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Table of Contents

Titelseite

Was bisher geschah

Prolog

1. Das neue Zuhause

2. Ein Gespräch unter Freunden

3. Der alte Pakt

4. Raus mit der Sprache!

5. Zu viele Noten

6. Feuer, Asche und das Opernhaus

7. Überraschungsbesuch

8. Verfolgungsjagd

9. Bis zum Tod

10. Eine Floßfahrt, die ist lustig

11. Die Träne von !Nariba

12. Du Essenzsäufer

13. Ein alter Freund

14. Der Spiegelsaal

15. Knapp daneben ist auch vorbei

16. Der sterbende Freund

17. Ein Lied zum Abschied

18. Lebewohl

19. Des Kompasses Ziel

20. Ich Tarzan, du Jane

21. Ausweg

22. Dunkel oder Licht?

23. Die transzendente Apparatur

24. Ein Herz, zu bluten

25. Ein Herz, zu bewahren

26. Die Zusammenkunft

27. Plaudern auf dem Dach

28. Seelenverwandte

29. Was dereinst war

30. Tod eines Unsterblichen

31. Schall und Rauch

Epilog

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum


Das Erbe der Macht

Band 16

»Hexenholz«


von Andreas Suchanek

 

Was bisher geschah

 

In der Welt der Magie herrscht Chaos. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Schattenfrau ist der Wall vollständig entstanden und dämpft die Magie immer stärker.

Im Castillo ist der mystische Onyxquader zerbrochen. Aus dem Inneren kommt ein Mann zum Vorschein, der anscheinend sein Gedächtnis verloren hat. Niemand ahnt, dass es sich um Bran handelt, der die Erschaffung des Walls einst mit in die Wege leitete. In einem Splitterreich entdecken die Magier um Johanna von Orleans das Volk der Varye und erfahren, dass Bran noch am Leben ist. Nicht nur das – er hat auch Leonardo gefangen genommen.

Seit den Ereignissen um die Schattenfrau ist Alex ein gewöhnlicher Nimag und arbeitet unter Beobachtung von Tomoe in der Holding. Um ihn vor dem sicheren Tod zu retten – denn in seinem Inneren kämpft das Sigil darum, die Ketten des Zaubers abzustreifen, was letztendlich zum Aurafeuer führen würde – entführen Jen, Chris, Kevin, Max und Nikki den Freund. Mit Hilfe der Zeitmaschine von H. G. Wells reisen sie in die Vergangenheit. Während der Russischen Revolution werden sie in eine Intrige verwickelt und erkennen, dass Rasputin einst ein Wechselbalg war, genau wie Anastasia Romanow. Obgleich der Plan der Freunde fehlschlägt, gelangt die Zarentochter, die eigentlich Kyra heißt, in die Gegenwart. Mit ihrer Hilfe erhält Alex seine Erinnerung zurück.

Da weder er noch Kyra mit den Freunden ins Castillo zurückkehren können, hat Alex eine andere Idee. Er kennt einen Ort, an dem sie sicher sind.

Prolog

 

Am Anfang war der Himmel.

Doch ohne das Erdenreich und die Sterne am Firmament war die Wirklichkeit leer und bar jeglichen Lebens. Da stieg !Nariba herab und aus seinem Atem wurden Erde und Sterne geboren. Doch auch das war nicht genug.

Er nahm sich eine Kreatur des Himmels – einen Vogel –, verbrannte dessen Flügelspitzen mit Feuer und band den übrigen Flügel mit einer Schnur an Holz und Kohle. Mit all seiner Kraft schleuderte er das Gebilde davon, erreichte aber nicht den Himmel. Erst beim dritten Versuch gelang es, und so erschuf er die Sonne. Die Hitze des neuen Gestirns loderte herab auf die Erde und so musste er kriechen. !Nariba verbrannte seine Knie und aus der Asche erwuchs ein Baum, der !Kxare, mächtig und weit, in dessen Schatten er Linderung fand.

