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Nienke Jos

Die Einsamkeit der Schuldigen - Der Abgrund

Thriller

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Die Einsamkeit der Schuldigen – Das Verlies (2019)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Grigoriy Pil / shutterstock

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6050-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

An Entführer gerächt:
»Ich habe es für meine Freundin getan!«

Wie eine Mörderin sieht Ann B. nicht aus. Auch nicht wie jemand, der ein halbes Jahr zuvor verschwindet, um ein neues Leben zu beginnen. Weil sie die Ehe mit ihrem Mann nicht mehr ertragen habe, sei sie untergetaucht und in der Nacht zufällig Zeugin einer Entführung geworden. »Ich hätte doch meinen Namen angeben müssen«, so Ann B. auf die Frage, warum sie nicht die Polizei gerufen habe. »Ich habe nicht sofort erkannt, was der Mann vorhatte.« Dunkel sei es gewesen, und kalt. Dass eine Frau verschleppt worden sei, das habe sie nicht wahrhaben wollen. Ann B. nimmt in Kauf, dass die entführte Frau (Berne J. aus Kälberberg) ein halbes Jahr als Sexsklavin in einer verlassenen Waldhütte gefangen gehalten wird. »Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten«, weint Ann B. Einfach losgefahren sei sie und habe das entführte Opfer im Alleingang aus dem Verlies befreit. Verzweifelt und unter Tränen berichtet sie, dass sie die entführte Frau mit nach Hause genommen habe. Hilfe habe sie dennoch geholt, erzählt Ann B. stolz. Mithilfe des Psychiaters Theodor S. erhalte Berne J. fortan psychologische Betreuung. Medizinisch versorgt worden sei die junge Frau nicht. »Sie hatte ja nichts«, so Ann B., auch habe sie es nicht für notwendig befunden, die Polizei zu alarmieren. Dass DNA-Spuren wochenlang unter der Dusche weggespült worden seien, habe sie nicht bedacht, und dass der Entführer Thies H. in aller Ruhe Spuren beseitigen konnte, ebenfalls nicht. »Berne hatte es gut bei mir«, behauptet Ann B. uneinsichtig. Die echte Identität des Entführers habe sie nicht interessiert. »Ich habe ihn ›Der Aal‹ getauft und immerhin wusste ich, wie er aussieht.« Zufällig läuft sie dem Entführer Thies H. Wochen später über den Weg und ersticht ihn mit einem Steakmesser in einem Restaurant. Am helllichten Tag, aus dem Affekt heraus. »Ich habe es für meine Freundin Berne getan!«, gesteht Ann B. Ob sie wisse, dass der Entführer außerdem auf einem Video zu sehen sei? Ann B. reagiert erstaunt. Gefilmt wurde, wie drei Männer, darunter auch Thies H., die minderjährige Ewra W. brutal vergewaltigen. So brutal, dass sie an den Folgen innerer Verletzungen stirbt. Die Vergewaltiger Thies H., Ruben O. und Fitz M. schaffen die Leiche weg und verbrennen sie. Alle drei Männer sollen mit dem Video erpresst worden sein. Die Erpresserin soll eine Heirat mit Thies H. erzwungen haben, außerdem sei jahrelang Geld geflossen. Gegen die beiden Vergewaltiger Ruben O. und Fitz M. sowie gegen Ann B. wird nun ermittelt. Das entführte Opfer Berne J. sei laut polizeilichen Angaben verschwunden. »Die Frau ist extrem verwirrt und braucht dringend medizinische und psychologische Betreuung«, so der leitende Ermittler. Berne J. soll aus Ann B.s Wohnung geflohen sein und gilt als psychisch und körperlich labil.

Prolog – 1958

Lasius niger.

Weil Leen Roger so hässlich war, lag sie auf dem Bauch. Die Beine angewinkelt, die Füße überkreuzt, ihren Kopf in speckige Hände gestützt.

Ihr war es egal, dass sie hässlich war, dass andere sich quälten, sie anzuschauen, ihr grässliches Aussehen mitleidig bedauerten. Sie hatte zu tun. Sie beobachtete. Das tat sie immer. Beobachtete die mikroskopisch kleine Welt des monogynen Ameisenvolkes.

Leen brachte das Leben der schwarzen Ameisen hier und da ins Wanken. Nach Lust und Laune, nach Befinden und Belieben. Sie konnte die Welt der Hautflügler willkürlich erschüttern oder mit Geschenken überhäufen. Leen wahrte die Distanz einer erhabenen Göttin, an manchen Tagen gutmütig, an anderen böswillig.

Die winzig kleinen Arbeiterinnen, vielleicht drei, höchstens fünf Millimeter lang, krabbelten aus den unterirdischen Kammern und Gängen am Strand von Samsø. Geschäftig, gehorsam. Leen liebte sie. Sie waren robust, aggressiv, aphidophil. Der Eingang, ein winzig kleiner Nesthügel aus feinem Sand, befand sich zwischen den Steinen. Die Sonne glühend heiß, kein Lüftchen wehte, dafür war der Himmel gelb, aufgeladen, gewittrig. Die Insekten flogen tief, und mit ihnen auch die Schwalben. Bald musste sie aufbrechen, ein Unwetter nahte. Leen aber wollte sich noch nicht losreißen, beobachtete fasziniert, wie Arbeiterinnen einzelne Melonenstücke den Pfad entlang transportierten. Leens Geschenk als Zeichen ihres Bedauerns über die gestrige Böswilligkeit: Sie hatte eine schwarze Arbeiterin in das Volk der roten gesetzt. Mit Entsetzen hatte sie zugesehen, wie ihre schwarze Freundin in trivialem Idealismus um ihre eigene invariante Bedeutung kämpfte. Ihr Tod unbedeutend für den Rest des einweibigen Stammes. Leen hatte es noch einmal tun wollen. Heute. Jedoch war sie, den Unwert ihrer vorsätzlichen Tat erkennend, zurückgetreten. Ihre tätige Reue ließ die Strafbarkeit entfallen.

Es grummelte, das Gewitter rollte an, gelber Wind kam auf, warm und unheimlich.

Vor ihr erschien ein nackter Kinderfuß, dann ein zweiter. Leen blickte auf. Ein blonder Junge ließ Speichel aus seinem Mund herabtropfen. Genüsslich sah er zu, wie die schleimige Masse den kleinen Sandhügel traf. Rote, braune und beigefarbene Sandkörner quälten sich, wurden fast hineingesogen, überspült, als wäre die durchsichtige Masse heiße, dickflüssige Lava.

Leen stand auf.

»Du bist hässlich«, sagte der Junge. »Das sagen auch die anderen.«

Leen stemmte ihre Hände in die Hüften, dabei stapfte sie von einem Fuß auf den anderen. Ihre Beine kribbelten, waren eingeschlafen, Sand klebte an den Knien.

»Du bist der hässlichste Mensch, der mir je begegnet ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Und ich bin schon vielen hässlichen Menschen begegnet.«

Leen drehte sich um und stapfte entschlossen los. Sie trug Sandalen, Sand hatte sich zwischen ihre Zehen gemischt. Weglaufen wollte sie nicht. Nur los. Loslaufen.

