Freddy Langer

Frankfurts Neue Altstadt

Mit zahlreichen farbigen Abbildungen des Autors

Insel Verlag

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Und dann war nichts mehr da –. Die Bombennächte vom März 1944

2 Wo alles seinen Anfang nahm –. Die heiligen Mauern der Kaiserpfalz franconofurt

3 Von Tradition bis Postmoderne –. Ständig neue Pläne für den Römerberg

4 Die Mona Lisa des Historischen Museums –. Das Altstadtmodell der Brüder Treuner

5 Und aus dem Brunnen fließt der Wein –. Die Kaiserkrönung war ein rauschendes Fest

6 Schauerliche Fratzen statt Schaulustiger –. Eine krumme Gasse wird zum Krönungsweg

7 Einmal Krönungswurst mit Senf –. Einkehr in der Tagesbar Anno 1881

8 Wenn der Boden knapp wird, geht man in die Luft –. Das Rote Haus schwebt über dem Platz

9 Ein bisschen Phantasie darf sein –. Die Töpferei Bauer verkauft die Altstadt aus Ton

10 Unten die Ware, oben der Mensch –. Die Messehöfe Zum Rebstock und Goldenes Lämmchen

11 Grüße aus der Vergangenheit –. Suchspiel mit Zierrat und Spolien

12 Ein Leben ohne Sonne –. Der Alltag in der Altstadt war nicht immer lustig

13 Reichtum ist keine Schande –. Die Goldene Waage zeigt, was Pracht und Herrlichkeit bedeuten

14 Wie für Nachtwächter geschaffen –. Sehr spät abends unterwegs

15 Als stammte er aus einem Kinderbuch –. Der Hühnermarkt gleicht einem Wimmelbild

16 Der Bart muss ab –. Zur Rasur bei Dennis Alt

17 Nein, das ist nicht Mao Zedong –. Der Mundartdichter und Rebell Friedrich Stoltze

18 Lauter Preziosen im Neuen Paradies –. Ein Juwelier hat sein Schatzkästlein gefunden

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Vorwort

Ich mag die neue Altstadt. Und neuerdings bin ich öfter dort als in jedem anderen Frankfurter Stadtteil. Nicht zum Ausgehen. Nicht zum Einkaufen. Nicht einmal des Barbiers wegen. Sondern nur, um zu schauen.

Von Anbeginn habe ich die Bauarbeiten beobachtet. Habe zugeschaut, wie sie Stück für Stück auf dem klitzekleinen Grund zwischen dem Steinernen Haus und dem Haus am Dom aus dem Boden wuchs. Nein, aus der Platte, so muss es heißen, die über dem Parkhaus und der U-Bahn-Haltestelle liegt. Von der Schirn aus, dem Kunsttempel, der ein paar Meter erhöht über dem Krönungsweg thront, konnte man auf Zehenspitzen gestellt über Bauzäune blicken. Und man erhielt eine Ahnung, wie die Fluchten zusammenfinden werden und dass durch Ecken und Winkel Nischen und Plätze entstehen werden. Von der Braubachstraße aus war zu beobachten, wie sich die Häuser vom Süden her allmählich näherten, Zeile für Zeile, bis am Ende auch die Braubachstraße selbst mit einer Häuserflucht zugebaut war, einem Riegel wie einer Wand, der vorgeschoben war, Monate bevor dahinter Frankfurts neue Seele ihren letzten Schliff erhielt. Und natürlich von der Aussichtsplattform des Doms hinunter. Das war der beste Blick. Auf Beton am Boden. Auf Kräne. Und auf Schalungen, zwischen die wiederum Beton gegossen wurde. Anfangs waren es bloß zwei Kräne, und man begriff, wie klein das Areal ist. Knapp achttausend Quadratmeter. Etwas größer als ein Fußballfeldfeld. Dann kamen neue Kräne hinzu, und man begriff, welcher Anstrengung es bedurfte, fünfunddreißig völlig unterschiedliche Häuser gleichzeitig zu errichten, ohne dass die unterschiedlichen Bautrupps einander fortwährend im Weg sind. Fünfzehn sogenannte schöpferische Rekonstruktionen. Dazu zwanzig moderne Bauten, die sich in ihrer Form an der Ästhetik der alten Gebäude orientieren sollten und deren Grundriss eins zu eins mit dem Grundriss der Altstadt im neunzehnten Jahrhundert identisch sein musste. Und weil in der Altstadt im Laufe der Jahrhunderte zwar Fassaden geändert worden waren, der Mode entsprechend von Gotik über Renaissance bis Rokoko, selten aber ganze Gebäudegruppen, war es fast haargenau auch der Grundriss des Mittelalters.

