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Barbara Messer

Mein Weg über
die Alpen

Eine Reise zu sich selbst und anderen

Mehr als ein Reisetagebuch

Edition Forsbach

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Tag 1  26. Juni:
Von Lenggries zur Tutzinger Hütte

Tag 2  27. Juni:
Von der Tutzinger Hütte nach Hinterriß

Tag 3  28. Juni:
Von Hinterriß zum Karwendelhaus

Tag 4  29. Juni:
Vom Karwendelhaus zur Hallerangeralm

Tag 5  30. Juni:
Von der Hallerangeralm nach Hall

Tag 6  1. Juli:
Von Hall zur Glungezerhütte

Tag 7  2. Juli:
Von der Glungezerhütte nach Hall

Tag 8  3. Juli:
Von Hall zur Lizumer Hütte

Tag 9  4. Juli:
Von der Lizumer Hütte nach Finkenberg

Tag 10  5. Juli:
Von Finkenberg zur Dominikushütte

Tag 11  6. Juli:
Von der Dominikushütte zum Pfitscher-joch-Haus

Tag 12  7. Juli:
Vom Pfitscherjoch-Haus nach Pfunders

Tag 13  8. Juli:
Von Pfunders zur Kreuzwiesenalm

Tag 14  9. Juli:
Von der Kreuzwiesenalm zur Würzburger Hütte

Tag 15  10 Juli:
Von der Würzburger Hütte zur Puezhütte

Tag 16  11. Juli:
Von der Puezhütte zur Pisciadùhütte

Tag 17  12. Juli:
Von der Pisciadùhütte zum Lago di Fedaia

Tag 18  13. Juli:
Vom Lago di Fedaia nach Alleghe 

Tag 19  14 Juli:
Von Alleghe zum Rifugio Tissi

Tag 20  15. Juli:
Vom Rifugio Tissi zum Rifugio Bruto Carestiato

Tag 21  16. Juli:
Vom Rifugio Bruto Carestiato zum Rifugio Pian de Fontana

Tag 22  17. Juli:
Vom Rifugio Pian de Fontana nach Belluno

Zur Autorin

Auswahl der Publikationen von Barbara Messer

Trainings, Coachings, Vorträge

Messers Alpentour in Bildern

 

Für meinen Vater Herbert Messer, den ich in seinen letzten Tagen und Stunden begleiten darf, während ich noch einmal an den Seiten des Buches feile.

In Gedenken an einen Mann, der mir die Liebe zu den Bergen vorgelebt hat und der ebenfalls ein Läufer war.
Aber auch ein echter Zausel!

Einleitung

„Doch, ich tu’s“, sagte ich zu mir selber, just als mich diese erst so verrückt klingende Idee beschlich. So einen Impuls, solch ein Vorhaben, wollte ich einfach nicht aufschieben.

Dazu ist es viel zu kostbar.

Und dann habe ich es einfach getan. Bereits nach wenigen Wochen der Vorbereitung bin ich losgestiefelt.

Denn es gibt so viele Gründe, über die Alpen zu gehen.

Bei mir waren es diese hier:

Nach einer turbulenten, intensiven Lebensphase

sehnte ich mich nach Ruhe und Natur.

Ich wollte gerne Zeit mit mir alleine verbringen,

aber auch dieses gesetzte Ziel erreichen.

Mir liegen die schlichten Abenteuer.

Natürlich ist es aufregend, auf den Malediven zu tauchen. Das aber lässt mein Budget zur Zeit nicht zu, und außerdem komme ich gerne aus eigener Kraft vorwärts. Wanderschuhe, Paddelboot und Fahrrad sind also heiß geliebte Begleiter meiner Touren.

Auf dieser Tour ging es mir darum, mich in die Natur hineinzubegeben, in ihr einen Platz zu haben, ihre Schönheit und Intensität in mir aufzusaugen, von ihr zu lernen und mich in ihr zurechtzufinden.

Wenn Sie möchten, dann folgen Sie mir auf dieser Wanderung. Sie dürfen mir gerne über die Schulter schauen und mich in den hellen, strahlenden und auch in den schweren Momenten begleiten. So sind Sie ganz herzlich willkommen, die kleinen und großen Abenteuer und Begegnungen mitzuerleben, ähnliches aber auch in Ihrem Alltag zu finden.