»He, warte mal!« Der blonde Junge lief ihr nach. »Ist doch nicht schlimm, wenn du hässlich bist!«

Er war älter als sie. Vielleicht zehn. Sie hatte ihn gestern mit seiner Familie am Strand gesehen. Er hatte Eltern und Brüder. Leen hatte nur ihren Vater. Und ihre Ameisen.

»Bist du schon lange hier?«, fragte er, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Wir wohnen in dem Haus neben euch. Ich habe dich gestern gesehen. Ist das dein Vater? Bist du nur mit deinem Vater hier?«

Leen lief schneller.

»Dein Vater ist eigentlich auch hässlich, weißt du das? Ihr seid beide hässlich. Meine Mutter hat behauptet, du hast eine Gesichtsskoliose. Stimmt das?«

Leen wusste nicht genau, wo sie war. Der lange Weg zwischen den Dünen führte zum Strand. Es war früher Abend, die Sonne stand hinter ihr. Während der Junge immer weiter redete, wirbelte sie herum, der Sand zwischen ihren Zehen stach wie kleine Nadeln in ihre Haut. Sie lief in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie musste gen Westen. Ja, ihr Haus stand im Westen, das hatte sie direkt bei ihrer Ankunft geprüft. Sie schaute zum Horizont. Der Himmel war nicht dunkel, sondern gelb. Immer noch gelb. Gelber Himmel, gelber Wind. Er war wie elektrisch aufgeladen, es verursachte ihr Gänsehaut. Sie hatte zu lange gewartet, hätte sich früher von ihren Ameisen losreißen sollen. Jetzt würde sie in ein Gewitter geraten. Ein Gewitter nur mit Blitz und Donner, ohne Regen.

Der blonde Junge redete immer noch. »Wie heißt du?« Er lief jetzt neben ihr. »Hast du Angst vor Gewitter?«, fragte er.

Leen erkannte die Stelle, an der sie abbiegen musste. Wäre sie allein gewesen, hätte sie sich besser konzentrieren können, jetzt aber wurde sie abgelenkt von dem blonden Jungen, dessen Name ihr nicht einfallen wollte. Der Holzzaun entlang der getrockneten Gräser, der viele Sand, der jetzt vom Wind in Bewegung kam, ihre schmerzenden, wund gescheuerten Füße. Das Gewitter.

»Der Himmel holt sich hässliche Menschen. Er packt sie an den Haaren und zieht sie hinauf. Du musst schneller laufen, damit er dich nicht kriegt«, zischte der Junge.

Der helle Blitz und der Donner direkt über ihnen ließen beide zusammenzucken. Leen rannte los, so kraftvoll wie der warme Gewitterwind, der die langen Gräser auf den Feldern flach auf den Boden zwang. Der Junge neben ihr hatte zu reden aufgehört. Er war schneller als sie. Leen fasste einen Entschluss, hielt an, setzte sich unter den gelben Wolken auf den Boden, zog ihre Sandalen aus.

Wo der Regen wohl blieb? Ihre Ameisen.

Der Junge drehte sich zu ihr. »Wir müssen hier weg. Das freie Feld, das ist nicht gut. Komm!« Und dann nahm er ihre Hand, eine Sandale fiel hinunter, und weil sie Ungleichheit nicht aushielt, ließ sie auch die zweite fallen. Gänsehaut kroch ihren Nacken entlang und stellte ihre Haare auf. Die Hand des Jungen hatte die ihre fest umschlossen. Er zog sie in die Dünen hinein, schubste sie in den Sand. »Du musst dich flach hinlegen«, befahl er. »Verdeck dein Gesicht, sonst holt dich das Gewitter!«

Im Sand lagen sie beide auf dem Bauch, neben ihnen vertrocknete Äste und verbrannte Gräser, und weil der warme Wind über die Dünen fegte, hatte sie ihren Kopf in die Ellenbogen gepresst, die Augen fest zugekniffen. Trockener Sand wurde in ihre Ohren gepeitscht. Donner rollte von weit her an, explodierte genau über ihnen.

»Du bist so hässlich, dass dich die Dämonen holen. Ich hasse dich!«, schrie der Junge neben ihr.

Sie fühlte seine Hand auf ihrem Hinterkopf. Leen verstand nicht. Sand drückte sich in ihren Mund. Sie versuchte vergeblich, ihren Kopf anzuheben, aber der Junge war stark, hielt dagegen. Leen hätte gern geatmet.

Plötzlich fiel ihr ein, wie der Junge hieß. Theodor. Sie hörte seinen Namen, und dann hörte sie ihn wirklich. Jemand rief, und plötzlich war die Hand und mit ihr der blonde Junge weg. Theodor.

Sie wollte weinen. Am liebsten. Aber dann erst recht würde der Himmel kommen und sie holen.

Wo der Regen nur blieb.

Prolog – 2018

Es roch nicht modrig oder feucht. Nur kalt. Diese Kälte lag in der Luft, wog schwer, vakuumierte jede Form der Zuversicht.

Junia hatte aufgegeben, eine andere Sitzposition einzunehmen. Sie schaffte es, im Wechsel ihre Gesäßhälften anzuheben. Erst die rechte, dann die linke, spürte, wie sich das kalte Blut kribbelnd verteilte. Ein Hauch von Leben zwischen Taubheit und Schmerz, mehr gab es nicht. Sie versuchte seit vielen Stunden ihre Schultern zu entlasten, hatte probiert, über den Boden zu rutschen. Es war ihr nicht gelungen, und der Kabelbinder um ihre Handgelenke war so eng, dass der Schmerz in ihren Händen längst der Kälte gewichen war.

»Isa?«, fragte sie erneut. Alle paar Minuten. Aus Sorge, aus Anstand, vielleicht auch, um sich eine Zeiteinheit zu erschaffen. Es war so dunkel. Es war so still. Nicht ein einziges Geräusch. Wenn wenigstens irgendwo ein Tropfen stetig auf ein Blech fallen würde, sie hätte sich stoisch daran orientieren können. Dieser Tropfen hätte alle paar Sekunden ihr Bewusstsein genährt. Aber es gab kein einziges Geräusch. Kein Geräusch, keinen Geruch. Nur die Dunkelheit. Schwarz.

Und die Kälte.

Der Gedanke, dass sie sterben würde, hatte sich ganz unauffällig herangeschlichen. Hier und da hatte er gelauert, im Augenwinkel hatte sie ihn registriert. Er hatte dagestanden, schüchtern, sie erwartungsvoll beobachtet, als wolle er geduldig fragen: »Jetzt?«

Aufdringlich war er nicht, der kleine Gedanke an den Tod. Hatte sich wieder getrollt, solange sie sich mit Isa unterhalten hatte. Er hatte sich zurückgezogen, wann immer sie ihre eigene Stimme gehört hatte, wann immer sie ihren Geist angestrengt, Perspektiven geschaffen hatte. Wenn es still war, tauchte er wieder auf. Er war freundlich, liebevoll, fürsorglich. Wahrscheinlich sanft, aber Junia hatte ihn lieber wieder weggescheucht. Fast mit schlechtem Gewissen. Gewehrt hatte sie sich, gegen die Einsamkeit, die sie aufsuchte. Der Tod war ihr einziger Gefährte, aber sie durchschaute das Konstrukt. Mehrmals hatte sie den Kopf geschüttelt, sich nicht einnehmen lassen. Mehrmals hatte sie belächelt, dass der kleine Freund, ihr einziger in dieser Dunkelheit, auf sie wartete. Da war das Ende verlockend. Wohlig. Aber der kleine Freund war rücksichtsvoll. Ließ ihr Zeit. Warum nicht, dachte sie jetzt. Sie hatte ihn so lieb. Er war für sie da. Alle anderen waren weg. Peer und Marten, Thies, Ann und ihre Eltern. Und Isa? Sie hörte die Frau nicht einmal mehr atmen.