Das war neu für Frankfurt, einen Ort, der niemanden ernsthaft empfohlen werden kann, der sich im Jetzt wohlfühlt, weil sich in dieser Stadt ständig alles verändert. Aber nach vorne gerichtet. Abreißen. Neu bauen. Und wieder abreißen. So geht das in Frankfurt jahrein, jahraus. Es gab nicht einen Monat im vergangenen halben Jahrhundert, an dem die Frankfurter den Eindruck gewonnen hätten: Jetzt ist die Stadt fertig! Die Baustellen sind fort. Hier leben wir von nun an. Sondern kaum, dass die Umleitung einer Großbaustelle aufgehoben war, gab es eine neue Umleitung für die nächste Großbaustelle. Bisweilen nur eine Kreuzung weiter.

Hier folgte dem höchsten Haus Europas das allerhöchste Haus Europas. Dort stockte man kurz bei der Frage, ob man jüdische Fundamente überbauen dürfe, bevor man das riesige Verwaltungszentrum dann doch hinstellte, wie es geplant war. Anderswo riss man ein internationales Unternehmen kurzerhand ab, um eine Innenstadt-Siedlung zu errichten. Wo eben noch in den Häfen Schiffe ihre Ladung löschten, reihen sich Blocks mit Luxuswohnungen aneinander. Im Osthafen genauso wie im Westhafen. Und nur einmal weggeschaut, steht dort, wo gerade noch ein Güterbahnhof war, der höchste Wohnturm des ganzen Landes.

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Hier aber nun, beim Bau der Neuen Altstadt, richtete sich der Blick nach hinten, in die Vergangenheit. Und mehr noch als bei den Fachwerkhäusern auf dem Römerberg, der Ostzeile, die jeder Einheimische als Historienkulisse versteht und die womöglich mehr mit der Postmoderne der achtziger Jahre zu tun hat als mit dem Formenbewusstsein der Gotik, sollte ja ein Gefühl mit dem Bau einhergehen. Ein Gefühl für eine andere Art, Wohnraum zu begreifen, vielleicht sogar Stadt zu begreifen. Hier wurde eine Fläche nicht ausradiert, um ein weiteres Experiment moderner Architektur zu wagen, sondern es sollte eine vergangene Lebensform auferstehen.

Sechseinhalb Jahre hat die Arbeit dran gedauert. Jeden Monat zeigte sich hinter den Bauzäunen oder vom Dom herab eine neues Bild. Häuser wuchsen. Bisweilen erstaunlich schnell. Es tauchte Holz auf. Dann wurde es verputzt. Es tauchten Dachstühle auf. Dann wurden sie gedeckt. Irgendwann wurden die Fassaden gestrichen und leuchteten in unterschiedlichen Farben wie ein Heilsversprechen in der Sonne. Und der silbergraue Schiefer aller Giebel und Dächer glich von der Besucherterrasse des Doms aus einer wild zerklüfteten Gebirgslandschaft. Dann war sie fertig, die neue Altstadt. Alles zugleich. Die Häuser, die Gassen, die Höfe, die Brunnen. Und selbst wer über Jahre hinweg den Bau verfolgt hatte, vielleicht sogar das Glück gehabt hat, an einer Führung über die Baustelle teilzunehmen, selbst der konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, das gesamte Ensemble sei über Nacht wie ein riesiges Raumschiff auf der Fläche zwischen Dom und Römer gelandet. Wie aus einem Guss. So plötzlich war die neue Altstadt da. Und so neu sah sie aus. Alles war geradezu aseptisch sauber. Künstlich irgendwie. Nirgendwo ein Riss im Putz. Und schon gar keine Graffiti an den Fassaden. Kein Fleck an irgendeiner Wand. Und nirgendwo eine lose Bodenplatte. Die Neue Altstadt sah aus, als sei sie zu Besuch gekommen. Herausgeputzt für einen Feiertag. Für ein Fest, das ein paar Tage dauert. Oder vielleicht auch einige Wochen. Das aber über kurz oder lang zu Ende sein wird. Und dann wird die Neue Altstadt wieder verschwinden. So konnte man denken.

