Über Kristin Rübesamen

Kristin Rübesamen, geboren in München, studierte deutsche und russische Literatur und arbeitete für »Spiegel-TV«, ZDF und die »Süddeutsche Zeitung«. Nach einem Jahrzehnt in New York und London lebt sie mit ihrer Familie in Berlin, schreibt, unterrichtet seit 20 Jahren als Jivamukti- und Om-Yogalehrerin und gehört zu den Pionieren der deutschen Yogaszene. »Außer Atem« ist ihr dritter Roman.

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»Dass sie ihn verpasst hatten, dass der richtige Moment nicht nur aus Spaß so hieß, merkten sie erst, als es zu spät war.«

Als Ingas Tochter – gerade volljährig – verschwindet, sieht sie, die als Yogalehrerin Meisterin der Entspannung ist, erst einmal keinen Grund zur Aufregung. Dann weicht die Gelassenheit zunehmend einer Unruhe, und Inga macht sich auf eine Suche, die sie aus ihrem Leben führt, wie sie es kannte …

»Schnell, bissig, klug. Erst nach dem letzten Wort konnte ich wieder Luft holen.« Leander Haußmann

Kristin Rübesamen schreibt mit anarchischem Humor und doch voller Wärme darüber, wie schwer es ist, das loszulassen, was man liebt – und was man findet, wenn man sich im Leben auf die Suche macht.

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Kristin Rübesamen

Außer Atem

Roman

Inhaltsübersicht

Über Kristin Rübesamen

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Tag 1

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Tag 3

Tag 4

Tag 5–11

Tag 12 bis 15 oder 16

Tag X

Woche 6

Nachdem Inga und Erna Nudeln mit Pfifferlingen gegessen und Bonitas Sachen durchsucht haben

Woche 8

Woche 9

Später, Baby

Impressum

Für meine Töchter Josephine und Linda

Tag 1

Inga verlagerte das Gewicht von rechts nach links. Ihr Geld bekam sie in jedem Fall, egal, wie viel von der Stunde am Ende übrig blieb. Ausnahmsweise dachte sie nicht daran, was sie essen könnte. Diese Mittwochstermine bei Jack waren ihr im Grunde zu aufregend. Vielleicht würde sie sich später ein Spiegelei braten. Sie war in einem Alter, in dem die Vorstellung von Normalität nichts Trostloses an sich hatte. Neben dem Haustor bildete sich ein schmaler Sonnenstreifen, in den sie ihren Körper schob. Bis auf ein leichtes Ziehen in der rechten Schulter hatte sie keine Beschwerden. Sicher vom Kopfstand, den sie auch an diesem Morgen eisern zehn Minuten gehalten hatte.

»Ich will aber nicht!« Eine kreischende Stimme wurde laut, als sich das Tor hinter ihr öffnete.

Eine Frau trat mit einem Mädchen auf die Straße. Das Mädchen hatte feuchte Haare und schleifte einen Rucksack hinter sich her.

Die Frau hielt Inga die Tür auf, aber die schüttelte den Kopf. Jack hatte sicher die Musik zu voll aufgedreht. Gleich würde sie noch mal klingeln.

»Es ist doch nur bis zum Wochenende«, sagte die Frau, »immer das gleiche Theater.«

Das Mädchen war anderer Meinung. »Ich wollte mich verabreden! Scheiße. Bist du taub?«

»Mit wem denn?«, fragte die Frau und sah zu Inga herüber. »Es ist doch niemand da.«

Scheiße. So redeten Kinder heute. Sobald sie zu Monstern herangewachsen waren, lebte Inga hoffentlich längst weit weg am Meer.

Mittägliche Ruhe lag über dem Wohnviertel, das in keinem Reiseführer der Stadt erwähnt wurde. Im Park gegenüber war wenig Betrieb. Nur ein Mann saß auf einer Bank und freute sich mit freiem Oberkörper an der Sonne, die im Oktober unerbittlich weiter wärmte.

»Eigentlich müsste ich einen Rabatt bekommen«, hatte Jack einmal gesagt. Ein ernst gemeinter Scherz, denn Jack machte wie alle reichen Menschen keine Witze über Geld. »Sonst noch Wünsche«, hatte Inga geantwortet. Sie redeten nicht über den Sommer vor zehn Jahren, wenn sie seinen unteren Rücken entlastete und die Wirbelsäule geschmeidig hielt, um der fortschreitenden Versteifung in T 3–6 entgegenzuwirken.

