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ÜBER DEN AUTOR

Jamel Brinkleys Kurzgeschichten erschienen u.a. in The Best American Short Stories 2018, A Public Space und Tin House. Jamel Brinkley ist Absolvent des Iowa Writers’ Workshop und derzeit Fellow an der Stanford University in Kalifornien. Unverschämtes Glück ist sein erstes Buch.

ÜBER DAS BUCH

Zwei Studenten erscheinen auf einer Party, um dort Frauen zu treffen, werden aber mit der unangenehmen Wahrheit ihrer eigentlichen Wünsche konfrontiert. Ein kleiner Junge, dessen Vater vermisst wird, verbringt in rasender Wut über einen schlechten Haarschnitt die Nacht auf den Straßen von Brooklyn. Und bei einer Capoeira-Veranstaltung kämpfen zwei Brüder mit ihrer schmerzhaften Familiengeschichte. Mit scharfem Blick fängt Jamel Brinkley das Innenleben von Menschen ein, die Momente des Glücks und familiäre Geborgenheit suchen und dabei die Wucht des echten Lebens zu spüren bekommen.

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»Der Unterschied zwischen Gott und Glück ist, dass das Glück, wenn es geht, nicht sehr weit geht: der Trick ist zu glauben, du könntest es fast mit Händen greifen …«

Carl Phillips, aus »If a Wilderness«

Inhalt

Wie prickelnd

J’Ouvert, 1996

Froh bin

Alles, was der Mund isst

Eine Familie

Unverschämtes Glück

Endlos zufrieden

Wolf und Rhonda

Clifton’s Place

Wie prickelnd

Das war damals. Wir standen am Rand der Tanzfläche im Schalldruck der vibrierenden Boxen, Claudius Van Clyde und ich, und wir waren schon bei der dritten Flasche von irgend so einem Wunderbräu. Auf die Musik achteten wir gar nicht. Schon seit wir bei der Party aufgeschlagen waren, lag ich meinem Freund mit tragischem Zeug über meinen Vater in den Ohren. Irgendwann um Mitternacht ließ er das mechanische Nicken und stieß das Kinn Richtung Treppe. »Schau mal die beiden da«, sagte er. Hinter den wogenden Köpfen der Tänzer und Möchtegernverführer sah ich die zwei Mädchen, die er anscheinend meinte. Sie fassten sich gegenseitig abwechselnd an die Taille und rissen die Hände zurück, als hätten sie sich die Finger verbrannt. Nach ein paar kurzen Runden dieses Spiels zogen sie lachend ab. Wir schlängelten uns hinterher, fort vom Set-up des DJs vor den nachtgeschleckten Erkerfenstern rüber in die Küche, wo wir die Lage sondierten. Eine der Frauen war schlaksig und obenrum eher schmal, aber um die Hüften wohlgerundet. Sie trug ein weißes Tanktop, das im gedimmten Licht ihr Gesicht und die lackierten Fingernägel aufleuchten ließ. Um ihren Kopf bauschte sich ein manierlicher Afro, und sie war etwas heller braun als ihre Freundin mit dem Buzzcut, die war der absolute Hammer.

Die Party stieg Ende September 1995 wenige Wochen vor Jom Kippur bei irgendwelchen Harvard-Absolventen. Claudius hatte nachmittags nach dem Footballspiel ein paar Typen davon reden hören, Achtsemester, die oben am blau patinierten Baker-Field-Löwen abhingen und rauchten. Er hatte mich abends aus meiner Wohnheimbude geschleift. Wir schlichen zu den Uni-Toren hinaus und nahmen die U-Bahn nach Brooklyn, entschlossen, die Party zu crashen. Die war erklärtermaßen für Singles, als Erstes mussten alle gleich mal ihren Namen auf einen Sticker schreiben und sich den ankleben. Die lange Frau mit dem Afro, Iris, trug ihren am Oberarm wie einen Dienststreifen. Ihre Freundin hatte ihren ziemlich clever platziert, praktisch und zugleich so, dass er alle Gaffer verhöhnte. »Hallo«, verkündete ihr Arsch, »ich heiße Sybil.«

»Edgy«, sagte Claudius zu mir, und wir grinsten uns blöde vielsagend an. Der wesentliche Unterschied zwischen einer privaten Party in Brooklyn und einer Collegeparty an der Upper West Side war der, dass auf dem Campus alles bloß Trockenübung blieb. Du hattest die Wahl: dilettieren oder ranschmeißen, an der Bar hängen oder blankziehen, aber es stand nie wirklich viel auf dem Spiel, es gab keine verschärften Konsequenzen. Keine Klinge, der du dich entgegenwerfen, keine Klippe, von der du springen, keine Gefahr, der du trotzen musstest. Du konntest gedisst werden, du konntest zum Zug kommen. Du konntest dir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit billig die Kante geben. Aber irgendwann zu später Stunde landetest du doch in deinem schmalen Wohnheimbett, geborgen zwischen Leichtbetonwänden und extralangen, von irgendjemandes Mom besorgten Laken.

Wir pirschten uns an die Girls ran und zeigten, statt zu sprechen, auf unsere Sticker. Die Lange mit dem Afro stellte sich als Iris vor, näselnd und mit nachdrücklich betontem I. Ganz im Sinne dieser Äußerung schien sie von beiden die Intensivere und Irrsinnigere zu sein. Sie knisterte förmlich. Wir fragten die zwei, woher sie stammten. Iris’ Familie kam überwiegend aus Belize. Sybil war Dominikanerin. Claudius und ich legten Wert auf so was.

»Amüsiert ihr euch?«, fragte ich. Iris antwortete nicht. Sie war mit ihrer Aufmerksamkeit überall und nirgends. Das Haus, in dem die Party stattfand, war alt – die Holzdielen gaben nach, ihr Ächzen bloß überlagert von der Musik und den mit den Lachsalven an- und abschwellenden Gesprächen. Erstarb mal der Lärm, hörte man das Holz knarren, dann wieder klirrende Gläser, quietschendes Plastik, ein deutliches Grundbrummen. Iris schien auf all das kalibriert, auf jedes Detail des Hauses und seine diversen heimlichen Sphären. Jetzt starrte sie durch die Glastüren in den Hof, wo brennende Fackeln die Raucher unter ihren Wolken ausleuchteten.

Ich tippte ihr auf die Schulter, und sie drehte sich um.

»Ach, du wieder.« Sie wechselte mit ihrer Freundin einen ratlosen Blick.

»Yep, die sind immer noch da«, sagte Sybil.

»Amüsiert ihr euch?«, fragte ich erneut.