Deshalb komme ich so oft. Aus Furcht, sie hätte sich auf den Weg dorthin zurück gemacht, wo immer sie hergekommen ist. Wie die Raumschiffe im Science-Fiction-Film, die am Ende zurück nach Hause fliegen.

1 Und dann war nichts mehr da –

Die Bombennächte vom März 1944

Frankfurt hatte lange Zeit gehofft, unbeschadet durch den Zweiten Weltkrieg zu kommen. Oder wenigstens mit geringen Verlusten an Menschenleben und Gebäuden. Binnen eines halben Jahres waren etliche Bombenregen auf die Altstadt niedergegangenen; schon im Oktober 1943 hatte es an etlichen Stellen gebrannt, und nachdem im Spätherbst und frühen Winter Angriffe auf Sachsenhausen und weitere Ziele im Zentrum gefolgt waren, soll das Tiefkai am Main ausgesehen haben wie eine Mondlandschaft. Und doch konnte vieles geflickt werden, noch lebten die Menschen in der Altstadt, und sie hatten guten Grund, zu glauben, dass man die Lücken in den Häuserzeilen würde füllen können und damit die Spuren der Zerstörung tilgen. Doch dann wurde Frankfurt mit nur zwei Angriffen förmlich umgepflügt: am 18. März 1944 der östliche Teil zwischen Dom und Heiliggeisthospital, bei der folgenden und letztlich alles entscheidenden Bombardierung in der Nacht des 22. März der verbliebene Rest.

Kurz nach halb neun am Abend heulten die wenigen Sirenen auf, die das Bombardement vier Tage zuvor überstanden hatten. Nur Minuten später waren bereits aus Richtung Norden erste Bombeneinschläge zu hören. Eine Dreiviertelstunde dauerte der Angriff aus der Luft. 816 Flugzeuge wurden gezählt. Die ersten warfen dreitausend Sprengbomben auf die Stadt und zerschlugen damit die meisten Dächer. Dann folgten Stabbrand- und Flüssigkeitsbomben. Manche sprechen von mehr als einer Million. Wie ein gleißender Vorhang rieselte brennender Phosphor auf die Stadt hinab und züngelte entlang der Straßen weiter. Es muss ein infernalisches Getöse gewesen sein. Allein die Luftdruckschläge brachten selbst große Gebäude und Kirchen zum Schwanken. Binnen kürzester Zeit brannten alle Häuser lichterloh. Was nicht direkt getroffen war, setzte der Funkenflug in Brand. Die ersten Wände brachen. In den Straßen und Gassen häuften sich Steine und Balken und noch mehr Steine und Balken. Ein Haus nach dem anderen stürzte, kippte oder sank in sich zusammen, bis die Silhouette der Stadt verschwunden war und sich aus einem Meer von wirbelnden Flammen allein noch der Turm des Doms erhob. Von einst anderthalbtausend Fachwerkhäusern standen noch elf. Tagelang war die Stadt ohne Sonnenlicht, nur von Rauchschwaden überdeckt, die aus den Trümmern aufstiegen.