Damals, im Sommer, als das Thermometer zum ersten Mal anhaltend über 35 Grad anzeigte und die Leute anfingen, die Vorhänge tagsüber zuzuziehen, hatte Jack eines Tages mit ruhiger Geste ihre Hand zwischen seine Beine gelegt und so ihren Mittwochsterminen eine andere Funktion gegeben. Sex mit ihm dauerte, wenn er seine Tabletten pünktlich einnahm, eine Stunde, die Zeit eingerechnet, die sie hinterher noch auf dem Bett lagen. Erleichtert, wenn es geklappt hatte, inniger hingegen, wenn nicht. Die Erinnerung daran, wie er sich gefreut hatte, als ihr Körper danach noch minutenlang pochte und pulsierte, ließ sich in kein Format gießen, auch jetzt, Jahre später, nicht, schon komisch.

»Steh zwischendurch auf, geh ein paar Schritte!« Wenn sie heute diese Worte sagte, schaute er sie verärgert, dann nachdenklich und schließlich so durchdringend an, dass Inga sich unwohl und wie auserlesen zugleich fühlte. Körperlich wirkte er befangen, wie ein in die Jahre gekommener Boxer, der in der Mitte in die Breite ging, die wuchtigen Schultern etwas weicher, die Beine schlaksig und lang. Es war Jack, der die Technologie für den Self-Check-out im Supermarkt erfunden hatte. Jetzt führte er mit einer amerikanischen Supermarktkette, die ihm das Patent abgekauft hatte, einen erbitterten Kampf darum, seine Entwicklung weiterentwickeln zu dürfen. Er hatte genug Geld, um in ein besseres Viertel zu ziehen, aber er war nicht nur einsam, sondern auch zu stolz, etwas gegen seine Einsamkeit zu unternehmen, und in einer toten Gegend wie dieser fiel er damit weniger auf. Vergeblich hatten sich die Städteplaner bemüht, die Gegend durch Begegnungsstätten und Kulturprogramme aufzupolieren. Kaum jemand war zu den Ü-50-Partys im Kieztreff gekommen. Selbst die kleinen Läden, in denen noch bis vor einigen Jahren Versicherungen verkauft wurden oder Beerdigungen arrangiert, waren verwaist. Spielhöllen und Handyläden machten sich breit, und es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis die ansässige Mittelschule einen Wachdienst anheuern würde. Hinter den Wohnhäusern ragten Reste der Gedächtniskirche in den Himmel. Man musste nur ein wenig den Kopf heben, und schon war es da, ein mildes, ungerührtes Blau über einer Ruine: Das war alles, was vom imperialen Traum Wilhelms I. geblieben war.

Wenn es doch so war: Die Frau, die am Fenster im Haus gegenüber telefonierte, trug ja wirklich eine Nuttenperücke, und nebenan hatte man einen Arbeitslosen zum Rauchen auf den Balkon geschickt, für eine kleine Pause von der großen.

Inga schaute auf ihr Handy. In vierzig Minuten musste sie bei ihrem nächsten Job sein. Sie klingelte noch einmal. Es war nicht so, als könnte sie es sich leisten, über die bezahlte Zeit hinaus süß und lieb zu sein. Die Kurse, die sie im Studio geben musste, die Weiterbildungsseminare, die sie leitete, all das brachte wenig ein.

Vor dem Haus hielt ein DriveNow. Der Fahrer, die gleichen Locken auf dem Kopf wie das kleine Mädchen, das »Scheiße« gesagt hatte, stieg aus und stellte sich vor den Mini. Er verschränkte die Arme so großspurig vor der Brust, dass seine Verlegenheit umso deutlicher zu spüren war. »Na, kann's losgehen?«

Inga sah es vor sich, die gemeinsame Wohnung, von ihm die Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand, von ihr die bemalte Teekanne, die Kapuzinerkresse auf der Fensterbank und die Gewissheit, sich vom Alltag nicht unterkriegen zu lassen. Gemeinsame Projekte, auch das Kind war eins. Nach der Geburt des Kindes dann das übliche Elend: Die Zeit wird knapp, das Geld wird knapp. Verständnis tötet Leidenschaft. Dass es auch ohne Leidenschaft ging, konnten sie sich nicht vorstellen. Welches Bild Inga selbst in den Augen der jungen Leute abgab, darüber machte sie sich keine Illusionen.

