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Jan Christophersen

Ein
anständiger
Mensch

Roman

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die beiden Hamsun-Zitate folgen der Ausgabe: Knut Hamsun, Segen der Erde. Ins Deutsche übertragen von J. Sandmeier und S. Angermann. dtv, 1978.

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung akg-images / bildwissedition

Typografie (Hardcover) mareverlag

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-373-6

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-607-2

www.mare.de

Inhalt

Davor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Danach

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Über das Buch

Davor

1

Eins passierte nach dem anderen. Wie hätte es auch anders sein können? Die Gegenwart, in der wir uns befanden, wusste nicht, was nach ihr kam, und der Scheinwerfer der Erinnerung leuchtete noch nicht mit seinem voreingenommenen Licht die Szene aus. Erst geschah dies, dann das. Und in jenem Jetzt und Hier saßen meine Frau und ich nebeneinander im Auto. Zeit: ein Freitagvormittag Ende September, kurz vor zehn Uhr; Ort: der Parkplatz an unserem kleinen Inselhafen. Ein frühherbstlicher Windhauch wehte Salzluft durch mein heruntergekurbeltes Seitenfenster. Das Radio schwieg. Draußen klapperten Haken und Ösen gegen die im Spalier stehenden Fahnenmasten, und die rot-weißen Dannebrogs flatterten vorbildlich an deren Spitzen. Gerade schwang sich eine Möwe von einem der Poller auf, drehte eine Runde, kreischte. Ich sah sie hinabstoßen ins trübe, wenig bewegte Hafenbecken und verlor sie aus dem Blick.

Das war er also, der Moment davor. In der Rückschau lässt sich das genau bestimmen. Was sich danach ereignete, war bereits Teil jener Geschichte, die sich zu entspinnen begann. Unserer Geschichte, meiner Geschichte.

Keine zwei Minuten sollten noch verstreichen, bis sich das Colin-Archer-Schiff Thor hinter der Mole ins Bild schob, mit tadellos strahlendem Namenszug am Bug, an Deck unsere beiden Freunde Ute und Gero, die uns für ein verlängertes Wochenende auf der Insel besuchen wollten. Von Rostock kommend, hatten die beiden die Ostsee in eintägiger Fahrt überquert, hatten bei Einbruch der Dämmerung irgendwo unterwegs in Küstennähe geankert, in ihren Kojen übernachtet und dort vermutlich gemacht, was man eben so macht, wenn das Schiff sanft schaukelt, die Sonne untergeht und dieses Glitzern überm Wasser liegt, und waren an diesem Morgen kurz nach Sonnenaufgang weitergesegelt, um die letzten Seemeilen bis zum Ziel zurückzulegen und beinahe auf die Viertelstunde genau am Vormittag hier bei uns auf der Insel einzutreffen. Ihre pünktliche Einfahrt hatte uns Gero rechtzeitig vorher via SMS angekündigt.

Anstatt nun aber vorauszueilen und alle Protagonisten zügig am Ort des Geschehens zu versammeln, muss ich noch eine Zeit lang bei dem letzten Augenblick zu zweit verweilen, der meiner Frau und mir in unserem Wagen blieb. Nebeneinander saßen wir auf unseren angestammten Plätzen, Frauke auf dem Beifahrersitz, ich hinterm Steuer. Wie üblich legte ich meine rechte Hand auf ihren vom Sonnenschein angewärmten Oberschenkel, spürte den Leinenstoff ihrer Hose unter meinen Fingerspitzen, drückte sanft zu und sagte vollkommen unvermittelt: »Komm, lass uns abhauen. Noch ist Zeit.«

Mir selbst ist es ein Rätsel, weshalb mir diese Worte damals über die Lippen kamen, obendrein in dieser Situation. An irgendwelche tief verborgene Vorahnungen kann ich nicht glauben, und deshalb reagiere ich bei der Erinnerung daran genauso erstaunt wie Frauke, die sich mir zuwandte und forschend in mein Gesicht schaute, als müsste sie ergründen, wie ernst es mir war, was ich da eben geäußert hatte.

»Du willst abhauen?« Es klang durchaus nicht abgeneigt. (Hatte ich ihr etwa unbeabsichtigt aus der Seele gesprochen? Suchte sie insgeheim nach einem Weg, dem Pärchenwochenende zu entgehen, das wir lange geplant hatten?) »Du hast die beiden doch selbst eingeladen.«

»War nur ein Scherz«, sagte ich. »Was denkst du denn? Das werden bestimmt schöne Tage mit den beiden.«

Frauke nickte, wirkte allerdings enttäuscht, wie ausgebremst, und instinktiv fasste ich nach ihrer Hand. Sie löste diese sogleich wieder aus meinem Griff, öffnete die Beifahrertür und sagte, mit Blick hin zur Mole: »Jetzt ist es eh zu spät. Da kommen sie.«

Als Erstes sahen wir Ute im Bug des Schiffes, gekleidet im klassischen Segleroutfit: Bootsschuhe, weiße Jeans, blaues Poloshirt. Auf dem Kopf trug sie eine Kapitänsmütze, die sie falsch herum aufgesetzt hatte, was ihren Aufzug ironisch brach, und sie traf gerade Vorkehrungen für das Anlegemanöver, klemmte auf Geros Zurufe hin Taue ein, kurbelte hier, zog da, hängte die Fender raus, hatte augenscheinlich alle Hände voll zu tun und fand dennoch die Zeit, für uns Zuschauer eine lebende Galionsfigur zu mimen. Mit angelegten Armen und vorgestrecktem Brustkorb, den Blick starr geradeaus gerichtet, das Gesicht eingefroren und ernst, verharrte sie für einige Sekunden, bevor sie losprustete und uns zuwinkte.

»Jetzt hör doch mal mit dem Quatsch da vorne auf«, sagte Gero von seinem Kommandoplatz an der Pinne, und seine Worte drangen trotz des leichten Winds bis zu uns an die Pier.

Ute hatte für sein Kopfschütteln nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. »Ahoi, ihr Insulaner«, rief sie uns zu. Ihre gute Laune erwies sich wieder einmal als unverbrüchlich.

Was dann kam, war das sogenannte Eindampfen in die Vorspring, wie es bei ablandigem Wind und kleiner Crew angeraten sein soll. Ich selbst bin kein Segler, nie gewesen, und berufe mich bei der Beschreibung des Manövers und aller sonstigen Segeldetails auch ausschließlich auf Geros Blog, den dieser seit dem Kauf seines ersten Schiffes akribisch führte und von dessen Existenz ich erst viel später etwas erfahren sollte (www.gero-segelt.de). Längs steuerte er also eine Lücke zwischen zwei Schiffen an, die an der Pier lagen, einer Jacht, die bessere Zeiten gesehen hatte, und dem Fischkutter unseres Nachbarn Jepsen, der eben mit einer Sackkarre in einem der Hafenschuppen verschwunden war. Jepsen hatte mir kurz zugenickt, wohl als Zeichen dafür, dass er meine Bestellung nicht vergessen hatte. Später würde er uns wie verabredet irgendetwas Schönes frei Haus liefern: Scholle, Seeteufel, Meeräsche – was auch immer er an diesem Morgen in seinen Netzen gefangen hatte. Gero brachte den Bug seines Schiffes in kontrollierter Fahrt so nahe an die Pier heran, dass Ute mit einem beherzten Schritt an Land springen, die Vorleine mittschiffs setzen und gleich auf die richtige Länge einstellen konnte. Sie rief die vorgesehene Meldung: »Vorspring belegt!«, woraufhin Gero das Ruder hart seewärts stellte und dosiert Gas gab, sodass der Bug von der Pier weg und das Heck sachte landwärts gedrückt wurde. Sobald das Schiff parallel ausgerichtet lag, brachte er die Heckleine aus, die Ute geübt vertäute, und stoppte den Motor. Das Manöver war beendet. Die Thor lag fest.