Isa war immer leiser geworden. Die Antworten waren mit Verzögerung gekommen, die Stimme kraftlos, müde. Junia hatte sich irgendwann lächerlich gefunden: »Isa, bleib bei mir, nicht einschlafen. Bleib wach, rede mit mir! Hast du eine Lieblingsfarbe? Sag mir ein Gedicht auf, an das du dich erinnerst!«

Das war ihre letzte Frage gewesen. Isa hatte nicht geantwortet. Als hätte der Tod sie schon erreicht, sanft gestreichelt und behutsam durch den kalten Tunnel geführt.

»Bist du so weit?«, fragte ihr kleiner Freund.

»Und dann?« Junia wollte noch ein bisschen Zeit herausschlagen. Sterben wollte sie nicht, aber es war so kalt. Trockene, schwarze Kälte. Mit dem Leben hatte sie nichts zu tun.

»Wohin du willst«, erklärte ihr der Tod. Sanftmütig, verständnisvoll, verlockend.

»Gehörst du mir?«, fragte sie ihn.

Der kleine Freund strahlte jetzt, als hätte sie endlich etwas Wesentliches verstanden. Er nickte. »Nur dir!«, versicherte er glaubhaft.

»Und wohin gehen wir?«

»Ich lasse dich nicht allein.«

»Ich will nicht mit dir gehen.« Junia wurde skeptisch.

»Schschscht«, machte der Tod und hielt weiche Finger vor seine Lippen. Wann immer er sich bewegte, lösten sich farbige Kristalle aus seiner Figur und verschwanden wieder. Der Tod so bunt. Nicht schwarz.

»Ich soll sterben«, stellte Junia fest.

Der Freund, die Figur, der Tod, einladend und unverbindlich. Abermillionen Kristalle, die jeder für sich bunt explodierten und sie faszinierten.

Sie suchte nach einem Gedicht. Nach einem Anker. Irgendetwas in ihrem Bewusstsein, was sie zurückholte, wachhielt. Und dann war da wieder Thies. Immer sah sie Thies, der von einem Wolf gerissen und weggezogen wurde. Seine Beine so schlaff, die Arme weit von sich gestreckt, sein Gesicht ausdruckslos. Er war schuld daran, dass sie hier im Sterben lag. Hier, mit ihrem einzigen Freund.

»Ich werde nicht mit dir gehen«, verkündete sie.

Ihr kleiner sanftmütiger Freund nickte. »Dann komme ich später wieder.« Die Kristalle verblassten, er wandte sich ab, im Begriff zu verschwinden.

»Halt! Nein!« Junia wollte nicht schon wieder allein sein. Diese Einsamkeit.

Der kristallene Freund kam näher, reichte ihr seine Hand. »Komm!«, forderte er sie auf. »Komm!«, wiederholte er.

Er nahm ihren Atem mit, zog sie zu sich. Es war plötzlich so leicht, wurde wärmer, kein Kabelbinder, kein harter Boden, keine Dunkelheit mehr. Kein kalter Tunnel und am Ende Licht. Nur Kristalle. Bunt.

Sie ließ sich fallen, aber sie fiel nicht. Er war schon da, der Freund, und hielt sie.

Vielleicht würde sie Thies doch hassen. Irgendwann.

Und Isa auch.

 

Kapitel 1

Gelblich, aufgedunsen, verbraucht. Widerlich. Isa würde ihn noch das Leben kosten. Sein Leben. Ein Scheißleben. Eigentlich zerfraß ihn der Hass auf die schwammige Frau. Er ekelte sich vor ihrem Äußeren, vor ihrem Bewusstsein, vor ihren verwelkten Gedanken. Im Grunde gab es niemanden, den er so sehr verabscheute wie sie.

Ruben hatte sich vorgenommen, Isa nicht aus den Augen zu verlieren, hatte sie glauben lassen, dass ihm die Briefe mit dem Video egal waren, hatte sie glauben lassen, dass ihr Druckmittel keine Wirkung hatte, nicht für Fitz, nicht für Thies und nicht für ihn. Er hatte ihr versichert, dass sie sterben würde, mit oder ohne das Video. Isas Existenz. So unbedeutend und armselig wie keine andere. In Wirklichkeit wusste er, dass Isa nicht bluffte. Sie würde nicht lange warten, und er würde sie erwischen. Gestern war sie aus der Wohnung geschlichen, irgendwohin. Ruben war ihr argwöhnisch gefolgt. Sie war flink und er schwerfällig. Ihm war schon der Schweiß den Rücken heruntergelaufen, als er endgültig aufgegeben hatte. Isa war verschwunden. Ruben wollte glauben, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte, um ihre Katzen zu holen, zu seiner Verwunderung war sie ohne Katzen, stattdessen mit einer Plastiktasche zurückgekehrt. Er hatte keine Lust, sich mit aufwendigen Theorien abzumühen, hatte träge beschlossen, dass es ihm für heute egal war, was sie tat oder ließ. Sollte sie doch in der Hitze verrecken, ohne ihre Katzen, dafür mit dem Teufel.

Er war zum Thai gelaufen, hatte grünes Curry gegessen, extrascharf. Er hatte längst akzeptiert, dass sein Schwitzen etwas Internales, Unausweichliches, Abstoßendes hatte. Er provozierte und zelebrierte, dass sich aus den winzig kleinen Poren, den ekkrinen Schweißdrüsen, aus seiner blassen, schuppengeplagten Haut gewaltige Massen klebrigen Schweißes pressten. Er fand, dass es zu ihm passte.

Bis morgen Vormittag würde er Isa beschatten. Er würde dafür sorgen, dass sie ins Gastwerk Degenhardt fuhr und ihr Wort hielt. Wenn er an Thies dachte, überkam ihn abermals Ekel. Thies und seine panische Idee, er könne nicht mehr weitermachen. Was hätte Ruben darum gegeben, seinen alten Freund fallen zu lassen. Stattdessen hatte er sich freigenommen, zwei ganze Tage, um Isa zu überwachen. Isa musste die Scheidungspapiere unterschreiben. Wenn sie das erledigt hatte, würde Ruben zurückfahren. Vielleicht würde er Isa auch töten.

Ruben verschluckte sich. Der saure Kaffee rutschte in seine Nase, er holte Luft, hustete ungeniert über den Tisch, nasse Krümel blieben auf der Tischplatte kleben. Ruben zuckte mit den Schultern. Er bemühte sich erst gar nicht, sein Erscheinungsbild zu fälschen.