»Na, was ist?«, sagte der Mann und lächelte seine Tochter ungewiss an. Das Mädchen sah auf ihr Handy. Als der Mann einen Schritt auf sie zuging, fing sie an zu kreischen, woraufhin ihr die Mutter eine saftige Ohrfeige gab. Inga schämte sich, wie sie sich bei Hochzeiten schämte, zu denen man eingeladen wurde, um ein Bündnis zu sanktionieren, von dem alle wussten, dass es nicht halten würde.

Das Kind weinte mechanisch vor sich hin. Ein Gefühl von Stillstand und Zeitlosigkeit machte sich in Inga breit, das sie daran erinnerte, wie es war, als sie klein war. Als nichts eine Kehrseite hatte. Ein Gefühl, das sich in letzter Zeit nur einstellte, wenn sie mal ohne Netz war.

Kurz entschlossen beugte Inga sich zu dem Kind und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das Mädchen rannte zu seinem Vater, schmiegte sich an sein Bein, die Lippen ängstlich zusammengepresst. Der nahm es fest in den Arm und strich ihm über die Haare.

»Ich fürchte, mein Schüler hört die Klingel nicht.« Sie zeigte zur Erklärung auf ihren Rucksack mit der Yogamatte.

Ihre Worte hatten die Spannung gelöst, das sah Inga im Gesicht des Mädchens. Dort verdrängte Genugtuung die Aggression: Yoga, das war noch beschissener als ein Wochenende mit ihrem Vater.

Die Frau winkte dem Auto hinterher.

»Sie wird's schon überleben«, sagte Inga ruppiger als gewollt. »Lassen Sie mich ins Haus?«

Die Frau zog mit dem Schlüssel eine kleine Tube Selbstbräuner aus ihrer Jacke.

»Ich vertrage die Sonne schlecht«, sagte sie, »ich dachte, ich probiere dieses Zeug mal.«

»Attraktiv ist das nicht«, sagte Inga.

»Sie tyrannisiert uns beide. Dabei ist es nur übers Wochenende. Mein Exmann ist Sanitäter, ich habe nächste Woche eine Prüfung …«

Es klang, als wollte sie sich nicht für, sondern bei ihrer Tochter entschuldigen.

Einen Augenblick standen sie in vereintem Schweigen im Flur im Erdgeschoss. Schließlich wünschte Inga grundlos: »Na, dann viel Spaß noch!«, und ließ die Frau, die an ihrer Wohnungstür herumhantierte, endlich in überfällige Tränen ausbrechen.

Mit einem Mal ihre 45 Jahre in den knirschenden Kniekehlen spürend, stieg Inga nach oben in den vierten Stock. Durch das geöffnete Fenster, auf das große Schmetterlinge aus Buntpapier geklebt waren, drang die schläfrige Gewissheit, in einem funktionierenden Sozialstaat zu leben. Von irgendwoher war ein Lokalsender zu hören, der Veranstaltungstipps gab.

Inga ließ sich Zeit. Sie mochte das Treppenhaus. Es war ein altes, schönes Treppenhaus, holzgetäfelt, das, auch wenn das Haus längst seinen Glanz verloren hatte, an seiner Kraft festhielt. Der Typ war also Sanitäter, von wegen Fotograf. Gedämpftes Tageslicht fiel auf den abgetretenen roten Läufer. Im zweiten Stock hatten die Bewohner auf einen Stapel Architektur-Bildbände einen Zettel gelegt, auf dem »Greif zu« stand. In ein paar Stunden würde stockendes Klavierspiel zu hören sein.

Eigentlich hatte sie kaum noch Zeit für Jack, wenn sie es pünktlich zu Danielle schaffen wollte. Danielle war ihre Chefin und jene Lichtgestalt, die als »Lady Amrit« und »Glamour-Guru« in der Boulevardpresse bekannt war. In ihrem Studio, dem Amrit, scheuchte sie eine Heerschaar vom Leben enttäuschter, emsiger Yogalehrerinnen herum. Die jüngeren von ihnen betrachteten Inga, weil sie schon so lange dabei war, mit einer Mischung aus Respekt und Argwohn und kopierten ihre Sequenzen.

