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Jan Beinßen

 

Kärwakiller

 

Paul Flemmings vierzehnter Fall

Frankenkrimi

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Mai 2019)

 

© 2019 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © plainpicture / gio

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0051-3

 

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Einen Monat später

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14

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16

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18

19

20

21

22

23

24

Epilog

Danke

Der Autor

 

 

Es ist kein Dörflein gar so klein,

Daß nicht drinʼ sollt des Jahrs eine Kirmes sein.

 

Johann Nepomuk Vogl

 

1

»Weißt du noch, was du früher am liebsten gemocht hast? Was ich dir unbedingt kaufen musste, wenn wir auf die Kärwa gegangen sind?«

»Nein, Mom. Zuckerwatte? Liebesäpfel? Oder wahrscheinlich gebrannte Mandeln?«

»Falsch. Als du klein warst, bist du ganz wild auf bunte Zuckerperlen gewesen. Genauso schlecht für die Zähne wie das ganze andere süße Zeug, aber man kann einer Vierjährigen den Wunsch ja nicht abschlagen. – Möchtest du welche?«

»Welche was?«

»Zuckerperlen?«

»Das ist zwanzig Jahre her. Bestell mir lieber ne Maß!«

Katinka Blohm lächelte, als sie den Blick ihrer Tochter Hannah auffing: genauso eigensinnig, direkt wie damals, dachte sie versonnen. Nur dass Hannah inzwischen längst ihre eigenen Wege ging und nicht auf die Gunst ihrer Mutter angewiesen war. Das hinderte Hannah allerdings nicht daran, sich an diesem Tag einladen zu lassen. Denn ein Kirchweihbesuch war teuer – früher schon, und heute erst recht.

Die beiden Frauen schlenderten über den Kärwaplatz an der Satzinger Mühle, wie es an diesem sommerlich warmen Junitag auch Dutzende andere taten. Ihr Ziel war das Festzelt, wo sie sich gegen Mittag mit Paul treffen wollten.

Vor einer Stunde erst war die Mögeldorfer Kärwa eröffnet worden, mit viel lokaler Prominenz. Auf den Einzug der Kärwajugend in Lederhosen und Dirndl, die Böllerschüsse und das traditionelle Baumaufstellen folgte das, worauf die meisten sehnsüchtig gewartet hatten: der Anstich im Bierzelt, ausgeführt mit nur drei Schlägen. Oʼzapft is! Befeuert von den Alpenschlawinern stimmten die Gäste mit ein und beklatschten den Auftritt des Vorsitzenden des Bürger- und Geschichtsvereins.

»Ist schon eine der schönsten Kirchweihen in der Stadt«, fand Katinka, die sich passend zum Anlass in Schale geworfen hatte: Sie trug ein scharlachrotes Dirndl mit rot-weißer Schürze, die Bluse schneeweiß mit traditionellen Puffärmeln.

»Find ich auch«, meinte Hannah, die in Jeans und T-Shirt geschlüpft war und sich in Tracht verkleidet vorgekommen wäre. »Allein die Nähe zur Mühle mit dem alten Rad, das Wasser und das viele Grün hier. Echt idyllisch.«

»Da vergisst man glatt, dass man mitten in der Großstadt ist.«

Hannah nickte, schränkte jedoch mit Blick auf einen von Reportern umringten Politiker ein: »Auf diese Großkopferten könnte ich allerdings gut verzichten.«

»Ist das nicht der Dings?«, fragte Katinka und reckte den Hals.

»Ja, genau der. Reicht mir schon, wenn ich den dauernd im Fernsehen sehe.«

»Als ob du Fernsehen schauen würdest. Hängst doch nur noch am Handy.«

Für Hannah war das offenbar das Stichwort, denn prompt zog sie ihr Smartphone aus der Jeans und richtete es auf den Politpromi.

»Du scheinst dich ja doch für ihn zu interessieren«, merkte Katinka an.

Hannah winkte ab. »Bloß ein Foto für meine Instagram-Story. Da kommt natürlich ein blöder Spruch dazu.«

»Natürlich.«

Im Zelt war es brechend voll. Blasmusik dröhnte ihnen entgegen, Bierkrüge klirrten, und alle redeten durcheinander. Entsprechend hoch war der Lärmpegel. Die beiden versuchten sich einen Überblick zu verschaffen, doch denjenigen, nach dem sie Ausschau hielten, konnten sie nirgends entdecken: eins fünfundachtzig groß, schlank, graumeliert mit einer gewissen Ähnlichkeit zu George Clooney.