Die Nacht hatte Ruben im Keller des schäbigen Wohnhauses verbracht, in dem Isa seit gestern untergebracht war. Er hatte zwischen Fahrrädern und Kinderwagen an der Wand gelehnt, kaum geschlafen. Isa hatte ihre Wohnung in der Nacht nicht verlassen. Seit heute Morgen um sieben saß er auf der Lauer, mit Kaffee und Marzipancroissant in einem schlechten Café, eher einer Bäckerei mit zwei Tischen und Stühlen, und starrte wie ein armer Detektiv aus dem Schaufenster. Auf die Frage, ob er noch einen weiteren Kaffee wolle, schüttelte Ruben nur den Kopf. »Komm schon raus, Isa«, flüsterte er. »Komm schon raus.«

Die Verkäuferin hinter der Theke machte ihn aggressiv. Sie trug ein gelbes Shirt mit Papageien, deren Federkleid verziert mit Pailletten, die Haare der Frau am Hinterkopf fettig und platt gelegen. Sein Stuhl war unbequem, das gesamte Stehcafé dunkelrot dekoriert, mit Tischläufern, Gardinen, Schleifen und Kissen, Gläschen zur Hälfte gefüllt mit Espressobohnen und einem Teelicht, auf dessen weißem Wachs sich feiner Staub gelegt hatte. Ruben setzte seine Brille ab, drückte mit flachen Händen gegen seine Stirn, bis die Haut Falten warf, strich sie wieder glatt. Er hatte Kopfschmerzen von der schlaflosen Nacht.

Isa ließ sich Zeit, er war überrascht, und dann endlich kam sie, unter dem Arm eine große Anzahl Briefe. Er staunte, begriff, dass sich das für andere scheinbar harmlose Bild wie eine stickige Haube über sein Dasein stülpen, in sein Schicksal drängen würde. Ruben stand auf, zeigte auf den Schein, den er auf den Tisch neben die Untertasse gelegt hatte. »Stimmt so«, rief er der Verkäuferin zu, ohne Isa aus den Augen zu lassen. Er schaute ihr hinterher, sie ging schnell und zielstrebig, steuerte nicht auf die Bushaltestelle zu, sondern den Bürgersteig entlang in die entgegengesetzte Richtung. Ruben biss sich auf die Lippe, als könne er damit das Bild zurechtrücken, als könne er Isa anhalten, vielleicht auch die Zeit. Briefe. Briefe in weißen großen Briefumschlägen, einen ganzen Stapel davon. »Scheiße«, flüsterte Ruben. Er wurde hektisch, verließ das Café.

Ruben war plötzlich sicher, dass Isa nie vorgehabt hatte, im Gastwerk Degenhardt aufzutauchen. Er hätte es gestern schon wissen sollen. Gestern. Gestern. Gestern. Er blickte die Straße hinunter und entdeckte, wonach er suchte. Isa war von ihrem Ziel keine 200 Meter mehr entfernt. Ruben rannte los, rannte auf den Briefkasten zu, den Isa fast erreicht hatte, rannte um sein Leben und um das von Fitz und Thies, wissend, dass er Isa nicht rechtzeitig einholen würde, wissend, dass es zu spät war, aus und vorbei.

Er hatte es verbockt. Vor allem, weil er fett war.

Kapitel 2

Titus atmete nicht, formte seine Augen zu schmalen Schlitzen, hatte das Gefühl, er könne dadurch schärfer sehen, sogar besser hören, riechen, denken. Pepper lag mit staubigem Fell und ausgestreckten Beinen in der Sonne, sein Bauch bewegte sich hektisch auf und ab. Wenn er nur keine Bestie wäre, bedauerte Titus still, dann würde er ihm eine Schüssel mit Wasser hinstellen. So aber würde Pepper sterben, es war nur eine Frage der Zeit. Nicht, weil er in der Hitze verdursten, sondern weil Titus irgendwann treffen würde. Genau zwischen seine Augen. Heute wollte er nur auf die Hinterläufe zielen. Vorerst.

Eigentlich wusste Titus nicht, ob der verwahrloste Hund überhaupt einen Namen hatte, aber eine Bestie zu taufen schien ihm hilfreich. Pepper eben.

Er wollte Pepper zuvorkommen, einen Schritt voraus sein. Gleich würde der schwarze Hund losstürmen und ihn jagen. Kein Pflock der Welt, und war er noch so tief in der Erde verankert, würde ihn aufhalten, nicht einmal der Unimog, an dem Pepper festgekettet war. Pepper würde das Blechmonster hinter sich herziehen wie ein billiges Spielzeugauto, und dann würde Titus um sein Leben rennen.

Titus hatte den Hof zufällig entdeckt. Vor vier Tagen. War umhergestreunt, hatte sich neues Material gesucht, dabei ganz und gar aus den Augen verloren, wohin und wie weit er gelaufen war. Erst, als ihm die aufdringliche Hitze unerträgliche Kopfschmerzen bereitet hatte, war der Hof wie ein geheimnisvoller Ort auf der Bildfläche erschienen. Aus dem Nichts. Etwas an dem Hof war ihm mystisch vorgekommen, die Atmosphäre geisterhaft. Er hatte einen kurzen Blick darauf werfen wollen, das bedrohliche Geräusch einer rasselnden Kette aber hatte seine Erkundungsreise auf der Stelle beendet. Noch bevor sich Pepper überhaupt hatte blicken lassen, war Titus wie angestochen losgestürmt, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Kopflos.

Titus hatte intuitiv gewusst, dass am Ende der Kette etwas wartete, was ihn mit übergroßen Zähnen zerfleischen würde, wenn es ihn nur zu fassen bekam.

Titus fühlte sich von dem verlassenen Hof angezogen. Seit Tagen spielte er mit dem Gedanken, ihn erneut aufzusuchen, sich zu verstecken und das Gelände aus der Ferne zu inspizieren. Ein Gedanke, der ihm Bauchschmerzen bereitete. Heute hatte er einen Entschluss gefasst, hatte sich nach dem Frühstück auf den Weg gemacht, bewaffnet mit seiner Steinschleuder, und sich einen Platz zwischen Brombeersträuchern und Brennnesseln gesucht.

Der Hof war übersät mit untauglichen alten Landmaschinen. Titus erkannte unter ihnen wenigstens einen Feldhäcksler und einen Mähdrescher. Auch wenn nicht ganze Teile fehlten und die Maschinen bis zur Unkenntlichkeit ausgeschlachtet waren, war Titus sicher, dass es sich um ausrangierte Gerätschaften handelte, umgeben von Dutzenden Ersatz- und Zubehörteilen, die in großen Bergen, angelegt wie Gräber eines Stahlfriedhofs, davor warnten, das Grundstück zu betreten. Auch ein paar schrottreife Autos hatte jemand abgestellt, darunter einen alten Pick-up. Pepper setzte sich auf und gähnte, Titus konnte sein Gebiss sehen, sogar den bedrohlichen Reißzahn weit hinten im Kiefer. Der Hund setzte sich träge in Bewegung, Staub wirbelte auf, als er die schwere Kette hinter sich herzog.

