Cover

Über dieses Buch

Ziemlich bester Bruder

Eigentlich ist alles normal bei der zwölfjährigen Luise. Ihre Eltern sind zwar etwas überbesorgt, aber na gut ... Doch eines Tages entdeckt sie das Familiengeheimnis: Sie hatte einen Zwillingsbruder, der bei der Geburt gestorben ist. Dann kann ja wohl auch sie ein Geheimnis haben: Gegen den Willen der Eltern meldet sie sich bei einem Jugendtheater-Workshop an. Und da niemand sie dort kennt, erzählt sie, dass sie einen Bruder habe: Schultheaterstar, Hip-Hop-Champion, den coolsten Bruder der Welt! Irgendwann aber wollen die anderen ihn unbedingt kennenlernen. Ausgerechnet Viktor, der Klassenloser, übernimmt die Rolle des legendären Bruders. Wie lange kann Luise ihre Lügengespinste aufrechterhalten?

Die Autorin

Andrea Schomburg wurde in Kairo geboren und ist im Rheinland aufgewachsen. Ein erster Lyrikband erschien 2007, weitere folgten. Sie tritt mit ihren Gedichten, Chansons und Prosasketchen in lyrischen Kabarettprogrammen auf. Bevor sie Kinderbuchautorin wurde, arbeitete sie als Lehrerin an einem Hamburger Gymnasium. Seit 2012 ist sie Lehrbeauftragte an der Leuphana-Universität Lüneburg. Andrea Schomburg lebt in Hamburg.

Die Illustratorin

Dorothee Mahnkopf, 1967 in Berlin geboren, hat Visuelle Kommunikation in Offenbach studiert. Seit über 15 Jahren arbeitet sie als freiberufliche Illustratorin und hat viele Schul-, Kinder- und Bastelbücher für Verlage gezeichnet, außerdem Bilder für Tageszeitungen und Magazine. Dorothee Mahnkopf lebt in Rheinland Pfalz.

Inhalt

Ich bin Luise, und alles normal

Das Geheimnis des Dachbodens

Kichern, heulen und hundert Dosen Bio-Proviant

Vergessen und wieder dran denken

Mauern, Kreidestriche und bunte Lichter

Fast perfekte Flunkereien

Theater Imagino

Krimi-Ideen, Theaterlieder und Lügennetze

Hasenhüpfen und Hip-Hop-Bruder

Theater-Geflüster, Theater-Triumph

Viktor, Felix und Stress hoch drei

Nachdenkwolken, undichte Stellen und Geheimnisspezialisten

Einladung, Meinladung, Keinladung oder Viktor und Anna und Felix

Theater zu Hause

Das Probenwochenende

Kaufhausgespräche und Kuschelecken-Talk

Bühne, Beifall, Bruderherz

Epilog

Songs zu der Theateraufführung »Das Böse ist immer und überall«

Impressum

Ich bin Luise, und alles normal

Es ist schon komisch, dass diese ganze Sache ausgerechnet mir passiert ist, denn normaler als ich kann man eigentlich gar nicht sein. Ich bin zwölf, ich heiße Luise, ich gehe aufs Gymnasium, ich hab supernette Freundinnen und spiele Geige im Jugendorchester. Aber nur gerade so gut, dass ich im Orchester bleiben darf, ich bin nicht irgendwie megabegabt oder so. Außerdem bin ich in Batenbüttel aufgewachsen und niemandem in Batenbüttel ist jemals was Außergewöhnliches passiert. Nur ein einziges Mal, vor ein paar Jahren, da hat sich eine Frau aus dem Kastanienweg in ihren Nachbarn verliebt und ihr Mann hat sich eine Pistole besorgt und auf den Nachbarn geschossen. Es stand sogar in der Zeitung. Eifersuchtsdrama in Batenbüttel!

»Jaja, unter der Maske der biederen Bürger brodeln die Leidenschaften«, hat Papa gemeint.

Mama hat ihn angegrinst. »Du musst es ja wissen«, hat sie gesagt.

Ich hab mich früher oft gefragt, warum Mama so ist, wie sie ist. Lustig und locker und auch ziemlich chaotisch auf der einen Seite, aber total ängstlich und unlocker, wenn es um mich geht. Wenn ich nur das geringste bisschen huste, schickt sie mich sofort zum Arzt und gibt mir die dicksten Schals und am liebsten auch gleich ein Antibiotikum. Aber dann sagt Papa: »Nix, das kommt gar nicht infrage, da entstehen resistente Bakterien, also solche, die man nie wieder wegkriegt.«

Und dann streiten sie sich, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil sie meinetwegen streiten, und ich denke, wenn ich nicht da wäre, dann hätten sie nicht so viel Krach. Aber am nächsten Tag komme ich in die Küche und sie knutschen, und daran merkt man ja wohl, dass alles wieder gut ist.