Selbst in den Jahren vor dem Wall lachten Magier laut auf, wenn ihnen von dem alten Mythos berichtet wurde. Längst erblühte eine gewaltige Zivilisation, Wissenschaft und Magie gingen Hand in Hand.

Aber jeder Mythos hat einen wahren Kern.

Denn was niemand sah, was vor aller Augen verborgen lag, war die wahre Macht im Kern der Geschichte. Sie ruhte nicht etwa in !Nariba oder in seiner allmächtigen Gewalt. Nein, es war der Baum, in dessen Schatten der Gott verweilte und regenerierte. Obgleich niemand die Wahrheit erkannte, fand das Holz des Baumes doch seinen Weg durch alle Zeiten und wurde ein Teil der magischen Welt. Ob Essenzstäbe, Apparaturen oder Rüstungselemente, es war immer da. Die Jahrhunderte verstrichen und längst kennt kaum noch jemand den Mythos von !Nariba und dem ganz besonderen Baum, dessen Holz eines der essenziellen Materialien darstellt.

Neben Himmelsglas und Chrom ist es stets allgegenwärtig.

Das Hexenholz.

1. Das neue Zuhause

 

Mit einem Knall fiel das gewaltige Portal ins Schloss. Die Erschütterung erfasste das Gestein ringsum und führte dazu, dass direkt vor Alex eine stuckverzierte Hand auf den Boden krachte.

»Deine Idee erweist sich wie vermutet als brillant«, kommentierte Jen. »Du hast den Zauber überlebt und wirst nun von einer Skulptur erschlagen.«

»Wie schön.« Alex grinste sie an und wusste genau, dass sie das noch mehr provozierte. »Dann sterben wir gemeinsam.«

»Wenn das für euch in Ordnung ist, hauen Kyra und ich vorher ab«, mischte Nikki sich ein. Als Springerin war sie definiiv nicht in Gefahr, konnte vor jeder Gefahr mit einem Plopp verschwinden.

Kyra, die weiterhin das Äußere einer blonden Siebzehnjährigen trug, ging vorsichtig weiter in die Eingangshalle. »Was ist das hier?«

»Ein Castillo«, erklärte Alex hilfsbereit. »Genau genommen ist es ein verlorenes Castillo. Jen und ich waren schon einmal hier. Zugegeben, das war nicht ganz freiwillig und hat keinen Spaß gemacht.«

In wenigen Worten schilderte er Kyra, wie sie durch eine manipulierte Sprungtorverbindung im Verlorenen Castillo gelandet waren. Kurz vor der Errichtung des Walls war es von den Horden der Schattenkrieger belagert worden. In einem verzweifelten Rettungsversuch hatten die Magier es aus der Wirklichkeit entfernt. Mit fatalen Folgen, denn der Zauber ließ sich nicht mehr lösen. Die Magier waren gestorben, nur eine Person hatte überlebt: Tilda, da sie kein Sigil besaß. Das Artefakt, das den Zauber aufrechterhielt, nutzte die Sigile nämlich als Nahrung. Nachdem Alex es zerstört hatte, waren Jen, er und Tilda nach Spanien zurückgekehrt. Vorher hatten sie das Verlorene Castillo in einem künstlichen Berg aus gehärtetem Sand versiegelt. Im Zuge des Kampfes gegen die Schattenfrau hatte niemand mehr daran gedacht, die hier noch immer gelagerten Artefakte und Schriften zu bergen.

»Ich habe davon gehört.« Kyra schritt ein wenig tiefer in die Halle und sah sich aufmerksam um. »In den Jahren vor dem zweiten großen Krieg, als ich in Paris als Tänzerin auftrat, flüsterten einige Magier davon. Sie gehörten zu einer Gruppe, die das Verlorene Castillo suchten.«

»Daran haben sich ständig irgendwelche Magier versucht«, warf Jen ein.

»Aber nur wir haben es geschafft«, verkündete Alex fröhlich und stupste Jen mit seinem Ellbogen in die Rippen.