Obwohl technisch nicht möglich, roch Inga, während sie ihren Rucksack Stufe für Stufe nach oben schleppte, Jacks Nähe, jene Mischung aus Elmex und Whiskey, die sie damals im Sommer so beunruhigt hatte. Kann sich jemand einen schöneren Geruch für ein mittägliches Rendezvous denken? Sie versuchte sich Jacks Gesicht vorzustellen, wenn er sie in ihrem Rock sah. Sollte sie behaupten, vom Steuerberater zu kommen? Er würde sie bei ihrer Lüge ertappen, aber darüber freuen, dass sich eine Frau für ihn einen zu engen Rock anzog.

Jack schaute verärgert, als er ihr die Tür öffnete. Er war klein und dick und trug keine Schuhe. »Ich dachte, du kommst gar nicht mehr, dieser Tag heute: ein Desaster. Jetzt, wo der Prototyp fertig ist, schaltet sich auf einmal ein Typ aus der Geschäftsleitung ein. Weil er ein moralisches Problem mit dem Scanner hat.«

Das Problem mit dem Self-Check-out war bislang, so hatte es Inga verstanden, dass die Leute in den Supermärkten ständig in Versuchung gerieten zu betrügen oder aber, was genauso ärgerlich war, überfordert damit, den richtigen Knopf für Golden Kiwis zu finden. Jack hatte vorgeschlagen, mehr Personal in der Nähe der Self-Check-out-Maschinen bereitzustellen und zusätzlich eine Kameraüberwachung zu installieren. Diese Kamera sollte an ein Audiosignal gekoppelt werden, das die Kunden höflich aufforderte, Hilfe zu suchen, während es in Wahrheit signalisierte, hier versucht mal wieder einer Shrimps als Zwiebeln abzurechnen. So weit die technische Seite. Jetzt aber, das war neu, hatte sich ein Ethikprofessor vom MIT eingeschaltet und eine Grundsatzdiskussion ausgelöst zum Thema Überwachung und Eigenverantwortung oder so ähnlich. Zur Entspannung hatte Jack auf ein altes Hobby zurückgegriffen und sogar schon einige Zeichnungen verkauft. Eine Ausstellung war in Planung.

»Ich habe dreimal geklingelt.«

»Egal jetzt«, sagte Jack. »Gut, dass du da bist.«

Inga spürte seine Hilflosigkeit Frauen gegenüber, die nicht seine Geliebten waren. Für einen Moment ließ sie sich hinreißen und dachte, wie gut es sich im Zentrum seiner Umarmung angefühlt hatte, in jener Welt, in der alles an seinem Platz war, fein, duftend, alimentiert durch Wohlstand, Rechtsstaat und eine teure Zusatzversicherung.

Dann klingelte ihr Handy. Sie ging dran und hörte Homer am anderen Ende: »Alma ist weg …«

Ihr Exmann neigte zum Drama, besonders wenn es um seine Tochter ging.

»Wie meinst du das: ›weg‹?«

»Sie hat mir eine Mail geschickt, in der stand: ›Sucht nicht nach mir.‹«

»Von wann ist die Mail?«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Homer. Gerade erst habe er einen Artikel über die Millennials und ihre Ängste gelesen und darüber, dass sie kein Gefühl für die Wirklichkeit entwickelt hätten als Kinder, weil ihre Eltern ihnen diese Wirklichkeit vorenthalten hätten.

Inga war nicht dämlich. Sie hatte ihre Tochter schon früh alleine öffentliche Verkehrsmittel nehmen lassen, und nie hatten sie einen Bogen um den Fußgängertunnel gemacht, in dem die Obdachlosen lebten.

»… in dem Artikel stand auch, dass das Schlimmste ist, wenn die Kinder, sobald sie erwachsen sind, zu Hause bleiben, besser, sie ziehen aus. Insofern haben wir doch alles richtig gemacht. Sie ist ausgezogen. Was ich nicht verstehe, ist dieses ›Sucht nicht nach mir‹. Vielleicht ist es etwas aus dem Internet. In ihrem Alter geht man nicht mehr verloren. Vor allem nicht in Deutschland.«

Um diesen Satz, an dem Wesentliches nicht stimmte, als Irrtum zu erkennen, hätte Inga Zeit gebraucht und vielleicht einen Kaffee.

»Von wann ist die Mail, Homer?«

»Kannst du nicht zum Dinner kommen? Sondre findet auch, wir sollten das besprechen.«

Dinner. Wer sich die Sprache der Reichen und ihre Sitten lieh, hatte, das war Ingas feste Überzeugung, charakterliche Defizite. Homer, ihr Exmann, arbeitsloser Landschaftsarchitekt, seit Kurzem neu verheiratet mit einer Nachrichtenmoderatorin und durchweg planlos, wenn es um seine Exfrau ging, dachte tatsächlich, dass er das könnte, Inga zum Essen einladen, und dann käme sie. Inga vergaß wie immer, dass sie es war, die ihn verlassen hatte.