In diesem Buch geht es nicht nur ums Wandern. Vieles hat mit innerem Aufräumen, mit Nachdenken, Erinnerungen, Fragen und Antworten und auch mit sehr persönlichen Einblicken zu tun. Und zugleich ist es auch angereichert mit Impulsen zur Selbstführung. 

Vielleicht haben Sie nach dem Lesen des Buches sogar Lust bekommen, ein Stück dieser Tour mit mir zu gehen.

Mich hat diese Wanderung verändert, und ich werde immer wieder losgehen, auf die innere und äußere Reise, so lange ich das noch kann.

Ich freue mich, mit Ihnen ein Stück gemeinsam zu gehen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen!

Barbara Messer

Tag 1  26. Juni:
Von Lenggries zur Tutzinger Hütte

Die ersten 400 Meter sind gegangen. Jetzt merke ich, dass der Rucksack sich anders tragen lässt, als wenn ich ebenerdig gehe. Er ist schwer. „Habe ich zu viel mit?“, blitzt mir ein kleiner Schreck durch den Kopf. Ich beginne schon, anders zu atmen, nicht mehr so gleichmäßig. Auch das Schwitzen fängt schon an. Ich frage mich, warum es regnet. Natürlich weiß ich, warum es regnet. Aber warum muss es jetzt regnen? Und dann ist es noch ein bisschen dunkler am Himmel geworden.

Es ist seltsam – noch begleitet mich Nicola als meine Gefährtin, noch bin ich also nicht alleine. (Ich hatte sie nicht davon abbringen können, mich zu begleiten – und fand die Vorstellung sehr schön. Eine liebevolle, vertrauensvolle Einstimmung auf diesen Weg.)

Und dennoch merke ich, dass der Wind mich jetzt schon trägt, dass die Vorfreude groß ist, dass das Abenteuer auf mich wartet. Ja. Das stille Abenteuer wahrscheinlich, das feine, kleine. Ich habe die Route genau vor Augen. Ich weiß, wo ich lang will. Ich freue mich, auch bekannte Stellen zu treffen, wie den Passo Pordoi oder das Pustertal. Ja, und in mir ist Ruhe und Frieden, weil es nun losgeht. Was für ein köstlicher Zustand.

Die Unkenrufe – die inneren und die der anderen – stellen sich auch ein. Gert spricht seit Wochen immer wieder mit mir, wie gut es wäre, noch mehr Gewicht (im Rucksack) zu reduzieren und das Zelt zu Hause zu lassen. Gert ist einer meiner guten Freunde. Oft gar nicht so sichtbar, aber wenn es drauf ankommt, dann ist er da – liebevoll, fürsorglich, verbindlich und klug. Er hat mir vom Zelt abgeraten, eben weil er diese Route selbst gegangen ist, nur andersherum.

Einige Menschen im Schuhgeschäft hatten gesagt: „Noch eine Nummer größer!“, und plötzlich habe ich das Gefühl, ich hätte meine Wanderschuhe doch größer nehmen sollen. Da ich aber Männerschuhe trage (bei Schuhgröße 43 scheiden Damenmodelle seit Jahrzehnten ganz schnell aus), dürfen sie auch nicht zu weit sein. Und so sind es diese und jene und andere Gedanken, auch meine ganze Ideenflut, all die „To-dos“ zum Beispiel, die mein inneres Kopfkarussell in den letzten Tagen ausmachten. Da dreht es sich und dreht sich und dreht sich. Da ist auch der Abschied von meiner Katze, der mir nahe ging. (Ob sie weiß, dass wir uns jetzt lange nicht sehen? Gesagt hatte ich es ihr, aber ich war mir nicht sicher, ob das reicht.) Und dennoch bin ich mir sicher, dass wir sehr verbunden sind mit unseren beiden Seelen, meine Katze und ich.