Iris ließ sich Zeit mit der Antwort: »Wir prickeln.« Im Wohnzimmer wechselte der DJ den Track. »Was ist das gleich wieder?«, sagte sie. »Das kenn ich.«

»Echt jetzt?«, meinte ein Typ, der in der Nähe stand. Er hatte spärlichen Bartwuchs und in den Fäusten zwei rote schäumende Bierbecher. Vielleicht war er ein Harvard-Mann. »Keine Ahnung, was? Das ist ›Brooklyn Zoo‹ von Ol’ Dirty Bastard.«

Claudius und die Mädels nickten kennerisch, aber für mich hörte sich das an wie eine Fremdsprache.

»Wieso heißt der so?«, fragte ich.

Der Typ lachte über meine Ignoranz. »Weil«, sagte er, »sein Style keinen Daddy hat.«

Die Mädels wandten sich einander zu und legten eine Art Stampftanz hin. »Verdammt!«, rief Iris. »Der Song prickelt!«

Sie lebten ganz im Wortsinn das volle Programm: schillernd und vielversprechend überschäumend. Ihre Gesichter wurden zu Fratzen, Nasenflügel und Münder geweitet im Tanz. Iris hielt die Arme eng am Körper, Sybil pumpte mit den Ellbogen. Claudius deutete mit einem Kopfnicken auf Sybil und raunte: »Die nehm ich.«

»Moment mal.«

»Schon vergeben«, sagte er.

Wir zogen beide eher üppige, kurvige Frauen vor – teils, vermute ich, weil schwarze Typen das angeblich tun. Die Vorliebe ist gleichsam Bestätigung einer schwarzen Herkunft, unsere Art, uns Authentizität zu bescheinigen. Nun würde mir Iris zufallen, Prophetin des Prickelns. Na gut, halb so wild. Sollte er doch. Das Ganze war sowieso seine Idee. Ohne ihn wären wir gar nicht da. Er wusste, dass ich dringend Ablenkung brauchte.

Ein paar Wochen zuvor hatte ich vor Beginn meines zweiten Studienjahrs an einem Augustvormittag in Philadelphia mit meinem Vater Leo am Küchentisch gesessen und mich zum ersten Mal überhaupt mit ihm betrunken. Er hatte mich vor wilden Frauen gewarnt, zornigen, leidenschaftlichen Frauen. Er sagte, die würden mich fertigmachen. »Aber es sind andererseits die besten Frauen«, sagte er, »die besten im Bett, zwischen den Schenkeln ein Dschungel und wild, das muss man ein Mal erlebt haben.«

Ich glaubte zu wissen, was für Frauen er meinte, ich wusste jedenfalls mit Sicherheit, dass er von meiner Mutter Doreen sprach, aber scheiß drauf. Sie hatte uns verlassen, ihn verlassen, schon vor ein paar Jahren, und neulich hatte sie verkündet, sie werde wieder heiraten. Ich sah tagtäglich, wie das meinen Vater mitnahm. Er war den ganzen Sommer durchs Haus getigert und von Woche zu Woche kleiner und verzweifelter geworden. Er suchte, als verberge sich die Antwort auf die Frage, wie sein Leben nur hatte so schiefgehen können, in einem der Zimmer. Völlig fertig musterte mich mein Vater an jenem Vormittag unter schweren Lidern und langen mediterranen Wimpern. Von seinem eigenen Vater hatte er die schlechten Zähne geerbt, und schon vor seinem sechzigsten Geburtstag hatte er sich etliche rausreißen lassen. Er hatte eine Teilprothese, die er aber jetzt bei unserem Gelage nicht trug. Seine untere Gesichtspartie war eingedellt wie Fallobst.

»Die besten«, wiederholte er. »Und deshalb …« Sein italienischer Akzent schlug umso stärker durch, je mehr er trank. Aus dem Zahnlückengrinsen guckte die Zunge vor. »Und deshalb muss ein Mann das wenigstens ein Mal erleben, Ben«, sagte er. »Ein Mal.« Er hielt einen abgekauten Fingernagel vor seine hohe Nasenwurzel und kramte etwas aus seiner Hosentasche hervor. Ein Kondom in Silberfolie. »Hebs auf für ein Teufelsweib, una pazza. Lass dich ficken, dass dir Hören und Sehen vergeht, ein Mal und nie wieder. Und dann heirate ein nettes, langweiliges, fettes Mädchen mit Händen und Schenkeln wie saure Milch. Mach dir ein langweiliges Leben. Nur so wirst du glücklich.« Er überreichte mir das Kondom.

Der Ritus kam zur falschen Zeit – ich war ja schon hinausgezogen in die Welt. Aber er glaubte dran, so wie er glaubte, es gebe eine unfehlbare Methode, glücklich zu werden. Und da ich sein Jünger war und an diesem Vormittag selbst ziemlich betrunken, glaubte ich es auch.

Claudius und ich schoben uns hinter die Chicks und tanzten gleich dort in der Küche mit ihnen. Iris bewegte sich gut, aber aggressiv. Sie fuhr herum, hakte ihre Finger in meine Gürtelschlaufen und rammte ihr Becken an meins. Sie rieb und wand sich eine Weile, zog sich dann wieder zurück, bleckte die perfekten Zähne und zeigte mir die Krallen. Sie war ein Wildkätzchen, das nach einem Ball sprang.

Ich beugte mich vor und fragte, ob sie auch in Harvard gewesen sei. Ich gab mir Mühe, älter zu klingen, als wäre ich mit dem Studium schon fertig und ein ganzer Mann.

»Wir sind Hawks«, näselte Iris. Sie breitete die Arme aus und deutete Flügelschläge an. Claudius hatte eine Theorie über näselnde Frauen, die mir gefiel. Ihm zufolge schoben Frauen, die so sprachen, die ihre Stimme von Lunge und Bauch abschnitten, eine Penetranz vor, die Männer vom Fleischlichen ablenken sollte.

»Hawks?«, wiederholte ich.

»Hunter College, ’94. Hey, warum besorgst du mir und meinem Girl nicht mal einen prickelnden Whiskey?«

»Und damit meinst du Whiskey mit …?

»Magie.«

»Wo kriegt man so was?«

Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Mann«, greinte sie, »Whiskey eben. Los jetzt, husch.«

Im Vorbeigehen gab ich Claudius, der mit Sybil tanzte, zwinkernd zu verstehen, dass die Chancen gut standen. Das Gefühl von Iris’ mahlenden Hüften geisterte noch. Ihr hübsches Lächeln und ihre dunklen, mit Goldglimmer gesprenkelten Augen schwebten vor mir im Glas des Küchenschranks.