Titus schlich rückwärts hinter den Baumstamm einer Eibe, kniete sich nieder, der Geruch von aufgewärmtem Harz umklammerte seine Atemwege, hier und da hörte er das Summen der Insekten. Er ließ Pepper nicht aus den Augen, war auf alles vorbereitet. Dass sich Titus versteckt hielt, schien Peppers scharfem Geruchssinn zu entgehen, die Neugier des Hundes ließ sich in der Hitze nur schwer beflügeln. Der Hund, der vor vier Tagen noch wachsam gewirkt hatte, hatte seinen Kopf abgelegt und die Augen geschlossen.

Titus hörte in der Ferne ein Geräusch. Es kam vom Hof, entkräftete die geheimnisvolle Stimmung, die Hitze und Staub in ihm geweckt hatten. Titus vermutete, dass jemand weit hinten auf dem Grundstück eine Werkstatt eingerichtet hatte, in der Schweißarbeiten verrichtet wurden. Pepper war das Geräusch offensichtlich vertraut, er hob nicht einmal den Kopf.

Titus holte seine Steinschleuder heraus, strich zaghaft über den Griff, er hatte Murmeln in der Tasche, von denen er eine zwischen seinen Fingern hin- und herrollte. Er würde treffen. Titus war angespannt, aufgeladen, über dem erdigen Boden flimmerte heiße Luft. Er schloss die Augen, holte ein letztes Mal Luft, mit der Ausatmung brachte er die Steinschleuder in die richtige Position, spannte das Gummi, blinzelte nicht, atmete nicht, dachte nichts, ignorierte eine winzige Fliege, die unaufhörlich vor seinen Augen tanzte, spannte das Gummi einen weiteren Zentimeter, fühlte sein ausgedörrtes Herz klopfen, konzentrierte sich auf den Moment zwischen zwei Schlägen.

Los!

In der Sekunde, in der Titus losließ, die Murmel mit lautem Zischen wie eine Rakete von ihm weg die exakte Flugbahn zu Peppers Hinterläufen fand, ergriff ihn Entsetzen. Aus der hintersten Ecke des Hofes trat ein Mann in sein Blickfeld, aus dem Nichts, wie der Hof vor vier Tagen, wie ein Geist, ein Toter, jemand aus der anderen Welt, ein Hologramm. Pepper sprang auf, hetzte erst winselnd, dann jaulend hin und her, den Schwanz eingezogen. In geduckter Haltung begann er, sich unkontrolliert im Kreis zu drehen. Nach endlosen Sekunden, in denen Titus sich wegwünschte, schob sich Pepper winselnd und mit augenscheinlich kraftlosen Hinterläufen rückwärts über den Hof und verschwand hinter mehreren Metalltonnen. Der Mann, mittelschwer, hochgewachsen, mit kurzem grauem Zopf und blauem Overall, hatte einen leeren Kanister in der Hand und lief unbeirrt über den Hof, gerade so, als entspräche das Geschehen der letzten Sekunden nicht der Wirklichkeit. Titus hielt den Atem an, sein Warnsystem auf Anschlag, hysterisch, flatterhaft. Der Mann war von durch und durch abschreckender Gestalt, sein Körperbau löste in Titus übermächtige Angst aus, Panik vor der Bedrohlichkeit seiner Aura. Titus suchte krampfhaft nach einem Namen. Mittke. Er taufte ihn Mittke, und während er den Namen in sein taubes Bewusstsein rutschen ließ, packte ihn die Gewissheit, dass Mittke weder überrascht noch unbeirrt war, sondern in höchstem Maße vorbereitet. Mit steifem Gang lief der Mann direkt auf ihn zu. Titus wagte nicht zu schlucken, seine Kehle zugeschnürt, seine Nackenhaare aufgestellt, seinen Blick konnte er nicht abwenden, gleichermaßen fasziniert wie entsetzt. Titus erstarrte. Mit jedem Schritt, den Mittke auf ihn zukam, fühlte er sich ohnmächtiger, wie eingefroren, rechnete damit, dass Mittke ihn erreichen und mit groben Händen seinen Hals umfassen, ihn hochheben würde, als wäre er ein winziges Stoffpüppchen, das aus einem Kinderwagen gefallen war. Aber der große Teufel blieb stehen, der leere Kanister schaukelte in seiner Hand. Er blickte auf, seine Augen milchig und trüb. Titus hielt dem Blick nicht länger stand. Er sprang auf und rannte um sein Leben. Er stolperte durch Brombeerhecken. Dornen rissen ihm die Haut auf, Brennnesseln peitschten ihm die Beine aus. Er schaute sich nicht um, nahm in Kauf, nicht zu wissen, ob Pepper oder Mittke ihm folgten. Am Ende würde er auf dem Pick-up unter einer Plane liegen und sein schauderhaftes Schicksal würde sich unter den Staub mischen. Titus rannte und rannte, rannte und rannte, bis seine Kräfte schwanden. Misstrauisch und nur allmählich verlangsamte er sein Tempo, seine Beine brannten, seine Lunge war bis zum Bersten mit Luft gefüllt. Er atmete aus, schloss die Augen, dann sackte er zusammen und kauerte sich auf das weiche Gras, mit seinen Händen verdeckte er sein Gesicht. Als nichts geschah, kein Hund ihn stellte, kein Mittke ihn hochriss, wagte er einen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Plötzlich fand er es albern, dass ihm der Hof inmitten der sommerlichen Idylle Angst eingejagt hatte. Pepper war nur ein Hund. Ein Wachhund an einer Kette, und Mittke nur der Besitzer eines ungepflegten Hofes, vielleicht ein Einzelgänger, jemand, der sich zurückgezogen hatte. Titus ließ sich rückwärts ins Gras fallen, die Arme und Beine von sich gestreckt, japste er nach Luft.

Am Abend überlegte er, sich Pepper zu stellen. Ohne Steinschleuder. Er würde sich bemerkbar machen, vielleicht pfeifen, aus sicherer Entfernung. Er würde sich bereithalten und das Geräusch der Kette als ein sicheres Zeichen dafür deuten, dass Pepper ihn entdeckt hatte.

»Überleben«, flüsterte Titus im Bett. »Noch ein Leben mehr, heute. Für mich.«

Peppers Sprint würde ein abruptes Ende nehmen, die Kette seine Hetzjagd abwürgen.

Titus nickte zuversichtlich. Morgen.

Nach seinem Entschluss lag er noch lange wach, konnte nicht einschlafen. Was, wenn die Kette versagte? Titus’ Herz flatterte. Wenn Pepper ihn erst erwischt hatte. Was dann? Dann würde sich Mittke über ihn beugen und ihm beim Sterben zusehen. Titus schauderte.

In der Nacht träumte er von glasigen Augen und klebrigem Harz.

Kapitel 3

Ruben musste pinkeln, stapfte von einem Fuß auf den anderen. Sein Harndrang kam ihm in der Hitze verschwenderisch vor.

