image

Patrik Ouředník

EUROPEANA

Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert

Aus dem Tschechischen
von Michael Stavarič

image

Mit Unterstützung des Kulturministeriums der Tschechischen Republik und der Stadt Wien, MA7 / Literaturförderung

image

Ouředník, Patrik: Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert / Patrik Ouředník

Wien: Czernin Verlag 2019

ISBN 978-3-7076-0662-1

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Europeana« bei Paseka, Prag. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 2003 im Czernin Verlag.

Copyright © 2001 Patrik Ouředník

Copyright der deutschen Ausgabe © 2019 Czernin Verlags GmbH, Wien

Übersetzung aus dem Tschechischen: Michael Stavarič

Lektorat: Brigitte Hilzensauer

Umschlaggestaltung: Mirjam Riepl

Layout: Bernhard Kerbl

Autorenfoto: Filip Komorous

Druck: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

ISBN Print: 978-3-7076-0662-1

ISBN E-Book: 978-3-7076-0663-8

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Jene Amerikaner, die anno neunzehnhundertvierundvierzig in der Normandie gefallen waren, maßen im Durchschnitt einhundertdreiundsiebzig Zentimeter, gestandene Burschen also, und wäre einer hinter den anderen gereiht worden, Fuß an Scheitel und so fort, so hätte dies insgesamt achtunddreißig Kilometer ergeben. Die Deutschen aber waren auch stramm gewachsen, und am eindrucksvollsten von allen waren ja die senegalesischen Schützen im Ersten Weltkrieg, die maßen einhundertsechsundsiebzig Zentimeter und wurden ins erste Glied gereiht, um den Deutschen einen gehörigen Schrecken einzujagen. Vom Ersten Weltkrieg behauptete man, dass dort die Menschen wie die Ähren fielen, und die russischen Kommunisten berechneten später, wie viel Dünger ein Kilometer Leichen ergebe und was man an teurem ausländischem Dünger einsparen könne, sofern

DIE ENGLÄNDER ERFANDEN DIE PANZER

man zum Düngen die Leichname von Verrätern und Übeltätern nutze. Und die Engländer erfanden die Panzer und die Deutschen das Gas, es hieß Yperit, weil sie es zum ersten Mal bei der Stadt Ypern einsetzten. Aber angeblich entsprach das gar nicht der Wahrheit, und man nannte es auch Senfgas, weil es in der Nase biss wie Dijon-Senf, und offenbar war das so, denn manche Soldaten wollten nach der Heimkehr aus dem Krieg nie wieder Dijon-Senf essen.

Vom Ersten Weltkrieg hieß es, dass er ein Krieg der Imperialisten war, da die Deutschen den Eindruck hatten, die anderen Länder seien ihnen feindlich gesinnt und man wolle ihnen den Status einer Großmacht verwehren und somit eine historische Mission. Und die meisten Menschen in Europa, in Deutschland, Österreich, Frankreich, Serbien oder Bulgarien, standen dafür ein, dass dieser Krieg notwendig und gerecht sei und dass er der Welt Frieden bringen werde. Und viele Leute meinten, dass der Krieg im Menschen Tugenden belebe, die in einer modernen Industriegesellschaft ins Hintertreffen gerieten – Heimatliebe, Mut und Opferbereitschaft. Und die Armen freuten sich auf die Zugfahrten und die Dörfler freuten sich, dass sie große Städte kennen lernen und von dort aus ihr Postamt anrufen und ein Telegramm an die Ehefrau diktieren würden MIR GEHT’S GUT, HOFFE DASSELBE VON DIR. Die Generäle freuten sich, dass Zeitungen von ihnen berichten würden, und Angehörige von Minderheiten waren aus dem

MÄRSCHE UND GASSENHAUER

Häuschen, weil sie den Krieg mit jenen teilen konnten, die ohne Akzent sprachen, und weil sie mit ihnen zusammen Märsche und Gassenhauer zum Besten geben würden. Und alle dachten sich, sie würden zur Weinlese daheim sein oder spätestens bis Weihnachten.