Ich schenkte vier ordentliche Schuss Jack ein und trug die Becher zurück. Sybil schnupperte am Whiskey und verdrehte genussvoll die Augen. Iris hob ihren Becher und sprach in würdigem Ton mit passender Miene dem Universum und seinen unverwechselbaren Momenten ihren Dank aus. »Und dem Whiskey und der Musik und dem Wahn und dem Recht und der Liebe«, ergänzte sie.

»Und dem Himmel«, sagte Sybil. »Habt ihr heut Abend den Wahnsinnshimmel gesehen?«

Ihre Worte waren vollkommen belanglos. Sie waren ein Toast auf den Nonsens.

»Und deinen Titten«, sagte Iris. Sie streckte die Hand aus und kniff Sybil in die rechte Brust. »Hat sie nicht tolle Titten?«

Claudius starrte ungeniert hin. »Wort drauf. Das hat sie«, sagte er.

Er war mit bestimmten Vorstellungen vom New Yorker Leben aus West Oakland hergezogen: dass die sommerliche Hitze der Stadt und der Staub und das rußverkrustete Wintereis einen kulturellen Kometen ausmachten, den er unbedingt wenn nicht bezwingen, dann wenigstens bezeugen müsse. Auf diese Vorstellung richtete er seine sämtlichen Gesten und seine ganze Maskerade aus, schob den inneren Kern seines Seins so sehr nach außen, dass du in seinem Gesicht und den geblähten Flügeln der breiten Nase die wahre Power der Soul-Nummer spürtest, von der die Leute faseln. Obwohl die einzelnen Züge nicht ganz stimmig waren, kaufte man ihm ein blendendes Aussehen locker ab. Zur Staffage des Schwindels gehörten eine Sammlung morgenländisch anmutender Hüte und Mehrfingerringe im Retrolook. Angebot des Abends: ein Fez, so tief in die Stirn gedrückt, dass wir uns dank der obszön tastenden Schwünge der Quaste gleich alle zwei mutig vorkamen.

Claudius und ich wussten nur zu gut, worauf wir anstießen: den nächsten Lebensabschnitt. Auf Partys wie dieser waren die Studenten gewöhnlich älter, meist standen sie kurz vor dem Abschluss und hatten bereits Apartments in New York, Graduierte auf der Überholspur, Typen, die ihre Jugend schon lange genug lebten, um sie infrage zu stellen. Der Alk war besser und der Hasch klebrig gut. Die Frauen waren natürlich umwerfend, besonders hier. Es lag ein vorwiegend karibisches Flair in der Luft, als wäre dies schon immer die Zielgerade der Labor-Day-Parade. Diejenigen Frauen, die nicht karibisch waren wie Sybil, waren anders unverwechselbar aus der weiten Welt. Jede umgab ein eigenes Klima. Wir waren überzeugt, dass sie bessere, knappere Wäsche trugen als die Frauen, die wir kannten, überzeugt, dass sie verrückte Hohepriesterinnen ihrer Körper waren.

»Und wo seid ihr ausgebrochen?«, fragte Iris, deren Blick schon wieder hinaus auf den Hof wanderte.

»Uptown«, sagte Claudius. »Columbia.«

»Roar, Lion, Roar«, skandierte Sybil.

»Wir haben im Mai den Abschluss gemacht«, log ich.

»Mazel tov«, sagte Iris.

Sybil schüttelte den Kopf.

Das zog Iris’ Aufmerksamkeit umgehend zurück. »Was denn? Das kann ich aber so was von sagen.«

Sybil machte mit dem Mund ein poppendes Geräusch, und die beiden lachten.

Claudius und ich lachten mit, obwohl keiner von uns eigentlich wusste, was daran komisch sein sollte. Bevor wir das Gespräch aber wieder aufnehmen konnten, ließen uns die beiden wortlos stehen.

Wir glitten hinter ihnen die Treppe hinauf, wanden uns an Partygästen vorbei, die dort schwatzten oder flirteten oder sich in labyrinthischen Gedanken verloren. Im ersten Stock stand eine Gruppe Feiernder Schulter an Schulter im Eingang zu einem der Zimmer, als gelte es, etwas Verbotenes abzuschirmen. Claudius und ich drängelten uns vor und landeten in einem gigantischen Badezimmer, wo die Stimmen von den Kacheln widerhallten. Zwei Frauen standen voll bekleidet in einem protzigen, taubenblauen Jacuzzi, ihre Köpfe Silhouetten im Schein einer von hinten beleuchteten Glasmalerei, aber es waren nicht unsere Frauen. Wir kehrten in den Flur zurück, und da kamen Iris und Sybil gerade aus einem Schlafzimmer, aus dem der stinkig süße Duft von Dope waberte. Wir folgten ihnen nach unten und hinaus in den Hof.

Claudius sprang den beiden ins Blickfeld und sagte: »Lasst uns ein Spiel spielen.«

Einen Augenblick taten sie so, als hätten sie uns noch nie gesehen, dann weiteten sich Sybils Augen. »Wie prickelnd«, meinte sie trocken.

Claudius verkündete, wir müssten jetzt alle voreinander etwas beichten. »Peinliche Geschichten«, sagte er, »Geheimnisse. Je schlimmer, desto besser.« Die Idee war ihm wohl wegen des Refrains von »Brooklyn Zoo« gekommen: Shame on you! Shame on you! Die Mädchen schienen belustigt, allerdings nicht unbedingt dazu aufgelegt; Claudius machte trotzdem weiter. »Wer fängt an?«, fragte er und wartete. Aber das Warten war Taktik. Selbstverständlich würde er anfangen.

Worauf wir in solchen Momenten aus waren, verlangte Geduld und strategische Pausen. Wenn wir dann endlich sprachen, senkten wir die Stimmen – auch, wenn es sehr laut war –, damit alle näher zusammenrücken mussten. Wir blickten ihnen in die Augen, gleichzeitig fest und weich, aber keinesfalls starr, und wir ließen den Blick gelegentlich an ihren Körpern hinabwandern. Das durfte nicht notgeil rüberkommen, sondern musste mehr einem unmerklichen Ausziehen gleichen. Es sollte letztlich auf eine Art Hypnose hinauslaufen, infolge derer sich die Frauen ergaben. Diese von uns entwickelte Masche hatte bei uns auf dem Campus oft genug gezogen, was natürlich kein Grund zu Stolz war. College war schließlich nichts anderes als ein Haufen Leute, die sich einander vier Jahre lang an den Hals warfen.

