershave, dachte sie.

»Wenn Sie so lächeln, Frau Ventzke, muss ich diese Sitzung durch überflüssige Fragen in die Länge ziehen.«

»Wagen Sie es nicht, Herr Fett, sonst können Sie Ihre nächste Einladung zum Crémant vergessen.«

»Sakra, ich werde schweigen wie ein Grab und den Einsatzleiter zur Eile antreiben.«

»Kolleginnen und Kollegen, wir wollen pünktlich beginnen.« Kriminalrat Holten eröffnete die Nachbesprechung, die, wie immer bei Kriminalrat Holten, ohne Fehler endete. Allerdings ermahnte er die Hundeführer. Rex vom Hagelkreuz und Hasso vom Feuerstein hatten beim Sprengstoffschnüffeln an die Tische für das festliche Abendessen gepinkelt. Ausgerechnet dort, wo Ehrengäste sitzen sollten. Das führte zu Verdruss beim Protokoll der Stadt und zu frischen Tischdecken. Der Leiter der Hundestaffel verteidigte seine Vierbeiner. Holten wurde ungehalten. Sollen die Hunde eben besser trainiert werden.

»Pinkeln ausschließlich auf Befehl. Dressieren Sie das. Verstanden!«

Fett schrieb eine SMS an Iska Sonntag: »Kino am Samstag? ›Ziemlich beste Freunde‹? Kiss M.« Knopfdruck. Gesendet.

»Herr Fett, Sie nehmen die Hundefrage nicht ernst.« Kollegin Ventzke stieß ihn seitlich an.

»Sehr ernst, Frau Ventzke, ich schreibe gerade an Prof. Grzimek und bitte um Amtshilfe.«

Hauptkommissarin Ventzke verdrehte schmunzelnd die Augen.

Nach Ende der Besprechung ging Fett zum Kollegen Schmelzer. »Chinatown«, hatten sie den Fall vom Studentenwohnheim genannt.

Li, so der Name der toten Chinesin, stammte aus Ningbo, der Partnerstadt von Aachen. Sie wurde gerade mal 19 Jahre alt. Wie viele chinesische Studenten hatte sie Maschinenbau belegt. Fett war überrascht von der großen Zahl der Studenten aus dem Land der Mitte. Früher stellten die Griechen die größte Gruppe. Manche kamen nicht weit, sie eröffneten ein Restaurant, ein Kafenio. Deshalb hatte Aachen, lange vor den anderen Städten im Umland, eine reichhaltige Auswahl von Restaurants mit den Namen »Dinosaurus«, »Theos Pinte«, »Akropolis«, »Zeus« und »Palladion«. Saganaki, Dolmadakia und Souvlaki gehörten bereits zu Fetts Wortschatz, als in der Region die Verwendung von Knoblauch in der Küche noch unbekannt war.

»Morgen, Schmelzer, gestern endlich in Bubenheim gewesen?«

»Ja, mir graust noch vor der Riesenrutsche. Mannomann, das ging ab wie eine Rakete. Und Justus vorneweg. War ein toller Tag mit ihm. Trampolin, Labyrinth, Tretauto, Wasser, Sand.«

»Hört sich gut an. Bestimmt mit Bockwürstchen, Cola und Blechkuchen.«

»Klaro, volles Programm. Ich kann den Dinkelbrei nicht mehr sehen, und Justus muckt bereits. Jetzt möchte meine Frau im Kindergarten ein vegetarisches Menü durchsetzen. Die Mutter von Lukas ist natürlich dafür. Ich beneide die Kindergärtnerinnen nicht. Kein Schweinefleisch, linksdrehender Joghurt, regionaler Anbau. Ich bin auch gewachsen, oder?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Wenn ich Sie anschaue, fallen mir einige Abweichungen von der Gaußschen Normalverteilungskurve auf. Nach neuesten Studien der Universität von Boston, vor Kurzem in einer anerkannten Wissenschaftsrevue publiziert, führt erhöhter Fleischkonsum zu Störungen des Sprachzentrums, zu Impotenz und Wackelohren. Schauen Sie mal in den Spiegel.«

»Stimmt, nur das mit der Impotenz ist bei mir ins Gegenteil umgeschlagen. Wie hieß die Zeitung, die hole ich mir.«

»Ausgabe drei 2011 des Fachblattes ›Apothekerblick‹. Oder war es die ›Bäckerblume‹?« Sie lachten.