Und ich muss auch immer sagen, wo ich hingehe. Ich kann dann weg, das ist nicht das Problem, aber Mama will immer ganz genau wissen, wo ich bin, »falls was passiert«, erklärt sie. »Und ruf an, wenn es später wird. Wir holen dich gerne ab.«

Es ist schon eine komische Sache mit den Sorgen, die sich Eltern machen. Irgendwie fühlt man sich geschmeichelt, dass man ihnen so wichtig ist, aber es nervt natürlich auch total, und manchmal will man einfach nur seine Ruhe haben.

Ich dachte lange, das wäre in allen Familien so, mit den Eltern und dem Sorgenmachen, aber dann hab ich mitgekriegt, dass zum Beispiel Lena – meine beste Freundin in Batenbüttel – oft aus dem Haus geht und nicht extra Bescheid gibt, wo sie hinwill. »Sagst du denn deiner Mutter nicht, wo wir sind?«, hab ich sie gefragt. »Nö, warum?«, hat Lena geantwortet, »wir sind doch bald wieder zurück.«

Auch andere Sachen sind bei Lena nicht so wie bei uns. Es ist zum Beispiel immer aufgeräumt, im ganzen Haus, und ihre Mutter hat zu Advent Kerzen auf dem Tisch, und wenn ich am Wochenende bei Lena übernachte, dann ist am nächsten Morgen der Frühstückstisch schön gedeckt, und es gibt selbst gemachtes Müsli und frisch gepressten Saft, und ihr Papa hat Brötchen geholt.

Wenn ich samstagmorgens Brötchen essen will, dann gibt es erst mal eine Riesendiskussion mit Papa. Papa sagt, dazu gibt er sich nicht her, Brötchen sind aus weißem Mehl und ungesund, und wenn ich welche will, dann muss ich die schon selber holen. Dabei bringe ich immer Brötchen für meine Eltern mit und die essen sie dann gern. Logisch ist das nicht, oder?

Einmal, als ich noch in der Grundschule war, hatten sie mir in der Bäckerei alte Brötchen gegeben und da ist Papa voll ausgeflippt. Er ist mit mir zur Bäckerei gegangen, obwohl, was heißt gegangen, er ist so schnell dahingestürmt, dass ich kaum hinterherkam. Und dann hat er der Bäckerin die Tüte mit den alten Brötchen auf die Theke geschmissen und ganz laut gesagt, es wäre eine Unverschämtheit, einem Kind alte Brötchen anzudrehen, und das wäre das letzte Mal, dass er hier was kauft! Die Bäckerin war knallrot im Gesicht. Sie wollte ihm neue Brötchen geben, aber Papa hat gerufen, sie könnte sich ihre Brötchen sonst wohin stecken, der ganze Laden war voller Leute, ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.

So ist Papa. Wenn er das Gefühl hat, dass mich jemand ungerecht behandelt, dann wird er zum Tier. Total übertrieben, aber natürlich irgendwie auch total süß.

Aber das wollte ich ja gar nicht erzählen. Ich wollte erzählen, wie ich entdeckte, dass bei uns nicht alles so normal ist, wie ich gedacht hatte.

* * *

Der letzte normale Tag, an den ich mich erinnere, war mein zwölfter Geburtstag. Alles war wie immer: Das kribbelige Gefühl in meinem Bauch, als ich ins Wohnzimmer kam. Der Geruch nach Blumen und Kuchen. Die Geburtstags­torte mit der riesigen Zwölf aus rosa Zuckerguss und zwölf brennenden Kerzen. Neben dem Tisch stand der Feuer­löscher, den Papa sicherheitshalber dort platziert hatte, zur Feier des Tages war er mit einem Vergissmeinnicht-Kränzchen geschmückt – der Feuerlöscher, meine ich jetzt, nicht Papa. Auf dem Tisch, auf der Geburtstagsdecke, ein fetter Strauß Glockenblumen und Margeriten und drum herum ein Päckchen am anderen.