»Von wann die Mail ist!«

»Ich weiß nicht. Das kann man nicht sehen.«

Ein Ziehen in Ingas Unterleib machte sich mit unerwarteter Heftigkeit bemerkbar.

»Ich dachte, deine Tochter ist erwachsen?«

Jack gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Ohne sich zu rühren, war er auf einmal weit weg. Inga sah an ihm vorbei in der Küche die Hemden und Unterhosen, die er auf dem Wäscheständer aufgehängt hatte, ordentlich auf Kante. Einmal hatte er seine Putzfrau rangelassen. Das Ergebnis: eingelaufene Kaschmirsocken.

»Tja«, sagte Inga mit aufkeimender Feindseligkeit, ihre Handtasche mit dem Putzzeug an sich drückend, und schon halb im Gehen, »sie ist 19. Nie ist man weniger erwachsen als mit 19.«

Auf dem Weg nach unten nahm sie zwei Treppenstufen auf einmal. Der Essigreiniger schlug dabei rhythmisch gegen die schmerzende Hüfte, ohne dass sie es merkte. Sie hatte noch zehn Minuten.

Der Verkehr rund um den Ku'damm war schleppend. Eine Gruppe junger Mädchen hing wie ein Knäuel Hunde vor einer Filiale des Nahkauf. Schwarze Leggings, schwarze Haare, schwarzer Lidstrich, grüne Powerdrinks in der einen, Zigarette in der anderen Hand. Etwas Ungewisses ging von ihnen aus, als Inga sie noch einmal im Rückspiegel fand. Jemand hupte.

Seit einem halben Jahr putzte sie jetzt schon bei Danielle, eine Arbeit, für die sie dankbar war. Als sie Homer im letzten Winter getroffen hatte wegen der Scheidung, hatte sie sich vorgenommen, über Geld zu sprechen. Doch schnell kam heraus, dass er genug damit zu tun hatte, die Einkommensdifferenz in seiner zweiten Ehe zu verdauen: sie etwa 25 000 Euro monatlich, er, dem die anhaltende DIY-Welle unter Villenbesitzern das Geschäft ruiniert hatte, eher nichts.

Es war kein gutes Treffen gewesen. Inga hatte wenig Lust, sich Homers Auslassungen über die jüngsten städtebaulichen Pleiten anzuhören. »Dieser Mix, den sie da ständig propagieren, unten die Mieter, die Beletage, dann Büros und oben das Penthouse für die Reichen, grausam. Aber das gehört ja zur Geschichte dieser Stadt. Schau dir nur Sanssouci an, die Proletendatscha eines Soldaten, der so tut, als wäre er Philosoph.«

»Du musst es ja wissen.«

Inga hielt Ausschau nach dem Kellner, einem Ami, der in der Ecke telefonierte und keine Anstalten machte, ihren Tee und Homers Salat mit Kichererbsen und Lachs zu bringen. Dabei hatte sie ihn bei der Bestellung nur höflich darauf aufmerksam gemacht, dass er sich vielleicht die Nase putzen sollte. Wer konnte wissen, dass der glitzernde Rotz, der beide Nasenlöcher verband wie ein Zwergengeschirr, ein Diamantenpiercing war?

Hätte Homer sich nicht nach einem Streit mit einem Vorgesetzten freiwillig verabschiedet, wäre ihm irgendwann vielleicht eine kleine Rente sicher gewesen. Jetzt bekam er von der preußischen Stiftung, für die er zuletzt gearbeitet hatte, nur noch Einladungen zum Gartenfest.

Homer erzählte jedem, wie froh er über den Neubeginn war. Stets hatte er neue Pläne, nie wurde etwas draus. Gerade hatte sich eine große Hotelanlage in Tansania gemeldet. Da unten könne er endlich mal was Sinnvolles tun, zusammen mit dem Hotel eine Charity gründen, die er mit Bundesmitteln finanzieren wollte. »Ich weiß, was du jetzt gleich sagen wirst.« Natürlich sei das auch irgendwie Kolonialpolitik. »Aber nicht so wie früher, nicht mit Gewalt.«

Einen Achtsamkeitskurs habe er auch gerade absolviert. »Ich versuche, die Dinge mehr geschehen zu lassen.«

Seine buddhistischen Kalendersprüche machten sie ganz kribbelig, genau wie sein gebügeltes Hemd und die Seglerweste. Wann redeten sie endlich über Geld?