Meine Tochter, schon fast erwachsen, weiß ich in ganz sicherer Obhut, da kann nichts passieren. Das Band zwischen ihr und mir ist fest und leicht zugleich. Wenn man sich liebt, muss man sich freilassen können, geht es mir ganz stark durch den Sinn. Und auch in einer Partnerschaft, wie die, in der ich bin, ist es wichtig, sich Freiräume zu geben, damit sich jede so entwickeln kann, wie es ihre Aufgabe zu sein scheint oder ist. Das alles ist gerade jetzt im Anfangstaumel noch nicht klar, nur so angedacht. Bei den ersten Wanderschritten tauchen diese Gedankenschnipsel auf. Ich bin neugierig, wie dieser Tag werden wird. Ich bin neugierig, wie dieser erste Anstieg, der nun steil vor mir liegt, werden wird. Und ich weiß nicht, wo ich heute Nacht mein Lager aufschlage, um zu schlafen. Vielleicht gehe ich sogar die 20 km bis Jachenau durch und fläze mich gemütlich in einen Gasthof. Oder ich bleibe auf der ersten Hütte oder zelte an den Wasserfällen. Fragen, Gedanken. Noch keine Antworten. Alles noch so frisch, so ungewohnt, so fremd auch.

Komme ich heile wieder? Bleibe ich am Berg? Stürze ich? Werde ich massive Verletzungen haben? Gehe ich verloren? Was ist, wenn ich solch eine Angst bekomme, dass ich nicht weiter weiß? Was ist, wenn ich gar nicht mehr zurück will?

Ist das hier eine Heldenreise? Eine Reise, ein Aufbruch in eine neue Welt? Neue Herausforderungen finden, suchen, bewältigen?

Warum gehe ich überhaupt los?

Ich will eine Zeitlang für mich alleine sein, Stille spüren und erleben. Ruhe, immer wieder fällt mir dieses Wort dazu ein, die tiefe Ruhe. Ohne das normale Alltagsgewusel. Ruhe in mir und Ruhe im Außen. Ruhe geht für mich mit Stille einher, sie gehen Hand in Hand. Stille ist nicht die Abwesenheit von Lärm, Stille hat für mich auch so etwas wie Innehalten, Anhalten, Verweilen. Ich liebe die Natur in all ihrer Vielfalt und möchte davon so viel wie möglich erleben. Am liebsten möchte ich mich 24 Stunden am Tag und in der Nacht in ihr bewegen und aufhalten. Und am liebsten möchte mich unauffällig, sicher und auch spurenlos in ihr verhalten. So sicher, als sei ich kundig, wissend, wie es geht.

Auch in den Bergen, die mir – trotz mehrfacher alpiner Wanderungen und Radtouren über hohe Alpenpässe – immer noch ein wenig fremd sind. Insbesondere dann, wenn es nicht das Bilderbuchwetter ist, das aus den Prospekten der Fremdenverkehrsämter hervorblitzt.

Ich möchte auf der Erde gehen, ein Stück Weg mit den Füßen hinter mich bringen. Romantisch ausgesprochen könnte ich sagen, dass ich auf ihr wandeln möchte. Ich möchte die Erdkugel ein bisschen „bewegen“, unter mir drehen, ähnlich wie ein Seehund, der, auf einer Kugel sitzend, noch einen bunten Ball auf der Nase drehend, die große Kugel unter sich zum Drehen bringt. Ich weiß, dass ist eine romantische Vorstellung, eine kindliche Bilderbucherinnerung.

Und ich möchte wissen, ob ich dieses gesetzte Ziel, in drei Wochen von Lenggries nach Belluno zu Fuß zu gehen, erreichen kann.

Gelingt es mir, diese Wanderung mit all den Höhen und Tiefen zu bewältigen? Bin ich in der Lage, so lange alleine all die Herausforderungen anzunehmen? Schaffe ich es, diesen Traum zu realisieren? Kann ich mich selber überraschen, dass es sogar besser wird, als ich es mir in all den Monaten der Vorbereitung ausgemalt habe?

Und natürlich möchte ich meine Widerstandskraft stärken, meine Resilienz. Resilienz ist etwas, was mich schon von klein auf beschäftigt, auch wenn es damals natürlich nicht so hieß. Weitermachen, auch wenn es schwierig wird. Nicht gleich aufgeben. Fallen, scheitern, aufstehen mit einer neuen Haltung. Ich verspreche mir intensive Einsichten und Erfahrungen, wenn es den Berg hinauf geht, wenn es schwer wird oder wenn ich am liebsten aufgeben möchte. Auf was genau greife ich dann zurück? Welche innere Quelle kann ich anzapfen? Woher nehme ich die Kraft oder Fähigkeit, weiterzumachen, voranzugehen?