Nachdem Ute auch die Bugleine festgemacht hatte, erhob sie sich, schritt auf Frauke und mich zu und umarmte uns, und genau hier weicht meine Erinnerung zum ersten Mal von der Wirklichkeit ab. Ich bin mir sicher, dass Frauke und ich nicht unmittelbar nebeneinanderstanden, als Ute uns begrüßte. Nach der kleinen Unstimmigkeit im Auto, die noch nachwirkte, hielten wir exakt so viel Abstand voneinander, dass wir uns nicht zufällig berühren konnten. Aus der Nähe beobachtete ich daher, wie Ute Frauke in den Arm nahm und auf die Wangen küsste, bevor sie sich mir zuwandte und im Näherkommen sagte: »Wie schön, dass es endlich geklappt hat mit unserem Treffen hier auf deiner Insel.«

Aber das kann so nicht stimmen. Gero hat die Begrüßung unbemerkt von Bord aus mit seinem Handy festgehalten und die Aufnahme später auf seinem Blog veröffentlicht. Da sehe ich uns drei an der Pier stehen, wie wir uns gemeinsam in den Armen liegen, und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Frauke und ich uns an den Händen halten, während Ute uns umarmt und küsst. So muss es in Wirklichkeit gewesen sein. (Eine geringe Variation nur, die mich aber nachhaltig verunsichert, seit ich das Foto im Internet entdeckt habe.)

»Velkommen til vores ø«, sagte ich und täuschte mit dem Slogan des hiesigen Touristikverbandes Sprachkenntnisse vor, die ich genau genommen nicht besaß.

Gero nickte. Fremdsprachen konnten ihn nicht schrecken. »Tak for invitationen«, antwortete er, ganz der gewandte Weltenbummler, der er zwar jetzt noch nicht war, in absehbarer Zeit aber zu werden plante. Mit seiner Thor wollte er, sobald die Finanzierung stand, systematisch alle Ozeane der Welt bereisen, allein, als Einhandsegler also, wie etwa Robert Redford in All is Lost (natürlich ohne Kollision mit einem herumtreibenden Container). Äußerlich wies Gero einige Ähnlichkeiten mit dem Schauspieler auf, obwohl beide etwas mehr als zwei Lebensjahrzehnte voneinander trennten: die Frisur, das wettergegerbte Gesicht, die Augenpartie; in Ansätzen glichen sich selbst ihre Stimmen, genauer, Geros und Redfords deutsche Synchronstimme, die bekanntlich markanter ist als das Original. Den Segelfilm hatte Gero mir Anfang des Jahres wiederholt ans Herz gelegt, doch hatte ich es versäumt, ihn mir im Kino anzusehen, und lediglich die einschlägigen Kritiken gelesen.

»Dann hüpft mal alle an Bord«, sagte Gero. »Ich zeig euch mein Schiff.«

Frauke ließ sich nicht lange bitten und nahm die helfende Hand gerne an, die Gero ihr über die Reling hinweg reichte.

»Mit oder ohne Schuhe?«, fragte sie.

»Bei deinen Schuhen besser ohne, wenn du nicht ausrutschen willst.«

Gehorsam streifte sie sich mit der freien Hand die Sandalen ab und ließ sich barfuß an Bord helfen. Nachdem sich beide ausgiebig umarmt hatten – Gero presste Frauke auf eine Art an sich, als wären sie schon seit Ewigkeiten befreundet, dabei gehörte er als Utes »Neuer« erst seit knapp eineinhalb Jahren dazu –, trat er an die Reling heran, um nun mir beim Einstieg zu assistieren.

Ich machte einen Schritt zurück und hob wie zum Schutz die Hände. »Lieber nicht.« Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Fuß auf ein Segelschiff gesetzt und plante nicht, dies in absehbarer Zeit zu ändern.

Gero schien durch meine Weigerung vor den Kopf gestoßen. Obwohl er äußerlich ruhig blieb, verriet sein Mund, der sich wahrscheinlich unbeabsichtigt öffnete, und insbesondere die kreisende Zunge darin, wie sehr es sein stolzes Seglerherz verletzte, dass ich es vorzog, an Land zu bleiben, anstatt mir seine Thor anzuschauen, ein massiges Teakholzschiff, das sogar auf mich Eindruck machte.

Ute kam mir glücklicherweise zu Hilfe. »Ich hab dir doch gesagt, dass Steen den sicheren Boden nicht gern verlässt. Eine Insel ist schon das Maximum, was er erträgt.«

Gero gab ein unbestimmbares Geräusch von sich, und Frauke, die wie immer genau wusste, was zu tun war, ergriff seinen Arm und zog ihn zu sich heran.

»Aber ich will alles sehen.« Sie schaute sich um. »Schönes Boot. Wirklich. Zeigst du mir auch die Kajüte?« Als sie das fragte, stieg sie bereits die ersten Stufen ins Innere des Schiffes hinunter.

»Selbstverständlich.«

Bevor Gero ebenfalls unter Deck verschwand, traf mich noch ein letzter abschätziger Blick von ihm, dessen Bedeutung unschwer zu entziffern war: So einer also bist du.

Alles in allem war das kein besonders gelungener Start in unser gemeinsames Wochenende, was ich bedauerte, und dieses Unbehagen musste mir anzumerken gewesen sein, denn Ute schmiegte sich seitlich an mich und streichelte tröstend über meinen Handrücken.

»Nur unter uns: Ich bin auch froh, von dem Kahn runter zu sein. Hat ziemlich geschaukelt.«

»Wie war denn eure Überfahrt?«

Ute ignorierte meine Frage. Wie eine Katze strich sie direkt vor mich, erfasste auch meine andere Hand und führte beide hinter ihrem Rücken zusammen. Ich konnte die beginnende Rundung ihres Hinterns erspüren. Bauch und Oberkörper drückte sie gegen mich und blickte mir von schräg unten in die Augen.

»Froh?«, fragte sie.