»Zurück nach Chinatown. Was macht unser Verdächtiger? Wir sollten ihn noch mal verhören. Der hält nicht lange durch. Er soll sein Gewissen erleichtern. Tat im Affekt. Mildernde Umstände und so.«

Schmelzer kündigte einen Besuch in der Justizvollzugsanstalt an.

Little China Girl

Willi Rechner, 22, stammte aus Linnich und hatte mit dem Studium des Maschinenbaus begonnen, ohne sich über die Herausforderungen an der RWTH Aachen im Klaren zu sein. Dementsprechend rutschte der junge Mann immer tiefer mit seinen Punkten, bis ihm die Exmatrikulation drohte. Dann traf er Li in der Mensa, die einmal, ein einziges Mal, keinen Platz am Chinesentisch gefunden hatte. Sie fragte Willi Rechner, ob neben ihm frei sei. Dem plumpste vor Schreck die Bockwurst in die Linsensuppe, denn so eine Schönheit hatte bisher nicht neben ihm gesessen; eher Maschinenbauer in karierten Hemden und rot anlaufend, wenn eine Studentin in Armlänge vorbeiging. Li, die schlanke Schönheit aus Ningbo, schmunzelte, als sie die Schüchternheit von Willi bemerkte. Sie aß ihren Reisteller Bombay, so hieß der seit mindestens 50 Jahren, warum, das wusste niemand mehr. Zwischen den beiden entstand ein Gespräch, und Willi Rechner vergaß erstmals, eine halbe Flasche Maggi in seine Suppe zu kippen, wie er es seit Kindesbeinen in Linnich gelernt und gemacht hatte. Über den Dritten Thermodynamischen Hauptsatz kamen beide ins Gespräch, und Li erklärte sich zur Überraschung der Maschinenbauer bereit, Willi bei der letzten Chance in Mathematik zu helfen.

Das bekamen Fett und Schmelzer mit Sensibilität und sanften Fragen aus Willi Rechner heraus. Ob es zu mehr als Nachhilfe in Mathematik kam, wussten sie noch nicht.

»Herr Rechner, wir können Sie gut verstehen. Erleichtern Sie Ihr Gewissen und erklären Sie uns, was passiert ist. Sie waren vergangenen Samstag im Studentenwohnheim Otto-Intze-Haus bei Li zu Besuch. Das wissen wir von den chinesischen Studenten der Etage. Sie sind der Letzte, der Li lebend gesehen hat. Was ist passiert? Gab es Streit? Wollte sie mit der Nachhilfe aufhören?«

Willi Rechner schaute an Fett und Schmelzer vorbei auf die Wand.

»Sie sollte zurück. Nach China. Innerhalb einer Woche. Ihr Vater, ein Abteilungsleiter bei der Stadt, war verhaftet worden. Wie sagt man. Er war in Ungnade gefallen. Schluss mit dem Studium für die Tochter des verdienten Kommunisten. Sie war verzweifelt. Sie heulte. Sie wollte nicht zurück. Sie wollte in Aachen bleiben und studieren. Ich solle sie heiraten. Und zwar sofort. Ich sagte ihr, dass sie Papiere aus Ningbo brauche. Sie müsse noch einmal zurück. Da wurde sie aggressiv und riss an meinem Pullover. ›Nein. Nie mehr‹, rief sie, öffnete das Fenster. Ich wollte sie zurückhalten. Sie sagte: ›Ich hasse China. Ich hasse dich.‹ Sie sprang. Ich konnte nichts machen. Gar nichts. Ich bin rausgerannt. Dort lag sie und alle schauten. Ich bin zu meinem Zimmer gefahren. Da haben Sie mich gefunden.«

»Li hat Selbstmord begangen?«, Schmelzer schaute ihn an.