»Siehst du ihn irgendwo?«, fragte Katinka und wich einer Kellnerin aus, die acht Maßkrüge gleichzeitig stemmte.

»Nö. Bist du sicher, dass er unsere Verabredung auf dem Schirm hat?«

Katinka kniff die Augen zusammen. »Ich habe ihm extra einen Kalender auf seinem Smartphone eingerichtet, auf dem er seine eigenen und auch unsere gemeinsamen Termine sehen kann. Das Handy signalisiert sogar mit einem Erinnerungston, wann ein Termin fällig ist. Narrensicher, sollte man meinen.«

Hannah zuckte die Achseln. »Warum ist er dann nicht da?«

Katinka gab keine Antwort, sondern sah sich noch einmal um. Dabei ging sie Biertisch für Biertisch durch. Vergebens.

Hannah stupste sie an. »Was machen wir jetzt? Warten? Wir können uns inzwischen ja schon mal nen Russen gönnen.«

»Ich dachte, du wolltest ne Maß?« Katinka zog ihre Tochter aus dem Zelt. »Ich habe eine bessere Idee. Statt hier auf den werten Herrn zu warten und uns aus lauter Frust zu betrinken, holen wir uns erst mal was zu essen. Dann haben wir auch gleich eine gute Grundlage.«

»Super Idee«, meinte Hannah und deutete auf einen Imbissstand nur wenige Meter von ihnen entfernt. »Appetit auf Bratwurst?«

»Immer!«

Sie reihten sich in die Schlange ein, über die sich der würzige Duft legte, den der Holzkohlegrill verströmte. Eine korpulente Frau mühte sich, dem Ansturm gerecht zu werden. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Die beiden Grillmeister hinter ihr waren ebenfalls schwer beschäftigt.

»Zwei Fränkische im Weggla mit Senf«, orderte Hannah, als sie endlich drankamen.

Katinka wählte – wie so oft – Sechs auf Kraut. »Machen Sie ruhig eine Kelle mehr drauf«, bat sie. Mit einem satten Klatschen landete ein zweiter Schöpflöffel dampfenden Sauerkrauts auf dem Teller. »Und bitte Kren statt Senf.« Die Wirtin, die Hand schon überm Mostrichtopf, rollte mit den Augen, tat Katinka aber auch diesen Gefallen.

Sie fanden ein Plätzchen an einem Stehtisch, den sie sich mit einem älteren Ehepaar teilten.

»Schön rösch, die Wurst«, meinte Hannah, nachdem sie in ihr Brötchen gebissen und sich den Senf vom Mund gewischt hatte.

»Von mir aus hätten sie noch zwei, drei Minuten länger auf dem Rost bleiben dürfen«, fand Katinka, die mit ihrem Essen nicht ganz zufrieden war. Auch das Kraut wollte ihr nicht recht schmecken, kein Vergleich zu dem aromatisch samtigen Kraut, wie es Jan-Patrick im Goldenen Ritter zubereitete. Dort war es goldgelb und zart, dieses hingegen blass und irgendwie zäh.

»Mach nicht so ein Gesicht«, stieß Hannah sie an. »Das ist Kärwaessen und keine Gourmetkost.«

»Du hast ja recht«, antwortete Katinka und stocherte mit der Gabel in den weißen Fäden herum. »Ich sollte mich nicht so anstellen.«

»Ganz genau! Hast du zu mir früher auch immer gesagt.«

»Weil du an allem und jedem herumgemäkelt hast. An manchen Tagen habe ich gedacht, dass du irgendwann noch verhungerst, so wählerisch, wie du warst. Aber du hast das ja reichlich mit Süßigkeiten ausgeglichen. Womit wir wieder bei den Zuckerperlen wären …«

»Wenn du nicht bald mit dem Essen anfängst, werde ich dich auch mit Zuckerperlen zwangsernähren«, meinte Hannah. Sie hatte schon die Hälfte ihres Brötchens verspeist.

»Also gut.« Katinka nahm eine Portion Sauerkraut auf die Gabel. Sie führte sie zum Mund, stoppte dann aber mitten in der Bewegung.

»Jetzt iss schon, sonst helfe ich nach!« Für einen Augenblick glaubte Hannah, ihre Mutter wollte sie foppen.

Doch Katinkas Gesichtsausdruck sprach eine andere Sprache. Ihr war nicht nach Witzen zumute, als sie die Gabel langsam wieder auf dem Teller ablegte. »Siehst du das?«, fragte sie und schob das Essen zur Seite.