»Aber sicher.«

Als sie sich daraufhin noch fester an mich presste, fühlte ich den Bügel ihres BHs durch das Poloshirt hindurch an meinem Bauch. Sie zwinkerte mir zu. »Und ich erst.«

Mit dem Feuer spielen – so nannte Ute diesen Umgang, den sie mit mir pflegte, dieses offensive Flirten, mit dem sie stets begann, sobald wir einen Augenblick unbeobachtet waren. Seit unserer ersten Begegnung vor vielen Jahren machte sie das so, damals im Verlag, als mein erstes Buch erschien und sie sich mir als »meine Verlagsvertreterin für den Nordosten der Republik« vorstellte. Auf meine unbedarfte Frage hin, was denn eine Verlagsvertreterin eigentlich mache, hatte sie nur vieldeutig geantwortet: »Alles, was nötig ist. Vor allem aber sorge ich dafür, dass die Buchhandlungen die richtigen Bücher auslegen. Ihres zum Beispiel. Allerdings hoffe ich, dass Sie, lieber Herr Friis, es mit dem Anstand nicht allzu genau nehmen …« Damit spielte sie natürlich auf den Titel meines Buches an, das der Grund für unser Aufeinandertreffen war: Anstand – Was wir wollen dürfen und müssen sollen. Das Buch war damals erfreulicherweise ein Erfolg geworden, der meine Karriere als »öffentlicher Intellektueller« sofort in Gang setzte. Seitdem gehörte ich zu den üblichen Verdächtigen, die von den Medien angerufen werden, wenn irgendwo irgendwas passiert: Missbrauchsfälle, Terror, Bundestagswahlen – eine nur selten wirklich dankbare Rolle. Ute und ich hatten uns damals, ohne viele Worte zu wechseln, gleich gemocht. (Doch es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig zu betonen, dass wir uns trotz aller Sympathien und Flirts, trotz mehrerer Gelegenheiten nie zur kleinsten Unbesonnenheit haben hinreißen lassen.)

»Weiß Frauke Bescheid?« Ute ließ meine Hände los, die ich weiterhin hinter ihrem Rücken verschränkt hielt.

»Worüber genau?«

»Na, dass wir beide schon einmal hier auf der Insel waren. Allein.«

»Sollte sie?«

»Weiß ich nicht. Das musst du selbst entscheiden. Gero weiß zumindest nichts. Und das sollte besser so bleiben, wenn wir in den nächsten Tagen ein wenig Spaß zusammen haben wollen.«

»Spaß?«, fragte ich. »Alle zusammen?«

Ute schüttelte den Kopf und kniff mir mit den Fingerspitzen ins Kinn. »Klaro, du Rüpel.«

Aus der Kajüte wurde eine Segeltuchtasche an Deck geschmissen, gleich darauf eine zweite. Sofort zog ich meine Hände von Utes Rücken zurück, die mich mit tadelnd schräg gelegtem Kopf anschaute, als ob meine Eile vollkommen unbegründet wäre. Gero tauchte aus dem Inneren des Schiffes auf, gefolgt von Frauke, die sich von ihm heraufhelfen ließ.

»Richtig geräumig da unten«, sagte sie, obwohl mich anblickend, eigentlich an Gero gerichtet. »Hätte ich mir viel ungemütlicher vorgestellt auf so einem Schiff.«

»Ein bisschen Platz braucht man schon, wenn man länger auf See unterwegs sein will.« Gero schaute sich kontrollierend um, bevor er Ute die Taschen hinüberreichte und Frauke von Bord dirigierte. »Ich räume hier nur schnell noch alles zusammen und klariere dann beim Hafenmeister. Das dauert nicht lange. Ihr könnt ja solange im Auto auf mich warten.«

Ich deutete zum Hafenschuppen. »Jepsen findest du da vorn. Der ist hier für alles zuständig.«

Gero sah mich an, als hätte er von meiner Seite keinerlei Hilfsbereitschaft erwartet, und nickte zögerlich.

Ich nahm Ute die beiden Taschen ab, die sich daraufhin bei Frauke einhakte. Noch immer barfuß und mit Trippelschritten, die Sandalen in der Hand, führte Frauke sie über den Asphalt in Richtung Parkplatz.

»Ich bin noch immer wackelig in den Knien«, sagte Ute. »Wahrscheinlich bin ich zu lange auf dem Wasser gewesen.«

»Kann schon sein«, sagte Frauke. »Aber vielleicht liegt es auch an der Insel. Mir kommt es manchmal so vor, als würde der Boden unter meinen Füßen hier schwanken.«

»Massives Urgestein«, sagte ich. »Jahrtausendealt. Da schwankt nichts.«

»Wie gut, dass unser Steen wie immer über alles Bescheid weiß …«

Wer von den beiden Frauen das sagte, weiß ich nicht mehr. Es war eine dieser typischen Sticheleien, wie sie zu unserem Umgang gehörten, sowohl zwischen Frauke als auch zwischen Ute und mir. Jede hätte es gesagt haben können. Es lachten zumindest beide.

Ihre Schritte beschleunigend, steuerten die Frauen die Hafenmauer an, auf der sie sich nebeneinander mit den Ellenbogen abstützten. Ich folgte ihnen in gemächlicherem Tempo, sah ihre Silhouetten, die sich vor dem blassblauen Himmelhintergrund abzeichneten, und kam nicht umhin, diese mit einem, nennen wir es männlichen, Blick zu mustern. Ich war mit beiden gleichermaßen einverstanden, so unterschiedlich sie waren: auf der einen Seite Fraukes schmale, beinahe kindliche Gestalt, die sie selbst tagtäglich mit einer Art ritueller Enttäuschung vor dem Spiegel begutachtete; und daneben die ausgeformte, modulierte Rückenansicht von Ute, mit der sie mich seit jeher an meine große Schwester Gudrun erinnerte. Eine Bemerkung, die mein Vater scherzhaft über Gudruns Figur abzugeben pflegte, geisterte bis heute durch meine verborgenen Gedanken, wann immer ich auf ähnlich gebaute Frauen traf: »Ein gebärfreudiges Becken hat auch seine Vorteile.« Gudrun hatte man mit diesem Ausspruch früher in Sekunden zur Weißglut treiben können, was ich als pubertierender Bruder über Jahre hinweg weidlich auszunutzen gewusst hatte, ohne mich je um das Diffamierende an diesem Satz zu scheren. Das hatte sich erst geändert, als ich Vater einer teenagernden Tochter wurde, die ich von derlei Chauvinismus gerne verschont gewusst hätte. Aber Sichtweisen fressen sich eben ein, sind einem wie eingepflanzt und lassen sich nicht immer kontrollieren.

Ich brachte die Taschen zum Wagen, verstaute sie im Kofferraum und ging anschließend zu den Frauen hinüber, um mich wie sie auf die Hafenmauer zu lehnen. Eine Möwe sauste im flachen Flug über uns hinweg und schrie, was wie ein Warnruf klang. Unwillkürlich schaute ich mich um. Ich sah Gero auf seinem Schiff herumhantieren, wie er die Segel festzurrte und die Kajüte verschloss, und auf die Entfernung vergrößerte sich seine Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Schauspieler eher noch. Hinter ihm flatterten die Dannebrogs im Wind. (Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass in Dänemark immer genau so viel Wind herrschte, dass die Staatsflagge nie schlaff herunterhing.) Rostrote Hafenschuppen bildeten den Hintergrund, davor gestapelte Fischkisten in allen Farben und schaukelnde Netzreste. Es war alles wie gemacht für die Hobbykünstler, die sich hier gerne mit ihren Aquarellkästen aufbauten und das zuckersüße Hafenmotiv nach besten Kräften abzumalen versuchten.