Er wartete ungeduldig, um 10 Uhr sollte der Briefkasten geleert werden. Mittlerweile waren 20 Minuten vergangen, ohne dass sich jemand hatte blicken lassen. Er dachte an Isa, die in ihrer Wohnung an der Heizung klebte und sich vermutlich den Tod wünschte. Er hatte ihren Kopf gegen den Briefkasten geschlagen, so fest, dass er ihre Nase hätte brechen hören, wäre der Stoß nicht per se schon durch ganz Bierstadt gehallt. Zu seiner Überraschung hatte es niemanden interessiert. Niemanden, nicht einmal Isa hatte sich gewehrt und nur ein ohnmächtiges Stöhnen von sich gegeben. Isa hatte ihre Hände schützend vor das Gesicht gehalten, als er ein zweites Mal ihr Haar gepackt und ihren Kopf auf die Kante des Briefkastens geschleudert hatte. Mehrere Handknochen hatten dabei Frakturen erlitten, das hatte er vorhin beim Fesseln deutlich erkennen können.

Endlich hielt ein weißer Wagen an. Ein kleiner Mann mit Schirmmütze biss hektisch von seinem Butterbrot ab und kaute, während er mit einem Kugelschreiber Notizen machte. In seinen Ohren steckten weiße Kopfhörer. Der Mann ließ den Motor laufen, stieg aus und lief eilig um sein Auto herum. Er öffnete die Flügeltüren und holte einen Sack heraus.

Ruben brachte sich in Stellung. »Sie müssen mir meine Post zurückgeben, es handelt sich um Briefe in weißen großen Umschlägen«, forderte er den Mann auf. »Ich habe sie versehentlich eingeworfen. Leider habe ich die Adressen vertauscht«, entschuldigte er sich und trat einen Schritt zur Seite.

Der Mann nahm einen der beiden Knöpfe aus seinem Ohr. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe versehentlich Briefe eingeworfen, deren Adressen ich vertauscht habe, und außerdem habe ich keinen Absender hinterlassen.« Ruben faltete seine Hände vor der Brust. »Bitte, ich bin gerade Vater geworden und noch etwas durcheinander. In den Umschlägen sind Fotos …«

»Das darf ich nicht«, unterbrach ihn der Mann. »Das ist verboten. Nicht einmal, wenn Sie mir Ihren Ausweis zeigen. Ich muss alle Briefe scannen und zur Filiale bringen.« Der Mann öffnete die Klappe des Briefkastens und schaute zu, wie sämtliche Briefe in den Sack fielen und verschwanden. »Tut mir leid«, bedauerte er. »Da müssen Sie beim nächsten Mal besser aufpassen.«

»Ich bin gerade erst Vater geworden und völlig übermüdet. Sie müssen mir die Briefe mitgeben. Das sind weiße große Umschläge ohne Absender. Sie dürfen sie sogar öffnen«, schlug Ruben vor.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht«, wiederholte er.

»Und hiermit?« Ruben hielt ihm einen Fünfzigeuroschein entgegen. »Bitte, nur meine Weißen. Niemand erfährt es, das verspreche ich Ihnen«, versicherte er.

Der Mann starrte ihn unverhohlen an. »Haben Sie den Verstand verloren?«, fragte er entsetzt. »Ich zeige Sie wohl besser an«, drohte er.

Ruben wehrte ab. »Das war eine dumme Idee, ich weiß. Aber hören Sie, ich kann Ihnen genau sagen, was darin ist. Wir öffnen hier und jetzt einen der Umschläge und ich beweise Ihnen, dass Sie mir vertrauen können. Einverstanden?«

»Wenn ich das tue, verliere ich meinen Job. Briefgeheimnis.« Er drehte den oberen Teil des Sacks mit großem Kraftaufwand zusammen.

»Was sage ich denn dann meiner Frau? Die wird verzweifelt sein«, betonte Ruben.

»Ich bringe diesen Sack jetzt in diesen Wagen«, er machte eine Kopfbewegung Richtung Auto, »und dann fahre ich weg. Und zwar mit Ihrer Post, egal, wie verzweifelt Ihre Frau ist.«

Ruben wandte sich ab. »Fick dich«, schnaubte er. »Fick dich halt.«

Dann war es so, überlegte er. Dann wurden die Briefe eben verschickt. Ewra würde davon auch nicht wiederauferstehen.

Isa kauerte im dunklen Badezimmer vor der Heizung, die Arme nach oben gestreckt und mit einer Kordel festgebunden, einen nassen Waschlappen im Mund, fixiert mit einem Bademantelgürtel, die Beine überkreuzt und an den Fesseln zusammengebunden.

»Du Scheißfotze«, schimpfte Ruben. »Ich hätte dich gestern schon abfangen sollen. Ich hab’s gewusst! Ich hab’s einfach gewusst!« Er ballte seine Hände zu Fäusten. »Was bist du nur für eine Zecke«, fluchte er durch zusammengebissene Zähne. »Eine verdammte Scheißzecke.« Er schlug sich mit der Faust auf die Handinnenfläche und brüllte mit hochrotem Kopf in den Spiegel: »Scheiße!«

Er pinkelte in die Toilette, spülte ab. Während er seinen Reißverschluss nach oben zog, überkam ihn der Wahnsinn. Er lachte hell. Die würden ihn suchen und festnehmen, und dann würde er bis an sein Scheißlebensende im Knast sitzen.

Eigentlich war es ihm egal.

Er bückte sich zu Isa und öffnete grob ihre Fesseln. Beide Hände sahen gruselig aus, rot unterlaufen und stark geschwollen, deformiert. Bahnen aus getrocknetem Blut zeichneten sich von Isas Nase bis in ihren Mund ab. Dunkel, krustig, klebrig. Ihre Augen so stark geschwollen, dass sie geschlossen blieben und Ruben nicht einmal ihren Augapfel erkennen konnte. Isa sah aus, als würde sie jeden Moment sterben.

»Tja«, bedauerte Ruben, »das geht nicht mehr lange mit dir.« Er nahm ihr den nassen Waschlappen aus dem Mund. »Was in den Briefumschlägen ist, brauche ich dich nicht zu fragen, oder?«

Isa versuchte zu sprechen.

»Wirklich?«, fragte Ruben ungeduldig. »Fällt dir irgendetwas dazu ein?«

»Wasser«, flüsterte Isa durch ihre verstopfte Nase. »Bitte!«

»Ja, Wasser kannst du haben.« Er drehte den Hahn auf und spritzte ihr eine grobe Menge Flüssigkeit ins Gesicht und über den Körper. »Erfrischendes Wasser, siehst du?« Er drehte den Hahn wieder zu. »Wenn du trinken möchtest, sag mir, an wen du das Video geschickt hast. Wer bekommt das Scheißvideo zu sehen?«

Isa zuckte mit den Schultern.

»Ja, ist dir alles egal. Zu Recht. Sterben wirst du, sonst gar nichts mehr.«

Ruben beugte sich über Isa, packte ihren Arm und zerrte sie auf die Füße. »Wir fahren los«, erklärte er ihr barsch. »Schau dich an!« Er stellte Isa vor den Spiegel. »Du siehst mitgenommen aus. So kann ich dich nicht mitnehmen.« Er klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Wie dumm ich bin. Du kannst dich ja gar nicht sehen«, kicherte er. »Aber ich! Ich kann dich sehen, und so kommst du auf keinen Fall mit.«

Eine halbe Stunde später setzte er Isa auf den Beifahrersitz. Sie hatte den Weg zu seinem Auto kaum geschafft. Er hatte sie stützen müssen, ihren Arm um seinen Hals gelegt, fast getragen.