Ingas Job im Amrit warf monatlich knapp 1700 Euro ab. Einen Teil ihrer Klassen hatte sie an neue Lehrer abtreten müssen, die meisten davon an einen Typen aus Leipzig, Halbiraner mit samtiger Haut, Gender-neutral, wie sie es nannten. Inga wollte lediglich erreichen, dass sich Homer an der Ausbildung von Alma beteiligte. Sie selbst konnte sich noch mehr einschränken. Von einer Yogalehrerin erwartete eh niemand große Sprünge. Aber auf eine feste Summe wollte sich Homer nicht festlegen.

»Wenn sie etwas braucht, bekommt sie es. Ist doch klar.«

Dann redete er wieder über Afrika.

»Wir sitzen gerade am Pitch Deck für die Investoren.«

»Warum suchst du dir nicht was hier in Berlin? Jetzt müssen es die armen Afrikaner ausbaden, dass du deine Frau beeindrucken willst.«

»Das eine hat mit dem anderen nicht das geringste bisschen zu tun. Seit wann überfordern dich globale Zusammenhänge?«

Gereizt fegte er mit der Hand ein paar Zuckerkrümel vom Tisch. Prompt tat er Inga leid. In all seiner Großspurigkeit gab er sich selbst die Schuld für seine berufliche »Stagnation«, wie seine neuen Schwiegereltern, nur wenig älter als er selbst, seine Situation nannten.

Inga wusste damals im Café noch nicht, dass Homer ihr gemeinsames Konto leer geräumt hatte und die Schuldfrage bei der Scheidung keinesfalls im moralischen Kontext, sondern ganz handfest mit einem Schuldenberater besprochen werden müsste.

Als Homer am Ende ihren Tee, der schließlich doch noch kam, bezahlte, konnten sie sich immerhin wieder in die Augen sehen, wenn auch nur kurz und vorsichtig. Doch Inga machte alles kaputt, als er sie fragte, ob sie noch gemeinsam zum Tiergarten laufen wollten.

»Kann ja sein, dass du nix zu tun hast, aber andere Leute schon.«

Dabei hatte Inga alle Zeit der Welt. Aber sie war lieber alleine unten an der Spree entlang zum Amrit geradelt, das schuppige Grau des Flusses vor der Nase. Das Wasser glitzerte in den Strahlen der hellen Januarsonne. Ein paar Möwen kreischten hysterisch auf, und für einen Moment konnte man so tun, als wäre man in Paris. Sie dachte an all die zerstrittenen Paare in ihrem Bekanntenkreis und ihre lächerlichen Eskapaden. Das hätte schließlich auch aus ihnen werden können: ein altes Ehepaar, das Affären ausgrub, um noch etwas zu spüren.

Jetzt allerdings, Monate später, fühlte sie nichts als Wut. Wie konnte es sein, dass er nicht wusste, von wann Almas Mail war? Mit Schwung brachte sie das Auto in der kleinen Seitenstraße des Ku'damms, in der Danielle wohnte, zum Stehen und machte den Motor aus. Seit Homer ihr Auto nicht mehr durch die Waschanlage fuhr, war die Windschutzscheibe fleckig.

Als sie aussteigen wollte, klingelte ihr Handy. Diesmal war es ihre Schwester Judith, die in Hamburg lebte. Ihre Stimme klang verheult.

»Was ist los?«, fragte Inga.

»Ich weiß auch nicht«, begann ihre Schwester das Gespräch, so wie sie jedes Telefonat in den letzten beiden Jahren begonnen hatte.