»Schön«, sagte Ute neben mir, den Blick in die entgegengesetzte Richtung aufs Wasser hinaus gerichtet, und sie brauchte gar nicht mehr zu sagen, weil wir alle verstanden, was sie meinte. Da draußen war das Meer, und bis zum Horizont sahen wir nichts außer zackig bewegten Wellen. Kein Land in Sicht.

»Vor allem alles schön weit weg hier«, sagte ich.

Ute wandte sich mir zu. »Das habe ich mir auf der Herfahrt auch überlegt: Darum also fährt Steen immer auf seine Insel, wenn er schreiben will. Um möglichst weit weg zu sein von allem.«

»Alle Achtung. An dir ist doch wahrlich eine Psychologin verloren gegangen. Frauke muss regelrecht neidisch werden, wenn sie sieht, wie leicht du zu solchen Einsichten gelangst. Sie als Psychotherapeutin hat das erst mühsam erlernen müssen.«

Ute stieß mir in die Seite. »Witzbold.«

Frauke hatte unseren kleinen Wortwechsel nicht verfolgt. Sie blickte weiterhin aufs Meer hinaus und wirkte dabei wie immer auf ihre ganz spezielle Weise versunken. Sie war die mit Abstand ausdauerndste Aufs-Meer-hinaus-Guckerin, die ich kannte. Stundenlang konnte sie die zumeist nur mäßig bewegte Wasseroberfläche vor der Küste im Auge behalten, mit einer Ausdauer und Gespanntheit, als gäbe es da draußen irgendetwas für sie zu entdecken. Schon oft hatte ich mich gefragt, was sie an diesem Hinausschauen eigentlich fand und wohin sie dabei mit ihren Gedanken trieb. Aus einer inneren Scheu heraus, die ich selbst nicht erklären konnte, hatte ich sie bislang nie darauf angesprochen.

Mir selbst ging die innere Ruhe, die wohl eine Voraussetzung ist für so ein hingebungsvolles Betrachten, leider vollständig ab. Das Meer bot meinem Blick einfach zu viel an. Schaute ich hinaus, sah ich einen Riesenorganismus vor mir, der sich in ständigem Wandel befand: Wassermassen, angefüllt mit Schwebstoffen, Treibgut, Chemikalien, mit Totem und Lebendigem, die durch kosmische und irdische Einflüsse, durch Wind und Wetter mal mehr, mal weniger bewegt vor der Küste hin und her schwappten. Selbstverständlich hatte auch ich meine Freude an diesem Anblick. Ich warf gerne einmal für Minuten grundlos Steine vom Ufer aus ins Wasser, um diese genauso grundlos darin verschwinden zu sehen. In einer tieferen Schicht meines Bewusstseins allerdings empfand ich das Meer als gefährlich und konnte es nur schwerlich mit der gleichen Versunkenheit wie Frauke betrachten.

Dabei schien das eine durchaus erstrebenswerte Fähigkeit zu sein. Frauke wurde vom Anblick des Meeres beruhigt und erfrischt zugleich, was mein Glück war, weil es bedeutete, dass sie mich zumindest gelegentlich in meiner Inselabgeschiedenheitbesuchen kam. Das ereignisarme Inselleben, das ich so sehr zum Schreiben benötigte, sowie die unaufdringliche Landschaft, an der bis auf die Steilküste nichts Besonderes dran war – sanfte Hügelketten, einige Wälder, Hügelgräber in Kornfeldern mit den obligatorischen Mohnblumen am Rand – : Das alles ödete Frauke bis ins Mark an, sodass sie unser Hamburger Zuhause jedem Aufenthalt auf der Insel vorzog. Gäbe es hier nicht die Küste und das Meer, sie hätte wenig Anlass gefunden, mich zu besuchen, wann immer ich mich für zwei, drei Wochen konzentrierter Schreibzeit auf die Insel zurückzog. Insofern hatte ich Gründe, dem Meer dankbar zu sein. Nicht zuletzt gefiel es mir durchaus, Fraukes schweigsames Hinausschauen selbst zu beobachten, an diesem Tag umso mehr, da wir uns erst am Vorabend nach zweiwöchiger Trennung wiedergesehen hatten. Erst spät am Abend war sie aus Hamburg angereist und hatte mich wie immer, kaum angekommen, sofort in sich spüren müssen, wie sie es ausdrückte (wahrscheinlich, um sich meiner Gegenwart zu versichern). Das war so üblich zwischen uns, genauso wie der Umstand, dass wir uns trotz allem bis jetzt noch nicht wieder vollständig aufeinander eingenordet hatten, womit sich sehr wahrscheinlich die kleine Unstimmigkeit aus dem Auto erklären lässt. Erfahrungsgemäß brauchten wir immer einige Zeit, bis wir wieder zu dem Paar wurden, das wir in unserem Hamburger Alltag waren, gewöhnlich etwa ein Fünftel der Zeit, die wir vorher voneinander getrennt gewesen waren. Rein rechnerisch würden wir es demnach ungefähr am Ende des Wochenendes geschafft haben.

»Genau so habe ich mir das vorgestellt«, sagte Ute. »Mit euch beiden hier am Ufer rumstehen und schweigend aufs Meer hinausstarren. Dafür seid ihr wirklich die Richtigen. Aber ich kann es noch immer nicht fassen, dass wir alle gemeinsam hier sind. Geht euch das auch so? Bis gestern war ich davon überzeugt, dass etwas dazwischenkommen würde, bei irgendeinem von uns. Ich habe jedenfalls erst in letzter Minute meine Tasche gepackt.«

»Was hätte denn dazwischenkommen sollen?«, fragte ich. »Bei mir sind diese Tage seit Ewigkeiten im Kalender geblockt. Bei euch doch sicher auch.«

»Mir sind trotzdem tausend Dinge eingefallen.«

»Als da wären?«

»Was weiß ich. Eine Fernseheinladung, die du nicht ausschlagen kannst. Ein Notfall in Fraukes Praxis. Ein Servercrash in Geros Firma. Etwas an seinem Boot. Unwetter. Dringende Verlagsangelegenheiten. Ich will damit nur sagen, es hat eindeutig mehr dagegen- als dafürgesprochen.«

Frauke schaute zu uns. »Wenn du es so aufzählst, könnte man es glatt für mehr als Zufall halten.«

Ute nickte. »Das meine ich eben. Und wie es aussieht, ist Gero jetzt auch fertig.«

Mit einem Kopfnicken deutete Ute zu Jepsens Hafenschuppen hinüber. Dort trat eben Gero auf den Platz hinaus, blickte sich um und marschierte dann, nachdem er unser Auto auf dem Parkplatz ausgemacht hatte, zielstrebig darauf zu, allerdings mit gesenktem Kopf, weil er sein Handy nicht aus den Augen lassen konnte. Im Gehen tippte und wischte er darauf herum, blieb vor dem Auto stehen und brachte erst einmal zu Ende, was er da Wichtiges zu erledigen hatte. Schließlich bemerkte er die leeren Sitze und schaute sich verwirrt nach uns um.

»Wie sieht es hier überhaupt mit Handyempfang aus?«, fragte er, während wir von der Hafenmauer aus auf ihn zu kamen.