Affektiert murmelnd, erzählte Claudius uns eine Geschichte, die ich schon kannte. Sie mag wahr gewesen sein oder auch nicht, jedenfalls schockierte oder erregte sie die Leute oder machte sie verletzlich und traurig. Geduld war nicht Claudius’ Stärke. Er musste immer möglichst schnell wissen, wo die Leute standen, vor allem Frauen. Hier die Geschichte: Er war noch auf der Highschool, als er merkte, dass die alleinstehende alte Dame, die nebenan wohnte, ihn von ihrem Fenster aus beobachtete. Jeden Morgen und jeden Abend schloss er sich vor seiner alkoholkranken Mutter in seinem Zimmer ein und absolvierte in Boxershorts sein Training. Nervös blinzelnd, erzählte Claudius: »Wadenheben, Liegestütze, Klimmzüge, Bauchpressen bis zum Umfallen. Und immer die alte Schachtel mit ihrer Strassbrille auf Posten, als wäre ich abonniert, als würde ich eine Show bieten. Also habe ich genau das getan. Ich stellte mich ins Fenster und starrte zurück, strich mir über Brust und Waschbrettbauch. Dann, nachdem ich das ungefähr eine Woche lang gemacht hatte, rieb ich mich mit Babyöl ein. Drehte die Schraube weiter, indem ich splitterfasernackt rumlief, und als auch das sie nicht aus der Fassung brachte, habe ich meine Freundin bequatscht, mit mir auf Liveshow zu machen. Davon wollte die nichts wissen. Wohl zu unschuldig, also habe ich, und jetzt passt auf, stattdessen masturbiert, mir dort direkt vorm Fenster einen runtergeholt. Auch das hat sich die alte Schachtel angesehen, aber am Abend drauf war sie weg. Zack, weg. Ließ sich auch am nächsten Abend nicht blicken. Hat mich nie wieder bespitzelt. Vermutlich hat sie zu sehen gekriegt, worauf sie die ganze Zeit aus war.«

Iris und Sybil kreischten unisono, dann verfielen sie in ein Gackern, das fremdländisch klang. Selbst im Halblicht der Party stachen ihre blitzenden Augen hervor, hübsche rostbraune und bernsteingelbe Murmeln. Sie schüttelten sich vor Lachen, sie schlugen sich auf die Schenkel und warfen die Köpfe zurück. Ihr Getue setzte einen Moschus aus herbem Schweiß und Vanilleöl mit Spuren von Mandel frei. Iris’ kreisrunder Afro schluckte auf seiner Bahn große Teile des Raums. Andere Frauen waren von der Geschichte entweder abgestoßen oder, unzweideutig, erregt gewesen. Keine hatte je so reagiert. Und es stimmte noch was anderes nicht. Iris’ wilder Mund und ihre Augen bewegten sich unabhängig von den übrigen Gesichtszügen. Sie sah aus wie eine defekte Klappaugenpuppe.

»Fuck, unglaublich«, sagte schließlich Sybil. Wir lauschten ihrem Fuck eine erotische Betonung ab. »Der hält sich für schräg«, sagte sie und ließ Claudius’ Quaste mit einem Fingerschnicken kreiseln.

»Scham ist Name und Plan«, erwiderte er mit bebenden Nasenflügeln. »Jugendsünden.« Er redete jetzt ein bisschen zu geschwollen, selbst für seine Verhältnisse. »Schreiten wir voran zu den heutigen Sünden.«

Die Mädchen tuschelten miteinander, bliesen sich Kauderwelsch in die Halsbeuge.

»Nun«, sagte Claudius, »wer macht weiter?«

»Der«, sagte Iris. Wir hatten jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Was hat der denn zu bieten?«

Alle drei starrten mich erwartungsvoll an. Ich hätte diverse Richtungen einschlagen können, aber in meinem Kopf führte jeder Weg an denselben Punkt.

»Mein Dad«, begann ich mit den ersten und einzigen Wörtern, die mir einfielen. Ich erklärte, dass er weiß sei, geboren und aufgewachsen in Italien. Der habe von meiner Mutter immer als seiner cioccolata gesprochen. Wenn sie wütend wurde, ihn aus diesem oder jenem Grund anbrüllte, lachte er bloß und tätschelte ihre Wange. Dann nannte er sie außerdem agrodulce, also immer auch ein bisschen süß.

Claudius grinste, als ich es sagte. Er mochte es, wenn ich den Frauen mit Italienisch kam.

Ich erzählte ihnen, wie sehr mein Vater meine Mutter und ihre Familie geliebt hatte. Besonders gefiel ihm, wenn ihre jüngeren Schwestern uns besuchen kamen. Da war ich noch klein. Ich hockte vor dem Damenbesuch bei ihm auf dem Badewannenrand, strich mit dem Finger am Duschvorhang entlang und guckte ihm bei seinen Vorbereitungen zu. Er betupfte sich mit Rasierwasser und überlegte, ob er einen oder zwei Knöpfe seines besten Hemds auflassen solle. Er achtete darauf, dass seine Wangen im richtigen Maß stoppelig waren. Bei diesen Besuchen bot er seinen ganzen Charme auf, mixte Drinks, küsste Handrücken und bewunderte neue Frisuren. Er bedachte meine hübschen Tanten mit wohldosiertem Lob. Ich vergötterte ihn.

Claudius grinste nicht mehr. Ich erzählte keine peinliche Geschichte. Meine Geschichte beförderte unsere Sache nicht im Geringsten. Ich war mir selbst nicht sicher, was ich da trieb, aber ich machte weiter.

Meine Mutter habe das immer sehr geärgert, erzählte ich, sie warf ihm schamlose Flirtversuche vor und beklagte sich lauthals über seine Respektlosigkeit. Eines Tages, ich war zwölf, versetzte sie etwas richtig in Rage. Sie war früher als sonst von der Arbeit heimgekommen und fand mich am Küchentisch vor den Pornoheften meines Vaters. Ich kannte die Nacktbilder schon, hatte aber bis dahin immer nur mal einen Blick riskiert, doch diesmal hatte ich begriffen – oder nicht mehr leugnen können –, dass mein Vater spezielle Vorlieben hatte. Ich war gebannt von den runden Pobacken der Frauen, ihren dunklen Brustwarzen und dem Tiefschwarz zwischen ihren Beinen. Meine Mutter wühlte in dem Stapel – mir war nicht klar, wie viele Hefte es wirklich gab – und berührte immer wieder mit kurzen Seitenblicken auf mich eines der stummen Gesichter der abgebildeten, bemüht lustvoll blickenden Frauen. Ihre eigene tiefbraune Haut auf den Fotos der tiefbraunen Frauen. Mir machte ihr Schweigen Angst. Ich hoffte verzweifelt darauf, dass sie irgendwas sagen würde, egal was, aber das tat sie nicht. Sie nahm einfach den gesamten Stapel vom Tisch und schickte mich mit einer knappen Geste auf mein Zimmer.