Leider ein wenig zu fest, weshalb Jen zur Seite taumelte. »Kent, wenn du das noch mal machst, steche ich mit meinem Essenzstab zurück.«

»So gemein solltest du zu deinem Seelenverwandten nicht sein.« Er klimperte mit den Wimpern.

Jen brodelte. »Vielleicht haben wir ja Glück und hier gibt es noch ein Monster.«

Nikki kicherte.

Kyra stand direkt vor dem großen Banner. Es hing noch immer gegenüber der Eingangshalle an der Wand und zeigte das Symbol des Castillos, gestickt mit goldenen Fäden auf rotem Grund. »Das ist so traurig.«

»Die Skelette liegen oben«, erklärte Alex liebenswürdig. »Die müssen wir noch wegschaffen.«

»Was?« Das Wechselbalg-Kind sah ihn mit großen Augen an.

»Kent, du machst ihr Angst.«

»Ich härte sie nur ab«, gab er zurück. »Außerdem ist sie mehrere hundert Jahre alt.«

»Für Wechselbalgverhältnisse ist das jung«, schrie Jen ihn an. »Oder?«, fragte sie Kyra.

Diese nickte. »Ist aber schon gut. Ich habe damals viel erlebt.« Sie schluckte.

Sofort spürte Alex einen Hauch von Schuldgefühl. Immerhin hatte Kyra in ihrer Gestalt als Anastasia Romanow ihre gesamte Familie verloren und war – nach eigener Aussage – der letzte existierende Wechselbalg. Sah man von Rasputin ab, der allerdings an eine feste Gestalt gebunden war.

»Du wirst auf jeden Fall etwas tun müssen, was du noch nie zuvor getan hast, Kent«, erklärte Jen mit einem bedrohlichen Grinsen.

»Und das wäre?«

»Putzen.«

Gemeinerweise kicherte Nikki erneut.

»Wir schaffen das schon«, gab Alex schlagfertig zurück. »Ein Zauber hier, ein Zauber da – und alles blitzt und blinkt wieder.«

»Chris, Kevin und Max sind schon dabei, Vorräte zusammenzustellen«, warf Nikki ein. »Tilda weiß Bescheid und hilft.«

Die drei Freunde waren von Kanada aus mit Nikkis Hilfe ins Castillo zurückgekehrt. Schließlich konnte niemand wissen, wann jemand auf ihr Verschwinden aufmerksam werden würde.

»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte Jen ernst. »Jeder Lichtkämpfer dort draußen hält Ausschau nach dir.« Sie warf Alex einen Blick zu, der so viel mehr transportierte, als es Worte jemals tun konnten. Sie sorgte sich um ihn. Was kein Wunder war, wäre er doch vor wenigen Minuten beinahe in ihren Armen gestorben. »Johanna wird ihre Anstrengungen verstärken, dich zu finden. Außer Tilda, Annora Grant und H. G. Wells weiß niemand, wo du bist. Aber die Unsterblichen verfügen über Zauber, die wir nicht kennen.«

Alex nickte langsam. Johanna von Orleans hatte seinen Tod in Kauf genommen, indem sie seine Erinnerungen gelöscht hatte. Nicht nur das: Sie hatte es gewagt, Alex‘ Mum alles vergessen zu lassen. Dadurch hatte er sich auch nicht um Alfie kümmern können. Sein Bruder hing noch immer in den Fängen Moriartys. Das würde er der Rätin niemals verzeihen, egal welchen Grund es geben mochte.