Manche Historiker behaupteten später, das zwanzigste Jahrhundert habe eigentlich erst im Jahre neunzehnhundertvierzehn begonnen, als es zum Krieg kam, da es der erste Krieg der Geschichte war, an dem sich so viele Länder beteiligten und in dem so viele Menschen starben und Luftschiffe und Flugzeuge flogen und Landstriche und Städte und Zivilbevölkerung bombardierten. Und U-Boote versenkten

DIE DEUTSCHEN ERFANDEN DAS GAS

Schiffe und Kanonen schossen zehn bis zwölf Kilometer weit. Und die Deutschen erfanden das Gas und die Engländer Panzer und die Wissenschaftler erfanden Isotope und die Relativitätstheorie, laut der nichts metaphysisch, aber alles relativ ist. Und als die senegalesischen Schützen zum ersten Mal ein Flugzeug sahen, dachten sie, es sei ein großer gezähmter Vogel, und ein senegalesischer Soldat schnitt große Fleischstücke aus toten Pferden und warf sie so weit wie möglich von sich, um das Flugzeug fortzulocken. Und die Soldaten trugen grüne Tarnuniformen, weil sie nicht vom Feind gesehen werden wollten, was wiederum damals sehr modern war, da sich in den früheren Kriegen die Soldaten gern bunt gekleidet hatten, um schon von weitem gesehen zu werden. Und am Himmel flogen Luftschiffe und Flugzeuge und die Pferde scheuten unentwegt. Und die Dichter und Schriftsteller suchten nach einer Form, die dem allen gerecht werden könne, und neunzehnhundertsechszehn erfanden sie den Dadaismus, weil ihnen eigentlich alles »hirnrissig« schien. Und in Russland erfanden sie die Revolution. Und die Soldaten trugen Marken mit ihren Namen und der Regimentszugehörigkeit um Hals oder Handgelenk, damit man wusste, wer sie waren und wohin ein Beileidstelegramm zu senden blieb. Aber wenn ihnen die Explosion den Kopf wegriss oder die Hand, ging die Marke verloren. Der Armeestab verlautbarte dann, es handle sich um einen unbekannten Soldaten, und in den meisten Hauptstädten entzündete man ewige Lichter für sie, damit sie niemals vergessen würden, da eine Flamme die Erinnerung an etwas sehr Fernes zu bewahren vermag. Und es gab zweitausendsechshunderteinundachtzig Kilometer gefallene Franzosen und tausendfünfhundertsiebenundvierzig Kilometer gefallene Engländer und dreitausendzehn Kilometer gefallene Deutsche, bei einer Durchschnittsgröße von einhundertzweiundsiebzig Zentimeter pro Leichnam. Und insgesamt waren auf der ganzen Welt fünfzehntausendfünfhundertacht Kilometer Soldaten gefallen. Und im Jahr neunzehnhundertachtzehn verbreitete sich die spanische Grippe auf der ganzen Welt und mehr als zwanzig Millionen Menschen starben. Pazifisten und Antimilitaristen sagten später, das seien ebenfalls Opfer des Krieges gewesen, da Soldaten wie Zivilisten unter schlechten hygienischen Bedingungen lebten. Aber die Epidemiologen sagten, dass die Grippe mehr Menschen in jenen Ländern getötet habe, wo kein Krieg war – auf den Inseln des Stillen Ozeans, in Indien oder den USA, und die

DER VERFALL DER WELT

Anarchisten meinten, das sei schon gut so, weil die Welt verdorben sei und dem Verfall bestimmt.