Wenn man keine Geschwister hat, kriegt man mehr Geschenke. Das ist ein Vorteil. Allerdings hätte ich echt gern auf ein paar Geschenke verzichtet, wenn ich dafür Geschwister gehabt hätte. Vor allem einen Bruder. So einen Bruder, dem ich alles sagen könnte und der Steffi Rotzauge Prügel androhen würde, wenn sie mit ihrer Zickengruppe wieder so eklig zu mir gewesen wäre, die blöde Kuh. (Sie heißt Rotauge, was ja schon schlimm genug ist, aber heimlich nenne ich sie Rotzauge, weil sie so doof ist und außerdem oft Augenentzündungen hat.)

Einmal hab ich das Aylin erzählt, das mit dem Bruder, aber Aylin hat gesagt, ich stelle mir das viel zu ideal vor. »Mit Brüdern«, sagt Aylin, »mit Brüdern hat man nichts als Ärger. Die schneiden deinen Barbiepuppen die Haare ab und ziehen ihnen Darth-Vader-Klamotten an, und sie kloppen sich mit dir und fressen dir das letzte Stück Kuchen und die Schokolade weg, die du dir extra aufgehoben hast. Und wenn sie kleiner sind, kriegst immer du den Ärger, wenn ihr euch streitet.«

Aber Aylin hat gut reden, die hat ja einen Bruder. Eigentlich sogar zwei, aber der eine war gerade in Amerika, als sie das sagte. Ich mag ihn gern. ›Hoffentlich stürzt das Flugzeug nicht ab, wenn er zurückfliegt‹, dachte ich.

Über meine Geburtstagsgeschenke hab ich mich natürlich trotzdem gefreut, vor allem über das neue Smartphone.

»Ich habe unsere Nummern schon eingespeichert«, sagte Mama. »Dann kannst du uns jederzeit erreichen, wenn was ist. Du Liebe!«

Sie zerdrückte wie immer an meinem Geburtstag ein paar Tränchen und dann umarmte sie mich so fest, dass sie beinah auch mich zerdrückt hätte. Es ist mir ein bisschen peinlich, wenn sie so gerührt ist. Aber was will man machen, sie meint es ja lieb. »Ich bin so froh, dass es dich gibt und dass du auch in diesem Jahr behütet worden bist!«, flüsterte sie, wie jedes Jahr.

Mama macht sich ständig Sorgen, speziell um mich, das habe ich ja schon gesagt. Manchmal habe ich den Eindruck, das Leben ist für sie eine Art Höllenmaschine, die ihr jeden Moment ins Gesicht explodieren kann. Obwohl uns bisher noch nie ernstlich was passiert ist. »Aber man weiß eben nie«, sagt Mama.

»Herzlichen Glückwunsch, meine Große! Pass gut auf dich auf in deinem neuen Lebensjahr!« Das war Papa. Er hatte mir ein Fernglas geschenkt, für unsere Klassenfahrt. »Damit du die Seehunde besser sehen kannst, ihr fahrt doch zu den Robbenbänken«, sagte er. Ich hatte ihm erzählt, wie sehr ich mich auf die Fahrt zu den Robbenbänken freute, und das mit dem Fernglas fand ich echt eine gute Idee. Papa ist jemand, der sich richtig Gedanken macht bei Geschenken, es muss immer etwas Nützliches sein, was man wirklich gebrauchen kann. Mama hat er mal zum Hochzeitstag ein Heizkissen geschenkt, weil sie nachts im Bett ständig so kalte Füße hat. Mama stand da, mit dem Heizkissen in der Hand, und sie sagte, das sei ja komplett lieb von Papa, aber sie hätte eigentlich lieber mal was Romantisches, selbst geschriebene Gedichte oder so. »Von Gedichten kriegst du keine warmen Füße«, hat Papa gesagt. »Aber ein warmes Herz«, hat Mama geantwortet, und Papa hat sie in den Arm genommen und versprochen, er wärmt ihr schon noch das Herz, sie wird sehen.

Mir hatte Papa außer dem Fernglas noch eine Strickleiter für die Klassenfahrt geschenkt. »Da kannst du dich retten, falls ein Feuer ausbricht«, sagte Papa. »Diese alten Jugendherbergen haben ja oft Holztreppen, da hat man keine Chance, wenn es brennt. Gar keine.«

Mama nickte bekümmert.

Ich stellte mir vor, was Aylin und Lena sagen würden, wenn ich in unserem Jugendherbergszimmer die Strickleiter auspacken würde. Na ja, ich konnte sie auch einfach im Koffer versteckt lassen. Da hatte ich sie im Notfall gleich zur Hand. Man weiß ja echt nicht, was passiert.