Ich möchte mich noch mehr innerlich sortieren, mit Abstand und Weite im Blick und im Herzen auf die letzten Jahre blicken. Es waren überwiegend schwere Jahre, die mich haben altern und auch reifen lassen. In denen ich aber auch das Glück und die Tiefe noch einmal neu erleben durfte!

Die Schwere in ihrer Intensität hat mich geformt, sie hat mich erleben lassen, wie wenig ich wirklich brauche. Sie hat mich gelehrt, dass ich Minimalismus als einen wesentlichen Weg zu mir selbst betrachte. Unnötiges braucht nicht mehr abzulenken. Das Wesentliche ist direkt sichtbar, begreifbar, erlebbar. Ich habe erfahren, dass Menschen mir Materielles nehmen können, aber nicht meine inneren Gaben und Werte. Meine Inspiration, mein Mut, meine Liebe und Hingabe, mein Freiheitswille, meine Spontanität und Flexibilität sind nur einige der Geschenke, die ich dabei gewonnen habe.

Und diese Tour, diese neue Heimat in meinen Wanderschuhen und dem Zuhause im Rucksack, wird mich sicher lehren, dass es noch weniger braucht, als ich bisher dachte, um glücklich zu sein.

Beim Hinaufsteigen schweift mein Blick. Die Natur, hier noch gar nicht spektakulär, eher bescheiden und schlicht, breitet sich aus. Blumen, Bäume und Schnecken, Vögel, Steine.

Erinnerung: „Schnecken“

Als kleines Mädchen habe ich, wie wohl viele Kinder, Schnecken gesammelt, um sie dann anschließend in Schuhkartons zu sperren. Dort beobachtete ich sie, während ich ihnen Blätter zu essen gab, über Stunden (Fernsehen war noch nie wirklich meines) und staunte über das Phänomen, dass sie ihr Haus immer dabei haben. Damit sind sie unabhängig. Sie müssen keine Wäsche waschen, das Haus nicht großartig säubern. Es ist immer da, sie können einfach den Kopf einziehen und haben ihre Ruhe. Wenn es regnet, werden sie nicht nass.

So hockte ich versunken vor dem kleinen Kasten, bis mich meine Oma wieder in den Alltag zurückholte, nicht ohne mich zu bitten, die Schnecken auch wieder freizulassen.

Ähnliches machte ich übrigens auch mit Fröschen. Aber da war ich schon älter. Voller Freude fuhr ich auf meinem goldenen Fahrrad zu meinem Lieblingsbach, am Lenker schaukelte eine der Alumilchkannen, die es früher gab. Dann stand ich glücklich mit meinen Gummistiefeln im Bach, sammelte die Frösche ein, steckte sie alle in meine Milchkanne, um sie dann zu Hause in verschiedene Eimer und Schüsseln freizugeben. Natürlich war das keine Freiheit für einen Frosch. Mein Interesse, sie zu beobachten, war aber größer, sodass ich darüber gar nicht nachdachte.

Allerdings ermahnte meine Mutter mich, die Frösche wieder zurückzubringen. Wahrscheinlich mochte sie mein kleines Biotop, welches ich in meiner Zimmerhälfte oder im Wäschekeller unterbrachte, nicht wirklich. Sicher war ihr auch bewusst, dass mein Handeln eine Art Tierquälerei war. Meist gab ich nach und fuhr dann anderntags die Frösche zurück. Und brachte neue mit nach Hause.

Da sind sie schon, die Erinnerungen, die mich hier einholen.

Aber schneckenähnlich fühle ich mich jetzt. Ich habe das Haus, meinen Rucksack, dabei.

Dieser Moment ist per se schon eine Einladung, einen Satz (oh, es werden mehrere) auszusprechen, der in die Kategorie „Kalendersprüche und Lebensweisheiten“ gehört.

Nun denn, raus damit. Vielleicht werden sie sogar zu einer Art Wandermantra oder begleitendem Stern.