Als keine sechs Wochen später, Anfang Mai, ein Mitarbeiter des Frankfurter Anzeiger am Dom an die Butzenscheiben des Pförtnerhäuschens klopft, sitzt dahinter, »als wäre nichts geschehen«, der Hüter des Turms in der Uniform der städtischen Bediensteten. Viele stiegen den Turm in diesen Tagen hinauf, sagt er. An den Sonntagen sei es ein ständiger Strom. Mit Tränen in den Augen kämen die Menschen wieder unten bei ihm an. Der Blick von oben: ein gähnendes Trümmerfeld mit nur wenigen Anhaltspunkten, die verloren aus dem Schutt ragen. Die gestufte Giebelfront des Römers mit leeren Fensterhöhlen. Ein Stummel, der einmal die Brunnennische auf dem Belvederchen des Hauses Zur Goldenen Waage war. Und über einem Bombenkrater ein steinmetzgeschmückter Torbogen. Mehr Beispiele fallen dem Chronisten des Frankfurter Anzeigers nicht auf.

Dabei war es durchaus einiges mehr, was den Bombenhagel überdauert hatte. Aber so sah man es nicht. Vielmehr lieferte binnen kürzester Zeit ein bedenkenloser Umgang die Fundamente und Reste historischer Gebäude gnadenlos der Spitzhacke aus. Erst wurde abgerissen, was noch stand, dann wurden die Trümmer beseitigt. Medienwirksam ließ sich noch im Oktober 1946 der damalige Oberbürgermeister Walter Kolb im Anzug mit Presslufthammer vor der Fassade des Römers fotografieren, wie er Steinbrocken zerkleinerte. Darüber, was wiederaufgebaut werden solle, entbrannten heftigste Debatten. Die Kirchen begriff man dabei nicht nur als historisch bedeutende Bauten, sondern auch als ein Stück spiritueller Heimat. Schon bei Paulskirche und Goethehaus jedoch, die eine als Symbol der deutschen Demokratie, das andere als Symbol deutscher Kultur schlechthin, wurde konträr diskutiert, ob deren Rekonstruktionen einem Vertuschen von Schuld und einem Verfälschen der Geschichte gleichkäme oder ob sie wie ein Leuchtfeuer einer neuen Gesellschaft die Richtung weisen könnten.

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Das Goethehaus sei »nicht durch einen Bügeleisenbrand oder einen Blitzschlag oder durch Brandstiftung zerstört worden«, schrieb Walter Dirks 1947 in der Zeitschrift Frankfurter Hefte. »Wäre das Volk der Dichter und Denker (und mit ihm Europa) nicht vom Geiste Goethes abgekommen, vom Geist des Maßes und der Menschlichkeit, so hätte es diesen Krieg nicht unternommen und die Zerstörung dieses Hauses nicht provoziert.« Bittere Logik und keineswegs ein historisches Versehen hätten dazu geführt, dass das Goethehaus in Trümmern lag. »Es hatte seine Richtigkeit mit diesem Untergang«, lautete sein Resümee. »Deshalb soll man ihn anerkennen.«

Wie anders noch im Mai 1944 das Argument im Völkischen Beobachter. Dort wollte der Kunsthistoriker Ernst Benkard den Ruinenrest als Mahnmal an die Verbrechen der Feinde verstanden wissen. Denn der habe sich mit seiner »Mordbrennerei … von der gesamten noch zivilisierten Welt eine Hypothek aufgeladen, die niemals zu tilgen sein wird«. Und geradeso wie die Ruine des Goethehauses sollten auch die Ruinen der Altstadt als ewige Anklage verstanden werden, »begleitet vom Fluch über all diejenigen, die Befehl gaben zur entmenschten Tat«. Über die eigenen »entmenschten« Bombardements solcher Städte wie Guernica, Warschau, Rotterdam, London, Coventry oder Belgrad verliert er keine Silbe. Ausdrücklich war die Frankfurter Altstadt von Hitlers Aufbauversprechen ausgenommen – im Hinblick auf Größeres, wie wiederum der Völkische Beobachter ausführte: »An Stelle der ehedem blühend-gesunden Stadt rückte also ein ›Forum Romanum‹, dessen Denkmäler inmitten anzulegender Grünflächen zu schauen wären. Selbst als Ruinen würden die Monumente noch ein für uns wehmütiges, für unsere Feinde dauernd beschämendes Zeugnis ablegen.«

Die Frage, was zu tun sei mit dem Platz, der einmal Altstadt war und nun ein freier Raum zwischen Dom und Römer, wurde indes zur schweren Hypothek für die Stadt Frankfurt.