»Die Devise lautet also: Vorsicht«, schaltete sich auch Nikki ein. »Das gilt auch für dich, Kyra. Du bist der letzte Wechselbalg. Die Schattenkrieger und Lichtkämpfer sind sich einig, was dich betrifft.«

»Wüssten sie, dass ich noch lebe, würden sie mich töten.« Kyra nickte leichthin. »So war es damals, so ist es heute. Meine Vorfahren haben so viel infiltriert und gemordet, dass die Versammlung der Mächtigen damals beschlossen hat, uns alle auszurotten.«

Alex verzichtete auf einen Kommentar. Seiner Meinung nach hätten die Unsterblichen die Wechselbälger auch einfach in den Immortalis-Kerker werfen oder in Bernstein lagern können. Warum musste es immer gleich die endgültige Lösung sein? Andererseits waren die Zeiten brutaler gewesen. Sowohl bei den Nimags als auch bei den Magiern.

»Also schön.« Jen klatschte in die Hände und sah dabei unglaublich hübsch aus. Ihre Wangen leuchteten und ihre Stupsnase … »Hör auf, mich so anzustarren, Kent! Die Jungs kümmern sich mit Tilda um den Proviant. Ihr beiden macht das verlorene Castillo wohnlich. Nikki versorgt euch mit Nachschub.«

»Und du?«, fragte er neugierig.

»Ich werde versuchen herauszufinden, was Mark damals entdeckt hat. Wir wissen, dass Johanna dir deshalb die Erinnerungen nahm. Irgendwo in der Bibliothek oder im Archiv muss es dazu Hinweise geben. Wir werden erst Ruhe haben, wenn dieses Rätsel gelöst ist.«

Der Putz auf dem Boden knirschte, als Jen zu Nikki ging. Jede freie Oberfläche war bedeckt von Staub, abgebröckeltem Putz und Sand. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen und von den Tischen in der Halle waren nach der Auflösung des Zaubers nur noch Holzstücke übrig. Als habe ein Tornado alles verwüstet, was der Wahrheit recht nahe kam.

Immerhin wusste Alex, dass die Küche blitzblank war, darauf hatte Tilda geachtet.

»Wir schauen bald wieder vorbei.« Jen lächelte ihm kurz zu.

Nikki und sie verschwanden mit einem Plopp.

Kyra verschränkte die Arme und grinste ihn an. »So, du hast Jen also geküsst. Ich will alles wissen.«

2. Ein Gespräch unter Freunden

 

Einige Tage später

 

Er stank nach Weihwasser.

Moriarty verzog angewidert das Gesicht. Die Archivare der endlosen Tiefen besaßen einen makabren Sinn für Humor. Der Eingang zu diesem ganz und gar dunklen und unheiligen Ort befand sich in verschiedenen Kirchen. Genauer: in deren Weihwasserbecken.

Er wischte den Gedanken beiseite, während er durch die Straßen des Örtchens schlenderte und sich dem freien Feld näherte. Die East End war in der Nähe, weshalb er die endlosen Tiefen über diese Kirche verlassen hatte. Seine Recherche war nur zum Teil erfolgreich gewesen, aber das war genug.

Ein kalter Wind fuhr durch die Gassen, Nieselregen wehte ihm ins Gesicht. Das Wetter war ganz nach seinem Geschmack. Auf dem freien Feld führte er einen kurzen Lokalisierungszauber aus. Hoch über ihm schwebte die East End.

»Signum«, sprach er und erschuf das Symbol.

Kurz darauf erschien Madison neben ihm. Lediglich Crowley und sie hatten das kurze Regnum der Schattenfrau überlebt, alle anderen Sprungmagier waren von ihr getötet worden.

»Hallo, Charlie«, sagte Madison mit einem Grinsen.

»Bitte?«

»Drei Engel für … egal. Nach oben, Boss?«

»In der Tat.«

Die Umgebung verschwand. Sie materialisierten an Bord des Luftschiffs. Die Gondel zog sich über den gesamten Bauch des Zeppelins und war ausgekleidet mit allerlei magischen Materialien – Hexenholz, Himmelsglas, Chrom und einem Hauch Noxanith. Die ablativen Bernsteine waren aufgeladen mit Essenz.