»Mal mehr, mal weniger«, sagte ich. »Meistens weniger.«

Gero schüttelte den Kopf und lächelte, als wollte er sagen: Und damit kommst du klar?

Wir stiegen in den Wagen und teilten die Sitzplätze ohne vorherige Absprache nach Geschlechterzugehörigkeit auf: die Frauen hinten, die Männer vorne, und ich machte mir eine innere Notiz über diese unhinterfragte Aufteilung. (Bei vier denkenden Menschen, die sich wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht etwas auf ihren Intellekt und ihre Weltgewandtheit einbildeten, wollte mir dieser Vorgang gar nicht selbstverständlich erscheinen.)

»Ist es weit bis zu deiner Hütte?«, fragte Gero.

Frauke warf mir einen Blick im Rückspiegel zu. »Hier auf der Insel ist gar nichts weit.«

»Fünf Minuten Fahrt, höchstens«, sagte ich. »Wir hätten die Strecke auch zu Fuß zurücklegen können, aber mit eurem Gepäck wollten wir euch lieber abholen.«

»Na, so was«, sagte Ute, als sie das rot karierte Tuch von dem Flechtkorb anhob, der in der Mitte der Rückbank stand. »Was haben wir denn hier? Ihr habt Pilze gesammelt?«

»Die standen an der Auffahrt«, sagte Frauke. »Und versuch du mal, Steen an Pilzen vorbeizubekommen, ohne dass er sein Messer zückt.«

»Sind nur ein paar Rotkappen«, sagte ich. »Nichts Besonderes. Aber vielleicht finden wir nachher noch mehr, dann haben wir genug zusammen für ein hyggelig frokost, wie man hier sagt. Das heißt seltsamerweise Mittagessen. Was meint ihr: erst ein Spaziergang durch den Wald zur Küste? Hier gibt es einen Urwald, gleich hinterm Haus.«

»Urwald?«, fragte Gero. »Hier?«

»Jepp.«

Ich sagte das, als wäre nichts dabei, startete den Wagen und steuerte ihn an einer aufgebockten Jacht vorbei, weg vom Hafengebiet und raus zwischen die Felder, die die Straße beidseitig flankierten. Nun konnte es also beginnen. Alle Akteure waren an Ort und Stelle versammelt. Der Fahrtwind strich über meinen aus dem Seitenfenster gelehnten Unterarm, und ich bin sicher, dass keiner von uns vieren in diesem Augenblick irgendwelche unheilvollen Gedanken hegte. Wir alle freuten uns auf die gemeinsame Zeit. Was hätten wir auch befürchten sollen? Alles war so, wie es sein sollte. Nicht einmal der Fuchs, der wie aus dem Nichts kommend in einiger Entfernung vor uns über die Straße huschte, konnte uns in unserer Zielstrebigkeit irritieren. Nachträglich mag ich mir zwar ausmalen, dass uns das rötliche Tier mit sorgenvoller Miene entgegenblickte, als ob es uns etwas zu sagen versuchte, aber der Fuchs war so schnell wieder in einem Gebüsch verschwunden, dass ich nicht einmal den Fuß vom Gas zu nehmen brauchte und in ungebremstem Tempo einfach weiter über die Insel fuhr.

2

Das Haus, mein Haus, gelegen auf einer Lichtung und umgeben von dichtem, unberührtem Wald, war auf Umwegen zu mir gekommen. Ursprünglich hatte es einer meiner dänischen Tanten gehört, die es sich als Liebesnest für heimliche Treffen mit ihrem Lover zugelegt hatte, einem Cousin zweiten Grades, also durchaus noch Familie. Damals war es eine schäbige, mit zerzaustem Reet gedeckte Klitsche gewesen, ausgestattet mit einem einigermaßen komfortablen Bett, einer Kochnische und einem Waschbecken, in das eiskaltes Wasser floss, aber diese Ausstattung genügte den heimlichen Geliebten für ihre Zwecke vollkommen. Über mehrere Jahre hinweg haben sie es sich hier gut gehen lassen; keiner außer den beiden wusste von dem Liebesnest auf der Insel. Aber wie es so ist: Irgendwann flog ihr Arrangement auf. Mein Onkel war misstrauisch geworden und hatte sich an die Fersen seiner Gattin geheftet, die mit immer abstruseren Begründungen ganze Wochenenden lang verschwunden und jedes Mal auffällig tiefenentspannt zurückgekehrt war. Wie in einer abgedroschenen Filmszene hat mein Onkel das liebestolle Pärchen schließlich hier in flagranti erwischt. Ein hässlicher Moment muss das gewesen sein. (Es geht das Gerücht, dass mein Onkel mit einem Luftgewehr bewaffnet das Haus gestürmt habe, die ineinander Verknoteten minutenlang bedrohte und am Ende vor lauter Aufregung mehrfach in die Decke feuerte, obgleich ich nachträglich nirgends Einschusslöcher entdecken konnte.) In letzter Konsequenz führte die familieninterne Liebelei jedenfalls dazu, dass sich alle restlos miteinander zerstritten und das Haus – und mit ihm die Insel – zu einer Art Area 51 erklärt wurde, sodass aus meiner dänischen Verwandtschaft niemand mehr Verwendung dafür hatte und alles kurzerhand dem ansonsten wenig beachteten deutschen Zweig der Familie, sprich: meiner Mutter, überschrieben wurde.

Ich kann mich nur an einen einzigen, knapp einwöchigen Aufenthalt erinnern, den wir als komplette Familie hier verbracht haben. Der damals noch vollkommen fehlende Komfort – kaum dass es fließend Wasser gab, keinen Strom, Plumpsklo im Garten – entsprach so überhaupt nicht den Vorstellungen meiner Eltern oder meiner Schwester Gudrun, die Urlaube in schnuckeligen italienischen Pensionen mit Strandzugang dem rustikalen Dänemark-Inselurlaub vorzogen und dies auch ständig betonten. (Langweilig sei es hier, ungemütlich, primitiv, nass.) Ich dagegen verliebte mich als Endteenager sofort in dieses Haus und die Insel und nutzte schon während des Studiums jede Gelegenheit, meine vorlesungsfreie Zeit hier zu verbringen. Schnell erhielt ich in der Familie den Ruf eines Eremiten, der mehrmals im Jahr für Wochen unerreichbar im Wald auf der dänischen Insel verschwand. Ich hauste hier einsam als Quasi-Selbstversorger, aß zwei Mal am Tag selbst gezogene Kartoffeln aus dem Garten, die ohne mein Zutun und ohne besondere Pflege prächtig gediehen, sammelte Pilze im Wald, Beeren, Holz zum Heizen, knabberte mitgebrachtes Knäckebrot und ließ mich gelegentlich vom Nachbarn Jepsen mit frisch gefangenem Fisch versorgen, den ich auf einem Rost über einem Loch im Garten grillte. Hier schrieb ich in vollkommener Abgeschiedenheit, die Finger knisternd im täglich dichter sprießenden Bart, an meinen Uniarbeiten, später auch an meinem ersten Buch, und fühlte mich in meinem Haus und an meinem Schreibtisch, den ich mir selbst zusammengezimmert hatte, rundum wohl. Alles an diesem Haus war wie für mich geschaffen, sodass es nur folgerichtig schien, dass meine Eltern es mir zur Promotion zum Geschenk machten. (Glücklicherweise erlaubt die komplizierte dänische Bürokratie Immobilienschenkungen in direkter Verwandtschaftslinie.)