»Was?« Hannah schaute prüfend erst ihre Mutter an, dann das dampfende Gericht. »Ich sehe gar nichts. Außer Bratwurst mit Meerrettich und Kraut – und …« Sie stockte. »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Doch, ist es«, sagte Katinka. »Damit werden meine schlimmsten Vorurteile gegenüber Kirchweihimbissen bestätigt.«

»So was habe ich aber noch nie erlebt«, wandte Hannah ein und warf Katinka einen fragenden Blick zu. Ebenso tat es das ältere Paar, das neben ihnen stand und alles mitbekommen hatte. »Was willst du jetzt machen?«, wollte Hannah wissen.

»Das ist doch wohl klar, oder?«, rief Katinka aufgebracht.

»Das kannst du nicht tun, Mom. Diese armen Leute gleich zu verklagen, wäre nicht fair.«

»Erstens sind Schausteller nicht unbedingt arme Leute, ganz im Gegenteil. Und zweitens muss ich nicht jeden verklagen, bloß weil ich zufälligerweise im Justizpalast an der Fürther Straße arbeite …«

»… bei der Staatsanwaltschaft«, ergänzte Hannah. »Sondern? Was dann?«

»Ihnen den Fraß zurückbringen. Mit ein paar gepfefferten Worten.«

 

Paul Flemming stellte seinen Renault Kangoo im Halteverbot ab. Das würde bestimmt nicht gut gehen, aber es war ihm gerade egal. Ganz Mögeldorf war zugeparkt – und er viel zu spät dran.

Katinka hatte ihm schon zwei WhatsApp-Nachrichten geschrieben, wo er denn bliebe, und Hannah gleich noch drei hinterher. Dazu einige grimmig blickende Emojis. Also hängte er sich seine Kamera über die Schulter, mit der er später einige Impressionen einfangen wollte, und schwang sich aus dem Auto. Mit strammem Schritt erreichte er das gut besuchte Festgelände knappe zehn Minuten später. Er drängte sich entschlossen durch die Menge, um möglichst schnell zum Festzelt durchzukommen. Denn er wusste nur zu gut, dass Katinka es nicht leiden konnte, wenn man sie warten ließ.

Während er mit Schokoguss überzogenem Softeis, senftropfenden Bratwurstsemmeln und fetttriefendem Schmalzgebäck auswich, schaute er sich immer wieder suchend um. Leicht möglich, dass seine beiden ungeduldigen Frauen den vereinbarten Treffpunkt schon verlassen und sich unter die Leute gemischt hatten. Doch er sah sie nirgends. Stattdessen fielen ihm einige andere Gäste auf: im Freizeitlook wie die meisten Besucher, doch Paul hätte jede Wette abgeschlossen, dass es sich um Polizisten handelte. Ihre zur Schau getragene Unauffälligkeit war einfach zu auffällig.

Dann fiel sein Blick auf jemanden, den er hier nicht erwartet hätte. Spontan wechselte Paul seinen Kurs und steuerte auf die sportliche, schlanke Frau in knappen Jeans und verwaschenem T-Shirt zu. Ihre fuchsroten Haare lugten unter einem Käppi hervor.

»He, was machst du denn in Mögeldorf?«, sprach er sie an.

Jasmin Stahl zuckte zusammen. Mit einer schnellen Bewegung schob sie ein winziges Mikrofon unter eine Haartolle und hoffte wohl, Paul hätte das Headset nicht bemerkt.

»Oh«, sagte der. »Du bist im Dienst.« Augenzwinkernd fügte er hinzu: »In geheimer Mission?«

»Richtig geraten, du Schlauberger, und es wäre nett, wenn du mich nicht auffliegen lassen würdest«, sagte die Oberkommissarin und ließ erkennen, dass sie kein Interesse an einer weiteren Unterhaltung mit ihm hatte.

Doch darüber setzte Paul sich einfach hinweg, denn er wollte wissen, wen oder was es auf einer Kärwa zu beschatten gab. Jasmin zeigte dafür keinerlei Verständnis und sagte ihm klipp und klar, er solle weitergehen.

Paul ließ nicht locker. »Hoffentlich hat es keine Terrorwarnung gegeben?«

Bevor Jasmin etwas erwidern konnte, meldete sich offenbar jemand bei ihr, denn sie drehte den Kopf weg und drückte ihre Hand aufs linke Ohr, in dem – wie Paul vermutete – ein kleiner Kopfhörer steckte.

»Neue Befehle?«, fragte Paul, als sie ihre Hand wieder sinken ließ.

»Verzieh dich«, entgegnete sie barsch und schob ihn grob beiseite.