»Neuigkeiten?«

Madison schüttelte den Kopf, wodurch ihre bauschige Mähne leicht wippte. Wie immer trug sie legere, aber enge Kleidung. »Es ist langweilig.«

»Nicht mehr lange, sei dir versichert.«

Er ließ sie stehen und steuerte die Krankenstation des Schiffes an, wo Olga sich um den unbekannten Nimag kümmerte, den Moriarty eingesperrt in einer Statue unter dem alten Refugium gefunden hatte.

»Willkommen zurück«, sagte die Heilmagierin, ohne von einem augenscheinlich sehr wichtigen Pergament aufzublicken. Ihr dunkles Haar hatte sie mit einem Reif nach hinten gelegt.

»Was macht unser Patient?« Moriartys Blick erfasste den schlafenden Nimag, der weitaus besser aussah als noch vor wenigen Tagen.

»Er isst und trinkt, wird langsam kräftiger und seine Verwirrung legt sich.« Olga rollte das Pergament zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit gänzlich Moriarty zu. »Es ist seltsam. Bis vor wenigen Tagen war er unruhig und verwirrt, aber das hat sich abrupt gelegt. Sein Verstand wird mit jedem Tag klarer, schärfer, zielgerichteter.«

Alexander Kent ist wieder ein Magier. »Ich verstehe.« Er war mit zwei Schritten neben der Liege. »Aufwachen!«

Der Nimag öffnete abrupt die Augen. Für einen Moment wirkte er zutiefst verärgert, dann flackerte sein Blick. »Du bist … Moriarty.«

»So ist es. Und wir beide müssen uns unterhalten.« Er zog einen Stuhl heran und nahm darauf Platz.

Der Nimag setzte sich auf. Mittlerweile trug er eine Jogginghose und ein T-Shirt. Kleidung, die Alfie Kent zur Verfügung gestellt hatte. »Ja?«

»Wie heißt du?«

Der Nimag erwiderte den Blick lange. Beinahe hätte Moriarty es für eine Provokation gehalten, wüsste er es nicht besser. »Jackson.«

»Deine Erinnerung kehrt also zurück.«

Der Nimag nickte vorsichtig. »Bruchstückhaft, aber schnell. Und da sind Bilder … seltsame Bilder.«

»Ja?«

»Leuchtende Energien, Symbole und Männer mit Essenzstäben. Kämpfe. Es ist alles verworren.«

Eine weitere Bestätigung. Der Nimag erinnerte sich an Magie. Etwas, das eigentlich nicht hätte sein dürfen, denn der Wall maskierte jede Art von Essenz oder gewirkten Zaubern. Selbst der Angriff durch Saint Germain und seine Unterstützer hätte wie ein normaler Überfall aussehen müssen.

»Sind es neue Erinnerungen?«

Ein Kopfschütteln. »All das war schon einmal da. Der Graf hat mich ständig danach gefragt.« Nun ballte der Nimag die Fäuste. »Er hat mich gefoltert.«

Eine durchaus naheliegende Idee, die Moriarty vermutlich sogar mit mehr Nachdruck angewendet hätte. Doch im vorliegenden Fall war das nicht notwendig. »Du hast dich also erinnert, dann wieder alles vergessen und jetzt kehrt die Erinnerung zurück.«

»Genau.«

»Sag mir, wann die erste Erinnerung gekommen ist.«

Der Nimag knabberte gedankenverloren an seiner Unterlippe, dann erwiderte er: »Etwas mehr als ein Jahr ist das jetzt her.«

Moriarty lauschte den weiteren Ausführungen und konnte die Parallele herstellen. Zu jenem Zeitpunkt, als Alexander Kent zum Magier geworden war, hatte der Nimag Magie erkennen können. Bilder waren aufgetaucht, Illusionierungen waren verschwunden. Doch dann hatte Johanna von Orleans den Vergessenszauber ausgesprochen. Abrupt hatte der Nimag wieder eingebüßt, was er an Magie erfasst hatte. Doch jetzt kehrte alles zurück. Man musste kein Genie sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Madison, Jason und Alfie waren dabei gewesen, als die Freunde von Alexander Kent diesen aus der Holding in London entführten. Ihnen war es also gelungen, den Zauber zu brechen. Das war beeindruckend, wie Moriarty gestehen musste. Kein gewöhnlicher Magier wurde in die Zauber der Unsterblichen eingeweiht, nicht einmal die Agenten – gedanklich verfluchte Moriarty Max Manning – erfuhren diese.