„Wer frei ist, kann überall daheim sein.“

„Unterwegs bin ich mir nah.“

„Je weniger du besitzt, desto reicher bist du.“

„Wenn du im Herzen bist, bist du überall zuhause.

Du bist dein Zuhause.“

Fragen und Gedanken kommen und gehen. Auch die Frage nach dem selbst auferlegten Minimalismus.

Gelingt es mir auf solch einer Tour, den üblichen Luxus zu hinterfragen, darauf zu verzichten?

Wozu neige ich in den schwachen Momenten? Zur Hüttenübernachtung, dem Zelt oder einem 4-Sterne-Hotel? Was brauche ich an Essen, an Abwechslung? Reichen die zwei Unterhemden? Klappt es mit dem einfachen Wasser, der Vorstellung, in Gebirgsbächen zu baden, dem täglichen Wäschewaschen?

Es ist nicht der ultimative Kick, den ich mir hier holen will. Es geht mir nicht um spektakuläre Klettersteige, um all die Stempel in einem Gipfelbuch, um für andere beeindruckende Selfies auf hohen Gipfeln zu machen. Es ist eher eine Sehnsucht nach Abenteuer, nach einem kurzen Ausstieg, einer Auszeit. Oder noch besser gesagt, nach einer In-Zeit, einer Zeit mit mir. In mir.

Ich suche Begegnungen mit der Natur, den Tieren, ich möchte in Blumenwiesen baden, Himmelsblau aufsaugen und Steine in meinen Taschen sammeln, die ich auf dem Wege finde.

Ich möchte meine Beine in den Wanderschuhen dahinstiefeln sehen, wenn ich nach unten schaue. Ich möchte in rot-weiß-karierter Bettwäsche schlafen, mit Blick auf eine morgenrotgetränkte Bergwand aufwachen. Ich will mit Murmeltieren Freundschaft schließen, ein Edelweiß sehen. Knödel essen und Enzian trinken. Nackt in Bächen baden und Adler sehen.

Ich möchte Menschen treffen, die eine ähnliche Sehnsucht haben, die es ähnlich in die Welt treibt. Vielleicht ein Stück gemeinsam gehen, vielleicht merken, dass es alleine schöner ist. Oder sogar beides. In Übereinstimmung mit mir und mit anderen sein. (Das ist doch, wenn ich ehrlich bin, eine der tiefsten Sehnsüchte von uns Menschen.)

Am liebsten möchte ich einen Abend mit Reinhold Messner verbringen und ihm zuhören, wenn er von seinen Touren, seinen Träumen und seiner Vision erzählt. Von ihm lernen, wenn er von den schweren Momenten, dem Scheitern, den Ängsten und den Höhenflügen erzählt. Oder sogar eine Tour mit ihm gehen, um hinterher müde und friedlich auf den gewonnenen Tag zu schauen.

Den anderen Abend möchte ich mit Hape Kerkeling verbringen, mit ihm flüchten, wenn es doof wird. Mit ihm reden, über Alltägliches, über den Genuss und die Freude am Alleinsein. Er kennt ihn ja auch, diesen Zustand, inmitten von Menschenmengen zu sein, um dann wieder Kraft im Alleinsein finden. – Sehr gerne möchte ich mit ihm einen Rotwein trinken oder auch eine ganze Flasche, um ihm zuzuhören, wie es ihm gelungen ist, dazu zu stehen, einen gleichgeschlechtlichen Menschen zu lieben. Ich möchte ihn einfach kennenlernen. Von daher ist er so etwas wie mein heimlicher Begleiter. Er weiß nichts davon, das ist gut so.

Nun ist es später. Drei oder vier Stunden bin ich jetzt unterwegs. Jetzt bin ich alleine. Kuhglocken, Regen, zwei Kleeblätter. Tränen in den Augen und ein mühevolles Loseisen von Nicola, meiner Gefährtin, die mich bis zur ersten Station Brauneck begleitet hat, liegt hinter mir. Welch eine liebevolle Geste von ihr, ein herzliches Geleit, um mir den Start zu verschönern.

Bei diesem Abschied spürte ich dann ein leise klopfendes Gefühl im Herzen: Werden wir uns wiedersehen? Komme ich heile an? Was passiert, wenn nicht, wenn ich zurückbleibe, nicht ans Ziel komme, weil ich verunglücke? Wie werde ich hinterher sein? Werde ich anders sein?