»Ja. Sie wusste, dass sie und ihre Familie in China alles verlieren würden. Die Welt verschloss sich für sie. Wir kannten uns gar nicht so gut. Ich mochte sie. Aber zwischen uns war nichts passiert. Ihre Verzweiflung machte mich rat- und hilflos. Ich habe sie auf dem Gewissen.«

Der junge Mann aus Linnich sackte zusammen. Seine Augen starrten ins Leere. Plötzlich war eine andere Macht in dieses Studentenleben getreten. Der große Arm der Kommunistischen Partei Chinas reichte bis Aachen und zerstörte zwei junge Leben. Eines davon unwiederbringlich.

Fett sah ihn aufmerksam an.

»Wir prüfen Ihre Aussage. Ich glaube Ihnen. Wir werden es dennoch überprüfen. Wir sehen keine weitere Veranlassung, Sie hier festzuhalten. Fahren Sie nach Linnich zu Ihren Eltern und Geschwistern. Ihre Aussage protokollieren wir. Danach können Sie gehen. Herr Rechner, Sie haben Li nicht auf dem Gewissen. Sondern die Partei, die Li für etwas bestraft, was sie nicht getan hat. Denken Sie daran.«

Fett und Schmelzer prüften den PC von Li. Volltreffer. Eine offizielle Mail von der Entsendungsstelle. Li sollte in einer Woche das Studium abbrechen und nach Ningbo zurückkehren. Sie informierten den Haftrichter und den Staatsanwalt.

»Den Fall können wir abschließen. Rechner ist kein Mörder. Er hat Li nicht aus dem Fenster gestoßen. Er macht sich genug Vorwürfe. Wir sollten die Hochschulleitung und das Akademische Auslandsamt über die Hintergründe informieren. So wichtig der wissenschaftliche Austausch ist, mit Drohungen aus China wird er zur Farce. Von dem Selbstmord und den Hintergründen wissen alle chinesischen Studenten. Die werden weniger Kontakt suchen, büffeln und unter sich bleiben. Vielleicht bespitzeln sie sogar einander.« Fett schüttelte den Kopf.

»Wir wissen zu wenig über die anderen Länder«, Schmelzer schaltete sich ein. »Es kommen junge Menschen nach Aachen, und wir wissen gar nicht, welchem Druck sie ausgesetzt sind. Schöner Mist. Da bekommt die Asien-Woche in der Kantine gleich eine andere Bedeutung.« Schmelzer versuchte, die gedrückte Stimmung aufzulockern.

Am späten Nachmittag war das Protokoll fertig. Sie ließen Willi Rechner kommen, der alles unterschrieb. Danach fuhr er nach Linnich.

Denn die einen sind im Dunkeln

Fett und Schmelzer machten Feierabend. Fett nahm seinen roten Alfa Romeo und fuhr zum Templergraben. Er schaute auf das Nummernschild des weißen Mercedes vor ihm. Der Schattenriss der Insel Sylt klebte daneben. Was sagt mir das, fragte sich Fett. Er kann es sich leisten, nach Sylt zu fahren, schaut, ich bin auf Sylt gewesen, »Hallo! Ich kann mir Sylt leisten.«, er liebt Sylt, er kommt von Sylt. Sylt, Sylt, Sylt. Wenn man manche Wörter oft hintereinander ausspricht, werden sie fremd. Jedenfalls unterscheidet er sich von anderen Autofahrern, die nicht Sylt auf dem Heck kleben haben, die mit einer Bierwerbung darauf hinweisen, dass sie Hopfenteetrinker sind oder ihre Kinder an Bord haben. Jemand hatte den bösen Aufkleber entworfen: »Die Namen eurer dicken Kinder interessieren mich nicht.« Der Ton im Land wurde härter. Angela Merkel regierte in der Schwarz-Gelben Koalition. Die CDU hatte am 13. Mai 2012 die vorgezogene Landtagswahl in NRW verloren. Guttenberg war vor einem Jahr zurückgetreten. Die Auswirkungen der Bankenkrise waren jeden Abend Thema eins in den Nachrichten. Griechenland kam nicht zur Ruhe.