Als mein Vater heimkam, stritten sie sich im Wohnzimmer. Ich schlich mich in den Flur und belauschte sie.

»Er ist zwölf«, sagte sie immer wieder zu ihm. Als hätte mein Vater mich eigenhändig vor die Hefte gesetzt oder, schlimmer noch, ins Bordell geschleift. Warum warf sie ihm vor, was ich getan hatte? Ich verstand das nicht.

»Benito ist neugierig, Doreen, und fast ein Mann«, sagte mein Vater. Er fand nichts dabei, sah keinen Grund zur Aufregung, und ich auch nicht. »Ist es nicht gut, dass er lernt, dass diese Frauen schön sind? Dass seine mamma schön ist?«

»Aber das ist es nicht, was er lernt!«, hatte meine Mutter geschrien, und in dem Moment fand ich sie hässlich. »Begreifst du denn nicht, was du ihn lehrst? Siehst du denn gar nicht, was du da tust?«

Da hatte er sie in die Arme genommen, ihren Hals geküsst, eine großzügige Reaktion auf ihr wildes Zetern. Sie wehrte sich erst ein bisschen, erzürnt mehr von seinem Verhalten als von seinen Worten. Aber er küsste weiter ihren Hals. Er neutralisierte ihren Ärger mit seiner Umarmung, er lachte und murmelte: cioccolata, agrodulce. Mir auf meinem Beobachtungsposten schwoll die Brust vor Stolz.

An dieser Stelle brach ich die Geschichte ab, konnte und wusste nicht weiter. Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Iris trank von ihrem Jack. Sybil sah sich um, als hätte sie irgendwo etwas liegenlassen. Die Musik dröhnte. Schließlich packte mich Claudius im Nacken und lachte.

»Der Kerl ist ein pathologischer Grübler«, sagte er. »Eine empfindsame Seele, ein Spielverderber. Er trägt Herz und Geist auf der Zunge.«

Die Mädchen blieben skeptisch.

»Gut, Ladys«, sagte Claudius. »Ihr seid dran.«

»Dazu haben wir längst noch nicht genug getrunken«, sagte Iris. »Prickelt nicht so richtig.«

Sybil nickte. »Außerdem, wie heißt es doch gleich: Frauen und ihre Geheimnisse.«

»Oder ihr Prickeln«, fügte Iris zwinkernd hinzu.

Dann kehrten sie uns den Rücken und stellten uns einfach kalt. Ich staunte einen Augenblick über diese Demonstration weiblicher Macht. Claudius starrte auf Sybils Arsch, erhob unbeirrbar Anspruch auf sie, auf die einzige Weise, die ihm im Moment der Abfuhr blieb. »Den nenn ich prickelnd, verdammt«, raunte er mir zu. Die engen Jeans und die hohen Absätze stellten den Arsch optimal zur Schau. Der Sticker löste sich langsam. Claudius warf mir einen Blick zu und faselte weiter was vom Wunder hautenger Jeans – das, erklärte er, seien brasilianische, das wisse er zufällig genau, und nickte zu dem andächtig ausgesprochenen Wort. Dann verstummte er. Den Blick wieder auf Sybil gerichtet, auf die ausladende Linie, die sie darbot und die seine niederen Triebe ansprach, bewegte er die Lippen wie auf der Suche nach einer vergessenen Sprache. Aber sie und Iris waren für uns verloren, und das endgültig, wie es schien. Obwohl Claudius kein Wort sagte, kam ich nicht umhin, unsere beiden Geschichten noch mal gedanklich gegeneinander abzuwägen. Es war meine Schuld, keine Frage.

Gut zwei Stunden verbrachten er und ich damit, draußen im Hof, wo die Fackeln alle Gesichter verflachten und glänzen ließen, zu schwafeln, rauchen und trinken. Irgendwann kehrten wir ins Haus zurück. In der Küche verdrückte ich Cookies und einen matschigen Rest Rumkuchen. Ich hatte jetzt gegen Ende der Nacht und trotz meiner eigenen problematischen Zähne Heißhunger auf Süßes. Claudius, der sich wieder gefangen hatte, begann, das sich lichtende Terrain nach anderen, unserer Aufmerksamkeit würdigen Frauen abzugrasen.

Nicht lange nach dem Vorfall mit den Zeitschriften hatte uns meine Mutter verlassen und letztlich die Scheidung eingereicht. Sie behauptete, er liebe sie mit den Augen, aber nicht mehr mit dem Herzen. Sie sagte, eine Frau könne nicht ihr ganzes Leben mit einem solchen Mann verbringen. Aber sie lag mit den Gefühlen meines Vaters falsch. Davon war ich bis zur Anmaßung überzeugt und betete es mir unerbittlich vor. Mein Vater verehrte meine Mutter in allen Einzel- und Eigenheiten. Er hatte sie doch immer nur mit Zuneigung überschüttet. Als sie ging, wurde er bitter. Eines Tages klagte er, sie sei gar nicht wirklich fort, für solches Erbarmen sei sie viel zu gemein. Sie sei noch da, sagte er, gäre in ihm weiter: schäume in seinen Adern, verseuche sein Blut. Und so wurde sie für mich zunehmend eine Krankheit, ein Verrat auf zellulärer Ebene. Meine Entscheidung, bei ihm zu bleiben, wurde zum Loyalitätsbeweis, und den hielt ich ihr so oft wie möglich unter die Nase, bis sie aufhörte, vernünftig mit mir reden zu wollen. Zu meinem siebzehnten Geburtstag hatte sie mir noch einmal geschrieben und mich aufgefordert, sie in Newark zu besuchen, um ihren neuen Partner und dessen Kinder kennenzulernen. Sie rief auch am Ende meines ersten Collegejahrs im Wohnheim an, direkt vor den Prüfungen, um mir von ihrer Verlobung zu erzählen und mich wissen zu lassen, wie viel ihr daran liege, dass ich zur Hochzeit komme.

»Du glaubst, das würde ich jemals tun?«, fragte ich.

Sie schwieg einen Augenblick, und noch diese Denkpause erboste mich, schürte den Drang, mich auf jede ihrer Äußerungen zu stürzen. Ich starrte in die schirmlose Lampe auf meinem Schreibtisch und zwang meinen Blick in den Glutkern des Lichts.

»Du glaubst, du würdest es nicht?«, entgegnete sie. »Irgendwann, mein Junge, wirst du loslassen müssen, was immer du dir da in den Kopf gesetzt hast.«

Ich fluchte und legte auf, zitternd, blind vor Wut, vollkommen zu. Sie war feige, unfähig, die Wucht der Zuneigung meines Vaters zu ertragen, als gäbe es überhaupt so was wie zu viel Liebe.