Zugleich war dieser Abschied schön, aufregend, bewegend – trotz des andauernden Regens. Das erste Mal so lange alleine und voller Neugier, wie es wird. Erstaunlicherweise geht es gerade abwärts und ich hoffe, mein Weg stimmt. Meine Zuversicht ist groß und irgendwie ist mein Herz schwer und doch leicht zugleich, während ich hier durch nasse Kuhfladen latsche. Ich bin glücklich und stolz, aufgebrochen zu sein.

Es ist heute nicht wichtig, wie die Aussicht ist, weil ich im Regen sowieso nichts sehe. Und schon in den ersten Stunden bergauf haben mich viele Sachen umgetrieben. Das Lied „Die Moorsoldaten“ mit dem Refrain „… wir ziehen mit dem Spaten ins Moor“ ging mir immer wieder durch den Kopf, als ich mühsam den Berg hinaufstieg. Alles war nass. Mir lief das Wasser überall lang, und ich konnte zumindest zu einem winzigen Bruchteil nachempfinden, wie schwer es diesen Moorsoldaten ergangen ist. Das Lied der Moorsoldaten habe ich schon als Jugendliche geliebt, oft habe ich die Melodie gesummt. Ich erinnerte mich an das Lied, an die Zeit, als ich es das erste Mal hörte. Damals war ich sehr aktiv in der Friedensbewegung und konnte es immer wieder kaum fassen, was Menschen in Konzentrationslagern von Menschen angetan worden ist.

Auf vielen Ostermärschen haben wir es früher gesungen, in dem Wissen, was andere erleiden mussten und müssen. Das Lied war mir wichtig, weil es mir deutlich machte, dass es so viel Leid auf der Welt gibt. Damals, mit 14 oder 15, konnte ich mich der Ahnung des Ausmaßes dieses Leides nur schrittweise nähern. Auch jetzt kann ich es kaum fassen.

Heute Mittag war es schon in meinem Sinn, jetzt taucht der Satz erneut auf: Je weniger wir besitzen, desto reicher sind wir.

Abends in der Hütte resümiere ich diesen Tag. Meinen ersten Tag. Mein Einstieg in die Route, die jetzt für 21 Tage mein Zuhause sein wird.

Aber jetzt? Knödel und Weißbier in einer lauten Hütte. Jetzt weiß ich wieder, warum ich Hütten meiden wollte. Es ist einfach laut nach diesen eindrücklichen Stunden der Wanderung, den Stunden draußen alleine. Gut, der Körper verlangt nach einer Dusche, der Geist nach Schlaf. Der Magen braucht Nahrung. Und ich brauche auch so etwas wie Sicherheit, Schutz, Obhut.

Die Eindrücke aus der Natur versuchen noch in mir nachzuhallen – was in Anbetracht des Lärmes hier nicht leicht ist. Ich bin voller Bilder – dreidimensional – als sei ich inmitten eines Filmes.

Das war mein erster Tag:

Beeindruckend waren die Tiere, die ich vor meinem inneren Auge noch einmal Revue passiere lasse.

Neun von diesen schönen schwarzen Salamandern, also Feuersalamander ohne gelbe Flecken.

23 oder 24 Schafe, die plötzlich auf dem Wege standen. (Ich war mir schon sicher, dass es ihr Berg ist, nicht meiner. Sie erlaubten mir jedoch freundlich das Durchschreiten ihrer Herde.)

Insgesamt sechs Steinböcke. Davon ein Paar, das kopulieren wollte, als ich ihren Weg kreuzte.

Diverse Schnecken aller Art, Kühe mit und ohne Glocken um den Hals, Vögel, Regenwürmer.

