Über Deborah Levy

Foto: © Sheila Burnett

Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u.a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Heim schwimmen (2011) und Heiße Milch (2016) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.

 

Die Übersetzerin

Barbara Schaden hat in Wien und München Romanistik und Turkologie studiert und etliche Jahre als Verlagslektorin gearbeitet. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Siddharta Mukherjee, Umberto Eco und Fleur Jaeggy.

Fußnoten

1 II, 2.

Marguerite Duras, Das tägliche Leben

Big Silver

Ein Happy End hängt ganz davon ab, wo wir die Geschichte enden lassen, meinte Orson Welles. An einem Abend im Januar saß ich in einer Bar an der Karibik-Küste Kolumbiens, aß Kokosreis mit Fisch, und am Tisch neben mir war ein braungebrannter tätowierter Amerikaner. Er war Ende vierzig, hatte mächtige Muskelarme und sein Silberhaar zu einem Knötchen am Hinterkopf zusammengezwirbelt. Er unterhielt sich mit einer jungen Engländerin, die neunzehn sein mochte. Sie hatte erst für sich gesessen und gelesen, war aber, nach anfänglicher Unschlüssigkeit, der Einladung an seinen Tisch gefolgt. Zuerst bestritt er das Gespräch allein. Nach einer Weile unterbrach sie ihn.

Was sie sagte, war interessant, eindrücklich und merkwürdig. Sie erzählte, dass sie in Mexiko tauchen gewesen war, und als sie nach zwanzig Minuten wieder an die Oberfläche kam, tobte über dem Wasser ein Unwetter. Das Meer war in brodelndem Aufruhr, und sie hatte

Er sagte: »Du redest gern, oder?«

Sie schwieg nachdenklich, kämmte währenddessen mit den Fingern ihre Haarspitzen und beobachtete zwei Jugendliche, die auf dem kopfsteingepflasterten Platz den Touristen Zigarren und Fußballshirts verkauften. Es war anscheinend nicht so einfach, diesem sehr viel älteren Mann klarzumachen, dass die Welt auch ihre Welt war. Er war ein Risiko eingegangen, als er sie an seinen Tisch eingeladen hatte. Immerhin brachte sie ein ganzes eigenes Leben, eine eigene Libido mit. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich nicht für die Nebenfigur und ihn für die Hauptfigur halten könnte. Insofern hatte sie eine Grenze in Frage gestellt, eine soziale Hierarchie zum Einsturz gebracht, gegen die üblichen Rituale verstoßen.

 

Nach einer Weile sagte er: »Ich mag Tauchen nicht. Nur für Gold ginge ich tief unters Wasser.«

»Oh«, sagte sie. »Witzig, dass du das sagst. Gerade dachte ich, mein Name für dich wäre The Big Silver.«

»Wieso Big Silver?

»So hieß das Tauchboot.«

Er schüttelte den Kopf, verblüfft, und verlagerte seinen Blick von ihren Brüsten zu der Leuchtanzeige an der Tür, auf der »EXIT« stand. Wieder lächelte sie, aber es war kein echtes Lächeln. Wahrscheinlich war ihr klar, dass der Aufruhr, den sie von Mexiko nach Kolumbien mitgebracht hatte, nach Beschwichtigung verlangte. Sie entschied sich, ihre Aussage zurückzunehmen.

»Nein, Big Silver wegen deinen Haaren und dem Brauenpiercing.«

Sie zahlte und bat ihn, das Buch aufzuheben, das er auf den Boden befördert hatte. Dafür musste er sich unter den Tisch bücken und mit dem Fuß danach angeln. Es dauerte eine Weile, und als er mit dem Buch in der Hand wieder auftauchte, war sie weder dankbar noch unhöflich. Sie sagte lediglich »Danke«.

Während die Kellnerin Teller mit Krebsscheren und Fischgräten abräumte, musste ich an ein Oscar-Wilde-Zitat denken: »Sei du selbst; alle anderen sind bereits vergeben.« Auf sie traf das nicht ganz zu. Sie musste Freiheiten für sich in Anspruch nehmen, die einem Big Silver selbstverständlich waren – ihm fiel es schließlich nicht schwer, so zu sein, wie er war.