Das fand Paul weder nett noch informativ. Trotzig hängte er sich an sie dran und bemühte sich, sie im Getümmel nicht aus den Augen zu verlieren. Was nicht ganz einfach war, denn Jasmin legte ein ordentliches Tempo vor. Paul versuchte mitzuhalten, ohne ein Kleinkind zu überrennen oder mit einem torkelnden Festbesucher zu kollidieren, der nach seiner vierten oder fünften Maß den Heimweg antrat.

Als Jasmin ihr Ziel erreicht hatte, musste Paul zweimal hinsehen, um die Lage zu überblicken: Sie hatte an einem typischen Kärwastand haltgemacht. An einer dieser Fressbuden, aus Holz gezimmert, mit Tuch bespannt. Davor ein Schild, das das Angebot anpries. In diesem Fall klassisch fränkisch: Bratwurst mit Brötchen oder Kraut. Der Stand war von einigen der auffällig Unauffälligen abgeriegelt worden. Hinter dem Tresen stand eine übergewichtige Frau in Kittelschürze, wohl die Imbisswirtin, die sich die verheulten Augen rieb. Und gleich daneben: Katinka und Hannah!

Jetzt kannte Paul kein Halten mehr und zwängte sich entschieden durch die Reihe der Aufpasser. Er umrundete den Stand und stellte sich zu seiner Frau.

»Ist euch etwas passiert?«, fragte er besorgt.

Katinka, ungewohnt aufgewühlt, schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Alles gut.«

»Sieht aber nicht so aus. Was macht dann die viele Polizei hier?«

Katinka zog ihn einige Schritte zur Seite. »Ich habe keine Ahnung. Noch habe ich keine Ahnung. Aber das wird sich bald ändern. Ich will wissen, was hier läuft.«

»Ich auch«, sagte Paul und wies mit dem Kopf auf Hannah. »Sie ist ganz blass. Sag mir doch bitte, was vorgefallen ist.«

Katinka holte Luft. Dann berichtete sie von den Ereignissen der letzten halben Stunde. Und von den Scherben, die sie in ihrem Sauerkraut gefunden hatte.

»Scherben?«, fragte Paul entgeistert. »Du meinst Glasscherben?«

»Ja«, bestätigte Katinka. »Wie du dir vorstellen kannst, bin ich ziemlich erschrocken. Nach dem Schrecken kam die Wut. Ich hatte vermutet, dass die Leute vom Imbiss geschlampt haben. Dass ihnen beim Umfüllen des Krauts ein Glas zu Bruch gegangen sein musste und sie es nicht für nötig hielten, die Splitter herauszufischen oder die ganze Portion wegzuschmeißen.«

»Aber?«

»Aber damit lag ich falsch. Klar, ich habe mich gleich beschwert und der Wirtin gesagt, dass das so nicht geht. Doch wie sich herausstellte, kommt das Sauerkraut gar nicht aus dem Glas.«

»Nicht?«

»Nein. Sondern aus großen Plastikeimern.«

»Was, wenn ein Glas oder eine Flasche in den Krauttopf gefallen ist?«, suchte Paul nach einer Erklärung.

Katinka winkte ab. »Die verkaufen hier keine Getränke. Und ehe du fragst: Es vermisst auch niemand seine Brille.«

»Dann hab ich keine Idee, wie die Scherben in dein Essen gekommen sein könnten, es sei denn, es ist bereits während der Herstellung passiert. Und noch weniger begreife ich, warum sich ein halbes Dutzend Polizisten damit beschäftigen muss. Die tragen zwar alle keine Uniform, man sieht ihnen ihren Job aber aus zehn Metern Entfernung an. Hast du die gerufen?«

»Wie käme ich dazu? Ich wollte mich bloß bei der Wirtin beklagen und mein Geld zurückverlangen. Dass daraus ein Staatsakt werden würde, habe ich nicht erwartet. Wie ich sehe, ist mittlerweile sogar deine kleine Freundin damit befasst.«

Paul ignorierte diese Spitze gegen Jasmin und betrachtete noch einmal aufmerksam die gesamte Szenerie. Er sah den Ernst in den Gesichtern Jasmins und der anderen verdeckten Ermittler. »Das ist die Mordkommission, Katinka«, raunte er seiner Frau zu. »Wenn jemand wissen müsste, was gespielt wird, dann bist das du als Oberstaatsanwältin. Oder nicht?«

Katinka nickte mit grimmiger Miene. »Du hast absolut recht. Spätestens morgen bin ich im Bilde. Dann wissen wir, was hier wirklich läuft und weshalb ich nicht informiert worden bin.«

Die Feststimmung war verflogen, zumindest bei der Familie Flemming-Blohm. Paul versuchte zu retten, was noch zu retten war: »Was haltet ihr davon, wenn wir auf den Schrecken erst einmal einen trinken?«, bemühte er sich um gute Laune. »Darf ich die Damen einladen? Auf ein Spezi oder vielleicht ein Radler?«

»Mein Bedarf ist für heute gedeckt«, lehnte Katinka ab. »Lass deinen Geldbeutel stecken. Wir gehen heim.«

Paul sah ein, dass er sich jede weitere Diskussion sparen konnte.