Fast hätte Fett wegen Sylt die Abzweigung an der Wüllnerstraße verpasst. Er ließ den Alfa rollen, bog links in den Templergraben ein und fand sofort einen Parkplatz. Bingo.

Von dort aus ging er zu seinem Lieblingsdiscounter, in dem er die Kassiererinnen seit Jahren kannte und sich freute, wenn sie nach dem Ausflug in eine andere Filiale zurückkehrten.

Zwei Frauen mit Kopftuch, Röcken, die an Tischdecken der 50er-Jahre erinnerten und halbhohen Filzstiefeln à la Doktor Schiwago standen stumm neben den Mülltonnen am Eingang. Sie hielten beseelt eine Zeitung hoch. »Erwachet!«, lautete die Headline. Zeugen Jehovas. Neben den beiden wollte Fett nicht unbedingt beim Jüngsten Gericht erwachen. Er nickte aufmunternd, die beiden Frauen lächelten ihn meditativ und freundlich an. Chacun à son goût, dachte Fett – jeder nach seinem Geschmack.

Ein Dosensammler mit fleckiger Hose hing bis zum Oberkörper im Müllcontainer und schmiss leere Flaschen und Getränkedosen in seinen Rucksack. Am Eingang saß ein trommelnder Flötist, der mit einer undefinierbaren Klangsoße Almosen sammelte.

»Wenn die Schlange aus der Kiste kommt«, rief Fett ihm zu und zeigte auf den Karton, auf dem der Virtuose hockte. Der Flötist verstand den Witz nicht.

»Liebe Kunden, wir schließen Kasse drei. Bitte nicht mehr anstellen«, erklang es aus den Lautsprechern, als er von der Kühltheke mit italienischem Schinken, Cola light, Schwarzbrot und Lütticher Waffeln Richtung Kasse steuerte.

»Wie, keine Eier?« Der Muskelmann mit Nackentattoo in der Schlange verstand die Welt nicht mehr.

»Wir haben die Eier zurückgeschickt. Da war was drin. Mit Chemie und so.« Die Kassiererin musste den Satz an diesem Montag bereits dutzendmal gesagt haben.

»Wie, was drin? Logo, was drin. Keine Eier. Wat soll der Scheiß?« Der Vorstadt-Catcher wurde unruhig.

»Dann tausch ich jetzt die Trainingshose um. Dat Sonderangebot von die letzte Woche. Passt mir nicht. Zu klein.«

»Oder Sie zu dick«, patzte die Kassiererin, die an diesem Tag bereits drei Trainingshosen und fünf Leggings zurückgenommen hatte. Die Menschen gingen halt aus dem Leim. Aber mit Tattoo am Arsch.

»Zu dick! Alles Muskelmasse, junge Frau«, grunzte der Catcher und zeigte seine Muskeln.

»Zweite Kasse aufmachen!«, dröhnte es hinter Fett. Ein hyperaktiver Typ jonglierte mehrere Büchsen Bier und eine Flasche Wodka. Schwerer Fall von Entzug, dachte Fett.

Dingdong. »Liebe Kunden, wir öffnen Kasse drei für Sie.«

Fett stand wie immer in der falschen Schlange, und der eiersuchende Muskelmann vor ihm kramte frustriert seine EC-Karte aus der alten Trainingshose, um Tiefkühlpizzen und Energiedrinks zu bezahlen. Er hatte sein Deodorant mit WC-Reinigungsspray verwechselt. So kam es Fett vor.

Woher kam dieser härtere Ton, die Verwahrlosung ganzer Gruppen, die Alkohol- und Drogensucht? Menschen ließen sich zunehmend gehen, verloren Halt, kippten aus dem System. Manche ruhig, andere mit lautem Knall. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, kam Fett in den Sinn, von Kurt Weill und Bertolt Brecht. Hatte er im Stadttheater gesehen. Als er dienstlich in Berlin war, besuchte er das Grab von Brecht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße. Ein Ruhepunkt, dieser Friedhof. Allein das Grab von Konditormeister Egon Mraschny, schräg gegenüber von Johannes Rau, gab ihm zu denken. Der Konditor und der Bundespräsident schauten sich Tag und Nacht an. Wer in der subversiven Friedhofsverwaltung hatte sich das ausgedacht?