Er hatte das viele Blut aus ihrem Gesicht gewaschen, während Isa gezittert und gewimmert hatte. Als sie ihm die Hand hatte wegschlagen wollen, hatte er ihr in den Rücken getreten und sie auf den Boden gezerrt. Er hatte sich auf sie gesetzt, mit seinen Knien auf ihren Armen. Isa hatte einen gellenden Schrei von sich gelassen, war ohnmächtig geworden in dem Moment, als ein neuer Schwall warmes Blut aus ihrer gebrochenen Nase gequollen war. Ihr Kreislauf hatte unter den Schmerzen und dem Blutverlust versagt. Ruben hatte ihre Nase gerichtet, sich die Hände gewaschen, Isa auf die Seite gedreht und liegen lassen, in der Wohnung ihre Tasche gesucht, sich vergewissert, dass ihr Telefon darin verstaut war. Als er zurück ins Bad gekommen war, hatte Isa zusammengekrümmt auf dem Boden gelegen, offensichtlich bei Bewusstsein.

»Eine Geste, ein Zeichen zu irgendjemandem, und ich schlage dir deine Zähne aus und stopfe sie dir einzeln in deinen Arsch«, zischte Ruben, als sie endlich im Auto saß.

Isa nickte knapp und ließ sich anschnallen.

Auf dem Weg von Wiesbaden nach Kempten versuchte er erfolglos, Thies auf seinem Handy zu erreichen. Aber weder er noch Fitz gingen ans Telefon.

Er suchte angestrengt nach einem Plan. Er musste Isa unterbringen. Seine Frau würde hysterisch werden und die Polizei rufen, würde sie Isa zu Hause finden, egal, was er ihr vorgaukelte. Ihm fiel kein anderer Ort ein als das Glashaus eines Kollegen in der Nähe von Kempten, für das Ruben einen Schlüssel besaß. Ein Schweizer Architekt hatte das Haus entworfen, ohne durchgehende Außenwände, mit vorgeschobenen Quadern, im spitzen Winkel zulaufenden Ecken. Ein winzig kleines Grundstück, versteckt hinter zugewucherten Brombeersträuchern, Bäumen, riesigen Hecken. Sie hatten jeden Zentimeter des kleinen Grundstücks ausgenutzt, im oberen Stockwerk waren die Flächen durch erkerartige Vorsprünge erweitert worden. Sein Kollege hatte sich eine Auszeit genommen, acht Wochen Skandinavien, hatte Ruben gebeten, ab und zu nach dem Rechten zu sehen. Zu erreichen war das Glashaus nur nach langem Fußmarsch, sein Kollege hatte von einem Bunker geschwärmt, dessen Eingang versteckt neben dem Haus lag. Genau dieser Bunker, dachte Ruben zufrieden.

Er hoffte, Isa würde bis zu ihrer Ankunft nicht in seinen Sitz pinkeln. Tote taten das.

Kapitel 4

Leen Roger stand auf der obersten Stufe und wartete auf einen Impuls. Melancholie traf es nicht. Müdigkeit, Trauer, Angst? Vielleicht auch nur die Hitze.

Sie schaute über das Bowling Green. Das Wasser der beiden Kaskadenbrunnen glitzerte in der Sonne. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass es regnete. Sommerregen. Es war warm. Schwül. Heiß. Zu heiß. Die Hitze des Sommers schwebte wie ein vollgesogener Teppich über der Stadt.

Sie hatte keine Lust mehr. Das Gefühl, sie müsse sich auf den Boden kauern und aufgeben, begleitete sie seit einigen Tagen, heute besonders intensiv. So intensiv, dass sie überlegte, ihren Vater zu besuchen. Sie stellte den Gedanken zurück. Heute nicht. Heute würde sie nach Hause gehen und kalt duschen. Sie würde für sich und Katta Scampi zubereiten, dann würde sie sich in den Garten legen und versuchen, nicht vorzeitig einzuschlafen. In der Nacht würde sie ihre Blumen gießen.

Leen besuchte das Grab ihres Vaters trotzdem.

»Wie hast du das geschafft? So lange?«, fragte sie ihn.

»Es ist eine Berufung. Es hat meinem Leben einen Sinn gegeben.«

»Und der Druck? Der wahnsinnige Druck?«

»Der hat mich angetrieben. Immer weiter.«

Im Studium hatte Leen davon geträumt. Gewinnen wollte sie, es hatte ihren Geist geschärft, aber in diesen Tagen strengte es sie an. Sie ärgerte sich darüber. Sie hatte das Gefühl, die Quelle ihres einst sprudelnden Kampfgeistes versiegte. Es konnte nur an der Hitze liegen.

Oder an ihrer Vorahnung.

Leen hatte immer eine gute Konstitution gehabt, war glücklich trotz ihrer hässlichen Erscheinung. Leen war so hässlich, dass Menschen sich intuitiv berufen fühlten, sie mitleidig anzuschauen. Inke dagegen war nicht hässlich. Inke war gar nichts. Inke war auf die Welt gekommen und gestorben, sie hatte keine zehn Minuten gelebt. Leen hatte keinen Schmerz verspürt, weil sie für ihre Schwester nie Liebe empfunden hatte. Inke war keine Schwester, sondern nur ein dicker Bauch gewesen, der ihre Mutter fröhlich gemacht hatte. Manchmal hatte Leen den Bauch streicheln wollen, aber sie fürchtete sich vor der gedehnten Haut und davor, dass Inke sich nicht würde wehren können, wenn Leens hässliche Hände ihr Unbehagen bereiteten. Leen hatte nichts übrig. Nichts für Inke und auch nichts für ihren Tod. Auf der Beerdigung lag ihre Mutter mit dem toten Baby in einem Sarg, verschlossen. Leen stand da, in Sandalen, die Hand ihres Vaters war das Einzige, was sie hatte spüren können. Leen liebte nicht. Vielleicht weil sie so hässlich war. Und weil ihr Vater nicht weinte, weinte Leen auch nicht. Leen blieb hässlich und stimmte ihr Leben darauf ab. Sie hatte auswendig gelernt, allen Stoff in sich hineingeprügelt, bis ihre Synapsen wund waren und ihr Hippocampus zu platzen drohte. Leen hatte nie etwas verloren, auch nicht mit dem Tod ihrer Mutter. Leen hatte einfach weitergelebt. Glücklich, trotz der Widerwärtigkeit ihres abscheulichen Erscheinungsbildes, und trotz der grausigen Exempel, die ihre Mitschüler und Nachbarskinder an ihr statuiert hatten. Auf dem Weg zur Schule wurde sie abgefangen und mit Brennnesseln ausgepeitscht, während der Pausen bemalten Mitschüler ihren Ranzen mit Edding. »Ich heiße Scheide«, stand in großen Buchstaben von Weitem lesbar, eine ironisch gemeinte Hommage auf ihr Haar, das sich kräuselte wie die Bedeckung der Schamgegend. Auf ihrem Tisch lagen regelmäßig benutzte Binden, die sich Leen auf den Kopf kleben sollte, und man stopfte ihr in Ketchup getränkte Tampons in die Nase. Als sich Leen mit aufgeplatzter Lippe und abrasierten Haaren ein Jahr nach ihrer Einschulung nach Hause schleppte, weinte sie zum ersten Mal um ihre Schwester. Leen wollte nicht aushalten, dass sie mit ihrer eigenen Hässlichkeit kaum lebte und trotzdem ganz und gar lebendig war.