Mit den Jahren habe ich das Haus dann herausgeputzt. Jedes Buch, jedes größere Honorar brachte bauliche Veränderungen mit sich, die ich bewusst so gestaltete, dass der Grundcharakter erhalten blieb. Ein neues Dach machte den Anfang; später ließ ich eine Wand einziehen, um Schlaf- und Arbeitsraum voneinander zu trennen. In einer seitlich angebauten Erweiterung entstanden ein Badezimmer und eine Kammer, die wenn nötig als Gästezimmer dienen konnte. Ein Brunnen wurde sechzig Meter in die Tiefe gebohrt, um allzeit sauberes Wasser zu haben. Selbstverständlich durfte ein dänischer Bollerofen mit Glasscheibe nicht fehlen, ebenso wenig ein Schaukelstuhl, Esstisch und Hocker, Gasherd, Kühlschrank und Geschirr sowie eine Leseliege für den Garten. Zeitweilig hatte ich es für angeraten gehalten, eine Telefonleitung verlegen zu lassen, um erreichbar zu sein, aber als sich die Anfragen zu sehr häuften und ich um meine Ruhe zu fürchten begann, klemmte ich den Apparat ab und verstaute ihn ganz unten im Garderobenschrank, für den absoluten Notfall.

Meine Inselschreibzeit, ohne die ich seit Langem kaum mehr sinnvoll zurechtzukommen wusste, begann genau genommen immer knapp hinter Hamburgs Stadtgrenze, wenn die ersten Autobahnraststätten in Sicht kamen. Erst Holmmoor, dann Brokenlande, als Nächstes Aalbeck und zuletzt Hüttener Berge (nicht mitgerechnet die kleineren Parkplätze und Haltemöglichkeiten, die mich nicht weiter interessierten). Ohne Mühe fokussierten sich meine Gedanken beim Anblick der blauen Schilder mit den niedlichen Piktogrammen, und ich brauchte nur immer weiterzufahren in Richtung Norden, um mit jedem zurückgelegten Kilometer mehr in den Schreibmodus zu wechseln. Selbstverständlich wählte ich stets die längere Strecke übers Festland, um die Fährverbindung von Fehmarn zu meiden, und nahm dafür sogar die Querungen über die beiden Belt-Brücken in Kauf, die mir stets unheimlich blieben. Obgleich ich auf diesen Fahrten nicht eigentlich schrieb, entstanden währenddessen doch bereits erste Ideen, die mich verlässlich nach der Ankunft beginnen ließen. Zu wirklichen Wörtern und Sätzen verdichteten sich diese Ideen allerdings erst, wenn ich nicht nur Hamburg und mein Zuhause, sondern auch das Land verlassen hatte.

Draußen sein – das war für mich jedes Mal wieder ein derartig befreiendes Gefühl, dass ich den Übertritt vom einen ins andere Land, das Passieren der Staatsgrenze also, mit allen Sinnen auszukosten versuchte. Nicht einmal Wiederholung nahm diesem Ereignis seinen Reiz. Ganz entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten hielt ich mich, sobald die Grenze bei Flensburg in Sicht kam, an die vorgegebene Geschwindigkeit, bremste auf 100 km/h ab, ging dann sogar runter auf 30 km/h, und etwas in mir genoss es wie ein Kind, schließlich im Schritttempo an den Glashäuschen vorbeizuschleichen, in denen die Grenzer saßen. Die Deutschen winkten mich üblicherweise durch; die Dänen machten es meist nicht anders. Wenn in den Tagen zuvor mein Gesicht irgendwo im Fernsehen zu sehen gewesen war, veränderten sich mitunter die Mienen der deutschen Grenzer. Sie waren dann noch zuvorkommender als sonst, und manchmal hielten sie mich extra an, um sich meinen Pass aus dem Fenster zeigen zu lassen. Dabei sagten sie etwa: »Da Sie, lieber Herr Friis, überall so viel von Anstand reden, dürfen wir doch wohl davon ausgehen, dass Sie nichts in Ihrem Fahrzeug mit sich führen, von dem wir etwas wissen sollten?« – »Natürlich dürfen Sie das«, antwortete ich wahrheitsgetreu, und obwohl ich es normalerweise nicht leiden konnte, erkannt zu werden, gehörte es hier gewissermaßen zum Spiel.

Seit die Kontrollen an den Übergängen weggefallen waren, vermisste ich auf meinen Fahrten nach Norden beinahe schmerzlich dieses vertraute Ritual. Selbstverständlich hatte ich mir bei meinem letzten echten Grenzübertritt, wenige Tage vor Inkrafttreten des Schengener Abkommens, einen Stempel in meinen Reisepass geben lassen. Gewiss habe ich mich nicht getäuscht, wenn ich dem Beamten, der den Stempel führte, eine gewisse Rührung oder Resignation bei dieser Amtshandlung anzumerken glaubte. Etwas ging hier zu Ende, und aus meiner Perspektive war es schade drum. Die Grenzanlagen verwaisten in der Folgezeit und wurden irgendwann sogar abgebaut. Seitdem musste ich mich mit den wenigen, subtilen Anzeichen begnügen, die mir einen Grenzübertritt noch einigermaßen sinnlich erfahrbar machten. Die Beschilderung und Straßenkennzeichnung wechselte, der Asphalt wurde dunkler und – vor allem – leiser (obwohl ich zugeben muss, dass es eine beinahe künstlich gesteigerte Aufmerksamkeit voraussetzte, dies zu bemerken). Letztlich war der bessere, teurere Straßenbelag mit seinem nur mehr flüsternd rauschenden Fahrgeräusch das deutlichste Anzeichen für einen Länderwechsel. Nicht ein einziges Mal bin ich von einem der in Grenznähe parkenden Zollautos zur Kontrolle angehalten worden. (Warum überhaupt noch die Geschwindigkeit drosseln?) Vermutlich bin ich nicht der Einzige, der eher wehmütig an die alten Kontrollen zurückdenkt, so begrüßenswert offene Grenzen im Prinzip natürlich sind, und ein wenig vermieste mir der Wegfall schon die Lust, über die Grenze zu fahren, sodass ich mich mittlerweile bemühte, es möglichst zügig und beiläufig hinter mich zu bringen. Hatte ich die Grenze erst einmal hinter mir, wirkte die Fahrt als Ganzes weiterhin wie eine Befreiung.