Du redest gern, oder?

Über unser Leben zu reden, wie wir es empfinden, ist eine Freiheit, die wir uns meistens verbieten, aber ich hatte den Eindruck, dass die Worte, die sie sagen wollte, in ihr brodelten und ihr selber so rätselhaft waren wie allen anderen.

 

Später, als ich schreibend auf meinem Hotelbalkon saß, dachte ich darüber nach, wie sie den sich treiben lassenden Big Silver aufgefordert hatte, zwischen den Zeilen ihrer unausgesprochenen Kränkung zu lesen. Sie hätte die Geschichte mit der Beschreibung des wundersamen Unterwasserlebens in der stillen Tiefe vor dem Unwetter

Der Sturm

Windstille. Sonnenschein. Ich schwamm unter Wasser. Und als ich zwanzig Jahre später wieder auftauchte, stellte ich fest, dass ein Unwetter ausgebrochen war, ein brodelnder Aufruhr, und ein wütender Sturm peitschte Wellen über mir auf. Zuerst war ich nicht sicher, ob ich es noch zum Boot schaffen würde, dann wurde mir klar, dass ich es nicht zum Boot schaffen wollte. Chaos sei das, was wir am meisten fürchten, heißt es oft, aber ich glaube heute, insgeheim ist das Chaos unsere größte Sehnsucht. Wenn wir nicht mehr überzeugt sind von der Zukunft, die wir planen, nicht von dem Haus, für das wir uns verschuldet haben, nicht von dem Menschen, der neben uns schläft, dann kann es schon sein, dass uns ein Unwetter (das sich seit langem am Himmel zusammenbraut) der Person näher bringt, die wir in der Welt gern wären.

Das Leben bricht auseinander. Wir versuchen es in die Hand zu nehmen, versuchen es zusammenzuhalten.

 

Als ich um die fünfzig war und mein Leben eigentlich einen Gang hätte zurückschalten, stabiler und vorhersehbarer werden sollen, wurde alles schneller, instabiler, unvorhersehbarer. Mein Boot war meine Ehe, und ich war sicher, dass Zurückschwimmen Ertrinken bedeuten würde. Meine Ehe ist auch das Gespenst, das für immer durch mein Leben spuken wird. Meine Sehnsucht nach dauerhafter Liebe, die ihre Protagonisten nicht kleiner macht, als sie sind, wird mich mein Leben lang begleiten. Bestimmt war ich nicht oft Zeugin einer Liebe, die das alles zustande gebracht hätte – also ist mein Ideal womöglich ohnehin nur ein Phantom. Welche Fragen stellt mir das Phantom? Es sind jedenfalls politische Fragen, aber Politiker ist das Phantom nicht.

 

Auf einer Reise durch Brasilien sah ich einmal eine Raupe, die so dick wie mein Daumen war und sehr farbenfroh: Sie trug ein symmetrisches Muster aus blauen, roten und gelben Quadraten und sah aus wie ein Werk von Mondrian. Ich traute meinen Augen nicht. Noch seltsamer war, dass sie zwei Köpfe zu haben schien, einen vorn und einen hinten, beide knallrot. Ich musste sie immer wieder ansehen, um mich zu vergewissern, dass mein Eindruck wirklich stimmte. Vielleicht war mit meinem Kopf nicht

 

Wenn die Liebe Sprünge bekommt, dringt die Nacht ein. Und die dauert endlos. Sie ist voller zorniger Gedanken und Vorwürfe, und die quälenden Selbstgespräche verstummen auch nicht, wenn es hell wird. Das war für mich eigentlich das Schlimmste: dass meine Gedanken quasi beschlagnahmt waren und nur noch um IHN kreisten. Das war nichts weniger als eine Besitzergreifung. Mein privates Unglück wurde mir zum ständigen Begleiter – wie Beckett meinte, als er schrieb, Leid wachse sich zu etwas aus, »das man lebenslang erweitern kann … wie eine Briefmarken- oder Eiersammlung«.

 

Wer sind wir, wenn wir keinen Namen haben?