»Ich muss fort«, flüsterte der Nimag.

»Was meinst du damit?«

»Etwas zieht mich fort.«

»Wohin?«, fragte Moriarty.

»Afrika. Südafrika. Dort ist etwas Wichtiges, das ich unbedingt erreichen muss.«

»Afrika. Soso. Also gut, wir bringen dich dorthin. Ruh dich aus.«

»Ich will mich nicht ausruhen!«, blaffte der Nimag.

»Somnus.« Moriarty malte blitzschnell das entsprechende Symbol mit seinem Essenzstab auf Jacksons Haut.

Er verlor sofort das Bewusstsein.

»Du hast also etwas erfahren«, stellte Olga fest, während sie Puls und Atmung des Nimags prüfte.

»Oh ja, das habe ich. Und ich bin noch nicht sicher, was ich davon halten soll.« Er verschränkte die Arme und trat an eines der Fenster.

Die East End schwebte zwischen dunklen Wolken dahin. Er liebte den Ausblick. Die zuckenden Blitze, die Wirbel, die sich bildeten und vergingen, die rohe Gewalt der Natur, die kein Erbarmen gegenüber Schwäche zeigte.

»Anweisungen?« Olga nickte in Richtung des schlafenden Jackson.

»Einstweilen soll er ruhen und zu Kräften kommen. Oh, und eine Dusche wäre auch ganz nett.« Ausnahmsweise war Moriarty froh über den Weihrauchdunst, der ihn umgab.

»Er dürfte in Kürze soweit sein, dass wir ihm eine Kabine zuteilen können.« Olga wandte sich wieder ihren Gerätschaften zu.

Moriarty verließ die Krankenstation. Er musste mit Alfie, Madison und Jason sprechen. Die drei waren am Zug, sobald die East End Afrika erreichte.

3. Der alte Pakt

 

Er spürte noch immer die Küsse von Madison und Jason auf seiner Haut.

»Hör auf, so zufrieden zu grinsen, Baby Kent«, rief Madison vom Bett herüber.

Seine Antwort bestand in einem Knurren. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass sie ihn so nannte, obwohl das gleichzeitig Erinnerungen an seinen Bruder an die Oberfläche spülte. »Gerne doch, Maddy.«

Ein Kissen landete direkt in seinem Gesicht.

»Nein, aufhören«, schaltete Jason sich ein. Sein Haar war zerzaust, er trug nichts außer einem Slip. Seine Sommersprossen schienen zu leuchten. »Das letzte Mal habt ihr meine Kabine vollständig verwüstet.«

Alfie wechselte einen tiefen Blick mit Madison. Im nächsten Augenblick waren sie alle drei in eine wilde Rauferei verwickelt, in der mal ein Kissen in einem Gesicht landete, mal ein Kuss.

Dieses Mal zog er seinen beiden Freunden keine Essenz ab. Als Nimag unter Magiern konnte er nur dank allerlei Hilfsmitteln Zauber wirken. Sein Essenzstab war mit eingelassenen Bernsteinen versehen, die stets neu aufgeladen werden mussten, der Sprunggürtel funktionierte dank des Walls überhaupt nicht mehr. Immerhin, die Pilotenbrille, die es ihm ermöglichte, Magie zu sehen, war nicht länger notwendig.

Alfie musste lediglich den Trank einnehmen, der sein Blut mit Bernsteinpartikeln anreicherte. Wenn er dann mit Jason und Madison einen Moment absoluter Intimität erlebte – also hemmungslosen Sex –, floss die Energie förmlich in ihn hinein. Von dort aus konnte er sie aus den Partikeln ableiten in den Essenzstab und in andere Artefakte aus dem Fundus von Agnus Blanc.