Mein Vater. Sein altes Ich hätte diese Party genossen. Schmunzelnd über diese Vorstellung, schlenderte ich ins Wohnzimmer. Es hatte Zeiten gegeben, da schmiss er solche Partys selbst, verteilte links und rechts Einladungen an junge, bunte, prächtige Menschen, die er als »Essenz alles Irdischen« bezeichnete. Bei diesen Partys ließ er mich aufbleiben – die ganze Nacht, wenn ich es schaffte. Demnach konnte ich mir mühelos vorstellen, wie er die Wangen der vier Mädels küssen würde, die jetzt der Tür zustrebten, deren braune Füße so verlockend waren in den Stöckelschuhen und Sandalen, ihre Körper in Jeans wie angegossenem blauem Öl und Sommerkleidern wie Heiligengewänder. Mein Vater würde ihre Hände ergreifen und sie anflehen, doch noch zu bleiben. Er würde eine besondere Flasche erwähnen, einen Jahrgang, den er für den richtigen Anlass aufgehoben habe, und versprechen, ihnen bei Sonnenaufgang ein fürstliches Frühstück zu bereiten. Er würde fast alles sagen, was ihm in den Sinne käme, um ein Lächeln auf eines ihrer Gesichter zu zaubern, sie zum Bleiben zu bewegen, die Party so lang in Gang zu halten wie möglich.

Aber mein Vater kümmerte in Philly dahin, war nicht hier und längst nicht mehr der Alte, also ließ man die vier Frauen anstandslos ziehen. Jetzt waren merklich mehr Männer als Frauen übrig, deren lange Gesichter angesichts der langweiligen Musik, die der DJ inzwischen spielte, noch blöder aussahen.

Iris und Sybil standen an einem selbstgebauten Bücherregal und verfuhren mit drei Typen genauso wie vorher mit mir und Claudius. Inzwischen high oder betrunken, vielleicht beides, tanzten sie ab und ruderten mit den Armen, trieben in einem Sumpf der Albernheit. Dann klammerte sich einer der Loser an Sybils Arm und bettelte sie an, doch zu bleiben, ihm ihre Telefonnummer zu geben, mit ihm nach Hause zu gehen. Der Kerl wirkte älter – alt, ehrlich gesagt –, und er und seine Kumpels waren wahrscheinlich auch Partycrasher, wenn auch nicht so wie wir. Sie wirkten, als kämen sie von ganz woanders, aus einer anderen Zeit, anderen Dimension, man roch es förmlich. Ja, genau. Irgendwas ließ ihre Anmache grob, gemein und gefährlich erscheinen. Ich hätte einschreiten können, den galanten Helden spielen, wie es mein Vater getan hätte, aber Iris konnte ihre Freundin von den Assis wegzerren. Gemeinsam verließen sie das Haus.

Claudius tauchte im Wohnzimmer auf, den Fez in der Hand gestülpt wie einen Eimer ohne Henkel. Sein Haar war verfilzt und kraus, er ähnelte manchen Obdachlosen, die knisternd vor schlechtem Karma beleidigt zeternd in der U-Bahn bettelten. Er stürmte vorbei und rannte mich fast um.

»Kein Glück?«

»Der reinste Männerverein«, rief er zur Antwort.

Ich folgte ihm nach draußen. Er setzte sich den Fez wieder auf, und die Quaste schlug im Wind. Ich kannte das an ihm schon, diesen inneren Aufruhr. Mit Untätigkeit kam er nicht klar, viel schlechter als ich, und er verlor schnell die Peilung. Ohne konkretes Ziel hatte die Landkarte seines Lebens weder Sinn noch Gestalt. Wir standen am Tor zum Haus, umzingelt vom Gebell eines Nachbarhunds, dem Brummen einer defekten Straßenlaterne und einem fernen metallischen Klimpern. Ich schlug ihm auf die Schulter und sagte, wir sollten uns auf den Heimweg machen. Er zog seinen Pager hervor. Der grünliche Schimmer des Displays verriet uns, dass es fast vier Uhr morgens war. Es würden kaum U-Bahnen fahren.

In dem Moment eierten Iris und Sybil auf Fahrrädern mit spastisch tanzenden Vorderreifen auf dem Gehweg vorbei. Sie waren schon ein Stück weiter, als Sybil ausscherte und ihr Rad mit dem von Iris zusammenstieß. Sie fing sich, aber Iris stürzte. Wir liefen durchs Tor zu ihnen hinüber, und ich half Iris hoch. Sie hatte Tränen in den Augen, doch ihr Blubbern entpuppte sich als Lachen. Sybil lachte auch.

»Wir sind platt«, gab Iris zu. Ungeniert rülpste sie in ihre Faust und untersuchte dann ihren Unterarm, über den sich eine dreckverschmierte Schramme zog. Sie tupfte auf die Wunde und starrte auf ihre rote Fingerkuppe.

Als ich sie fragte, ob’s schlimm sei, bestand ihre Antwort darin, mich mit dem Blutstropfen zeichnen zu wollen. Ich machte einen Satz nach hinten, und sie lachte. Claudius und ich wechselten einen raschen Blick, und ich schlug vor, die Mädels nach Haus zu begleiten.

Iris schälte sich summend das Etikett mit ihrem Namen vom Oberarm. »Ha, richtige Gentlemen«, sagte sie. »Ritterlichkeit ist untot.«

Wir schoben die Fahrräder, während die Frauen Hand in Hand vor uns herwankten. Allein die Bewegungen, in ihrer trunkenen Übertreibung synchron, verhießen einen neuen Rhythmus zur Verlängerung der Nacht. Es war wie die LPs, die mein Vater zu später Stunde auf seinen Partys spielte, wenn die zartbesaiteten Gäste schon gegangen waren und die verbliebenen herumsaßen und auf Uhrzeiger starrten. Er besaß eine erlesene Vinyl-Sammlung, überwiegend Bebop, der die Dinge wieder kaltstarten konnte, weit entfernt von der freudlosen Musik, die der DJ eben gespielt hatte. Die Musik meines Vaters konnte dich davon überzeugen, dass nichts jemals enden musste.

Jetzt wieder obenauf, starrten Claudius und ich die Frauen an. Iris’ Waden und Schenkel waren für eine so dünne Frau sehr ansehnlich, aber Sybils Arsch blieb der absolute Hammer.

»Ein obergeiler Arsch«, sagte ich, ohne den Blick davon abzuwenden.