 

2

»Ihnen ist bewusst, wie sehr es diesmal auf Diskretion ankommt?«, fragte Hauptkommissar Winfried Schnelleisen und fuhr sich unruhig mit der Hand über das pockennarbige Gesicht. »Wenn die Sache ruchbar wird, können wir unsere Pläne, das Ganze ohne großes Aufhebens abzuwickeln, beerdigen.«

»Ja«, sagte Jasmin zerknirscht. Es war früh am Morgen und die Luft im kleinen Besprechungsraum des Polizeipräsidiums abgestanden.

»Einer solchen Herausforderung kann man nur gerecht werden, wenn man den Kreis der Eingeweihten klein hält und allen Übrigen nur die allernotwendigsten Informationen gibt. Das hatte ich Ihnen ausdrücklich gesagt, als ich Sie mit diesem Fall betraut habe.«

»Auch das ist mir bewusst«, entgegnete Jasmin und hielt sich an ihrem Kaffeebecher fest. »Aber Sie können sich beruhigen. Es ist nichts passiert, wir haben alles im Griff.«

»Nichts passiert?« Schnelleisen stützte sich mit beiden Fäusten auf dem Konferenztisch ab und stierte Jasmin an. »Wenn ich Ihren Bericht richtig gelesen habe, war dieses Mal Frau Blohm beteiligt. Ich wiederhole: Frau Blohm, ihres Zeichens Oberstaatsanwältin und bisher nicht involviert.«

»Ja, aber …«

»Schlimmer noch: Wie uns allen aus leidiger Erfahrung bekannt ist, ist überall dort, wo Frau Blohm aufkreuzt, ein gewisser Herr nicht weit.«

»Ich weiß, auf wen Sie anspielen. Doch ich kann Ihnen versichern, dass der Vorfall diskret abgewickelt wurde und nichts über die Hintergründe an die Öffentlichkeit gedrungen ist.«

Schnelleisen musterte sie kritisch. »Dann hoffe ich in Ihrem Interesse, dass es so bleibt. Halten Sie sich und uns diesen Flemming vom Leib. Sollte er zu neugierig werden, speisen Sie ihn mit Brotkrumen ab.«

»Brotkrumen?«

»Werfen Sie ihm irgendwelche Scheininformationen hin, an denen er knabbern kann. Unwichtiges, das ihn beschäftigt und uns Zeit verschafft, um diese leidige Angelegenheit so schnell wie möglich vom Tisch zu bekommen.«

»Und wenn seine Frau ihm sagt, worum es geht? Vor ihr können wir es nicht dauerhaft verheimlichen.«

»Das darf sie nicht. Wenn sie es doch täte, wäre das ein dienstliches Vergehen«, behauptete der Hauptkommissar. »Also noch einmal: Wimmeln Sie Flemming ab und lassen Sie ihm gegenüber nur Nebensächlichkeiten fallen.«

»Brotkrumen …«, griff Jasmin erneut die Wortwahl ihres Chefs auf und hatte große Zweifel daran, dass einer wie Paul davon satt werden würde.

 

Er konnte seine Neugier kaum bändigen, als er am Montagmittag über den Weinmarkt ging. Im Goldenen Ritter wollte Paul sich mit Katinka treffen, und dort würde sie ihn hoffentlich über die Hintergründe der seltsamen Geheimniskrämerei aufklären, durch die Jasmin und ihr Team gestern aufgefallen waren. Er hatte dafür nämlich noch immer keine schlüssige Erklärung gefunden, obwohl er den ganzen letzten Abend darüber nachgedacht hatte. Denn das mit den Scherben war zwar eine üble Geschichte, rechtfertigte aber nicht das große Aufgebot an Polizei, zumal ja niemand zu Schaden gekommen war.

Heute würde sich Katinka nicht über seine Unpünktlichkeit beschweren können, dachte Paul mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Im Gegenteil: Es blieben sogar einige Minuten bis zur verabredeten Zeit; er war überpünktlich.