Einen Teil aber hielt er zurück. Diese Restessenz sorgte dafür, dass er Magie sehen konnte. Die Neuerung verdankte er Moriarty, der den Trank verbessert hatte. Damit war er die klobige Pilotenbrille los, die sonst bei jedem Einsatz auf seiner Nase gesessen hatte.

»Oh, wie ich spüre, hast du wieder Essenz in deinen Stab geleitet«, säuselte Jason.

Alfie prustete los und auch Madison hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Das mit den Metaphern solltest du lassen«, sagte Alfie, als er wieder Luft bekam. »Das zerstört nur jede Stimmung.«

Jason grinste breit.

Ein Klopfen erklang.

Alfie sprang vom Bett, richtete seine Haare und zupfte sein T-Shirt zurecht.

»Da will jemand vor dem Boss immer noch einen guten Eindruck machen, was? Herein!«

Alfie warf Madison einen bösen Blick zu.

»Ah, ich störe doch hoffentlich nicht«, grüßte Moriarty.

»Nein«, beeilte Alfie sich zu versichern, »wir sind gerade fertig geworden. Mit der Planung. Brainstorming. Wir …«

»Baby Kent, du sitzt im Loch. Hör auf, es noch tiefer zu buddeln.« Madison rutschte vom Bett. »Man kann deutlich sehen, was wir hier gerade getan haben.«

Alfies Wangen brannten. »Ein neuer Einsatz?«

Moriarty schmunzelte. Eine Regung, die man von ihm nicht oft zu sehen bekam. »So ist es. Wir sind auf dem Weg nach Afrika. Der Kapitän aktiviert gleich den Essenzantrieb. Setzt euch bitte, das hier ist ernst.«

Sofort war jede Heiterkeit verschwunden.

Während Moriarty sich an die Tür der Kabine lehnte, zogen Madison, Jason und Alfie sich Stühle vom Tisch heran und setzten sich darauf.

»Meine Recherchen in den endlosen Tiefen haben nur Bruchstücke zutage gefördert, doch diese sind … beunruhigend. Es scheint, als existiere ein alter Pakt. Niemand weiß, wann oder von wem er geschmiedet wurde, doch er ist eingebettet in die Fasern der Magie selbst. Nur wenige Menschen wissen davon. Joshua, der letzte Seher, sprach in einer seiner Prophezeiungen darüber.«

Moriarty räusperte sich, hob den Essenzstab, und aus dem Nichts heraus erklang eine Stimme.

 

Ein Krieg am Anfang, am Ende, immerdar.

Zwei Seiten im ewigen Streit.

Schnee und Asche, Asche und Schnee.

Ein Zyklus für die Ewigkeit.

 

»Das ist eine der Prophezeiungen, die Danvers aus dem Folianten lesbar machte!«, rief Madison. »Aber ging es dabei nicht um die Schattenfrau?«

»So dachten alle«, bestätigte Moriarty. »Doch während all die anderen Verse den Ereignissen um die Schattenfrau zugeordnet werden konnten, blieb dieser ohne Deutung. Er steht jedoch auch in einem Buch, das einst über den alten Pakt geschrieben wurde.«

»Worin geht es denn in diesem Pakt?«, fragte Alfie.

»Stellvertreter aller Seiten – damit sind wohl Gut und Böse, Magier und Nimags gemeint – kämpfen gegeneinander. In jeder Generation finden sich zwei Seelenverwandte. Ein Nimag und eine Kriegerin streiten gemeinsam gegen ihre Spiegelbilder. Sobald alle vier ihr Schicksal begriffen haben, finden sie einander. Der Kampf muss stets mit dem Tod der Vertreter einer Seite enden.«

»Asche und Schnee«, flüsterte Jason. »Aber warum?«