Andere Historiker jedoch meinten, dass das zwanzigste Jahrhundert in Wirklichkeit schon früher begonnen habe, dass an seinen Anfängen die industrielle Revolution gestanden sei, welche die traditionelle Welt ablöste, und dass Lokomotiven und Dampfschiffe an allem schuld seien. Und andere wiederum sagten, das zwanzigste Jahrhundert habe damit begonnen, dass man feststellte, der Mensch stamme vom Affen ab, und manche behaupteten, dass sie mehr vom Affen abstammten als andere, weil sie in ihrer Entwicklung schneller voranschritten. Dann begannen die Menschen, Sprachen zu vergleichen, um darüber nachzudenken,

DER ZIVILISATIONSPROZESS

wessen Sprache am vollkommensten und wer am weitesten im Zivilisationsprozess vorangeschritten sei. Meist urteilte man, das seien die Franzosen, da man in Frankreich viele interessante Dinge tat und die Franzosen Konversation zu treiben verstanden und Konjunktive verwendeten und den Konditional und ihren Frauen verführerisch zulächelten und da die Frauen den Cancan tanzten und die Maler sich Impressionen erdachten. Die Deutschen hingegen sagten, dass die Zivilisationskriterien einfach beschaffen seien und sich am Menschen orientierten, und sie hätten die Romantik erfunden, und viele deutsche Dichter schrieben von der Liebe und in den Tälern wogte der Nebel. Die Deutschen behaupteten, sie seien von Geburt an Träger einer europäischen Zivilisation, weil sie Kriege führen und wirtschaften und für Geselligkeit sorgen könnten. Und die Franzosen seien hochnäsig und die Slawen hätten keine ordentliche Sprache, und dass die Sprache die Seele eines Volkes bedeute und die Slawen keine Nation oder keinen Staat nötig hätten, da ihnen das nur zu Kopf steigen würde. Und die Slawen wiederum sagten, das sei nicht wahr und sie besäßen sehr wohl eine Sprache, die älteste überhaupt, und dies sei

DER NIEDERGANG EUROPAS

einfach zu beweisen. Und die Russen sagten, dass ganz Europa im Niedergang begriffen sei und dass die Katholiken und Protestanten ganz Europa auf dem Gewissen hätten, und sie schlugen vor, die Türken aus Konstantinopel zu verjagen und Europa an Russland zu binden, damit der Glaube bewahrt würde.

Der Erste Weltkrieg wurde aus Schützengräben geführt, weil nach einigen Monaten die Fronten erstarrten und die Soldaten in schlammigen Gräben Zuflucht nahmen und nachts oder in der Morgendämmerung zum Angriff übergingen, bei dem sie zwanzig oder dreißig oder fünfzig Meter Feindesland zu erobern gedachten. Und sie trugen grüne Tarnuniformen und bombardierten sich gegenseitig und

DIE SOLDATEN BESCHOSSEN SICH MIT MÖRSERN

schossen aufeinander. Die Deutschen hatten Minenwerfer und die Franzosen Mörser und so konnte man einander beschießen. Wenn ein Angriff lief, mussten die Soldaten über Gräben springen und Stacheldraht durchschneiden und auf Minen achten und der Feind schoss unterdessen mit Maschinengewehren. Und in diesen Gräben verbrachten die Soldaten Monate und Jahre und sie langweilten und fürchteten sich und spielten Karten und gaben Gräben und Gängen Namen. So erdachten die Franzosen ZUR SCHNECKE, OPERNPLATZ, ARMUT, PECH, ZUM DESERTEUR, GROLL, KOPFZERBRECHEN und die Deutschen wiederum Bezeichnungen wie GRETCHEN,

DIE DICKE BERTA

BRUNHILDE, DIE DICKE BERTA und SCHWEINSBRATEN MIT KRAUT. Die Deutschen sagten, die Franzosen seien hochnäsig, und die Franzosen meinten, die Deutschen seien unzivilisiert. Und man wusste bereits, dass man zu Weihnachten nicht zu Hause sein würde, und fühlte sich verlassen und ungeliebt. Von den Armeestäben kam die Kunde, der Krieg werde zu Ende gehen und man dürfe sich jetzt nicht dem Trübsinn überlassen, auf keinen Fall melancholisch werden und geduldig und positiv sein. Und im Jahre neunzehnhundertsiebzehn schrieb ein italienischer Soldat in einem Brief an seine Schwester ICH FÜHLE, DASS DAS GUTE IN MIR MICH GÄNZLICH VERLÄSST, und ICH FÜHLE MICH VON TAG ZU TAG POSITIVER. Und es kam zu einem großen Ärztedisput darüber, warum in den Gräben keine Pest ausbrach, da doch dort Soldaten mit Ratten zusammenlebten, und die fraßen die Leichen und bissen Lebende in Finger und Nasen. In den Armeestäben fürchtete man, dass die Pest ausbrechen und es so dem Feind ermöglichen könnte, strategische Punkte zu besetzen, und es wurde eine Belohnung für jede getötete Ratte ausgesetzt und die Soldaten schossen auf Ratten und schnitten ihnen die Schwänze ab, um einen sicheren Beweis zu haben, und abends gaben sie diese bei einem eigens dafür Beauftragten ab, der zählte sie und gab bekannt, wer wie viel verdient hatte. Das Geld aber wurde nie ausbezahlt, da es keinen Fond dafür gab. Mit den Soldaten lebten auch Läuse.

ALS DIE SOLDATEN LAUERTEN

Manchmal, wenn die Soldaten in der Nacht auf die Feinde lauerten, hörten sie, wie sich ein feindlicher Soldat kratzte, und stellten so fest, wo er versteckt lag, und schossen in diese Richtung und warfen Granaten. Die Läuse aber wurden nicht weniger, die Feinde auch nicht.

Im zwanzigsten Jahrhundert kam es zur Abkehr vom traditionellen Glauben, da die Menschen erkannten, dass sie vom Affen abstammten und mit dem Zug fahren konnten und telefonieren und im U-Boot tauchen. Sie wandten sich vom Glauben ab und gingen immer weniger zur Kirche und sagten, dass kein Herrgott existiere und der Glaube den Menschen in Unwissenheit halte und in die Dunkelheit

DER POSITIVISMUS

führe. Sie aber seien für den Positivismus. Der Positivismus war eine philosophische Doktrin, die verkündete, dass das menschliche Urteilsvermögen und das Verstehen des Sichtbaren ein Ergebnis der Natur- und Sozialwissenschaften seien und dass man nur das als Wahrheit annehmen könne, was wissenschaftlich beweisbar sei, und die Metaphysik sei ausgemachter Schwachsinn. Die Positivisten glaubten an keinen Gott, auch wenn einige anfangs behaupteten, dass ein höheres Wesen existiere, was wissenschaftlich zulässig ist, wenn auch nicht zu beweisen. Aber die Wissenschaftler sagten, dass das Leben ein Ergebnis von

DIE ORDNUNG ENTSTAND AUS DEM CHAOS

Umständen und Faktoren der Umwelt bleibe und Ordnung aus Chaos entstehe, und sie glaubten an keine Schöpfungsgeschichte, die laut christlicher Tradition vor sechstausend Jahren begonnen hatte. Und die Astrophysiker meinten, dass alles nur eine Sache von Quarks, Atomen und Gasen sei und der Weltraum zwölf bis fünfzehn Milliarden Jahre alt sein müsse und sich ständig ausweite, aber man wisse nicht, ob er sich ewig ausweiten oder ob er nicht eines Tages wieder in sich zusammenfallen oder gar explodieren werde. Gläubige Menschen sagten, dass der Mensch ja möglicherweise das Ergebnis von Affen, Quarks, Atomen und Gasen sei, aber das ändere nichts an der Tatsache, dass jemand Affen und Quarks erschaffen habe. Und dass es gar nicht darauf ankomme, ob der Weltraum vor sechstausend Jahren entstanden sei oder vor fünfzehn Milliarden, denn wichtiger sei, was vorher war, und daran reiche die Wissenschaft nicht. Die Astrophysiker sagten, dass zuvor nichts gewesen sei, und die Gläubigen sagten, dass doch genau das in der Bibel stehe. Im Laufe der Zeit verlor der Positivismus an Anziehungskraft, da die Menschen nicht wussten, was sie mit dem Fortschritt anfangen sollten – und mit den U-Booten und der Atombombe. Und sie begannen zu erwägen, ob sie nicht doch irgendeine Transzendenz ins Auge fassen könnten. Und manche Wissenschaftler sagten, dass wissenschaftlich begründete Zweifel den Herrgott keinesfalls vom Sockel stießen und selbst wenn die Wissenschaft keinen Beweis für die Existenz Gottes oder eines höheren Wesens vorweisen könne, vermöge sie doch den Boden für eine wissenschaftlich belegbare Antwort auf jenes menschliche Sehnen zu

DIE VIRTUELLE REALITÄT

bereiten, dass nämlich der Sinn des Lebens und Gottes Absichten praktisch identisch seien. Und die Philosophen erwogen, ob nicht der Herrgott zumindest virtuell existieren könne, was allerdings ein Oxymoron wäre.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts warteten die Menschen in den Städten schon recht ungeduldig auf das neue Jahrhundert, da sie das Gefühl hatten, das neunzehnte Jahrhundert habe Wege aufgezeigt, die die Menschheit beschreiten müsse. Und künftig würden alle telefonieren und mit Dampfschiffen reisen, mit der U-Bahn fahren und auf Rolltreppen mit beweglichen Pauschen und mit Qualitätskohle heizen und vielleicht sogar einmal pro Woche baden. Und ein elektromagnetischer Telegraf und ein drahtloses Telefon würden menschliche Gedanken und Sehnsüchte in Blitzesschnelle durch den Raum tragen und das würde es der Gesellschaft ermöglichen, Harmonie zu finden und in Frieden und Eintracht zu leben. Und die

AN DER SCHWELLE DES NEUEN ZEITALTERS

Weltausstellung von neunzehnhundert in Paris wurde ein bedeutsames Ereignis, da sie an der Schwelle des neuen Zeitalters Zukunft und Möglichkeiten betonte, welche die Menschheit erwarteten, und die Besucher fuhren auf rollenden Gehsteigen und bewunderten die Erfindungen und staunten über die neue Kunst. Und für sie war klar, dass das zwanzigste Jahrhundert Armut und Mühsal hinter sich lassen und die Möglichkeiten der Elektrizität selbst den verrücktesten Träumen gerecht werden würden. Und alle würden sozial abgesichert sein und eine Woche Urlaub im Jahr genießen. Und die Leute würden bequem, hygienisch und demokratisch leben und auch die Frauen würden demokratisch leben und wählen gehen und politische Vertreter bestimmen. Und sie freuten sich auf das zwanzigste Jahrhundert und sagten, dass dies für die Menschheit eine

AUS DEN FEHLERN DER VERGANGENHEIT LERNEN

neue Möglichkeit sei und dass man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen werde. Die Frauen erhielten neunzehnhundertsechs in Finnland das Wahlrecht und neunzehnhundertdreizehn in Norwegen und neunzehnhundertfünfzehn in Dänemark und so weiter und mit der Zeit wollten sie auch studieren und die Matura ablegen und Politik machen und Wissenschaft und in der Armee für Frieden kämpfen. Der Großteil der Männer war damit ganz und gar nicht einverstanden und meinte, die Frauen hätten Sinn für das Familienleben und einfache Hausarbeit und sie, die Männer, ein größeres Verständnis für die Organisation der Gesellschaft und abstraktes Denken und ein Leben im Kollektiv – und fürs Vergnügen. Und in manchen demokratischen Ländern wurde gesetzlich festgelegt, dass das Parlament aus ebenso vielen Männern wie Frauen bestehen müsse, und einige Frauen

FRAUEN SIND MENSCHLICHE WESEN

behaupteten, das sei nicht demokratisch, da die Frauen doch menschliche Wesen seien. Und es sei nicht richtig, dass sie nur Kinder gebären und Windeln waschen und so weiter und darauf warten sollten, bis der Mann mit dem Geld heimkomme. Und es gab Männer, die sagten, sie wären lieber zu Hause beim Windelnwaschen und so weiter, ja, wenn sie bloß nicht zur Arbeit gehen müssten, und in Schweden, wo die Politik höchst sozial war, gab es viele Männer, die dafür Geld bekamen, dass ihre Frauen zur Arbeit gingen. Und was die Forschungserfolge betraf,

DIE ERFINDUNG DER ANTIBABYPILLE

waren viele Menschen der Meinung, dass die Erfindung der Antibabypille die größte Leistung des Jahrhunderts sei, da so die Frauen verkehren könnten, wann sie wollten, und nicht befürchten müssten, schwanger zu werden. Und dies habe sie in die sexuelle Unabhängigkeit geführt und somit auch in eine wirtschaftliche, da sie sich nun besser nach wichtigen Jobs umsehen könnten und nicht mehr in Ohnmacht fielen, wenn sie eine Maus sahen, und aufhörten, männlichen Klischees von Frauen zu entsprechen. Soziologen behaupteten, dass jenes traditionelle Modell der Frau in westlichen Gesellschaften somit unwiderruflich überwunden sei, da die Frauen, die doch jahrhundertelang den Zyklen der Natur unterlagen, nun dank der Antibabypille in ein Vertragsverhältnis getreten seien. Und die Emanzipation der Frau sei ein Paradoxon angewandter Freiheit, da die Frauen immer mehr Verantwortung und Pflichten hätten und selbst das, was man früher als große soziale Errungenschaft und Privileg der Frauen angesehen habe, etwa das Nachtschichtverbot und den Mutterschaftsurlaub und so weiter, empfänden heute Frauen als eine Form von Bevormundung.

Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wussten die Menschen nicht genau, ob sie den Beginn des neuen Jahrtausends schon im Jahr zweitausend oder erst zweitausendeins

DAS ENDE DER WELT

feiern sollten. Für jene Menschen, die auf das Ende der Welt warteten, schien das wichtig. Aber die meisten glaubten an kein Ende der Welt und es war ihnen völlig egal. Andere Menschen warteten auf das Ende der Welt, dachten sich aber, es werde an einem ganz gewöhnlichen Tag kommen. Und manche Christen sagten, man schreibe doch in Wahrheit längst das Jahr zweitausendeins, da Jesus schon vier Jahre früher zur Welt gekommen sei, als uns überliefert wurde. Und nach jüdischem Kalender brach bereits das Jahr fünftausendsiebenhundertsechzig an und nach muslimischem Kalender erst das Jahr vierzehnhundertneunzehn, und auch nach dem Julianischen Kalender war es früher als nach dem Gregorianischen, und daher kam es auch zur Oktoberrevolution von neunzehnhundertsiebzehn erst im November. Und den Buddhisten war es gleich, da laut dem buddhistischen Kalender das Jahr zweitausendfünfhundertzweiundvierzig der buddhashakarajanschen Ära anbrach, und die Buddhisten waren eher neugierig darauf, was sie im nächsten Leben sein würden – ein Frosch oder eine Meerkatze und so weiter. Der Buddhismus und der Taoismus gewannen im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts viele

YIN UND YANG

Anhänger, die den Gong schlugen und mit dem Zwerchfell atmeten und von Yin und Yang sprachen und mystische Bücher schrieben und der Meinung waren, die Welt sei voller Rätsel, aber nur scheinbar, da doch in Wirklichkeit alles voller Harmonie sei. Und wenn jemand einem Rätsel begegnete, schrieb er ein Buch darüber, da das mediale Zeitalter angebrochen war und jeder irgendein Buch schreiben wollte. Und mehr als das Ende der Welt fürchteten die Menschen Terroranschläge und das Versagen elektronischer Systeme, der Fernseher und Videorekorder und Mikrowellenherde und Geldautomaten und Flughäfen und Autobahnsignale und Ampeln in den Städten und Aufzüge in Neubauten. Attentate nahmen im zwanzigsten Jahrhundert überhand, da dies eine Möglichkeit wurde kundzutun, jemand sei mit etwas keinesfalls einverstanden, und das bekannteste Attentat fand in Sarajewo im Jahr neunzehnhundertvierzehn auf den österreichischen Thronfolger statt, was den Ersten Weltkrieg

DAS VERSAGEN

auslöste und somit auch das zwanzigste Jahrhundert. Das Versagen elektronischer Systeme, vor dem die Experten warnten, nannte man MILLENNIUM BUG