»Treibt einem die Tränen in die Augen«, bestätigte Claudius. Dann warf er mir einen misstrauischen Blick zu. »Du wüsstest ja gar nichts damit anzufangen. Ist außerdem schon vergeben, falls du’s vergessen hast.« Er deutete mit dem Kinn auf Iris. »Die ist doch eher dein Stil, B. Man nehme zum Feuerbohren zwei dürre Stecken.«

Mit einem Zwinkern beschleunigte er seinen Schritt und riss den an Sybils Jeanshosenboden baumelnden Sticker ab. Darüber konnten sie erst einmal ablachen und gingen nun nebeneinanderher, sodass ich schließlich, als ich aufholte, wieder bei Iris landete. Eine weitere Schramme zierte die Haut dicht an ihrem Handgelenk. Wann immer daraus das Blut quoll, lutschte sie daran wie ein verletztes Kind. Trotz ihres sonderlichen Verhaltens malte ich mir aus, wie es wäre, mit ihr zu schlafen, ihre Schenkel und Hüften so mühelos zu dirigieren wie den Lenker ihres Fahrrads.

Wir gingen lange, tauchten immer weiter in Brooklyn ein. Als würden wir langsam sinken. Die Fenster der Wohnungen über einem Eckladen waren kreuz und quer mit Brettern vernagelt, zähes Unkraut wucherte aus den Rissen im Gehweg. Wir kamen an einer Bar namens Salt vorbei, die aussah, als wäre dort seit Jahren nichts mehr los, und an der Ecke zierten Tags eine Backsteinmauer. Die Namen hatten alle nur drei Buchstaben – SER, EVE, RON, REL, MED –, und die verlaufene Farbe bildete schmuddelig bunte Eiszapfen. Die Erde war hier zunehmend mit zerknüllten Papiertüten, leeren Starkbierflaschen und anderen formlosen Müllbrocken übersät. Ich lenkte Iris’ Rad um undefinierbare, soßige Pfützen herum. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, und das würde es auch in dieser Nacht nicht. Männer hockten auf maroden Verandastufen oder standen vor verrammelten Kiosk-Shops. Sie schielten nach uns, doch es fühlte sich nicht bedrohlich an, sondern einfach nur geheimnisvoll. Empfänglich für diese eindringlichen Blicke der Männer, fühlte ich mich verstrahlt bis in die Knochen.

Iris redete ununterbrochen, beschwor ihr Prickeln, wählte ihre Worte mit trunkenem Bedacht. »Es geht nicht um Tiefsinn oder so’n Scheiß«, sagte sie. »Darum geht es gar nicht. Es ist mehr wie: Kann man über alles hinwegtrippeln? Kann man überallhin und für jedes kleinste Ding offen sein?«

Ich heuchelte nach besten Kräften Interesse an dem, was sie zu sagen hatte. Keinesfalls würde ich uns die Sache ein zweites Mal vermasseln. Ich fraß Kreide und fragte: »Was habt ihr eigentlich ständig mit diesem Prickeln?«

Sybils Lachen trieb vor uns her. Erneut platzte Hundegebell los. Iris sagte etwas, das ich nicht verstand, und ich musste nachhaken.

»Das ist japanisch: mono no aware«, sagte sie. »Ein Gefühl für die Dinge. Aufmerksamkeit. Alles ist vergänglich. Es bedeutet Sinn für die Schönheit. Ich hatte auf dem College interkulturelle Philosophie und war ein Jahr im Ausland.« Als Beispiel führte sie sakura an, die Kirschblüte.

Das klang erst einmal nur nach weiterem Kiffer-Quatsch. Dann machte mich allmählich die Vorstellung von Ausland mit der rätselhaften Weltlichkeit, die da mitschwang, genauso an wie ihre Hüften. Iris war schwarz, mittelamerikanisch, vielleicht irgendwie jüdisch und wer weiß, was alles. Sie war noch exotischer, als ich gedacht hatte.

Sie sprach von einem Traum, den sie gehabt hatte, von Kirschblüten, eine Vision wie ein Video im Zeitraffer: rosa Blüten, die sich entfalteten, verblassten, in Büscheln herabschwebten und sich wie zarte Röckchen auf den Rasen legten. »Ich habe meine Mom gefragt«, sagte sie. »Die kann Träume deuten. Sie sagt, so ist das Leben.«

Iris bot mir etwas an, etwas Wahres, aber ich konnte es nicht recht fassen. »Was ich ja gern wissen würde«, sagte ich und platzte damit heraus: »Ob du es schon mal im Gras gemacht hast?«

Sie zog die Stirn kraus und hatte gerade den Mund zur Antwort geöffnet. Da tauchte zwischen zwei geparkten Wagen ein strohgelber Hund auf. Claudius erschrak und ließ Sybils Fahrrad fallen. Als der Hund knurrte und bellte, versuchten wir, schnell an ihm vorbeizukommen. Aber er schnitt uns seltsam taumelnd den Weg ab. Vielleicht war er tollwütig. Hier und da gab es im Fell rosa Stellen, und im Schein der Straßenlaternen sah er aus wie eine Kreuzung aus Hyäne und Schwein. Die trüben Augen schimmerten, das Knurren lag fast unter der wahrnehmbaren Schwelle. Ich behielt ihn im Blick. Es war jetzt, spätnachts, kühler, und doch kriegte ich einen heißen Kopf. Mein Kiefer spannte sich an, die Brust wurde enger.

Der Hund schob sich weiter vor und schien, als wir immer mehr zurückwichen, zum Sprung anzusetzen. Claudius drückte sich seinen Fez an die Brust und fluchte leise. Er schlüpfte hinter uns und benutzte uns als Schutzschild. Ich hob Iris’ Fahrrad als Wurfgeschoss, doch da stürmte Sybil auf den Hund zu und versetzte ihm einen Tritt gegen die Schnauze. Der Hund wankte einen Augenblick, jaulte fast dankbar und fiel um. Iris kam ihrer Freundin zu Hilfe, und ehe es vorbei war, traten sie dem Tier noch mehrfach wild gegen den Kopf und in den eingesunkenen Bauch. Dann rührte sich der Hund nicht mehr. Alles Rabiate war ausgelöscht. Ich wandte mich von der Gewaltszene ab, und doch drangen das seltsame Gemurmel, die beunruhigenden Laute der Frauen an meine Ohren. Irgendjemand umschlang mich fest – ich selbst, wie ich erkannte. Unweit von mir klappte Claudius die Kinnlade weiter und weiter herunter.

Die Frauen wurden still. Sybil schob ihr Fahrrad zu uns herüber. Sie schnaufte schwer, ihre Haut schimmerte feucht. Sie ging direkt zu Claudius, packte ihn am Hinterkopf und zog ihn zu einem unsanften, hungrigen Kuss zu sich herab. Sein Fez zerknautschte in der Umarmung.