 

Ich weinte wie eine Frau, als klar war, dass meine Ehe am Ende war. Ich habe schon einen Mann wie eine Frau weinen sehen, aber habe ich je eine Frau wie einen Mann weinen sehen? Den Mann, der wie eine Frau weinte,

Ich hatte das Gefühl, dass er in dem Moment für uns alle mitweinte. Die anderen weinten mit mehr Zartgefühl für ihre Umgebung. Als ich mich später beim Leichenschmaus mit ihm unterhielt, sagte er, dieser Tod habe ihn erkennen lassen, dass sich in seinem eigenen Leben »die Liebe ins Gästebuch eingetragen hat, aber nie eingezogen ist«.

Was habe ihn nur daran gehindert, mutiger zu sein, fragte er. Währenddessen nippten wir an exzellentem irischem Whiskey, einer Lieblingsmarke des außergewöhnlichen Mannes, den wir begraben hatten. Ob er und der Verstorbene ein Liebespaar gewesen seien, wollte ich wissen. Ja, sagte er, phasenweise, über viele Jahre hinweg, aber das Risiko, sich rückhaltlos aufeinander einzulassen, seien sie nie eingegangen. Nie hätten sie sich zu ihrer Liebe bekannt. Weil er so aufrichtig war, konnte ich selber freier sprechen, als er mich fragte, weshalb meine Ehe Schiffbruch erlitten habe. Nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er: »Ich glaube, du bist besser dran, wenn du ein anderes Leben anfängst.«

 

 

Das Beste, was ich je tat, war, nicht zurückzuschwimmen. Aber wo sollte ich hin?

Netze

Wir verkauften das Haus. Ein langes gemeinsames Leben abzuwickeln und einzupacken war eine Aktion, die die Zeit fast unheimlich verzerrte; es riss mich zurück zum Abschied von Südafrika, dem Land meiner Geburt, aus dem wir fortgingen, als ich neun war, und es riss mich nach vorn in ein unbekanntes Leben, das mich jetzt, mit fünfzig, erwartete. Ich löste das Zuhause auf, für dessen Schaffung ich einen großen Teil meiner Lebensenergie aufgewendet hatte.

 

Wenn vom Märchen des schönen Heims, in dem Glück und Behagen von Mann und Kind immer vorgehen, die Tapeten abgerissen werden, kommt dahinter eine unbedankte, ungeliebte, vernachlässigte, erschöpfte Frau zum Vorschein. Um ein Heim zu schaffen, das allen wohltut und gut funktioniert, braucht es Geschick, Zeit, Hingabe und Einfühlungsvermögen. Vor allem zeugt es von

 

Das Heim einer Familie aufzulösen ist, als zerlegte man eine Uhr. So viel Zeit haben die verschiedenen Dimensionen dieses Zuhauses durchlaufen! Angeblich kann ein Fuchs aus vierzig Metern Entfernung das Ticken einer Uhr hören. In unserem Zuhause hing in der Küche eine Wanduhr, die keine vierzig Meter vom Garten entfernt war – ihr Ticken müssen die Füchse mehr als zehn Jahre lang gehört haben. Jetzt war sie eingepackt, mit dem Gesicht nach unten in einer Kiste.

 

 

Ihr Vater und ich waren uns einig, dass wir getrennt leben, aber am Leben unserer Kinder immer gemeinsam teilhaben würden. Es gibt nur liebevolle und lieblose Elternhäuser. Zu Bruch ging die patriarchale Geschichte. Dennoch werden die meisten Kinder, die in ihr aufgewachsen sind, ihrerseits unbedingt eine Neuauflage der Geschichte schreiben wollen, wie alle.

Leben in Gelb

Ich reiste umher und identifizierte mich Abend für Abend mit dem reizvollen Gedanken einer allgemeinen Destrukturation und, zugleich, eines Neuaufbaus.

Elena Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes (2018)

Im November jenes Jahres zog ich mit meinen Töchtern in eine Wohnung im sechsten Stock eines riesigen heruntergekommenen Wohnblocks auf einem Hügel in Nordlondon. Angeblich war hier eine umfassende Instandsetzung