2 Wo alles seinen Anfang nahm –

Die heiligen Mauern der Kaiserpfalz franconofurt

Die älteste Fotografie Frankfurts hängt in einem Leuchtkasten unter dem Stadthaus an der Wand und sieht aus wie eine Filmkulisse für Game of Thrones. Aufgenommen ist sie bei strahlendem Sonnenschein von Sachsenhausen aus über den Main hinweg: Vorne sieht man den Fluss samt einigen Booten und Stegen und am gegenüberliegenden Ufer die mächtige Pfalz, die Ludwig der Fromme dort Mitte des neunten Jahrhunderts hat errichten lassen. Es ist ein eindrucksvoller Komplex. Links die Königshalle samt ihrem klobigen Turm, wuchtig wie eine Festung, nicht allzu weit entfernt eine Basilika, von ähnlich wehrhaftem Charakter, und dazwischen, fast filigran, als Verbindung der beiden Gebäude eine Art Wandelhalle, aufgelockert durch nahezu ein Dutzend Bögen. Fenster sind rar in dem Gemäuer – und allesamt so schmal wie Schießscharten, was damit zu tun haben mag, dass Glas ein kostbares Gut gewesen ist in jenen Tagen. Zwar ist die Anlage umgeben von Palisaden, aber eingebettet in eine Umgebung, für die sich der Begriff des Idylls aufdrängt. Äcker, Felder und Weiden breiten sich aus bis an die dichtbewaldeten Hänge des Taunus am Horizont. Dazwischen liegen wie hingetupft ein Dutzend kleiner Siedlungen aus schilfgedeckten Holzhäuschen. Handwerker sind in ihren Werkstätten zu Gange. Einige Menschen bewirtschaften Beete. Ein Schäfer hütet seine kleine Herde. Auf Ochsenkarren transportieren Bauern und Händler ihre Waren über holprig gepflasterte Straßen. Einzig ein Zeltlager des Militärs erinnert daran, dass die Zeiten damals nicht immer friedlich gewesen sind.

Natürlich ist das farbige Panorama nur eine Simulation. Am Computer erstellt. Zusammengesetzt aus Tausenden kleiner Bilder, mit einer gehörigen Portion Phantasie, aber eben auch dem Wissen und den Schlüssen, die Archäologen aus einer Reihe steinerner Relikte gezogen haben, die man erst nach den Luftangriffen vom März 1944 unter den Trümmerfeldern der zerbombten Altstadt gefunden hatte. Schicht für Schicht wurde damals während der größten und wichtigsten Altstadtgrabung, die es in Deutschland je gegeben haben soll, freigelegt. Kellerwände mittelalterlicher Wohnhäuser konnten als karolingische Mauerfundamente identifiziert werden. Und darunter wiederum entdeckte man Reste eines römischen Schwitzbads samt einem Abwasserkanal, in deren Ziegel der Stempel der 14. Legion in Mainz gedruckt war. Die Anlage wird auf das Jahr 75 nach Christus datiert. Auch sie inspirierte die Forscher zu einem Bild: das einer römischen Straßenstation. Es hängt ebenfalls in einem Leuchtkasten unter dem Stadthaus an der Wand.