Draußen lächelte der Flötist versonnen und trommelte monotone Endlosrhythmen. Geprägt von starker Erdanziehungskraft näherte sich mit versetzten Schritten eine Gruppe harter Trinker. Zerfurchte Gesichter, verbrannte Nasen, gerötete Augen. Sie schrammten an Fetts Einkaufswagen vorbei und murmelten gutturale Laute. Eine Wolke aus Alkohol kam im Nachgang, vermischt mit saurem Schweiß und Nikotin.

Abseits des Sonnenscheins, da waren lange Schatten, Verwerfungen, Opfer. Die Gesellschaftsmaschine brauchte sie nicht mehr. Sie lebten up and away. Fett dachte an das Grundgesetz, Artikel 1, die Würde des Menschen und so weiter.

Nach den Szenen aus dem Alltag sprang er kurz in seine Wohnung, aß ein paar Scheiben italienischen Schinken und ging danach zum Ratskeller, der auf der Rückseite des Rathauses eine Terrasse besaß. Er brauchte Luft, Menschen, normale Gesichter, buntes Gewimmel, frischen Wind und ein Erfrischungsgetränk. Um die Uhrzeit schickte die Sonne noch ein paar Strahlen. Ein Platz in der hinteren Reihe gewährte Blick auf Dom, Katschhof und die Menschen an den Tischen vor ihm. Auf den Ehemann im Kurzarmhemd und seine Frau in einem zu knapp geschnittenen Rock, auf die beiden Freundinnen, die den dritten Hugo rasch verputzten, die Köpfe zusammensteckten und ab und an einen Blick zu ihm herüber warfen.

»Er fehlt mir«, sagte die Dunkelblonde in einem unförmigen Sackkleid.

»Ich kann das gut verstehen«, meinte die Hellblonde, »nach der langen Zeit.«

»Ja, sogar das Bett habe ich gewechselt. Dabei habe ich es so gemocht. Ich bin einfach nicht so weit.«

»Ich denk mal, das hast du gut gemacht, bestimmt wäre auch ein Therapeut nicht schlecht. Du musst achtsam mit dir sein, auch mit deiner Tochter Rosi. Sieh es einfach ganzheitlich.«

Fett dachte an den Verlust des Lebenspartners und war bereit, den Therapeutenjargon zu akzeptieren.

»Wir mochten Purzel sehr. Er war ein Teil von uns«, sagte da die Dunkelblonde.

Hunde sind die besseren Menschen – das Bonmot schoss Fett durch den Kopf. Armer Purzel. Hoffentlich findet sie einen ganzheitlichen Purzel-Therapeuten.

Er bestellte einen Crémant, wählte die Nummer von Iska Sonntag, seiner Freundin in Bonn, die dort das Sondereinsatzkommando leitete. »Iska Sonntag. Nachrichten nach dem Signalton.« Fett hauchte ein »Kiss, Michael« auf die Mailbox. Sie war im Einsatz. Er nahm einen Schluck des eiskalten Getränks, ohne zu wissen, dass ein neuer Fall auf ihn zukam, ein Fall, der ihn weit in die Vergangenheit zurückführen würde.

»Darf es noch etwas sein?« Die Kellnerin lächelte freundlich.

»Wenn Sie mich so fragen, bitte einen Espresso.«

»Einfach oder doppio?« Sie betonte auf dem ersten ›o‹, der Rest klang nach ›piu‹.

»Einfach, junge Frau. In meinem Alter muss man auf das Herz achten, dazu Ihr Anblick.«

Lachend verschwand sie im Ratskeller, Fett schaute auf das Oktogon des Doms oder Münsters oder der Kathedrale oder der Marienkirche. Immer stieß er auf die verschiedenen Bezeichnungen, wenn er für seine Freunde eine Führung vorbereitete. Anscheinend schrieben die Autoren voneinander ab. Auf den braunen Schildern an der Autobahn stand »Kaiserdom«. Woher die Bezeichnung kam, erklärte ihm niemand. Kaiserdom, so ein Quatsch. Er hatte sich angewöhnt, nach der Herkunft der Wörter zu fragen. Kaiserdom – Fehlanzeige. Keiner der vom Beten erschöpften Herren des Domkapitels konnte aufklären.