»Die Kinder schaukeln … und das bringt mich einfach um.«

»Ich kann jetzt nicht. Ich bin spät dran. Geh ein bisschen spazieren. Ich ruf dich heute Abend zurück.«

Judith war depressiv. Vor einigen Jahren hatte sie ein Internetforum unter dem Namen »Schwarze Berge« für Betroffene gegründet und dort die Ratschläge ihrer Therapeutin an andere Depressive weitergegeben. »Schreib ein Dankbarkeitstagebuch« und solche Sachen. Den Ausschlag hatte eine Geschichte gegeben, die sie eines Abends, während ihre Familie gemütlich fernsah, in ihr Spanisch-Vokabelheft geschrieben und später auf Facebook gepostet hatte. Ihr Post unter der Überschrift »Ich habe so ein gutes Leben, aber ich kann es nicht genießen« war 1,8 Millionen Mal geliked worden, woraufhin ein Pharmakonzern ihr half, »Schwarze Berge« auf die Beine zu stellen. Eine Zeit lang traf sie sich zu diesem Zweck mit einem jungen Softwareprogrammierer in einem Café in Eimsbüttel. Irgendwann begann der Programmierer auch über private Dinge zu reden.

Was denn so zum Beispiel, hatte Inga wissen wollen.

»Dass er keine Krankenversicherung braucht, weil er nie krank ist.«

Dann kam der Tag, vor dem Inga Judith gewarnt hatte. Judith stürmte zur Tür hinein, in der Tasche eine CD von Nina Simone als Überraschungsgeschenk, und stellte fest, dass Julian, so hieß der Typ, nicht alleine war.

Er gab ihr einen verwischten Kuss auf die Haare und stellte sie einer blonden Fee mit sehr weißer Haut und sehr dickem Bauch vor: »Das ist Janina, und du kannst dir denken, was jetzt kommt. Es wäre schön, wenn du Patentante würdest.«

Daraufhin verwahrloste das Forum, und nachdem unter den Usern, neben dem diskreten Banner des Pharmakonzerns, eine hitzige Diskussion über Pharmakohle, Körpergeruch und abnehmenden sexuellen Antrieb ausgebrochen war, überließ ihnen Judith das Feld und löschte ihren Account.

»Hat sich Alma bei dir gemeldet?«, unterbrach Inga ihre Schwester.

»Nein.«

Sucht nicht nach mir. So viel Melodrama passte nicht zu Alma. Ob Homer wohl schon im Café angerufen hatte, in dem Alma arbeitete? Bei dieser Freundin? Und wie hieß dieser Typ, von dem zuletzt die Rede gewesen war, dessen Eltern an der Grenze zu Polen Rinder züchteten?

Sucht nicht nach mir klang nach Mittelamerika, nach einem Drogentrip auf Goa oder einem Feierwochenende in Tiflis oder Belgrad. Spielte es eine Rolle, wie das Essen war, wenn man sich verstecken wollte? Spielte es eine Rolle, welcher gesellschaftlichen Schicht man angehörte, sobald man beschloss, diese zu verlassen? Ging es um ein Rätsel, das sie als Eltern lösen mussten? Sabotierte ihre Tochter den Generationenvertrag, den sie ohne ihr Einverständnis mit ihr geschlossen hatten? Wir bestellen für dich Ökofutter bei Amazon, und du hältst dafür später die Klappe, wenn du auf einem kaputten Planeten leben musst.

Sucht nicht nach mir.

Inga sortierte mögliche Motive, auch das, was sie gelesen, überflogen, weggezappt hatte an Psychodramen über junge Frauen. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, und sie schüttelte sich unwillkürlich.

Sucht nicht nach mir.

Es klang so, als hätte Alma das irgendwo gelesen. Immerzu las dieses Kind. Was machte man mit einem Kind, das mit zehn Jahren Das Hotel New Hampshire las, mit elf gleich noch mal und dann ein weiteres Mal mit zwölf?

Schwerfällig ging Inga an den großen Terracottakübeln vorbei, die vor dem italienischen Restaurant neben Danielles Haus geschmackvoll herumstanden. Gleich würde sie sich auf Kalkablagerungen und Urinrückstände stürzen. Sie putzte gerne. Dahinter steckte kein Schuldreflex, keine Verbitterung, und sie war auch nicht katholisch.

Danielles Wohnung maß 140 Quadratmeter, für deren Reinigung sie vier Stunden veranschlagte. Da zwei der Räume leer waren, war Inga meist schneller fertig. Das Einzige, was störte: Danielle war Mitglied bei vielen Tauschportalen. Sie tauschte nicht nur ihre Männer, sondern auch ihre Kleider so regelmäßig, dass oft Lieferungen der Reinigung den Flur vollstopften. Manchmal hatte Danielle Privatschüler bei sich, dann durfte Inga nur staubwischen, bekam aber trotzdem die verabredeten 100 Euro.