Berge konnte ich aufgrund des Nebels und der Regenwolken nicht sehen. Ich konnte meist nur etwa 5 bis 10 Meter weit sehen. Im Nachblick viel zu riskant. Somit ein heftiger und unliebsamer Einstieg in diese Tour. Nun ja. So kann ich meine mentale Ausdauer üben. Das hört sich vielleicht ironisch an, das ist es auch ein wenig. Aber wer weiß, was noch alles kommt 

Bereits der erste Anstieg, der steil und lang war, brachte zu allem noch den Regen hinzu und verhalf mir recht schnell, so eine Art Gleichmut oder Gleichgültigkeit zu entwickeln, mit der ich hochstieg. Trott pur. Unverhofft begann ich, vor mich hin zu summen. Die ersten Fragen suchten nach Antworten. Ich bin super ausgerüstet. Gleich heute bei Regen und der ersten anspruchsvollen Route erwies sich alles als gut. Abends ein Bett, eine warme Dusche und ein warmes Essen. Ganz anders als Menschen, die bei Frost und Schnee im Moor gearbeitet haben. Ohne Heimat, ohne Wärme, ohne Sicherheit.

Auf dem ersten Stück der Wanderung konnte ich noch auf den Luxus der zivilisierten Welt zurückgreifen. Am ersten Halt, der Seilbahnstation in Brauneck, konnte ich meine durchnässte Kleidung in einem dieser Turbo-Händetrockner trocknen. Dies begriff ich als Erleichterung, denn so hatte ich flugs wieder trockene Kleidung. Und es war lustig, ich lachte lange über diese Situation.

Hier gab es kleines Picknick und den Abschied von meiner Gefährtin, die mich dieses erste Stückchen noch begleitet hatte. Ab dann war ich alleine unterwegs – ein komisches Gefühl. Zumal ich durch den Nebel kaum noch etwas sah. Aber ich ging einfach los.

An einer Weggabelung, vor den beiden Wegweisern mit demselben Ziel stehend, entschied ich mich für den kürzeren Weg, der aber dann extrem anspruchsvoll war. Auf den Wanderführer, der regenbedingt weiter weg verpackt war, griff ich nicht zurück, um die Route noch einmal abzuklären. Zwischendurch hatte ich das dann extrem bereut, weil die nun folgende Tour – auch im abendlichen Rückblick – als Einstieg in den ersten Tag viel zu gefährlich war. Extreme Nässe, erste Klettersteige, an denen ich mich an einem Drahtseil festhalten musste, um auf- oder abzusteigen. – Das war ungewohnt, befremdlich, komplett ungemütlich.

Auch jetzt noch, hier am Tisch in der warmen, trockenen Hütte sitzend, erschauere ich vor Ehrfurcht, aber auch vor Angst, denn dieses Auf und Ab war nicht ohne. Es war mir, ehrlich gesagt, viel zu gefährlich. Aber jetzt bin ich sicher hier. Vermutlich wäre ein Umkehren auch nicht passend gewesen. Wo wäre der „Point-of-no-return“ gewesen?

Es war meiner Meinung nach unvernünftig, denn ich hätte auch wissen müssen, dass ich so ziemlich die Letzte bin, die an diesem Tag auf dieser Tour ist. Es gab Dauerregen. Ich habe ein zu schweres Gepäck, weil ich ein Zelt mit mir herumtrage. Ich habe auch noch Proviant (Lieblingstofu, Joghurt, leckere Riegel, Obst etc.) dabei, und es war dann ganz schön haarig, weil ich mehrfach ausgerutscht bin. Dabei bin ich sogar auf mein – jetzt schon so geliebtes – rotes Regencape getreten.

Es gab kaum Sicht. Nur Nebel. Zwei Meter vor mir, zwei hinter mir. Wahrscheinlich war es gut, dass ich nicht sehen konnte, wie steil es an den einzelnen Spitzen der Achselköpfe (so hieß dieser Teil der Tour) abwärts ging. Ich wäre wahrscheinlich schlotternd stehengeblieben, nicht mehr vor und nicht mehr zurück, störrisch vor Angst wie ein Esel, der nicht mehr weiter mag. Dennoch trieb es mich weiter, weiter und weiter. Bloß irgendwo ankommen, wo Menschen sind.

Tage später hielt ich in einer Hütte einen Bildband der Route „München – Venedig“ in den Händen. Dort sah ich zum ersten Mal diese Landschaft und die bizarren Achselköpfe, durch die ich heute „gekrabbelt“ bin. Ich war beeindruckt – allmählich und ganz sicher entstand das Gefühl in mir, es sollte noch ein nächstes Mal geben.