Eine Rollatorenreisegruppe ruckelte über das Kopfsteinpflaster des Katschhofes. Alle Köpfe nach links, alle Köpfe nach rechts. Gehhilfen in verschiedenen Variationen. Beige Übergangsjacken dominierten bei den alten Männern mit Krückstock, Freizeitjacken mit gefährlich vielen Schnüren bei den betagten Frauen. Gruppenausflug des Seniorenheims »Himmelsleiter« aus Roetgen. Ein programmatischer Name. »Himmelsleiter« und Seniorenwohnheim. Wäre eher eine Eins-a-Bezeichnung für ein Beerdigungsinstitut. Würde Fett eines Tages so durch eine Stadt wackeln? Entmündigt von einer jungen Führerin – »Ich bin die Steffi« –, immer auf der Suche nach einem öffentlichen WC, Butterbrote in der Plastiktüte, Pillen in einem Schächtelchen, Bockwurst vom Busfahrer, eine Wolke von 4711. Er bedauerte die Alten, die den Schutt weggeräumt hatten, die vom Krieg traumatisiert waren, nur gab es das Wort damals nicht. Reisebusse spuckten sie aus, warfen sie in die Stadt. Eisbein mit Sauerkraut wartete auf sie. Wieder ein Tag rum. Nächste Woche Moselfahrt; Traben-Trarbach für 34,90 Euro. Moselforelle inklusive. Zum Abschluss ein Schrumpfbembel mit Stadtlogo.

»Einfacher Espresso gegen die Herzschmerzen.«

»Ah, danke, wenn ich Sie sehe, geht es direkt besser.«

»Sie können ja noch was bestellen, dann sehen Sie mich öfters«, meinte die Kellnerin und legte beim Lächeln noch einen drauf.

»Gute Idee, bringen Sie mir die Speisekarte. Wer weiß, wie lange man noch draußen speisen kann. Ach, ein weiteres Glas Crémant, bitte, kalt. Hat mein Arzt empfohlen.«

»Den Arzt muss ich kennenlernen. Bin unterwegs.«

Fett schaute ihr nach und wunderte sich über seine Parliererei. Montag, Mann, es ist gerade Montag und eine Arbeitswoche steht bevor. Und schon perlt der Schaumwein. Das ist nicht gut. Sagte er sich. Er taumelte auf eine Lebenskrise zu. Etwas musste passieren, das kann nicht alles gewesen sein. Oder doch? Der Blick zurück ärgerte ihn. Rückblicke statt Ausblicke. Er haderte. Er haderte auch bei seinen Fällen. Was hat er übersehen, warum hat er nicht die richtige Frage gestellt, warum? Kollegen bereiteten sich bereits auf die Pension vor. Was hatte er neben dem Job? Er las neue Literatur. Theater, Kino, Ausstellungen – die Welt der Kunst faszinierte ihn. Die Buchhändler in Aachen kannte er persönlich. Er ging zu Lesungen und Diskussionen. Maxim Biller im Ludwig Forum, Tschingis Aitmatow im Kármán-Auditorium, Harry Mulisch und Herta Müller – er hatte sie gehört und gesehen, diese Vertreter einer anderen Welt, in der das Böse nicht täglich an die Tür klopfte.

Unten links drei plus. Die Zähne meldeten sich. Ungünstige Zeit. Sein Naschkatzendasein in der Kindheit, der Jugend, der Zeit bis Mitte 50, es forderte Tribut. Der nächste Besuch bei der Zahnärztin stand bevor. Zu ihr ging er gerne, sie war witzig, gebildet, informiert und machte ihre Arbeit ausgezeichnet. Manche Kariesruine hatte sie gerettet. Termin nicht vergessen. So verdrängte die Zahnärztin die Schriftsteller an diesem Montagabend, den Fett mit den »Tagesthemen« beenden wollte.