Hier ist die Ebene noch weitgehend ungenutzt. Am Ufer des Mains steht der massive Steinbau einer Herberge, daneben ein Stützpunkt der Militärpolizei, außerdem ein kleines Heiligtum. Und ebenjenes Badehaus, dessen Heizung man ausgegraben hat. Die Existenz der Holzbrücke, die auf dem Wasser dümpelt, ist wissenschaftlich nicht gesichert. Aber es wird vermutet, dass es eine gab. Denn die wichtige Nord-Süd-Verbindung zwischen den römischen Zentren Nida im heutigen Frankfurter Stadtteil Heddernheim und der Siedlung mit dem nur unvollständig erhaltenen Namen …MED…, dem heutigen Dieburg, verlief hier entlang. Bis der Name Frankfurt zum ersten Mal fiel, verging noch mehr als ein halbes Jahrtausend.

Dabei war der Domhügel, auch Dominsel genannt, schon seit der Jungsteinzeit bewohnt. Als leichte Erhöhung zwischen dem Main und dessen vermoortem Altarm, der Braubach, bot er auf einer Länge von etwa 325 Metern und einer Breite von 125 Metern inmitten einer sumpfigen Landschaft nicht nur Schutz vor Hochwasser, sondern auch den Zugang zur Furt durch den Main. Ihretwegen waren die Römer hier gewesen, etwa bis zum Untergang des Limes um 260 nach Christus. Wenig später nutzten Alemannen das, was von der Anlage noch zu gebrauchen war, bis sie Mitte des sechsten Jahrhunderts von den Merowingern vertrieben wurden. Selbst als aus der kleinen Siedlung rund um die Pfalz allmählich eine Stadt wurde, blieb deren Grundriss lange Zeit auf ebendiesen Domhügel zwischen dem Main und der Braubach beschränkt.

Das Land der Franken war ein Land ohne Hauptstadt. Die Könige reisten von Ort zu Ort oder genauer: von Pfalz zu Pfalz. Und als Karl der Große während eines acht Monate dauernden Aufenthalts hier im Jahr 794 mit hochrangigen Kirchenvertretern des Frankenreiches und weiteren tausend Teilnehmern die große Synode abhielt, mit Beschlüssen zu Religion, Wirtschaftspolitik und Rechnungswesen des Landes, benutzte er zum ersten Mal den Namen »franconofurd« auf einem der Pergamente: die Furt der Franken. Für die Stadt gilt das heute als ihr Gründungstermin, den Frankfurter Grundschüler mit dem Satz »Sieben, neun, vier – Frankfurt auf Papier« eingebleut bekommen. Und die Ruinen der Pfalz markieren ihren Geburtsort. Umso überraschender ist es, wie lange es gedauert hat, ihn gebührend zu präsentieren. Jahrzehnte lang war die Anlage nur ein Gewirr aus Mauern und Mäuerchen gewesen, das Kinder als Abenteuerspielplatz nutzten und Obdachlose als Ort für ihre Picknicks. 1972 als »Archäologischer Garten« eröffnet, sprach der Name dem Zustand mitunter Hohn. Nun werden die Mauerreste präsentiert wie das Heiligtum der Stadt. Und ja keineswegs zu Unrecht. Seit dem Sommer 2018 sind sie im Rahmen der Altstadt-Rekonstruktion überdacht vom Festsaal des neu errichteten Stadthauses und umrahmt von roten Sandsteinwänden, so dass man sich in einer riesigen Gruft fühlt. Es ist kühl dort unten. Aber nicht kalt. Nicht abweisend. Das liegt am Licht, das durch eine Reihe von Fenstern und Mauerdurchbrüchen von oben in die Kammer fällt. Bisweilen sorgt es für gespenstische Effekte.