Eher wäre mir jetzt nach Ruhe, als dem Lärm der „UNO“ spielenden Jugendgruppe und all den anderen, die von ihren bisherigen Wandererfolgen erzählen, unweigerlich zu lauschen. Still ist ein Paar am Tischende. Sie sitzt da, friedlich Knödel und Suppe essend. Er schaut auf die Wanderkarten vor ihm und sein Bier. Er trägt ein Finisher-Marathon-T-Shirt.

Auf das Tragen dieser „Statussymbole“ hier in den Bergen war ich nicht vorbereitet. Gut, es ist Funktionskleidung, die aber noch den Nebeneffekt hat, Lebensereignisse zu verankern oder zu erinnern, auf die die Menschen stolz sind. Schamvoll erinnere ich mich, dass ich sie manchmal auch trage, sie waren sogar meine Hauptbekleidung beim Erradeln diverser Alpenpässe vor zwei Jahren. Ein wenig Angeberei war damals dabei, muss ich mir eingestehen.

Meinen klatschnassen Regenponcho hänge ich in den Schuhraum gleich vorne am Eingang der Hütte. Da entdecke ich auch die Mülltüten aus kompostierbarem Material. Auf ihnen ist zu lesen, dass jeder Wanderer mit dieser Tüte bitte seinen eigenen Müll wieder nach unten ins Tal tragen solle. Klasse. Was für eine erzwungene Verantwortungsübernahme. So werden wir aufgefordert, unseren Müll zu tragen! Der Hüttenwirt muss selbst genug Müll über Seilbahnen oder Hubschrauber abwärts transportieren lassen.

Mir kommt der Gedanke in den Kopf, wie einfach das Leben sein könnte.

Jetzt ist der Abend „spät“, es geht auf 20.30 Uhr, bald ist Schlafenszeit auf der Hütte. Ich schaue noch einmal hinaus und bin total erstaunt, wie schön es draußen ist. Ich hatte heute nur Nebel und Wolken erlebt. Von der Einmaligkeit und Eindrücklichkeit dieser Bergwelt hatte ich vorher kaum etwas geahnt. Der Regen hat aufgehört, ich kann einen Eindruck der abendlichen Landschaft aufnehmen.

Dieser Tag war ein großer Sprung zwischen den Welten. Ganz früh am Morgen hatte ich noch die letzten Seiten an einem Buch überarbeitet und an den Verlag geschickt – während ich eine friedliche Stimmung spürte im heimeligen Bett, die Katze auf meinen Füßen schnurrte und der Regen aufs Dach des Wohnmobils prasselte. Und nun – wenige Stunden später – sind Arbeit und all die daraus resultierenden Projekte schon weit entfernt.

Facebook ist etwas, was schon jetzt seinen kompletten Reiz verloren hat. Auch das Handy hat keinen Empfang mehr. Allerdings bin ich zu müde, um noch Rauchzeichen zu geben, dass ich gut angekommen bin.

Neben den Moorsoldaten habe ich noch zwei Lieder im Sinn, eines davon als spontane Eingebung in Angesicht meines ersten Enzians: „Ja, ja, so blau, blau, blau, blüht der Enzian …“ – ein Lieblingslied meiner Oma. Dicht gefolgt von „Hoch auf dem gelben Wagen“, ebenfalls ein Lieblingslied meiner Oma. Beide Lieder habe ich heute mehrfach innerlich gesungen. Eigenartig, welch Gedanken- und Erinnerungsschnipsel sich in diesen wenigen Stunden bereits einstellen.

Meine wesentlichste Erkenntnis nach diesem zügigen Einstieg in die faszinierende Welt der Alpen:

Mir ist nach Stille. Die Natur lädt mich ein. In einem Bildband über Berge und Hütten lese ich wieder von „Biwakschachteln“, also schlichten Hüttchen oder Containern, die in der Bergwelt einfachen Unterschlupf bieten. Die werde ich suchen oder Plätze zum Zelten. So denke ich mir das jetzt hier.

Und nun, um 21.15 Uhr, wird die Schankstube leerer, neben mir sitzt noch ein Pärchen aus Neuseeland. Ich helfe ihnen beim Fotoshooting, um ihren gemeinsamen Moment auch bildlich einzufangen.