Er zahlte, ohne gegessen zu haben, und ging über den Marktplatz durch die Pontstraße in Richtung Wohnung. Karies und Lebenskrise, Sinnfrage, Liebesentzug, Hunger – alles ging ihm durch den Kopf, der nach den beiden Crémant leichter war. Er lächelte. Plötzlich kamen ihm Li und Willi Rechner in den Sinn. Absurd, dachte er. Nein, das war nicht das richtige Wort. Er mochte die Werke von Albert Camus und wollte dieses Wort nicht für den Tod der Studentin und das Leben von Willi Rechner verwenden. Tragisch, vielleicht tragisch. Eher grausam. Es ist grausam, wenn die Regierung ein Leben auf diese Weise zerstört, ein junges Leben, das Leben von Rechner, das Leben von Lis Eltern und von ihren Geschwistern. Den Fall wollte er nicht vergessen, sagte er sich, als er seine Wohnung betrat. Er aß eine Lütticher Waffel und wartete auf die »Tagesthemen«. Nach der Begrüßung durch Caren Miosga schlief er ein.

Die Unverbesserlichen

Paul Verhoven, 86 Jahre alt, rüstig, unbelehrbar, traf sich jedes Jahr in Vossenack auf dem Friedhof vor dem Denkmal der Windhund-Division mit Kameraden der Waffen-SS aus der Region. Seit 2007 fuhren sie danach zur ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang. Diese Nazi-Schulungsburg war wieder zugänglich, nachdem die Belgier ihr Übungsgelände 2006 geräumt hatten. Dort oben, im Adlerhof, versammelten sich die Kameraden, die von Jahr zu Jahr weniger wurden, an dem Samstag vor jedem 20. April, dem Tag des Führergeburtstags. Sie verharrten mehrere Minuten reglos, gingen an den Fenstern der geschlossenen Schenke vorbei in Richtung Turm, um von dort aus die Symmetrie der Anlage zu betrachten, man kann sagen, um sie zu bewundern. Sie wanderten zum Fackelträger, starrten auf die Einschusslöcher, vor allem unterhalb des Bauchnabels, die aus diesem steinernen Germanen einen steinernen Kastraten gemacht hatten.

Obersturmbannführer a.D. Hausen hielt seine Ansprache. Es war die des vergangenen Jahres und der Jahre zuvor. Ehre, Treue, Vaterland, Heldenmut, Kameraden, gefallen für den Führer, den Reichsführer, vaterlandslose Gesellen, Ritterlichkeit. Die Wörter rauschten an Paul Verhoven vorbei. Er schaute auf die Ästhetik der Nazi-Kunst, die Muskelmänner, die Helden, die nackten Kämpfer. In der Ordensburg wurde der Nachwuchs gedrillt. Gauleiter und Parteibonzen, die nach dem Einmarsch in Polen und Russland hinter der Front den Terror fortführten.

Paul Verhoven stammte aus Kreuzau. Seine Vorfahren waren Niederländer und Deutsche. Paul fuhr auch in diesem Jahr zuerst nach Vossenack und dann nach Vogelsang. Es war seine letzte Fahrt zum Geburtstag des Führers.

Stunde null

Paul Verhoven überhörte im Februar 1945 absichtlich den Befehl zum Abrücken. Als der Bauernhof in Jakobwüllesheim, in dem seine zusammengewürfelte Alarmeinheit lag, unter Artilleriebeschuss der Amerikaner geriet und mehrere Treffer den Bauernhof in Schutt und Asche legten, schrie er kurz auf, rollte sich in eine Ecke und wartete, bis alle Kameraden in dem Staub und Dreck verschwunden waren. Er hatte den Kleiderschrank des Knechts gefunden, seine SS-Uniform rasch ausgezogen und in die Güllegrube geworfen. In den Arbeitsklamotten wartete er auf die vorrückenden Amerikaner der 1. US-Division, der Big-Red-One, die bereits in der Eifel und den Ardennen gekämpft hatte.