Ihr Vater ließ nicht mit sich reden, meldete Leen an einer Privatschule an. Er hatte sich vor die Klasse gestellt, mit straffen Schultern und erhobenem Haupt, und hatte allen Mitschülern gedroht. Er hatte langsam und deutlich gesprochen, hatte keine großen Worte gefunden, keine Strafen oder Konsequenzen angekündigt, die Ausstrahlung seiner Autorität hatte ausgereicht: »Niemand, niemand wird meine Tochter auch nur anrühren.« Seine Ansprache hatte Leen Frieden und Einsamkeit beschert, bis zu jenem Tag, an dem ihr ein blonder Junge auf dem Nachhauseweg hinterhergeschlichen war. Der Junge hatte schneeweißes Haar, war ihr erst unauffällig, dann immer hemmungsloser gefolgt, bis sich Leen abrupt umgedreht und ihn wütend angestarrt hatte. »Hau ab!«, hatte sie befohlen.

Der Junge aber hatte sie angelächelt. »Lauf schnell nach Hause!«, hatte er ihr sanft befohlen, dann hatte er Speichel aus seinem Mund tropfen lassen.

Es war ihr nicht sofort eingefallen, erst, als sie abends im Bett gelegen hatte: Der weiße Junge hieß Theodor, und sie beide waren sich in den Sommerferien auf der Insel Samsø begegnet.

»Hast du mich lieben können?«, fragte sie ihren toten Vater.

»Sehr.«

Leen nickte. »Ich gehe gleich nach Hause und bringe Katta Erdbeeren.« Leen machte eine Pause. »Katta wirkt müde. Sie wird bald sterben.«

»Katta wird immer für dich da sein.«

Leen hätte der romantischen Idee gern etwas abgewonnen. »Wenn Katta stirbt, sind alle weg«, stellte sie traurig fest. »Du bist weg.«

»Sei nicht melancholisch.«

»Inke und Mutter waren nicht alt und du auch nicht. Nur Katta ist alt.«

»Freu dich, dass es Katta noch gibt, statt schon ihren Tod zu prophezeien.«

Leen rollte mit den Augen, hauchte dem Grabstein einen Kuss zu.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Auto begegnete sie einer dicken Frau, die unaufhörlich schluchzte und sich die Hände rieb. Leen hatte sie hier schon öfter gesehen. Jetzt fiel ihr auf, dass die Frau einen neuen Haarschnitt trug. Vorher lang, waren die Haare jetzt kurz abgeschnitten, auffällige Segelohren ragten an den Seiten heraus. Leen wunderte sich, dass sie immer an ein und demselben Grab stand und heftig weinte, obwohl die Tote, um die die junge Frau trauerte, vor mehr als zehn Jahren verstorben war.

Leen blieb zum ersten Mal stehen. »Hallo«, sagte sie.

Die junge Frau schaute überrascht auf, ließ Tränen unbeirrt über ihre Lippen und von ihrem Mundwinkel auf den Boden tropfen.

Die Frau lachte verlegen. »Ich weine. Ich weine oft. Das kann ich gut.« Sie leckte die Tränen weg, und Leen konnte aus der Ferne das warme Salz schmecken.

»Ich habe Sie hier öfter gesehen.« Leen streckte der Frau die Hand entgegen. »Ich bin Leen Roger, mein Vater ist hier begraben.« Sie machte eine abwinkende Geste. »Schon viele Jahre her.«

Die junge Frau lächelte. »Ich trauere nicht. Also nicht um jemanden, der gestorben ist.« Sie zeigte auf den Grabstein vor ihr. »Ich kenne die Frau nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sie bedeutet mir nichts.«

»Und um wen weinen Sie dann?«, fragte Leen.

»Ich muss sehr viel weinen. Ich glaube, dass ich selbst gestorben bin. Das hört sich unsinnig an, oder?«

Leen überkam Ekel. »Die neue Frisur steht Ihnen.«

»Rainer würde mich nicht mehr erkennen. Aber der weiß sowieso nicht, dass es mich noch gibt.«

Leen versuchte zu lächeln. »Dann einen schönen Tag noch.«

Sie schob sich schnell an der dicken Frau vorbei. Im Auto schnallte sie sich nicht einmal an, sondern startete den Motor und fuhr los.

Sie war der Frau schon einmal begegnet. Woanders. »Woher kenne ich dich?« Leen schüttelte den Kopf. Es wollte ihr nicht einfallen, aber irgendetwas an dem Gedanken bereitete ihr Unbehagen.

Kapitel 5

Sie hätte gern das viele Blut erbrochen, das sich in ihrem Magen zu einem gallertartigen Geschwulst zusammengeklebt hatte. Sie konnte nur durch den Mund atmen. Ihre Augenlider waren geschwollen, Isa schaffte es nicht einmal, sie einen winzigen Spalt zu öffnen, selbst wenn sie den dazugehörigen Schmerz vollständig ausblendete.

»Gib mir dein Telefon«, befahl Ruben, der neben ihr unaufhörlich fluchte.

Zu ihren Füßen lag ihre Handtasche, in der Ruben ihr Portemonnaie, den Schlüssel, ihre Tabletten, eine kleine Wasserflasche und ihr Smartphone verstaut hatte. Isa startete einen Versuch, sich zu bewegen. Sie hätte sich gern nach vorn gebeugt, um nach ihrem Smartphone zu tasten, schüttelte aber den Kopf.

»Ich schaffe es nicht«, flüsterte sie. Sie konnte kaum ihre Lippen formen, und wenn sie schluckte, schoss ein dumpfer Schmerz ihren Gaumen entlang.

»Dann später. Fass es nicht an.«

Isa hatte Schwierigkeiten, ihre rechte Hand so zu positionieren, dass sie der Erschütterung durch Rubens hektische Fahrweise nicht unaufhörlich zum Opfer fiel. Ihre Hand drohte vor Schmerz zu explodieren, wann immer sie irgendwo gegen stieß.

Sie zweifelte nicht daran, dass sich ihr Leben dem Ende neigte, wenn nicht durch ihre Verletzungen, dann durch Ruben. Sie würde sterben, hier war Endstation. Was für ein Elend. Einzig der Gedanke an die Briefe, die sich unaufhaltsam auf den Weg gemacht hatten, beflügelte ihre Perspektive auf einen sinnvollen Tod.

Wo Ruben sich wohl verstecken würde?

Irgendwo musste er hin. Genauso wie Fitz und Thies. Alle drei würden mit vorläufigem Haftbefehl gesucht werden, das Video war eindeutig, selbst wenn es technisch untersucht würde.

Isa versuchte zu lächeln.

Fitz. Sie stellte sich sein Gesicht vor. Seinen überraschten Blick, wenn die Polizei an seiner Tür klingelte.

Und Thies?