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HELGA HUTTERER

La grande

BLEUE

Paris · Oran · Alger 1962–1966

Biographischer Roman

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ISBN 978-3-9818430-8-8
eISBN 978-3-9480650-0-3
Zweite überarbeitete Auflage

Printed in Germany

Inhalt

PROLOG

April 1962, ein ruhiger Nachmittag in Oran, Algerien

PARIS – ORAN LA GRANDE BLEUE

ORAN – ALGER

FRANKREICH

EPILOG

Über den Autor

PROLOG

„La vie n’est rien et ne vaut pas
la moindre petite bassesse
vis-à-vis de soi-même.“

René Soyer

„Das Leben ist nichts wert.
Deshalb sollte man nie, auch
nicht mit der kleinsten
Niederträchtigkeit,
gegen sein Gewissen handeln.“

Hannah

April 1962, ein ruhiger Nachmittag in Oran, Algerien

In strahlendem Weiß, scheinbar unberührt vom Bürgerkrieg, überragt die Nouvelle Préfecture, Sitz der französischen Verwaltung, den Kessel der Innenstadt von Oran. Stacheldraht, Sandsäcke und zahlreiche französische Militärposten grenzen das Hochhaus vom Rest der Stadt ab. Nur wer die Absperrungen überwindet, erkennt, wie schwer beschädigt und übersät mit Einschusslöchern die Fassade ist.

Hoch oben im vierzehnten Stock sitzt René Soyer, der neue Chef des französischen Nachrichtendienstes, vor seinem mit Akten überhäuften Schreibtisch und blickt nachdenklich aus dem Fenster über die Dächer der Innenstadt auf grün bepflanzte Terrassen, hohe Gebäude, zahlreiche Kirchtürme, zum Hafen hin, auf die Basilika Notre Dame de la Cruz, auch auf das Minarett einer Moschee. Noch nie hat er hier einen Muezzin gehört, Araber wohnen sehr weit entfernt, dort, wo kein Kirchturm mehr in den Himmel ragt, wo er nur schemenhaft Umrisse von Gebäuden erkennen kann. Das wichtigste arabische Viertel, die Ville Nouvelle, hat Soyer besuchen können. „Village Nègre“ nennen es die französischen Bewohner Orans verächtlich. Von allen arabischen Quartiers liegt es der Innenstadt noch am nächsten, zwei große Boulevards bilden die Grenze. Soyer weiß, dass Europäer und Araber in Oran inzwischen klar getrennt leben. