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Die Autoren

Prof. Dr. Thomas Kretschmar ist Diplom-Kaufmann, klinischer Psychologe und zertifizierter Senior Coach (DBVC/DCV). Er ist Geschäftsführender Direktor des Mind Institute SE Berlin und war vorher ordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaften an der HTW Berlin. Als Unternehmer gründete er die Hypoport AG, die er über zehn Jahre lang leitete und an die Börse brachte. Forschungsschwerpunkte sind betriebliche Diagnostik und die Anwendung von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie in der Wirtschaft; insbesondere im Einzel-Coaching.

Prof. Dr. Andreas Hamburger ist Professor für Klinische Psychologie an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin, Psychoanalytiker (DPG), Dozent, Lehranalytiker und Supervisor der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München/DGPT. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: u. a. Supervision, Mikroanalyse, Filmpsychoanalyse und Soziales Trauma.

Thomas Kretschmar Andreas Hamburger

Coaching und Supervision

Psychodynamische Beratung von Führungskräften

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033764-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033765-7

epub:     ISBN 978-3-17-033766-4

mobi:     ISBN 978-3-17-033767-1

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Vorwort der Reihenherausgeber

 

 

 

Supervision wird seit vielen Jahren in therapeutischen, sozialen, pädagogischen, ärztlichen und organisatorischen Handlungsfeldern eingesetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich eine Vielzahl an unterschiedlichen Richtungen ergeben. In der Kohlhammer-Reihe Supervision im Dialog sollen die wichtigsten methodischen Auffassungen berücksichtigt werden: Psychodynamische, systemische, kognitiv-verhaltenstherapeutische und humanistische Ansätze werden einbezogen, wobei es viele Überschneidungen in den supervisorischen Vorgehensweisen gibt.

Auch die Anwendungsfelder von Supervision haben sich seit den ersten Anfängen in der Psychoanalyse und in der Sozialen Arbeit ausdifferenziert. Die Buchreihe Supervision im Dialog widmet solchen Einsatzbereichen und Handlungsfeldern je einen eigenen Band, um ein lebendiges und praxisnahes Bild der spezifischen Aufgaben und Bedingungen zu vermitteln. Therapien und Beratungen für Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen und Organisation sind die wichtigsten Einsatzbereiche von Supervision. Neben der berufsbegleitenden Anwendung ist Supervision auch einer der wichtigsten Bausteine in vielen Ausbildungen, sei es zum Psychotherapeuten, Facharzt oder in der Sozialen Arbeit. Es gibt auch Gebiete, in denen die Einführung bzw. verstärkte Durchführung regelmäßiger Supervisionen ein Desiderat darstellt, wie etwa in Lehr- und Betreuungseinrichtungen und Krankenhäusern.

Die Besonderheit der Reihe ist der Dialog. Jeder Band wird von mindestens zwei Autoren gestaltet, die unterschiedliche Positionen vertreten und diese nach jedem Hauptkapitel miteinander vergleichen. So lernen Leser nicht nur die wichtigsten Themen, Hintergründe und Kontroversen kennen, sondern erleben dabei auch einen lebendigen Austausch zweier engagierter Fachvertreter. Die Diskussion in Dialogform dient dem Zweck, den zuvor abgehandelten Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, die Essenz noch einmal zu benennen, offene Fragen, Probleme und Verbesserungsvorschläge zu diskutieren.

Wir hoffen, durch diese dialogische Präsentation des in Bewegung befindlichen Kompetenzfeldes der Supervision auch die Leser unserer Reihe zum Austausch anzuregen.

Andreas Hamburger
Wolfgang Mertens

Geleitwort

 

 

 

Psychodynamisches Coaching wird – obgleich sicherlich die gründlichste und menschlich befriedigendste Form der Beratung von Personen aus Profit- und Non-Profit-Organisationen – noch viel zu selten praktiziert. Denn sie erfordert nicht nur psychoanalytisches Wissen und Können, sondern auch organisatorisches Know-how entweder aufgrund eigener Erfahrung in Führungspositionen und/oder einer entsprechenden Tätigkeit in einem wirtschaftlichen oder sozialen Unternehmen.

Damit ein Coaching psychodynamisch erfolgen kann, muss nicht nur das Setting entsprechend festgelegt sein. Es müssen auch die Verstehensschritte innerhalb einiger weniger Sitzungen so beschaffen sein, dass sie bewusstseinszugänglich sind, aber dennoch eine emotionale Dichte erreichen können. Denn es sollen nicht nur kognitive Problemlösungen, sondern emotional fundierte Einsichten erzielt werden, die neue Erfahrungen entstehen lassen, ohne aber dabei Abwehrprozesse allzu sehr zu schwächen. Diese komplexe, auf eine einzelne Person abgestimmte Vorgehensweise erfordert neben der Kenntnis der jeweiligen organisatorischen Gegebenheiten sehr viel Intuition und Erfahrung im Umgang mit der Fokussierung relevanter Konflikte, entsprechender Ängste und deren Abwehr. Wie kann sie annäherungsweise formalisiert, gelehrt und evaluiert werden?

Es ist als eine Besonderheit des vorliegenden Buches zu betrachten, dass sich – entsprechend der Konzeption der Reihe »Supervision im Dialog« – zwei Autoren zusammengefunden haben, die unterschiedliche Sozialisationen und berufliche Erfahrungen aufweisen, die sich in ihrer Wertschätzung der Psychoanalyse begegnet sind und nun im vorliegenden Band in einen fruchtbaren und spannenden Austausch treten.

Thomas Kretschmar ist studierter Diplom-Kaufmann, wurde ordentlicher Professor für Bankorganisation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, gründete ein technologiebasiertes Finanzdienstleistungs-Unternehmen, das er sogar an die Börse (SDAX) brachte, arbeitete viele Jahre als Coach und studierte schließlich noch Psychoanalyse an der Sigmund-Freud-Universität in Wien und an der International Psychoanalytic University in Berlin.

Andreas Hamburger ist Geisteswissenschaftler, studierte anschließend Psychologie in München und ließ sich nach Diplom und Promotion an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie zum Psychoanalytiker ausbilden. Nach seiner Habilitation wurde er an die International Psychoanalytic University als Professor berufen. In seiner privaten Praxis berät er immer wieder Personen aus der Wirtschaft und supervidiert Coaches.

Der Dialog der Autoren kann die Spannung, die zwischen den beiden Erfahrungsfeldern existiert, an vielen Stellen verdeutlichen: Wie gut können die ökonomischen Rahmenbedingungen unternehmerischer Tätigkeit mit dem Streben nach Selbstreflexion und Aufrichtigkeit sich selbst und anderen Menschen gegenüber in Einklang gebracht werden? Können die Ziellosigkeit und Anarchie unbewusster Vorgänge mit wirtschaftlich rationalen Prozessen überhaupt in Kontakt kommen? Verhilft eine intensivere Selbsterkenntnis tatsächlich zu einem besseren Umgang mit Mitarbeitern oder verführt psychodynamische Erfahrung überwiegend zu einem manipulativen Herrschaftswissen? Wird mit dem gefälligen Begriff des Coachings vielleicht sogar verschleiert, dass nicht wenige Arbeitsbedingungen auch psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehen können, die mehr als nur ein Coaching erfordern? Wie groß ist die Gefahr, dass manche psychodynamischen Coachs und Supervisoren die Augen vor der Wahrheit und dem unerträglichen Wissen immer wieder verschließen und in eine Kollusion mit problematischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgängen geraten?

Andererseits: Warum sollten die vielen wertvollen Erkenntnisse der Psychoanalyse nur Patienten in einem therapeutischen Setting vorbehalten bleiben und nicht auch für Prozesse im Arbeitsleben von Menschen fruchtbar eingesetzt werden können? Das Wissen um konflikthafte Vorgänge im Einzelnen und in beruflichen Gruppen, um die Schwierigkeiten, sich psychische Abläufe emotional und reflexiv aneignen zu können, um die Risiken, zu sich selbst wahrhaftig zu sein, ist für alle Menschen wichtig. Auch aus diesem Grund ist psychodynamisches Coaching unerlässlich und die Supervision dieses Vorgehens eine absolut notwendige Methode, die Qualität dieser für das menschliche Zusammenleben zentralen Werte zu sichern.

Der Mut, sich mit all diesen kritischen Fragen auseinanderzusetzen, steckt den Rahmen ab, in dem sich dieses spannend zu lesende Buch über Supervision und Coaching bewegt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Mertens

August 2018

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort der Reihenherausgeber
  2. Geleitwort
  3. Vorwort der Autoren
  4. Danksagung
  5. 1 Historischer Überblick
  6. 1.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Coaching und Supervision
  7. 1.2 Geschichte der psychodynamischen Arbeit in Unternehmen
  8. 1.2.1 Geschichte der psychoanalytischen Supervision
  9. 1.2.2 Von der Couch zum Unternehmen: Anwendungen der psychoanalytischen Supervision auf soziale Kontexte
  10. 1.3 Anwendung im psychodynamischen Coaching
  11. 1.4 Anwendung in der psychoanalytischen Organisationssupervision
  12. 1.5 Gegenwärtiger Stand von Coaching und Organisationssupervision
  13. 1.5.1 Coaching: Qualitätsinitiative in Verbänden
  14. 1.5.2 Ausbildung, Zertifizierung und Lizensierung in Psychoanalytischer Supervision
  15. 1.6 Coaching-Anlässe und Methoden
  16. 1.7 Diskussion: Wie und wem nützen Coaching und Supervision? Organisations- und Individualperspektive, trainieren oder aufdecken.
  17. 2 Das Unbewusste im Unternehmen
  18. 2.1 Unbewusste Strukturen auf der Systemebene
  19. 2.1.1 Die primäre Aufgabe
  20. 2.1.2 Spaltung zwischen Führung und Management
  21. 2.1.3 Das Unternehmen als psychischer Rückzugsort
  22. 2.1.4 Die perverse Organisation
  23. 2.1.5 Das Nachfolgerproblem auf Systemebene
  24. 2.2 Unbewusste Strukturen auf der Personenebene
  25. 2.2.1 Die emotionale Erfahrung, Teil einer Organisation zu sein
  26. 2.2.2 Familienunternehmen und Nachfolgerproblem: Die innerpsychische Ebene
  27. 2.3 Interaktion von personaler und systemischer Ebene
  28. 2.3.1 Das Konzept der neurotischen Organisation
  29. 2.3.2 Burnout
  30. 2.3.3 Female Leadership – eine persönliche Frage der Organisationsentwicklung
  31. 2.3.4 Familienunternehmen und Nachfolgerproblem: Interaktion Person – System
  32. 2.4 Diskussion: Organisationsperspektive, Individualperspektive und das große Ganze. Wo liegen die zentralen Themen von Coaching und Organisationssupervision?
  33. 3 State of the art
  34. 3.1 Haltung, Setting und ethische Prinzipien
  35. 3.1.1 Die Haltung des Coachs
  36. 3.1.2 Die psychoanalytische Haltung in der Organisationssupervision
  37. 3.2 Mit dem Unbewussten arbeiten – Grundzüge der Praxis
  38. 3.2.1 Herstellung eines analytischen Raums
  39. 3.2.2 Deutung
  40. 3.2.3 Beziehung
  41. 3.3 Im Übergang zwischen Psychoanalyse, psychodynamischer Beratung und klassischem Coaching
  42. 3.3.1 Die Anwendung der Freien Assoziation im nicht-klinischen Kontext
  43. 3.3.2 Geführte Assoziation mit Imaginationen
  44. 3.3.3 Wortassoziationstest nach C. G. Jung
  45. 3.3.4 Grenzen der klinischen Assoziationsmethoden
  46. 3.3.5 Farb-Assoziation
  47. 3.4 Diskussion: Implizite Wertannahmen und Ziele in Coaching und Organisationssupervision
  48. 4 Unverzichtbares Hintergrundwissen
  49. 4.1 Der Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse
  50. 4.1.1 Das Unbewusste als Apparat
  51. 4.1.2 Das Unbewusste als Homunculus
  52. 4.1.3 Das Unbewusste als Beziehung und Struktur
  53. 4.2 Freie Assoziation
  54. 4.3 Abwehr
  55. 4.4 Widerstand
  56. 4.5 Innere Objekte, Beziehungen und Reinszenierung
  57. 4.6 Übertragung und Gegenübertragung
  58. 4.7 Blinde Flecken
  59. 4.8 Motivation, Konflikt und Persönlichkeit
  60. 4.9 Analytischer Raum, Beziehungsangebot und Containing
  61. 4.9.1 Die Bedeutung von analytischem Raum, Beziehung und Containment in Supervision und Coaching
  62. 4.9.2 Containing im Coaching
  63. 4.10 OPD in der Wirtschaft
  64. 4.10.1 Achsen der OPD
  65. 4.10.2 Diagnostik der Beziehungsgestaltung
  66. 4.10.3 Diagnostik der Konflikte und weitere Operationalisierung
  67. 4.10.4 Diagnostik der Struktur
  68. 4.10.5 Möglichkeiten und Grenzen der OPD
  69. 4.11 Diskussion: Zur Legierung des Goldes – Sozialtechnik oder psychoanalytische Haltung?
  70. 5 Forschungsstand
  71. 5.1 Supervisionsforschung
  72. 5.1.1 Wirksamkeitsforschung
  73. 5.1.2 Prozessforschung
  74. 5.1.3 Institutionsanalyse, Aktionsforschung und ethnographische Methode
  75. 5.1.4 Szenisch-narrative Mikroanalyse in der Supervisionsforschung
  76. 5.2 Coaching-Forschung
  77. 5.2.1 Bisherige Ergebnisse
  78. 5.2.2 Test der Persönlichkeit aus psychodynamischer Sicht
  79. 5.2.3 Identifikation von blinden Flecken in der Gegenübertragung
  80. 5.2.4 Der Einfluss innerer Objekte auf wichtige Lebensentscheidungen
  81. 5.2.5 Messung der Abwehr
  82. 5.2.6 Messung und Aktivierung der Containing-Fähigkeit
  83. 5.2.7 Einfluss psychodynamischen Coachings auf die Selbstwirksamkeit
  84. 5.3 Diskussion: Wissenschaftsbasierung, Outcome- und Prozessforschung
  85. 6 Fallbeispiele
  86. 6.1 Herr L.: Die Angst vor dem Erfolg
  87. 6.1.1 Kommentar des Zweitautors
  88. 6.2 Frau G.: Hochleistung und Überforderung
  89. 6.2.1 Kommentar des Zweitautors
  90. 6.3 Herr K.: Vorstand oder Aufsichtsrat
  91. 6.3.1 Kommentar des Zweitautors
  92. 7 Resümee und Ausblick
  93. Verzeichnis von Organisationen zu psychodynamischem Coaching und psychoanalytischer Organisationssupervision
  94. Literaturverzeichnis
  95. Sachregister
  96. Personenregister

Vorwort der Autoren

 

 

 

Der psychodynamische Ansatz gewinnt auch in der Wirtschaftsberatung zunehmend an Bedeutung und erfordert eine Schule des psychodynamischen Coachings und der psychodynamischen Supervision. In der Beratung von Unternehmen brauchen wir Ansätze, die psychische Prozesse nachhaltig verändern. Zum anderen braucht und sucht die Berater-Branche neue Impulse, die über Checklistenberatung und PowerPoint-Präsentationen hinausgehen. Klienten erwarten Methoden, die ihnen eine bisher nicht in ihrem Horizont liegende Perspektive auf ihre Themen ermöglichen. Im psychodynamischen Ansatz wird eine solche neue Perspektive durch die Bewusstmachung und Durcharbeitung unbewusster Inhalte ermöglicht.

Der bisher existierende Markt der psychodynamischen Beratung in der Wirtschaft gliedert sich grob in zwei Strömungen. Die eine Strömung entstammt der Gruppenanalyse und der systemischen Arbeit und ist heute ganz wesentlich von sozialwissenschaftlichem Denken geprägt. Diese Ansätze sind sehr wertvoll, greifen aber oftmals nicht tief genug, wenn die Gruppenteilnehmer aus einem Betrieb stammen. Hier gibt es immer wieder Interessenkonflikte wegen des Schutzes der Privatsphäre. Im Kreis der Kollegen redet niemand gerne über seine inneren Konflikte oder seine sehr persönliche Familiengeschichte. Daher wirkt Gruppenanalyse eher in der Selbsterfahrung von Gruppenmitgliedern, die sich nicht kennen und auch nicht zusammen arbeiten.

Nach Erfahrung der Autoren ist es in Unternehmen viel wirksamer, 10–20 wichtige Entscheidungsträger und Multiplikatoren in ein Einzel-Coaching zu nehmen. Das Einzel-Coaching bietet den Rahmen für tiefergehende Arbeit. Auch wenn die Ergebnisse vertraulich bleiben, haben die Klienten, die ein Einzel-Coaching durchlaufen haben, durch Veränderungen im Wahrnehmen und Verhalten gute Ausstrahlungseffekte im Unternehmen (Kretschmar & Tzschaschel, 2014, S. 213; Kretschmar & Senarclens de Grancy, 2016, S. 104). Die zweite Strömung ist geprägt durch Psychoanalytiker mit eigener Praxis, die nebenbei auch Führungskräfte im Einzel-Coaching begleiten. Die meisten dieser psychoanalytischen Berater haben jedoch selbst wenig Erfahrung als Führungskraft, sodass der Analyse der Gegenübertragung das notwendige Referenzmodell fehlt. Darüber hinaus ist rein psychologisches Know-how weniger effektiv als die Kombination aus psychologischem und organisatorischem Know-how (Möller, 2016, S. 7). Dieser psychoanalytische Ansatz erfordert darüber hinaus seitens des Beraters einen enormen Ausbildungsaufwand in Psychoanalyse und seitens des Klienten einen hohen zeitlichen Aufwand; diese Kosten-Nutzen-Relation verhindert es, dass psychoanalytisches Coaching breite Akzeptanz erreicht.

Eine weitere Problematik des psychodynamischen Coachings ist die mangelnde Professionalisierung. Bisher gibt es keinen Berufsverband, der »Coach« als geschützte Berufsbezeichnung durchgesetzt hat (Müller, 2012, S. 7). Gleiches gilt für die Supervision. Immerhin haben in Deutschland die Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv) sowie der Deutsche Coaching Verband (DCV) und der Deutsche Bundesverband Coaching (DBVC) große Schritte in Richtung einer Qualitätssicherungs- und Zertifizierungspraxis bewältigt (Deutsche Gesellschaft für Supervision, 2016). Die Bandbreite der angebotenen Ausbildungen ist sehr hoch. Die Menge an eingesetzten Methoden, die auch durch den Wunsch nach Abgrenzung gegenüber anderen Beratern entstanden ist, macht es praktisch unmöglich, eine klare Struktur zu erkennen. Weiterhin bleibt für Außenstehende zumeist unklar, ob und auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen die behandelten Konzepte der Weiterbildung fußen. Es gibt kaum Verweise auf neuere Coaching-Forschung. Wissenschaftliche Bezüge sind nur wenige zu finden (Möller & Hellebrandt, 2016, S. 102).

Zusammenfassend folgt aus diesen Überlegungen, dass der Markt für Coaching und Supervision neue Ansätze braucht und psychodynamische Beratung das Potential hat, diesen Markt zu bedienen, wenn

•  die Ansätze zum Zweck von Supervision und Coaching effizient operationalisiert werden,

•  es gelingt, die Ansätze wissenschaftlich zu fundieren, und

•  die fundierten Ansätze an Praktiker in akzeptabler Ausbildungszeit vermittelt werden.

Genau deshalb braucht es eine neue Schule der psychodynamischen, wissenschaftlich fundierten Beratungsarbeit in Unternehmen. Ziel dieses Buches ist es, die dafür notwendige Mentalität zu vermitteln.

Das Konzept der Buchreihe »Supervision im Dialog« zielt darauf ab, unterschiedliche Ansätze zu einem Gegenstandsbereich ins Gespräch zu bringen, um durch diesen Kontrast eine lebendige Darstellung des Diskurses zu erreichen. An die Stelle der top-down-Präsentation der Auffassung eines Autors wird der Leser durch den gelebten Dialog zweier hinreichend unterschiedener Positionen in die Lage versetzt, im Für und Wider der Argumente seine eigene Position zu reflektieren. Einen ähnlichen Darstellungstrick hat schon Freud angewendet, wenn er sich in seinen Schriften immer wieder an ein imaginäres Gegenüber wendet, das er überzeugen muss.

Die beiden Autoren des vorliegenden Bandes verkörpern die beiden oben genannten Positionen: Der eine ist ein Betriebswirt, Psychologe und Unternehmer, der sich der Psychoanalyse geöffnet und mit psychodynamischem Denken und (Be-)Handeln vertraut gemacht hat, während der andere ein aus der Geisteswissenschaft und der klinischen Psychologie kommender, »in der Wolle gefärbter« Psychoanalytiker ist, der zum Teil therapeutisch, zum Teil aber auch im berufsbezogenen Beratungssetting mit Führungskräften, Unternehmern und Beratern arbeitet, so dass er sich ein vertieftes psychoanalytisches Verständnis wirtschaftlicher und organisatorischer Kontexte erarbeitet hat. In den ersten Kapiteln liegen die Positionen der Autoren noch eng beieinander, da in diesen Grundlagen behandelt werden. Im Verlaufe des Bandes werden die Positionen zunehmend differenzierter und der Dialog intensiver.

Das Beratungssetting umfasst Langzeit-Beratungsprozesse, aber auch Beratungen, die problemorientiert in wenigen Sitzungen durchgeführt werden können. Der zweite Autor nennt seine Arbeit im Wirtschafts- und Organisationskontext, trotz aller Problematik dieses Begriffs, lieber »Supervision« als Coaching. Warum, das wird er in seinen Kommentaren im vorliegenden Band aufzeigen und seinen Ansatz vom Coaching abgrenzen. Und einen zweiten Widerspruch wird er gelegentlich einlegen, wenn der Erstautor seiner Überzeugung von der Brauchbarkeit psychodynamischen Denkens in der Beratung Ausdruck verleiht: Er wird, kurz gesagt, versuchen, die Psychoanalyse gegen ihre Anhänger zu verteidigen. Unter dem Titel »Höhensonne haben Sie wohl keine?« Zur Legierung des Goldes haben 1984 Hans und Sophinette Becker ein vergnügliches Pamphlet gegen die Medizinalisierung der Psychoanalyse verfasst. Sie reklamieren den Aufklärungsauftrag der Psychoanalyse als Kritik der unbewussten sozialen Anpassung (Parin, 1977) und sehen in der Verabreichung dieser kritischen Aufklärung in kleinen Dosen den gegenteiligen Effekt, nämlich die Vertiefung der Anpassung. Freilich sind dies Argumente aus den 1970er Jahren. Damals tobte die Diskussion zwischen der amerikanischen Ich-Psychologie, die Anpassung an die Leistungsgesellschaft positiv sah, und der kritischen Theorie des Subjekts, die einen fundamentalen Gegensatz zwischen leistungs- und profitorientierten Unternehmensinteressen und der aufklärerischen und emanzipatorischen Perspektive sah. Mittlerweile haben sich die Fronten verlagert. Funktionierende Wirtschaft wird auch von Systemkritikern nicht mehr per se als Ausbeutung betrachtet. Dennoch erhebt sich auch im realen Anwendungsfall von Wirtschaftssupervision oder Coaching immer wieder die Frage, ob die Zielstellung des beruflichen Funktionierens sich mit dem analytischen Ansatz verbinden lässt (image Kap. 4.9.1).

Diese Frage wird der vorliegende Dialogband immer wieder aufgreifen und in den Facetten der Anwendung psychoanalytischer Theorien und Verfahren auf Beratung, Coaching und Supervision im Organisationskontext diskutieren.

Tatsächlich haben beide Autoren in der Zusammenarbeit an diesem Buch eine Veränderung erlebt. War man zu Beginn mit einer gewissen Reserve aneinander herangetreten – aus der Sicht des Wirtschaftsexperten konnte der Psychoanalytiker etwas realitätsfern erscheinen, aus der Sicht des Psychoanalytikers der Coach dazu neigen, psychoanalytische Konzepte vorschnell als Tools zu verwenden – so hat sich in der Schreibarbeit und den oft auch persönlichen Diskussionen vieles verändert. Im Dialog entsteht Neues, dafür ist er ja da. In diesem Sinne geben die Diskutanten das Buch in die Hände der Leser, die hoffentlich noch genügend Differenz, aber am Schluss doch ein gemeinsames Anliegen erkennen können.

Danksagung

 

 

 

 

 

Wir danken Frau Rebekka Haug, Herrn Hannes Gisch, Frau Andrea Wurst und Frau Julia Perlinger, alle vier Psychologen im Mind Institute SE, für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Anregungen.

1          Historischer Überblick

 

 

 

Die berufsbezogenen Beratungsformate lassen sich einem Feld von Interventionsformen zuordnen, das von zahlreichen Überschneidungen, aber auch deutlich erkennbaren Unterschieden gekennzeichnet ist. Im Folgenden sollen Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zwischen Coaching, Supervision und Psychotherapie herausgearbeitet und diskutiert werden.

1.1       Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Coaching und Supervision

Der Begriff Coaching stammt ursprünglich aus dem Sportbereich. Erst seit den 1990er Jahren wird Coaching im Business und Bereich Personalentwicklung eingesetzt (Müller, 2012, S. 9). Davor war »Mentoring« ein verbreiteter Begriff für eine ähnliche Dienstleistung (Western, 2012, S. 2).

Einige Autoren beziehen Coaching ausschließlich auf berufliche Management-Themen: »Coaching ist eine Form der individuellen Begleitung der persönlichen Entwicklung im beruflichen Kontext, vor allem für Fach- und Führungskräfte«, schreibt Müller mit Empfehlung vom deutschen Coaching Verband (DCV) (Müller, 2012, S. 10). Ähnlich sieht es der Deutsche Bundesverband Coaching (DBVC): »Coaching ist die professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung von Personen mit Führungs- und Steuerungsfunktionen und von Experten in Organisationen« (Dietz, Holetz & Schreyögg, 2012, S. 20).

Dass Coaching nicht nur in diesem engen Sinne verstanden wird, zeigen Definitionen anderer Verbände. Nach Erfahrung der Autoren suchen die meisten Führungskräfte einen Coach zwar aus beruflichem Anlass auf. Im Verlaufe des Prozesses kommt es dann jedoch fast immer zu weiteren Themen aus allen Lebensbereichen. Die International Coaching Federation (ICF) sieht Coaching demnach auch nicht nur auf berufliche Themen begrenzt: »Professionelles Coaching ist eine andauernde Partnerschaft, welche die Klienten unterstützt, ihre Ziele im persönlichen und beruflichen Leben zu verwirklichen« (International Coach Federation, 2016, S. 1). Noch weiter von konkreten beruflichen Fragestellungen entfernt sich das Gesundheitscoaching mit den Unterformen Life Coaching oder Stressmanagement Coaching (Greif, 2013, S. 230f.). Spätestens hier wird auch eine deutliche Überschneidung mit Anlässen von Psychotherapie deutlich.

Supervision, der zweite in diesem Band zur Diskussion stehende Begriff, ist wesentlich älter – nämlich über ein Jahrhundert – und speist sich aus unterschiedlichsten theoretischen Traditionen. Weigand (2000, S. 56) fragt, ob Einzelsupervision inzwischen als »bieder wirkender Begriff, etwas verstaubt und nichtssagend« wirke, oder als »ein schützenswerter Begriff aus der supervisorischen Fachsprache, der ein spezifisches Verfahren in klarer Abgrenzung zu anderen dyadischen Settings« beschreibt. Im vorliegenden Band soll ein Begriff der aufgabenbezogenen Supervision in Organisationen und Unternehmen entwickelt und vom Coaching abgegrenzt werden, der eine spezifische, nämlich psychoanalytische Methodik der Beratung bezeichnet.

Traditionell entwickelte sich die Supervision aus der Beratung von ehrenamtlichen Helfern in der Sozialen Arbeit sowie aus der Begleitung von Therapien, die von Kandidaten im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Ausbildung durchgeführt wurden, sie hatte also ihren Schwerpunkt im Sozial- und Gesundheitswesen (image Kap. 1.4). Auch ihre Erweiterung auf Teams und ihre Einbettung in den institutionellen Kontext mit dem systemic turn in den Sozialwissenschaften seit den 1970er-Jahren, einhergehend mit dem wachsenden Einfluss organisationssoziologischer Ansätze auf Supervision (»Soziologisierung der Supervision«; Belardi, 1992; Hermann-Stietz, 2009, S. 15f.), fokussierte in erster Linie auf den Sozial-, Gesundheits- sowie Bildungssektor; Anwendungen in profitorientierten Unternehmenskontexten waren zunächst vorrangig auf Teams und Mitarbeiter bezogen und gingen nur zögernd in den Supervisionsdiskurs ein (Böhnisch, 2002). Im Gegensatz dazu positionierte sich das Coaching dezidiert innerhalb der Beratung von Führungskräften; das Profitinteresse in Unternehmen, das im »soziologielastigen« Supervisionsdiskurs oftmals kritisch hinterfragt worden war, wurde im aufstrebenden Coachingdiskurs als gegeben gesetzt. Aus dieser entschlossenen Ausrichtung des Coachings an Führungskräften folgt eine in der Literatur verbreitete Aufteilung des Anwendungsfeldes. So wird Supervision oft der operativen Ebene in Organisationen, Coaching jedoch der Management- und Führungsebene zugeordnet. Dementsprechend setze die Veränderung durch Supervision von »unten«, die durch Coaching von »oben« an (Kühl, 2008). Diese gegenstandsbezogene Unterscheidung rückt jedoch den dritten, entscheidenden Unterschied aus dem Blick: Während in der Supervision traditionell eher die gesamte Person einbezogen wird, steht beim Coaching die Verbesserung der Funktion des Personals einer Organisation im Vordergrund (Kühl, 2008). In der Weiterentwicklung der begrifflichen Unterscheidung, aber auch der Feldkompetenzen selbst, wurden differenzierende Benennungen geschaffen: Im Feld des Coachings etwa das »psychodynamische Coaching«, das auf die Einbeziehung der Gesamtpersönlichkeit, insbesondere ihrer unbewussten Funktionen abhebt, und die Leitungssupervision, die am traditionellen Supervisionsbegriff anknüpft, jedoch das Anwendungsfeld präzisiert. Pannewitz (2012) schlägt zur begrifflichen Klärung vor, für die berufsbezogene Beratung von Führungskräften die Begriffe Leitungssupervision und Leitungscoaching synonym zu verwenden, definiert als »Förderung der technischen, konzeptionellen und sozialen Kompetenzen für die Lösung von Management-Aufgaben […] bzw. […] die Unterstützung beim Selbstmanagement« (Buer, 1999, S. 186, zitiert nach Pannewitz, 2012, S. 23).

Im Gegensatz zum Coaching hat die Supervision eine andere Zielgruppe und eine andere Tradition. Supervision zielt nicht primär auf Personalentwicklung ab. In der Realität geht es allerdings in der Supervision häufig auch um die Förderung beruflicher Funktionen und im Coaching auch um die Förderung der Persönlichkeit des Klienten. Die Supervision entstand parallel in der Sozialarbeit und in der Psychoanalyse (Hamburger, 2016a) und nicht wie das Coaching im innerbetrieblichen Personalmanagement. Nach Schreyögg (2012, S. 26–27) benötigt die Supervision demnach nicht zwingend Management- und Organisationskonzepte, wohl aber therapeutische Ansätze. Dem kann entgegengehalten werden, dass Supervision durchaus Organisationskonzepte, jedoch in anderer Perspektive, bieten sollte.

Die DGSv hat inzwischen die Begriffe Supervision und Coaching gleichgesetzt. Das stößt bei den Coaching-Verbänden nicht immer auf Verständnis (Schreyögg, 2013, S. 231–237). Aus psychodynamischer Sicht sehen wir jedoch nicht die Notwendigkeit einer scharfen Abgrenzung. Wie wir später zeigen werden, spielt die Entwicklung der Persönlichkeit im psychodynamischen Ansatz eine herausragende Rolle. Die Haltung des Beraters ähnelt der eines psychodynamischen Psychotherapeuten und die theoretischen Konzepte entspringen dem psychodynamischen Paradigma.

Durch die analogen Anforderungen im Unternehmen werden Coaching- und Supervisionsansätze oftmals gleichgesetzt, sollen sie doch (so jedenfalls die Erwartung des Auftraggebers) den Coachee bzw. Supervisanden für eine gegebene Aufgabe fitter machen. Was dabei aus dem Blick gerät, sind freilich die Unterschiede im Vorgehen und in den Referenzsystemen, auf die wir im Folgenden immer wieder zurückkommen werden. Das Vorgehen in der psychoanalytischen Supervision (Mertens & Hamburger, 2016) ist wesentlich von Abstinenz (image Kap. 4.9.1) geprägt und vorrangig auf Entwicklungs- und Persönlichkeitskonzepte bezogen, während das Coaching schwerpunktmäßig einen Veränderungsansatz verfolgt.

1.2       Geschichte der psychodynamischen Arbeit in Unternehmen

1.2.1     Geschichte der psychoanalytischen Supervision

Supervision stammt aus der Beaufsichtigung und Schulung der ehrenamtlichen Helfer amerikanischer Charity Organization Societies, die im späten 19. Jh. in Folge der langanhaltenden wirtschaftlichen Depression und der damit verbundenen Verarmung weiter Bevölkerungskreise entstanden waren. Um den Einsatz der Ehrenamtlichen zu optimieren und den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechend zu gestalten, wurden sie in der Zentrale durch festangestellte Mitarbeiter, den »paid agents«, angeleitet. Eine wichtige Veränderung dieses Systems trat ein, als 1920 der Psychoanalytiker Otto Rank nach Amerika kam und sich der Sozialfürsorge widmete. Dadurch sowie durch die ab den 1940er Jahren in die USA emigrierten Psychoanalytiker gewann die Supervision schon früh eine psychoanalytische Komponente: Es wurde deutlich, dass die Arbeit in der Wohlfahrtspflege durch eigene unbewusste Abwehrprozesse und Verstrickungen kompliziert werden kann und dass es für eine gute Praxis hilfreich ist, sie zu reflektieren (Lohl, 2016). Schon im Wien der 1920er Jahre hatten August Aichhorn, Willy Hoffer, Anna Freud und Siegfried Bernfeld Fallbesprechungen und Seminare für Jugendfürsorger und Pädagogen angeboten (Aichhorn, 2011, Steinhardt, 2005, S. 32). Michael Balint richtete in London »Training-cum-Research« Seminare für Ärzte und Fürsorger ein. Sie waren zukunftsweisend in ihrer psychoanalytischen Technik: Die Art und Weise der Fallpräsentation und die Resonanz, auf die sie in der Gruppe stieß, wurden als Schlüssel zum Verständnis der unbewussten Arbeitsbeziehung genutzt (Balint, 1964 [1954]).

Aus dieser psychoanalytischen Tradition entwickelte sich das social casework, in dem Supervision eine wichtige Rolle zur Selbstreflexion der Berufsrolle einnahm (Hechler, 2005; Steinhardt, 2005). Daraus entstand eine eigenständige Linie von Supervision in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen. Neben dem psychoanalytischen Paradigma kamen weitere Konzepte hinzu und wurden bedeutsam. Systemische und soziologische Ansätze richteten die Aufmerksamkeit auf institutionelle Kontexte und Teamdynamiken. Seit den 1960er Jahren ist ein Übergang von der psychologisierenden zur »soziologisierenden Phase« der Supervision zu verzeichnen (Hermann-Stietz, 2009, S. 15f.). Im Dialog dieser und weiterer Paradigmata hat sich die Supervision zu einem eigenständigen Beratungsformat entwickelt (Rappe-Giesecke, 2013, Gröning, 2016).

Die psychoanalytische Supervision erfuhr ihre Weiterentwicklung schwerpunktmäßig innerhalb der psychoanalytischen Ausbildung, sie wurde aber weiterhin im Gesundheitswesen (Bergmann, 2016) und in der Wirtschaft angewandt (Weigand, 2016). Seit Mitte des 20. Jh. trat die Beziehungsdimension in der Analyse zunehmend in den Mittelpunkt. Der Begriff des Unbewussten verlagerte sich allmählich von einem bisher primär als innerpsychisches Gedächtnissystem verstandenen zu einem nun vor allem interpersonalen Feld. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die klassische Ein-Personen-Psychologie in zahlreichen neuen Modellen wie der Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie sowie in interpersonellen Ansätzen revidiert. Die Säuglings- und Kleinkindforschung revolutionierte die Annahmen über die kindliche Entwicklung, was sich auch auf die Behandlungspraxis auswirkte. Aus feldtheoretischer und relationaler Sicht ist das Unbewusste kein intrapsychischer, sondern ein interpersonal-systemischer Prozess (zu den Wurzeln bei Sullivan vgl. Conci, 2005; außerdem Baranger & Baranger, 2008 [1961]; Bauriedl, 1980, 1994; Stern, 1996). »Man spricht also in der Supervision oder in Fallvorstellungen nicht nur über den Patienten, sondern in einem unterschiedlichen Ausmaß auch von sich selbst. Die supervisorische Situation in der psychoanalytischen Ausbildung wird damit zu einem Kraftfeld ganz besonderer Art« (Mertens & Hamburger, 2016, S. 19).

Dieses »Kraftfeld besonderer Art« ist freilich auf die psychoanalytische Supervision außerhalb der Ausbildung nur bedingt übertragbar. Die Supervision im Rahmen der Ausbildung zum Psychoanalytiker ist ja insofern ein Sonderfall, als die zu vermittelnde Fähigkeit genau darin besteht, eine offene, lebendige analytische Situation entstehen zu lassen und aufrechtzuerhalten. Es besteht also eine starke Parallele zwischen Lerninhalt und Lernsituation. Das ist bei Supervisanden aus der Organmedizin, Wirtschaft, Sozialen Arbeit oder Pädagogik nicht der Fall. Sie sollen Krankheiten heilen, Autos bauen, Jugendliche betreuen oder Schülern etwas beibringen.

Die Frage, die uns in den folgenden Kapiteln noch öfter beschäftigen soll, ist nun, welche Elemente der psychoanalytischen Haltung auf die Supervision in Anwendungsfeldern außerhalb der Ausbildung übertragbar sind. Die analytische Haltung beruht nach der von Alfred Lorenzer (1970) herausgearbeiteten Methode auf dem »szenischen Verstehen«. Demnach erlaubt weder das Erfassen der Mitteilungsinhalte des Analysanden (logisches Verstehen) noch das Begreifen seiner Mitteilungsintentionen (psychologisches Verstehen), den Zugang zu dynamisch unbewussten Prozessen, sondern erst das Reflektieren der im analytischen Raum entfalteten Interaktion, der »Szene«, an der auch der Analytiker komplementär beteiligt ist. Die Übertragung dieser analytischen Haltung auf supervisorische Prozesse muss den anders gelagerten Auftrag mitreflektieren. Sie bleibt dennoch insoweit möglich und nützlich, als auch in solchen, nicht auf die Ausbildung von Analytikern angelegten Supervisionen, immer wieder eine Haltung der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« und des »szenischen Verstehens« (Lorenzer, 1970) eingenommen und oszillierend mit der fokalen Arbeit am Supervisionsauftrag vermittelt wird.

Der Arbeitsauftrag der Supervision bedingt eine Anpassung der analytischen Haltung. Der Supervisor ist nicht selbst im Feld, seine Teilhabe verläuft über den Feldexperten, den Supervisanden. Seine Teilhabe an dessen Feldbeteiligung ist in der Regel analog. Gelegentlich kann freilich auch der Supervisor eine komplementäre Teilhabe am Feld erleben, gerade dann, wenn sich die unbewusste Spiegelung der Szene stark in der Supervision wiederholt (Baranger & Baranger, 2008 [1961]; Vollmer & Pires, 2012 [2010]). Gegenstand der Supervision bleibt freilich immer der vom Supervisanden durchgeführte (therapeutische, wirtschaftliche, organisatorische) Prozess und nicht wie in der Analyse oder Therapie der Patient. In den vielfältigen Formen der Supervision in Organisationen stellen sich systematische institutionelle Bezüge her, die sehr genau reflektiert, benannt und fortwährend gehandhabt werden müssen. Diese Spezifität des supervisorischen Feldes hat Auswirkungen auf den Umgang mit der Abstinenz. Deutungen werden immer in Bezug auf den Arbeitsauftrag und unter Beachtung der Position des Supervisors im institutionellen Rahmen gegeben. Diese Einschränkung ist praktisch bedeutsam: Eine der verbreitetsten Fallen für supervisorische Prozesse, die diese oft zum Erliegen bringen, ist die unreflektierte Annahme des Supervisors, besser zu wissen, was der Supervisand tun soll. So wenig wie Analytiker der Versuchung unreflektiert nachgeben sollten, sich für die »besseren Eltern« zu halten, so wenig ist der Supervisor der bessere Therapeut, CEO oder Abteilungsleiter. Obwohl es notwendig ist, die Klagen der Supervisanden z. B. über institutionelle Dysfunktionalitäten empathisch anzunehmen, erfordert die Reflexion der Szene ebenso wie der Arbeitsauftrag dennoch auch, dass der Supervisor die Perspektive der Institution und anderer am supervidierten Prozess Beteiligter stets mitdenkt. Auch die technische Neutralität des Analytikers ist in der supervisorischen Anwendung anders zu definieren. Bewertungen sind (wie in den therapeutischen Settings) der Entfaltung der Szene abträglich; dennoch können sie im Rahmen eines Arbeitsauftrages, der vorgegebenen Zielen dient, nicht ausbleiben. Schon die Supervisanden selbst fragen sich (und werden ggf. gefragt), ob die Supervision ihre Ziele erreicht, ob sie nützlich ist. Die supervidierte Tätigkeit selbst dient einem Ziel und wird evaluiert, und es wäre unangemessen und kontraproduktiv, dies aus der Supervision herauszuhalten. Was sich empfiehlt, ist eine abstinente Bewertung in dem Sinne, dass Supervisand und Supervisor regelmäßig gemeinsam überprüfen, ob man auf dem Weg zur angestrebten Zielerreichung fortgeschritten ist. Abstinent ist das insofern, als weiter klar bleibt, dass es nicht der Supervisor ist, der bewertet, und nicht der Supervisand, der bewertet wird, sondern dass beide ihre Perspektive auf die vereinbarten Ziele und ihre Umsetzung formulieren. Die Feldkompetenz liegt dabei stets beim Supervisanden, der Supervisor ist zuständig für den gegenwärtigen Prozess. Gegenstand der Supervision ist die Aufklärung der bewussten und unbewussten Einbindung des Supervisanden in sein Arbeitsfeld. Deshalb ist der Rahmen der Supervision auch nicht darauf ausgelegt, Übertragungsbeziehungen entstehen zu lassen. Dennoch spiegeln sich die unbewussten Dynamiken des Feldes oftmals im gegenwärtigen Miteinander der Supervision (z. B. entsteht eine besonders angespannte oder grandios-legere Stimmung); solche Manifestationen von Spiegelprozessen können genutzt werden, um einen noch nicht begriffenen, im Feld wirksamen dynamischen Prozess zu veranschaulichen.

1.2.2     Von der Couch zum Unternehmen: Anwendungen der psychoanalytischen Supervision auf soziale Kontexte

Der Tavistock-Ansatz

Das Tavistock Institute of Human Relations (TIHR) wurde 1947 gegründet, um mit sozialwissenschaftlich orientierten, psychodynamischen Ansätzen aktuelle Probleme und Phänomene in der Gesellschaft zu untersuchen. Diese Themen hätten in dem neu gegründeten National Health System (NHS) Großbritanniens keine Chance auf Förderung gehabt (Trist, Murray & Trist, 1990).

Nach Miller und Rice (Miller & Rice, 1967) ist eine Organisation ein Aufgaben erfüllendes und ein fühlendes System. Sowohl bewusst als auch unbewusst werden in Organisationen mehrere Aufgaben gleichzeitig bearbeitet. Der Geschäftszweck des Unternehmens wird als die primäre Aufgabe (»primary task«) der Organisation definiert (Rice, 1958, S. 32). Organisationen befriedigen die sozialen und psychologischen Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Entwickeln Mitglieder der Organisation Ängste während der Erfüllung ihrer Aufgaben, kommt es zur Abwehr.

Nach Rice (1958) sollte für die Beurteilung von Organisationen geklärt werden, was die primäre Aufgabe ist und wie gut diese ausgeführt wird. Wenn die Abwehr von Ängsten unbewusst bleibt, arbeitet das Unternehmens unproduktiv (Jaques, 1951). Kennzeichnend für den psychodynamischen Ansatz der Organisationsberatung nach dem Tavistock-Modell ist die integrierte Sichtweise auf betriebswirtschaftliche Aufgaben einerseits und auf die Menschen, die aufgabenbezogene Handlungen durchführen, andererseits (Miller & Rice, 1967, S. xii).

Gruppenanalyse nach Bion

Bion war ein führendes Gründungsmitglied des TIHR und arbeitete in der Gruppenforschung. Ergebnis seiner Arbeit Experiences in Groups (1961) ist die zentrale These, dass Gruppenmitglieder unbewusste Phantasien über ihre Funktion haben. Der Kontakt zwischen den Gruppenmitgliedern wird über die projektive Identifikation hergestellt. Hierbei handelt es sich um einen Abwehrmechanismus, bei dem einzelne Mitglieder eigene Gefühle abspalten und auf andere Gruppenmitglieder projizieren, die diese dann an deren Stelle spüren. Die projektive Identifikation dient sowohl zur Abwehr überwältigender emotionaler Zustände als auch zur Herstellung von Empathie. Im Fall der Identifikation hat das Objekt auf der unbewussten Ebene seine Unabhängigkeit vom Subjekt verloren und kann von da an von diesem kontrolliert und manipuliert werden. Auf der Ebene des emotionalen Austauschs regrediert das Gruppenmitglied also zu einem Teil des Ganzen (Bion, 1961). Die unbewussten Wünsche der Gruppe können von den bewusst reflektierten Aufgaben abweichen.

Die Aufrechterhaltung von Identität und Integrität wird gerade auch im Kontext einer Organisation immer wieder durch Bedrohungen von innen und außen in Frage gestellt. Unsicherheit und Bedrohungen lösen Ängste aus, auf die die Mitarbeiter mit Abwehr reagieren (Ameln, Kramer & Stark, 2009, S. 49). Ordnungsstrukturen dienen als Abwehrmechanismen, um die Gruppe vor den Affektspannungen der unbewussten Ebene zu schützen und ein kooperatives Handeln in Auseinandersetzung mit der Realität im Sinne der Arbeitsaufgabe zu ermöglichen. Bion schreibt der Gruppe also analog zur psychoanalytischen Konzeption der Psyche des Individuums einen triebhaften Primär- und einen rationalen Sekundärprozess zu (Bion, 1952). Je schwächer das Gruppen-Ich ist, desto rigider ist die Abwehr und desto mehr wird die Arbeitsfähigkeit der Gruppe eingeschränkt.

Bion unterscheidet zwei Modi, in denen sich eine Gruppe befinden kann. Im ersten Modus der Arbeitsgruppe herrscht rationale Arbeitsatmosphäre und Produktivität. Jedes Mitglied versucht, die Inhalte und die anderen Gruppenmitglieder zu verstehen und seine Kompetenzen im Sinne der Gruppenaufgabe einzubringen. Durch das primäre Risiko, eine Aufgabe zu wählen, die sich als nicht zu bewältigen herausstellt, erfolgt jedoch eine Regression der Gruppe in den zweiten Modus der Grundannahmengruppe. Die primäre Energie der Teilnehmer wird nun nicht mehr für die primäre Aufgabe, sondern für die primären Abwehrmechanismen aufgewendet. Alle Grundannahmen können aus drei emotionalen Zuständen abgeleitet werden:

•  Abhängigkeit: Die Gruppe folgt in abhängiger oder unreifer Weise einem Führer oder einer Vision. Da überhöhte Erwartungen nicht erfüllt werden können, wechselt die Gruppe zwischen guter und schlechter Bewertung des Führers oder der Vision hin und her oder es kommt zu einer Spaltung in der Gruppe.

•  Paarbildung: Die Gruppe ist getragen von einer Phantasie der Erlösung durch ein Paar innerhalb der Gruppe, das die Gruppe erhält und in eine bessere Zukunft führt. Diese Phantasie darf auf Grund ihres Abwehrcharakters nie eingelöst werden.

•  Kampf/Flucht: Die Gruppe konzentriert ihre Energie in den Kampf gegen einen außerhalb stehenden Gegner oder flieht, um negative Emotionen abzuwehren.

Eine Gruppe kann zwischen diesen drei Grundannahmen wechseln. Charakteristisch für die Gruppe ist die Kombination der Grundannahmen und deren jeweilige Dominanz (Ameln, Kramer & Stark, 2009, S. 53f). Die Erkenntnisse von Bion werden bis heute in den Group Relations Conferences (GRCs) des Tavistock Institute vermittelt. Es geht primär um das Lernen aus Erfahrung in Gruppen. In einem laborartigen Setting konzentriert man sich auf die Art, in der Gruppenmitglieder sich aufeinander beziehen und einander gebrauchen, um wichtige Zwecke zu erfüllen, und darauf, wie Individuen und Gruppen Autorität setzen (Lohmer, 2004). Im Jahr 1957 begannen die jährlichen Gruppenbeziehungstrainingskonferenzen (GRCs) in Zusammenarbeit mit der Universität Leicester. Das Modell wurde in den 1960er Jahren zur Erforschung von Autorität entwickelt und legt seinen Fokus auf die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse zwischen den Konferenzmitgliedern und dem Leitungsteam (Tavistock Institute, 2016).

Weiterentwicklungen in der ISPSO

Die International Society for the Psychoanalytic Study of Organizations (ISPSO) hat ihre Vorläufer im »First Cornell Symposium on the Psychodynamics of Organizational Behavior and Experience«, das 1983 in New York durch eine Gruppe gleichgesinnter Personen organisiert wurde und einige Jahre lang stattfand (Sievers, 2009, S. xv). Die ISPSO wurde 1989 gegründet. Seither finden jährliche internationale Treffen in Nordamerika, Australien, Europa oder Asien statt. Die Gesellschaft hat das Ziel, Forscher und Anwender zusammenzubringen, die ein Interesse an der psychoanalytischen Sicht auf Unternehmen haben. Unter den bisherigen Präsidenten waren unter anderen Larry Hirschhorn, Susan Long, Burkard Sievers und Jim Krantz, die über langjährige Erfahrungen bei der Anwendung des Tavistock-Modells verfügen, eigene Institute oder Beratungsunternehmen leiten und bis heute regelmäßig über ihre Arbeit publizieren (International Society for the Psychoanalytic Study of Organizations, 2016).