Wankend wandte ich mich Iris zu. Sie stand über dem reglosen Hund, ihre Schultern hoben und senkten sich. Sie drehte sich zu mir um und strich mir mit der flachen Hand über die Stirn, glättete sie. »Sei doch nicht immer so … erstaunt«, sagte sie. »Du siehst dann alt aus.«

In dem Moment rief uns ein Mann von der anderen Seite der Straße hinter einem vergitterten Fenster etwas zu. »Verdammt!«, johlte er. »Ihr Bitches habt es dem motherfucker aber ordentlich gegeben!«

Wir lachten, erst die »Bitches«, dann stimmte ich ein. Claudius, in der Hand seinen ruinierten Hut, tat es nicht. Ich lachte mit und empfand Erleichterung. Plötzlich schien die Welt in Ordnung – was die beiden getan hatten und wie, dass sie diejenigen waren, die Mut gezeigt hatten. Das war nicht nur in Ordnung, das war aufregend und mehr.

Als wir weitergingen, starrte Iris vor sich hin, wie in Trance. »Was hat der Hund uns geboten?«, fragte sie. »Was hat sein Todeswille in die Welt gebracht?«

Ich konnte dazu nichts sagen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die Frage an mich gerichtet war.

Wir näherten uns der Haltestelle einer U-Bahn-Linie, die ich noch nie genommen hatte, und Claudius sah sich nach mir um. Auf seinem müden, argwöhnischen Gesicht stieg eine Frage auf, und ich verstand. Ich schüttelte den Kopf, und er verstand. Als ich nickte, war auch das klar. Wir würden nicht auf den Campus zurückfahren. Wo immer diese Nacht hinführte, wir würden ihr bis ans Ende folgen.

Das Wohnhaus der Mädchen lag weit von der Straße zurückgesetzt und vereinigte zwei Baustile: unten regulärer Backstein, oben graue Plastikverschalung. Aus der Verkleidung guckte wie ein Schielauge ein einsames Fenster. Die beiden tanzten durchs Tor zur Haustür und warteten dort auf uns.

»Wo sind wir?«, murmelte Claudius.

»Egal.«

seiner

Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Oder er hat das Ende eines langen Sterbewegs erreicht. Am Tag seiner Beisetzung blickte ich, flankiert von meiner Mutter und ihrer neuen Familie, auf das starre, fast schmunzelnde Gesicht im Sarg. Ich hatte ein gutes Jahrzehnt lang Abstand gehalten, hatte mich entfremdet und sie daher ewig, wie mir schien, nicht mehr gesehen. Zwischendurch drückte sie mir kurz den Arm, und dann nickte sie. Sie zwang mich nicht, mit ihr zu reden. Alles, was sie mir zu sagen hatte, lag in diesen beiden Gesten. In ihrem schwarzen Blazer zum schwarzen Kleid, mit grau gesträhntem Haar unter einem schräg sitzenden Hut, machte sie noch immer eine gute Figur. Vielleicht hätte mein Vater das auch so gesehen. Was mir noch mehr Eindruck machte als die Eleganz und Würde, mit der sie alterte, war die Anwesenheit ihres Mannes und seiner, ihrer, erwachsenen Kinder. Sie hätten ja nicht kommen müssen. Später, unfähig, meinen Magen oder meine Gedanken in den Griff zu bekommen, stand ich alleine etwas abseits, während meine Mutter und ihre Familie sich am anderen Ende des Raums unterhielten. Abgesehen von mir, sah ich, waren sie die einzigen anwesenden Schwarzen. Die vier ergaben ein Bild der Ausgeglichenheit und Anmut, bei dem mir noch mulmiger wurde. Ich musste an mein letztes gemeinsames öffentliches Auftreten mit meinem Vater denken, eine Würdigung seiner langen und erfolgreichen Berufsjahre. Die Art, wie er mich am Arm von einem Gast zum nächsten schleifte, hatte etwas Verzweifeltes. Jedem, der es nicht schon wusste, und einigen, bei denen das der Fall war, sagte er: »Das ist mein Junge. Das ist mein Sohn.« Er führte mich vor wie eine Trophäe, als wollte er jeden Zweifel ausräumen, dass ich zu ihm gehörte. Das hatte er seit meiner Kindheit getan. An diesem Tag erfüllte es mich zum ersten Mal nicht mit Stolz.

Was hatte er bloß gemeint an jenem Augustvormittag in Philadelphia kurz vor meiner Rückkehr ans College? Glaubte er selbst, was er mir vom Glück erzählte? War es ihm ernst gewesen? Oder sprach da ein Mann mit gebrochenem Herzen, bitter, betrunken? Vielleicht wusste er, dass er mit einem unbedarften Naivling sprach. Vielleicht glaubte er, das, was ich aus meinem weiteren Leben machte, würde ihm eine Erklärung liefern. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber ich stelle mir immer noch vor, wie das sein muss, Vater eines Jungen zu sein, der mich liebt und an mich glaubt und trotz unserer Differenzen nichts lieber will, als ein Mann nach meinem Bilde zu sein. Ich sehe diesen schemenhaften Jungen, meinen Sohn, sehr deutlich, und ich kriege Angst, wenn er näher kommt. Ich möchte mit ihm reden, habe aber keine Ahnung, was ich sagen soll.

Manchmal scheint mir, das Einzige, was ich, abgesehen von Fragen, zu bieten hätte, wären meine Erinnerungen an die Zeit damals in Brooklyn und die schreckliche Wohnung, in die ich uns mit meiner Besessenheit trieb. Es klingt albern, selbst für mich, aber es stimmt. Zu den seltsamsten Berührungen dort gehörte die Hand meines Freundes, die, lange nachdem Iris und Sybil uns im Schlafzimmer allein gelassen hatten, meine Schulter packte. Mir blieb die Luft weg, als Claudius mich das erste Mal berührte. Ich sah mich nicht nach ihm um, und ich schob seine Hand nicht weg. Ich lag dort einfach auf der Seite mit geschlossenen Augen und versuchte, nicht mehr wach zu sein. Als ich endlich aufstand, war es nach zwölf. Mir brummte der Schädel, von ferne hörte ich die Stimmen der Frauen. Claudius saß aufrecht im Bett und starrte mich an. Mit einem Mal kam eine extreme Hässlichkeit zum Vorschein, offenbarte sich in seinem Gesicht ein anderes Gesicht, und das Gleiche muss er bei mir gesehen haben. So ist es mit Menschen in meinem Leben gewesen, mit Menschen, die ich geliebt habe: Etwas verflüchtigt sich still und leise, es tut sich ein Riss so unmerklich auf, wie zwei Lippen sich öffnen, etwas ist morgens anders, so plötzlich und sachte, dass du dich fragst, wie sie überhaupt jemals schön sein konnten.