Mit ähnlichen, eingeübten Sätzen habe ich dies alles Ute und Gero auf unserer kurzen Fahrt über die Insel erzählt. Frauke hörte bloß mit halbem Ohr zu und schaute aus dem Fenster. Es war nicht das erste Mal, dass sie Zeugin des Einführungsreferates wurde, mit dem ich Gäste hier üblicherweise begrüßte. Gerne holte ich diese im Zentralort ab, um ihnen bereits auf der Fahrt zum Haus die Insel und mein Leben hier nahezubringen. Journalisten hörten sich die Rede gemeinhin gerne an und zückten dankbar, obgleich noch beim informellen Part des Besuches, ihre Notizbücher. (Ihre auf die Schnelle hingekritzelten Stichwörter konnte ich mir ohne Weiteres denken: Luftgewehr, Eremit, Kartoffeln und Raststätten – daraus würde sich bestimmt etwas machen lassen.) Aber genau wie die Journalisten sprang auch Gero erst dann wirklich auf meine Erzählung an, als ich den Minister erwähnte, der wie ich auf der Insel ein Häuschen besaß, den »Rauschebart«, wie man ihn seit jeher nannte. Ja, der wohnte auch hier. Ist es zu glauben: Rauschebart?

Seit den späten Fünfzigern war ein üppiger tiefbrauner Bart das unverwechselbare Erkennungszeichen dieses Mannes, den ich durchaus schätzte. Ich hatte keine Ahnung, für welche Partei er einst im Schleswig-Holsteinischen Landtag gesessen und später als Minister das Land mitregiert hatte. Das hatte wohl mit seiner überparteilichen Aura zu tun, mit der er mir stets imponiert hatte. Meine völlig ironiefreie Hochachtung hatte Rauschebart sich insbesondere durch die Art verdient, wie er einst das Ansinnen quittiert hatte, ihn als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl zu gewinnen. Als die Journalisten an seiner Haustür klingelten und ihn um eine Reaktion baten, holte er seinen Kalender aus der Innentasche des Jacketts, blätterte darin herum und schüttelte bedauernd den Kopf: Oh, im September sei die Wahl? Da könne er leider nicht. Im September sei er immer in seinem Inselhäuschen. Pilzzeit. Es tue ihm leid. Und damit schloss er die Tür. Er war einer der großartigeren Menschen, die wir haben, den am Ende irgendein Skandal das Amt kostete. Worum es dabei ging, erinnerte heute niemand mehr. (Irgendeine außereheliche Affäre? Vermutete Kungelei?) Seinem Ruf hatte es auf Dauer jedenfalls nichts anhaben können, und noch heute wurden verlässlich alle hellhörig, wenn ich ihn nur erwähnte.

»Ach was, der wohnt auch hier?«, fragte Gero, wie die meisten vor ihm. »Wo denn?« (Die Journalisten, die sich mitunter auf ihren Besuch vorbereitet hatten und mir schmeicheln wollten, fragten eher: »Zwei Berühmtheiten auf einer dänischen Insel – kann das gut gehen?«)

»Auf der gegenüberliegenden Inselseite«, antwortete ich. »Bis dorthin sind es einige Kilometer.«

»Trefft ihr euch manchmal?«

»Eigentlich nicht. Wir sind uns nur ein Mal auf dem Sommerfest im Zentralort über den Weg gelaufen. Am Hotdog-Stand. Ich hatte gerade meinen Hotdog halb im Mund, als er an mir vorbeimarschiert ist.«

»Und?«

»Nichts und. Du kannst dir sicher denken, wie gut es sich mit einem Hotdog im Mund spricht. Ich habe ihm zugewinkt. Bisschen peinlich.«

»Kennt der dich überhaupt?«

»Na, hör mal, was für eine Frage«, sagte Ute von der Rückbank aus, und ich war ehrlich erstaunt, dass sie überhaupt zuhörte. (Auch sie kannte mein Referat schließlich bereits.) »Hier und da wird über Steen schon geredet.«

»Ich frag ja bloß«, sagte Gero wie zur Entschuldigung.

Wie immer war ich froh, dass niemand auf die Idee kam, weiter nachzuhaken. Alle gaben sich mit der Hotdog-Anekdote zufrieden, obgleich die Begegnung mit dem Rauschebart in der Form nie stattgefunden hatte. Das erzählte ich nur so, weil es dänischer und dadurch authentischer klang. Tatsächlich begegneten der Rauschebart und ich uns nämlich öfter, beim Einkaufen etwa oder beim Bäcker. Dann wechselten wir ein paar Worte miteinander – »Guten Tag, wie geht’s, wie steht’s?« –, aber nie lange, und jedes Mal wieder bekräftigten wir unser Vorhaben, uns gegenseitig in unseren Häuschen zu besuchen. Dabei wussten wir beide, dass das gewiss nicht passieren würde. Zu Hause wäre das unter Umständen etwas anderes gewesen. Aber nicht hier, auf meiner (und seiner) Insel. Wenn ich aus unerfindlichen Gründen doch einmal das dringliche Bedürfnis verspüren sollte, andere Berühmtheiten oder gar Autoren zu treffen, könnte ich schließlich gleich in Hamburg bleiben oder besser noch mich in den Zug nach Berlin setzen.

Weil ich keine Anstalten machte, das Gespräch über den Rauschebart weiter zu vertiefen, sagte Gero: »Der ist ja auch so eine Marke für sich.«

»Wie meinst du das?«, fragte Frauke. »Marke? Wer denn noch?«

»Wer wohl? Er hier, unser Philosoph.«

»Und wie, bitte schön, würdest du die Marke Steen R. Friis beschreiben?«

Mit einem Seitenblick versicherte Gero sich meiner Bereitschaft, die vox populi zu ertragen, die er in diesem Moment anscheinend zu vertreten meinte.

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte ich.

»Wirklich nicht?«

»Nur zu. Lass hören.«

»Ganz wie du meinst«, sagte Gero und fügte beinahe genüsslich hinzu: »Als Anstandsonkel der Nation.«

Frauke lachte auf.

»Stimmt das etwa nicht?«, fragte Gero.

»Doch, doch«, sagte sie. »Hab ich so auch schon gehört. Ein, zwei Mal vielleicht. Oder öfter.«

»Schmeichelhaft ist das wohl eigentlich nicht«, sagte ich.

»Oh.« Gero sah mich von der Seite an. »Das überrascht dich jetzt doch aber nicht? Das sagen alle. Immer. Gestern erst meine Kollegen, als ich ihnen von unserem Segeltörn zu euch erzählt habe: Ach was, zum Anstandsonkel fahrt ihr? Das wird sicher lustig.«

Ich schüttelte den Kopf. »Irgendeinen Namen bekommt am Ende ja jeder verpasst.«

»Tja.«

Wir waren eben an Jepsens Haus vorbeigefahren, dessen Grundstück mit einer hohen Ligusterhecke umgeben war. Dahinter führte ein zugewachsener Forstweg in den Wald hinein. Nichts wies darauf hin, dass man ihm folgen sollte, durchaus mit Absicht, denn so verirrten sich keine Fremden zu meinem Haus. Ganz selten wanderten rüstige Rentner in Outdoorkleidung den Weg entlang, auf der Suche nach einem Schleichpfad zur Küste, doch machten sie schnell kehrt, sobald sie feststellten, dass sie hier nicht weiterkamen. Am Ende befand sich lediglich eine kleine Lichtung, darauf mein Haus.