Aber erst mal habe ich am Abend mit Aylin und Lena Geburtstag gefeiert. Es war lustig, es war schön, und alles war wie immer.

* * *

Der nächste Tag war Sonntag, der Sonntag vor der Klassenfahrt, und gleich nach dem Frühstück fing ich an zu packen. Oder vielmehr, meine Eltern fingen an zu packen. Ich hatte alle Sachen, die ich mitnehmen wollte, auf mein Bett gelegt, und Papa und Mama wuselten gleichzeitig in mein Zimmer. Papa schwang eine Federwaage, an der unser kleiner Rollkoffer hing.

»Eins Komma sieben zwo Kilo Eigengewicht«, rief er stolz und gab dem Koffer einen liebevollen Klaps. »Einen leichteren Koffer als diesen kann man überhaupt nicht finden!«

Ich seufzte. Man kann nämlich leider auch keinen hässlicheren Koffer finden. Der Koffer ist gelblich kackbraun, so eine Rentnerfarbe irgendwie. Einen coolen Koffer, in Pink zum Beispiel, hat Papa mir nicht gekauft, weil die, die sie in dem Geschäft hatten, alle zu schwer waren und weil jedes Gramm zusätzlich den jugendlichen Rücken belastet. Sagt Papa.

Mama musterte besorgt die Klamotten auf meinem Bett.

»Du hast ja gar kein vernünftiges Regenzeug mit und nur Sandalen und keine festen Schuhe, hier ist noch Sonnencreme Schutzfaktor dreißig, reib dich unbedingt ein, wenn ihr an den Strand geht oder ins Watt, an der See kann man auch an bedeckten Tagen total verbrennen, hörst du, und nimm deinen Fleece-Pulli mit, und geh bloß nicht alleine ins Watt, die Flut kommt viel schneller, als man denkt, zack, ist einem der Weg abgeschnitten, und falls es regnet, hier ist noch der Regenponcho, und …«

Unser Regenponcho reicht mir bis zu den Füßen, ungefähr wie der Tarnmantel von Harry Potter, nur dass er einen nicht unsichtbar macht, im Gegenteil, alle gucken einen an und grinsen, wenn man so herumschlappt wie ein riesiges Zitroneneis, das langsam schmilzt, denn gelb ist er auch noch. Ich rollte das Monster zusammen, legte es in den Koffer und sagte: »Vielen Dank.« Ich wusste genau, dass ich es kein einziges Mal anziehen würde, ganz egal, ob es Bindfäden oder junge Hunde oder sonst was regnen würde. Aber wenn man einmal anfängt, mit meinen Eltern zu diskutieren, dann kommt man unter zwei Stunden nicht weg. Papa beweist alles wissenschaftlich, und Mama kennt tausend Fälle, wo Leute sich schreckliche Krankheiten geholt haben, Lungenentzündung und Schulter-Rheumatismus und so, nur weil sie nass geworden sind.

»Hier sind Blasenpflaster«, redete Mama weiter, »wenn du dir eine Blase läufst, und Jod, wenn du dich verletzt, und falls ihr Fahrräder mietet, sei BLOSS vorsichtig. Hier ist dein Helm, und ruf an, wenn was ist, hörst du?«

Ich rollte mit den Augen. »Mama, wir dürfen unsere Handys nicht mitnehmen, das weißt du doch!«

»Das finde ich sowieso unmöglich, dass ihr die zu Hause lassen sollt, kannst du nicht …«

»Sandra«, sagte Papa, »es gibt einen Münzfernsprecher in der Jugendherberge, und wenn wirklich was Schlimmes sein sollte« – Mama sah entsetzt aus –, »dann wird Frau Heinzelmann uns schon anrufen. Luise ist doch auf der Reise mehr unter Aufsicht als hier, wenn sie alleine unterwegs ist!«

Papa tut manchmal so, als wäre nur Mama diejenige, die sich Sorgen macht, dabei ist er auf seine Art mindestens genauso schlimm. Aber Mama fällt jedes Mal drauf rein.

»Na gut«, sagte sie, ein bisschen beruhigt, »das stimmt. Und Frau Heinzelmann ist ja wirklich lieb und kümmert sich, das muss man ihr lassen. Aber kauf dir frisches Obst zwischendurch, Luise, in diesen Jugendherbergen gibt es doch immer nur ewig warm gehaltenes Essen und …«

»Und bloß diese pappigen weißen Brötchen zum Frühstück«, setzte Papa mit angeekeltem Gesicht hinzu. »Ich weiß nicht, was die sich dabei denken!«

Ich nickte und packte und packte und nickte und versuchte, ganz ruhig ein- und wieder auszuatmen, damit wir fertig wurden, denn es hat echt keinen Zweck, mit meinen Eltern zu diskutieren, das habe ich ja schon gesagt.