Er hatte das Ziel bereits vor Augen, da trat jemand von der Seite dicht neben ihn. So plötzlich und unerwartet, dass Paul zusammenfuhr. »O Mann, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!«

»Das war nicht meine Absicht«, sagte Victor Blohfeld, doch ein feines Lächeln im fahlen Gesicht des Reporters verriet, dass er es sehr wohl darauf angelegt hatte.

»Ist das ein Zufall, dass wir uns hier treffen?«, fragte Paul und konnte sich selbst die Antwort geben: natürlich nicht! Blohfeld kannte Pauls Stammlokal nur zu gut und wusste, dass er häufig dort anzutreffen war. Man konnte also davon ausgehen, dass der Reporter ihm aufgelauert hatte. War nur die Frage, weshalb.

Blohfeld machte sich keine Mühe, seine Absicht zu verschleiern: »Ich hatte gehofft, dass ich Sie abfangen kann.«

»Worum geht es denn?« Ein schneller Blick auf die Uhr. »Ich hoffe, es dauert nicht lange, ich bin verabredet.«

»Klar. Ich habe Ihre werte Frau Gemahlin vorhin reingehen sehen. Sie sitzt wahrscheinlich gerade vor einem Teller Suppe oder ist bereits zur Hauptspeise übergegangen.«

»Kati ist schon da?«, wunderte sich Paul und stellte sich unwillkürlich die Frage, ob er sich die falsche Zeit für ihr Treffen gemerkt hatte.

»Sie wird es verschmerzen«, meinte der Reporter und stellte sich Paul in den Weg.

»Also gut, Blohfeld, wo brennt’s denn?«

»Das können Sie sich nicht denken?«

»Hören Sie, Blohfeld: Ich bin – wie gesagt – in Eile und habe keine Lust auf ein Ratequiz. Sagen Sie einfach, was Sie von mir wollen.«

»In Ordnung, dann nenne ich Ihnen ein Stichwort. Das sollte reichen, um Sie zum Reden zu bringen.«

»Na schön, wenn Sie meinen. Ich habe zwar noch immer keinen Schimmer, worauf Sie hinauswollen, aber meinetwegen nennen Sie Ihr Stichwort.«

Blohfeld machte eine Pause, sah Paul direkt in die Augen und sagte dann: »Kärwa.«

»Kärwa?« Paul konnte seine Überraschung nicht verbergen. Was zum Teufel hatte der alte Spürhund da wieder aufgeschnappt? Wusste er etwa von dem Vorfall in Mögeldorf?

»Und? Hat es klick gemacht?«

Paul antwortete nicht, unsicher, was er sagen sollte. Er hatte ja selbst keine Ahnung, was wirklich vor sich ging.

»Wenn das so ist, werde ich Ihr Gedächtnis etwas auffrischen«, meinte Blohfeld und hielt Paul sein Smartphone hin. »Sehen Sie dieses Foto? Eines von vielen, die wir von unseren eifrigsten Mitarbeitern erhalten haben. Handyreporter, die sich einen Obolus dazuverdienen, indem sie uns solche Aufnahmen schicken.«

Paul konnte kaum fassen, was Blohfeld ihm gerade präsentierte. Das Bild wies weder eine besondere Qualität auf, noch genügte es irgendeinem künstlerischen Anspruch. Trotzdem hatte es alles, was ein Zeitungsfoto brauchte. Zumindest für ein Sensationsblatt wie jenes, für das Victor Blohfeld schrieb.

»Das bin ja ich!«

»Richtig. Paul Flemming, wie er leibt und lebt«, grinste Blohfeld. »In Begleitung seiner bezaubernden Frau und seiner hübschen Stieftochter – und umringt von Zivilfahndern der Nürnberger Kripo, inklusive Oberkommissarin Jasmin Stahl. Muss ja eine Riesensache sein, an der Sie da dran sind. Nur komisch, dass davon im Polizeibericht überhaupt nichts zu lesen war. Soll die Öffentlichkeit etwa ausgeschlossen werden?«

»Blohfeld! Ob Sie es glauben oder nicht: Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was das Ganze zu bedeuten hat.«

Der Reporter kam noch näher heran, als er sagte: »Es ist etwas passiert auf der Mögeldorfer Kärwa, richtig?«