Im Prinzip blieb ich hier stets für mich allein, und das war auch gut so. Ich erinnerte mich lediglich an einen einzigen besonders beharrlichen Fan, der vor einigen Jahren unangemeldet in meinem Wald aufgetaucht war, ein Langzeitstudent, der Schriftstellerträume hegte und sich von mir und der räumlichen Nähe zu mir Bestärkung erhoffte. Sein Zelt schlug er nicht weit entfernt im Wald auf, um dort wie ein rechtschaffener Dichter auf seiner mechanischen Schreibmaschine zu tippen. Im Garten hörte ich morgens, mittags, abends dieses beharrliche Getacker. Tack, tack, tack. Es war nicht zu ertragen. Irgendwann musste ich ihn einfach unsanft davon überzeugen, das Weite zu suchen und mich mit seinen Träumereien in Ruhe zu lassen. Mit hängenden Ohren trollte er sich damals, und ich habe nie wieder von ihm gehört oder gelesen, was einiges über seine Schriftstellerträume sagt. Ich hatte länger nicht mehr an diese Episode gedacht und bog in Gedanken daran mit zu viel Gas von der Straße ab.

»Ist das da dein Haus?«, fragte Ute (obwohl sie die Antwort wusste), und weil wir in diesem Moment durch ein Schlagloch rumpelten, bekam das Wort das in ihrer Frage eine besondere Betonung. »Wie hübsch. Und klein.«

»Vor allem ziemlich versteckt«, sagte Gero. »Das findet ja keiner.«

Wenn ich mit dem Auto angefahren kam, verließen stets einige Kaninchen fluchtartig die Rasenfläche vor dem Haus. Es waren immer mehrere da, ganze Horden, die jedes Mal das Areal zu übernehmen schienen, sobald mein Wagen nicht vor dem Haus stand. An diesem Tag aber war nur ein einziges Tier zu sehen, grauschwarz, eher klein, und es blieb seelenruhig an dem Platz sitzen, wo ich normalerweise parkte, so als bemerkte es uns nicht oder als erwartete es uns dort. Ich bremste ab, direkt neben Fraukes Renault, den sie wie immer unerklärlich schief am Wegrand abgestellt hatte. Kauend schaute uns das Kaninchen an.

»Na, was ist?«, fragte ich aus dem Seitenfenster hinaus und hätte schwören können, dass das Kaninchen meinen Blick erwiderte.

»Mir scheint, da will dir einer etwas mitteilen«, sagte Ute.

»Ja, und was? Weg da, Kaninchen. Ich will da parken.«

Gerade wollte ich die Hupe betätigen, als Frauke ihre Tür öffnete und ausstieg. »Warte, ich kümmere mich darum.«

Langsam ging sie um die Wagenfront und hockte sich in der Nähe des Kaninchens ins Gras. Das Tier blieb unbekümmert sitzen und richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf Frauke, die ihm ein ausgerupftes Löwenzahnblatt hinhielt. Sie flüsterte ihm etwas zu, es war an ihren Lippenbewegungen zu erkennen, und ich fand, es sah einfach hinreißend aus, wie sie da mit dem Tierchen zu kommunizieren versuchte. Auf einmal aber durchfuhr etwas den kleinen Kaninchenkörper, die Ohren richteten sich alarmiert auf, als wäre ihm erst in diesem Moment klar geworden, in welcher Situation es sich befand, und mit wenigen Sätzen war es im Unterholz verschwunden.

Frauke erhob sich und gab mit präsentierender Armbewegung den Weg frei. »Bitte schön.«

»Äußerst zutraulich, dieses Tier«, sagte Ute, während ich den Wagen die letzten Meter voransetzte.

»Eins wollte ich dich übrigens noch fragen«, sagte Gero. Er hatte in den letzten Sekunden auf seinem Handy herumgewischt, ohne dem Drumherum viel Aufmerksamkeit zu schenken; stattdessen schien er sich etwas notiert zu haben.

»Was denn?«

Ich schloss mein Fenster, öffnete die Tür und stieg aus. Gero verließ ebenfalls den Wagen, sodass wir uns nun über das Autodach hinweg unterhielten.

»Rufen die dich immer direkt an, wenn was ist?«

»Wer?«

»Die Redaktionen. Zeitung, Fernsehen.«

»Kommt vor. Aber nicht hier. Auf der Insel hab ich Ruhe.«

Ich ging hinter den Wagen, um die Segeltuchtaschen aus dem Kofferraum zu holen.

»Was die sich dabei wohl denken«, sagte Gero. »Das frage ich mich schon länger. Wie läuft das bei denen ab? Sagen wir, bei einem Politiker wird wieder irgendein Schmuddelkram auf dem Dienstrechner entdeckt, Pornozeugs, Kinder, dieser eklige Mist – ha, da rufen wir doch flugs mal den Friis an! Der kann uns sicher was Schlaues dazu sagen.«

»So ungefähr wahrscheinlich.«

»Und du sagst denen dann irgendwas ins Mikro?«

»Manchmal. Eigentlich aber versuche ich das nur dann zu tun, wenn ich wirklich was zu sagen habe.«

»Ist klar.«

Ute, die gleich nach uns ausgestiegen war, kam ebenfalls an den Kofferraum.

»Hast du eigentlich den Wein eingepackt?«

Die Frage war selbstverständlich nicht an mich, sondern an Gero gerichtet, der augenblicklich erstarrte. (Diese Momente zwischen Pärchen, wenn etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen, weil es schon hundert Mal zuvor passiert ist.)

»Mist«, sagte Gero und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Hab ich total vergessen. Das ist unser Gastgeschenk für euch. Ein Bordeaux, glaube ich.«

»Nix Bordeaux«, sagte Ute. »Ein Italiener. Barolo. Das kannst du aber nicht wissen, weil ich den Wein schließlich ausgesucht habe. Und der wird jetzt hübsch im Bauch deines Schiffes gekühlt. Das hilft uns allerdings wenig.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Was wohl: Du fährst noch einmal zurück zum Hafen und holst die Kiste.«

Ute sah mich von der Seite an, und in ihrem Blick lag etwas Verschwörerisches, das mich überraschte. (Ob sie die ganze Sache irgendwie arrangiert hatte?)

»Darf Gero dein Auto nehmen?«, fragte sie.

»Klar, Schlüssel steckt noch.«

»Und vielleicht fährt Frauke besser mit«, sagte sie. »Damit Gero den Weg findet?« Sie nickte Frauke auffordernd zu, die schulterzuckend ihr Einverständnis signalisierte.

»Das ist doch nicht nötig«, sagte Gero. »Den Weg finde ich auch so.«

»Auf dein Handy kannst du dich hier leider nicht verlassen«, sagte Ute, tätschelte Geros Wange und nahm beide Taschen aus dem Kofferraum. »Ich ziehe mich derweil um. Etwas Passendes für den Urwald werde ich schon dabeihaben.«

»Wie du meinst.«

Gero trottete zum Wagen und wartete dort auf Frauke, die mir im Vorbeigehen zulächelte. Dann sah sie zu Gero und stieg gespielt damenhaft ein. Beide schlossen ihre Türen, und ich bemerkte durch die Scheiben, wie sie sofort miteinander zu sprechen begannen, kaum dass sie unter sich waren. Gero stellte die Position des Fahrersitzes ein und lachte über etwas, das Frauke gesagt haben musste.