Nach zwei Stunden waren wir tatsächlich fertig und im Flur neben der Eingangstür stand, hässlich und kackbraun, der leichteste Koffer der Welt. Ich hatte das Gefühl, dass er mich triumphierend angrinste.

Das Geheimnis des Dachbodens

Dann klingelte das Telefon. Es war Lena, und wir bequatschten, was wir eingepackt hatten und ob wir noch irgendwelche Spiele mitnehmen sollten und wie die Klassenfahrt wohl werden würde und was wir zu der Disco am letzten Abend anziehen könnten.

Irgendwann rief Mama, wir wollten doch noch den Dachboden aufräumen und ob ich kommen könnte und sagen, was ich von meinen alten Spielsachen noch brauchte.

Eigentlich musste nur das Gästezimmer unterm Dach aufgeräumt werden, weil ein Freund von Papa aus Australien vielleicht für ein paar Wochen bei uns wohnen sollte, aber Mama hat gesagt: »Bestimmt geht er auch in den Bodenraum daneben, das kann man gar nicht verhindern, und dann muss man ja in die Erde versinken vor Scham, so wie das da aussieht.«

Mama ist echt komisch: Ich kenne niemanden, der so unordentlich ist wie sie und so wenig dazu steht. Papa ist auch unordentlich, aber er macht sich nichts draus, er sagt: »Wir sind eben Intellektuelle, da sieht es nun mal so aus.« Intellektuelle, das sind Leute, die studiert haben und Bücher lesen und sich für Filme und Museen interessieren. Ich finde aber, aufräumen kann man trotzdem, oder? Die Eltern von Aylin haben sogar noch viel mehr Bücher als wir und bei denen ist immer alles tipptopp.

Also, wir räumten auf und sortierten und füllten einen Müllsack nach dem andern mit dem, was wegkonnte, und das war eine Sauarbeit, denn meine Eltern hatten einfach alles aufgehoben, Bücher und Hefte vom Studium und kaputte Möbel und Minikleider und altes Spielzeug und meine Hefte von der Grundschule und mein Bobbycar und meinen Hochstuhl, alles lag durcheinander und aufeinander, so wie sie es in den Raum auf dem Dachboden reingeschmissen hatten. In Erdkunde haben wir mal gelernt, dass Kohle entsteht, wenn abgestorbene Pflanzenreste viele Jahrhunderte lang in Schichten übereinanderliegen, und als wir da oben aufräumten, hatte ich das Gefühl, auf unserem Dachboden wäre Kohle oder so was entstanden, wenn wir nicht Klarschiff gemacht hätten.

Und auf einmal hatte ich dieses Fotoalbum in der Hand. Sandra 2005 stand vorne drauf. Merkwürdig, dass es hier oben war, denn unsere Fotoalben stehen eigentlich alle im Regal im Wohnzimmer.

Ich hab mich auf einen umgedrehten kaputten Eimer gesetzt und angefangen, die Fotos anzuschauen. Meine Mutter war schwanger und hat total gestrahlt, sie sah ganz jung aus und so, als ob sie sich noch nie über irgendwas Sorgen gemacht hätte.

Aber als Mama – in der Gegenwart, meine ich jetzt – gesehen hat, dass ich das Album anschaue, hat sie es mir aus der Hand gezerrt und mit einem Ruck zugeklappt und gesagt: »Wenn wir uns hier an jedem einzelnen Gegenstand festhalten, dann werden wir nie fertig.« Sie war richtig sauer, ich hab das gar nicht verstanden, es werden doch wohl mal fünf Minuten drin sein, um ein altes Fotoalbum anzuschauen! Sie musste dann rausgehen, weil sie von dem Staub Schnupfen bekam, und Papa und ich haben allein weitergeräumt, und es war einfach unglaublich, was da alles zum Vorschein kam. Sogar meine alten Babysachen, winzige Höschen und Jäckchen und Hütchen, alles in Rosa und Blau.

»Warum habt ihr denn auch blaue Sachen für mich gekauft?«, fragte ich und hielt ein Strampelhöschen hoch, das so glatt und neu aussah, als wäre es nie getragen worden.

Papa hatte gerade in einer anderen Ecke des Dachbodens zu tun. »Mann, ist das hier stickig!«, schnaufte er. »Mach doch mal das Fenster auf!«