»Blohfeld, hören Sie …«

»Nein, jetzt hören Sie mir mal zu.« Er zog einen Notizblock aus seinem speckigen Trenchcoat und klappte ihn auf. »30. Mai, Kirchweih in Schweinau: Besucher klagten über Übelkeit nach dem Genuss von gegrillten Makrelen. 1. Juni auf der Kärwa in Großreuth: Gäste fanden Steinchen zwischen den gebrannten Mandeln. 3. Juni beim Fest am Nordostbahnhof: Passanten meldeten beißende Gerüche nahe einer Losbude. Viele kleine Vorfälle, nie ist jemand ernsthaft zu Schaden gekommen. Kann passieren, möchte man sagen – und dennoch ist eine solche Häufung ungewöhnlich. Finden Sie nicht auch, Flemming?«

»Was soll ich dazu sagen?«, meinte Paul und kam ins Grübeln. »Woher wissen Sie das alles? Auch von Ihren fleißigen Handyreportern?«

»Zum Teil. Das mit der Losbude wurde auf Facebook breitgetreten. Man muss eben am Ball bleiben.«

»Trotzdem kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ob und gegen wen die Polizei ermittelt, weiß ich nicht. Und wenn, würde ich es Ihnen wahrscheinlich nicht sagen, denn meistens gibt es gute Gründe dafür, dass die Behörden etwas vertraulich behandeln.«

»Das sehe ich anders. Die Presse hat ein Recht auf Informationen. Wenn die Polizei etwas unter den Teppich zu kehren versucht, sind wir die Ersten, die es wieder hervorziehen. Weil das unsere gottverdammte Aufgabe ist.«

Paul setzte zu einem neuen Versuch an, den Reporter von seiner Unwissenheit zu überzeugen. Dabei bekam er unerwartete Hilfe.

»Niemand kehrt etwas unter den Teppich«, sagte Katinka, die sich ihnen genähert hatte, ohne dass Paul es mitbekommen hatte. Im anthrazitfarbenen Hosenanzug, mit blütenweißem Blusenkragen und sorgsam zurückgestecktem Haar sah sie ebenso seriös wie attraktiv aus. An Paul gerichtet meinte sie: »Habe ich es mir doch gedacht, dass du irgendwo hängen geblieben bist.«

Sie hakte ihn unter und zog ihn von Blohfeld weg. »Ihre Story müssen Sie sich von jemandem anderen holen«, rief sie dem Reporter zu.

»Von wem denn?« Blohfeld hob ratlos die Arme.

»Ihre Sache. Sie finden schon einen Weg. Wie immer.«

 

Nachdem Katinka sich davon überzeugt hatte, dass der penetrante Reporter ihnen nicht bis in den Goldenen Ritter gefolgt war, ließ sie sich auf ihrem Lieblingsplatz im ersten Stock des urigen Lokals nieder, unmittelbar am liebevoll restaurierten Chörlein des Fachwerkhauses.

»Ich war so frei, schon mal für uns zu bestellen«, sagte sie, »sonst ist meine Mittagspause vorbei, ehe ich den ersten Bissen im Mund habe.« Sie schob Paul die Karte zu und tippte auf die Tagesempfehlung: gesülztes Biohuhn mit Fenchel-Bohnen-Salat, Artischockenmarmelade und einem Püree von roten Linsen.

»Klingt gesund«, kommentierte Paul, interessierte sich momentan aber für ganz andere Dinge: »Ich platze vor Neugierde«, sagte er. »Was hast du herausgefunden?«

Katinka hob die Brauen. »Du meinst wegen dieser Geschichte in Mögeldorf?«

»Ja, natürlich meine ich das. Wir hatten doch darüber gesprochen, dass du dich bei deinen Kollegen danach erkundigen wolltest.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Katinka, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Stattdessen sah sie sich um. Ihr schien es gerade recht zu sein, dass Jan-Patrick mit dem Essen kam.

Der Küchenchef, emsig wie immer, setzte ihnen die kreativ angerichteten Teller vor: Das gewürfelte Huhn war kunstvoll auf den Linsen drapiert, garniert mit einer Handvoll Kresse und begleitet vom Salat. Sah toll aus, fand Paul. Aber ob er damit seinen Hunger stillen konnte?

Natürlich ließ es sich Jan-Patrick nicht nehmen, sich eine Weile zu ihnen zu setzen. Denn auch wenn sie sich mindestens dreimal in der Woche trafen, wusste der Wirt doch immer Neues zu erzählen. Meist heitere Anekdoten aus seinem Küchenmeisterdasein, über seine Lebensgefährtin Marlen oder ihren Sprössling, der nach den großen Ferien eingeschult werden sollte.

Diesmal hatte er allerdings weniger Erbauliches zu berichten: »Einer meiner Gäste bereitet mir gerade echte Probleme«, sagte er und blickte Katinka und Paul ratsuchend an.