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Zu verstehen ist die Präsentation nicht auf Anhieb. Ihr Herzstück, so wird gerne gesagt, sei die Königshalle. Aber das erweckt falsche Vorstellungen. Denn auch wenn die Architektur sich auf deren Längswand beziehen mag, und eine golden schimmernde Decke aus Messing mit ihrem Rautenmuster einen Festsaal simuliert, schieben sich auf den ersten Eindruck all die Relikte aus Antike und Mittelalter hier ineinander, dort übereinander. Die Säulchen, tönernen Bodenplatten, Natursteinmauern und verputzten Wände erwecken eher den Eindruck einer künstlerischen Installation, als dass man darin Gebäudeteile erkennen würde. Es handelt sich quasi um ein urbanes Palimpsest. Als wie fragil man es plötzlich einschätzt, zeigt sich darin, dass alles geschützt hinter Zäunchen und Mäuerchen steht, damit bloß niemand etwas davon berührt. Wie in einem Museum eben. So wertvoll sind der Stadt die Ruinen geworden. Und damit auch bloß niemand vergisst, wo er sich befindet, steht das Wort »franconoford« gleich sechsmal an der Wand: in unterschiedlichen Varianten, geradeso, wie der Name im achten Jahrhundert, vielleicht nur wegen Rechtschreibefehlern, in unterschiedlichen Urkunden auftauchte – und jeweils in den damals benutzten Lettern, von denen die karolingische Minuskel zur Grundlage der modernen Schrift wurde. Karl der Große hatte auch eine Bildungsreform angestoßen.

SOS

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Dass Stadthaus ist riesig, fast sechzig Meter lang und zwanzig Meter breit. Allerdings nimmt man das seiner kleinteiligen Anmutung wegen nicht wahr. Ausgewählt wurde der Entwurf des Architekten Thomas Meurer nach einem Wettbewerb, dessen Aufgabenstellung gehörige Anforderungen an die Teilnehmer stellte, ohne sie punktgenau zu formulieren. Denn zu einer Zeit, als die Rekonstruktion der Altstadt noch nicht gänzlich der Sphäre der Vision entrissen war, sollte das Gebäude zum Scharnier in einem äußerst heterogenen Umfeld werden und zwischen den verspielten Altstadthäusern, den kühlen Kolonnaden der postmodernen Schirn gegenüber und dem Dom vermitteln, der bei der Gelegenheit gleich noch einen erweiterten Vorplatz erhielt. Außerdem sollte das Haus den archäologischen Garten überdachen und die teils dramatischen Niveauunterschiede des Domhügels verbergen.

Weil offenblieb, was im Haus selbst passieren soll, oder wie man unter Architekten sagen würde, es kein Raum- und Nutzungsprogramm gab, wird man dem Entwurf vielleicht nicht einmal ungerecht, wenn man ihn eine Skulptur nennt. Man staunt, wie spielerisch Thomas Meurer mit den Materialien und Formen der Umgebung umgeht. Die mächtigen Giebel wirken wie eine Spiegelung des Hauses am Dom gegenüber. Während die Säulen den Säulengang der Schirn zitieren. Die schiefergedeckten, spitzen Satteldächer fügen sich ein in das Dächermeer der Altstadt. Und der rote Sandstein nimmt die Farbe des Doms und so vieler Frankfurter Gebäude auf, stammt aber von einem anderen Steinbruch, so dass sich die Oberfläche deutlich unterscheidet und der Fassade ihr eigens Wesen zubilligt. Fast wie Fußnoten erscheinen dagegen die wunderbaren Verzahnungen mit der Geschichte. Denn das Treppenhaus der angrenzenden Goldenen Waage schiebt sich in den archäologischen Garten wie ein Gruß der Gotik in die vorromanische Zeit. Und das goldene Dach über dem Festsaal, das so wunderbar im Sonnenlicht glitzert, spielt mit der Vorstellung der »Aula regia«, der alten Königshalle der karolingischen Pfalz im Tiefgeschoss des Gebäudes. Dies goldene Dach setzt Frankfurts Geburtsort eine Haube auf, die ihm würdig ist, vielleicht sogar eine Krone. Dabei entbehrt es nicht eines gewissen Charmes, dass man es in seiner gesamten Pracht nur von der Spitze des Domturms aus sehen kann. Noch so ein künstlerischer Effekt. Und noch so ein Beispiel für das Understatement in einer Bürgerstadt.

Die »Kaiserpfalz franconofurd« ist täglich von 10 bis 18 zugänglich. Der Eintritt ist frei.