Heute schien niemand zu Hause zu sein. So war es Inga am liebsten. Als Erstes schmiss sie den Miele-Boy an und machte sich dann mit dem harten Zeug, das sie mitgebracht hatte, daran, Klo und Dusche zu schrubben. Doch die Befriedigung, die sich bei dieser wie bei den meisten mechanischen Arbeiten gewöhnlich einstellte, ließ auf sich warten. Sie starrte auf die Lichtinstallation, die Worte »All is One«, die auf die gekachelte Wand über der Badewanne projiziert wurden. Fünfmal hatte sie seit Homers Anruf Almas Handynummer gewählt und sich anhören müssen, dass diese Nummer nicht vergeben sei, dabei hatte sie selbst den Vertrag für Alma abgeschlossen und natürlich auch bezahlt.

Sie nahm sich eine Rolle Küchenpapier und polierte den Spiegel. Sie putzte nur bei Danielle. Vor ein paar Wochen hatte sie sich, ermutigt durch die Erfahrung – im Grunde lief alles auf den Gebrauch ordentlicher Gummihandschuhe hinaus –, bei Perle4u beworben, einer Art Parship für Servicepersonal. Der Bewerbungsprozess ähnelte jenem um die Greencard, den Homer vor Jahren mal gestartet, aber nie durchgezogen hatte. Man hatte als Raumpflegerin seine Vorerkrankungen anzugeben und die Länder, die man in den vergangenen zehn Jahren besucht hatte, musste ein Ernährungsprofil ausfüllen und seine Krankenversicherungs- und Personalausweisnummer nennen. Obwohl Inga wahrheitsgetreu Thailand (potenzielle Gefahr: Hepatitis B) und Indien (potenzielle Gefahr: Gelbfieber) angegeben hatte, lag es nicht daran, sondern an der Tatsache, dass sie Deutsche war, dass sich kaum Interessenten meldeten. »Die meisten wollen keine Deutschen«, erklärte ihr die Frau, die den Laden führte und sich »Agentin« nannte, »das heißt, sie wollen schon, dass das Personal Deutsch spricht, aber eben nur bis zu einem gewissen Level. Sagen wir, Grundschule.«

Nachdem sie die Ablage vor dem Spiegel ebenfalls gereinigt hatte, ordnete sie Danielles Cremes und Make-up schön in Reih und Glied. Gedankenverloren probierte sie einen auberginefarbenen Lippenstift. Dann beugte sie sich mit dem Orangenreiniger über die Badewanne und polierte die Wasserhähne. Schließlich ging sie in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen und nach einem Aspirin zu suchen. In einer Schublade lagen ungeöffnete Geschenke, Zigarettenfilter, Vitamine, leere Tablettenschachteln, erstaunlich viele Tablettenschachteln, wenn man bedachte, dass es beim Yoga darum ging, Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, außerdem Kondome und Bargeld. Die Inventur eines Lebens, dessen sozialer Status weit über dem einer Prostituierten lag, obwohl die Grundlagen durchaus vergleichbar waren: Hausbesuche, Cash, Körperkontakt.

Inga zog eine Yoga-Barbie, die die Füße hinter den Kopf geklemmt hatte, aus der Schublade und strich über das seidige Hartgummi der Beine. Was waren sie amüsiert gewesen, Homer und sie, als Alma ihrer ersten Barbie alle Haare abgeschnitten hatte. Alma spielte nicht gerne mit Puppen, sondern bevorzugte Modelleisenbahnen, Autos, alles, was man auseinandernehmen und wieder zusammenbauen konnte.

Erst jetzt sah sie Danielles Schlüsselbund neben dem Herd liegen. Herrje, sie war zu Hause. Ob auch ein Schüler da war? Inga wusste nicht, wie viel Danielle für eine Privatstunde verlangte, aber es hieß, mindestens 500 Euro. Reiche Leute, unsicher in Geschmacksfragen, glaubten auch bei Yoga fest daran, dass das teuerste das beste Angebot war, und Danielles Stunden waren nun mal die teuersten in der Stadt. Dazu ließ es sich gut mit ihr angeben. Regelmäßig konnte man Bilder von ihr in Klatschmagazinen sehen, immer am Arm eines neuen Mannes, in Kleidern, die man ihr für Filmpremieren nach Hause schickte. Nie war sie verlegen um Sprüche wie: »Ich sehe überall göttliche Schönheit, in einem Haufen Hundescheiße genauso wie in einem Kleid von Stella McCartney.«