»Weil ihm die Portionen zu klein sind?« Paul konnte sich diese Frage bei einem Blick auf seinen Teller einfach nicht verkneifen.

»Das ist nicht wahr«, widersprach Jan-Patrick prompt. Trotz seiner geringen Körpergröße konnte er sich binnen Sekunden aufplustern wie ein Gockel und wirkte dann durchaus ein bisschen bedrohlich. »Wenn du bei mir fränkische Klassiker bestellst, hast du genauso viel auf dem Teller wie beim Barfüßer oder im Spießgesellen. Aber deine Frau hat sich für Nouvelle Cuisine entschieden, da zählt Klasse statt Masse.«

»Schon gut«, bemühte sich Katinka, die Wogen zu glätten. »Wo drückt denn der Schuh?«

Jan-Patrick holte tief Luft und erzählte ihnen von einem regelmäßigen Mittagsgast, der sich mit Vorliebe für die teuersten Gerichte auf der Karte entschied. Bevorzugt wählte er Fisch, gern auch Steak. »Bei besagtem Feinschmecker handelt es sich um einen angesehenen Bürger der Stadt: Rechtsanwalt und Notar Dr. Gerstner.«

»Kenn ich«, sagte Katinka sofort. »Bin vor Gericht schon oft gegen ihn angetreten. Ein cleverer Fuchs, der sein Metier beherrscht.«

»Wenn er so ein guter Gast ist – wo liegt denn dann dein Problem?«, wollte Paul wissen.

Der Küchenmeister legte die Stirn in Falten. »Mein Problem besteht darin, dass er nicht zahlt.«

»Verstehe ich nicht«, sagte Paul. »Er kann ja nicht einfach aufstehen und gehen. Das wäre Zechprellerei, und du könntest ihn anzeigen.«

Jan-Patrick nahm den Begriff auf: »Zechprellerei. Das trifft es an sich schon recht gut. Nur leider kann ich nichts dagegen unternehmen. Mir sind die Hände gebunden.«

»Geht’s vielleicht etwas deutlicher?«, fragte Paul.

»Na ja, es ist so, dass ich gar nicht darum herumkomme, Dr. Gerstner die Rechnung zu erlassen. Denn ein ums andere Mal hat er etwas zu bemängeln.«

»Zu bemängeln?«, hakte Katinka nach.

Jan-Patrick nickte. »Mal sind es Gräten im Forellenfilet, mal ist der Salat nicht gründlich genug geputzt, und neulich fand er das sprichwörtliche Haar in der Suppe. Ich kann es mir nicht leisten, einen Mann seines Renommees trotzdem zur Kasse zu bitten, denn wenn sich das herumspricht, verliere ich wahrscheinlich auch andere gute Gäste.«

»Ich habe bei dir noch nie auf eine Gräte gebissen oder erlebt, dass es beim Salatessen zwischen den Zähnen knirscht«, meinte Paul.

»Natürlich nicht. Wir arbeiten mit allergrößter Sorgfalt. Und auch das Haar ist Unfug, denn in der Küche tragen selbstverständlich alle ein Netz.« Beklommen sah er sie an. »Aber ich kann nichts tun. Denn wie sollte ich beweisen, dass meine Speisen die Küche in einwandfreiem Zustand verlassen haben?«

»Schwierig«, pflichtete Katinka ihm bei. »Zumal bei einem wie Gerstner. Ich an deiner Stelle würde mich nicht mit ihm anlegen. Dabei ziehst du den Kürzeren.«

»Aber was soll ich tun?«, fragte Jan-Patrick ziemlich verzweifelt.

»Hoffen, dass sich Gerstner bald ein anderes Stammlokal sucht«, sagte sie. »Bis dahin wirst du wohl gute Miene zum bösen Spiel machen müssen.« Sie setzte ein Lächeln auf und zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche. »Zum Glück hast du ja auch zahlende Gäste. Sagst du mir, was du bekommst? Ich muss nämlich dringend zurück ins Büro.«

»Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?«, bremste Paul die Aufbruchsstimmung.

Katinka schlug ein großzügiges Trinkgeld auf, erhob sich und zog ihre Anzugjacke zurecht. »Es gibt leider nichts zu sagen«, meinte sie an Paul gewandt.

Der stand ebenfalls auf. »Was soll das heißen?«

Katinka führte Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand zusammen und ließ sie über ihren Mund gleiten, als zöge sie einen Reißverschluss zu.

»Topsecret«, sagte sie noch, bevor sie ging.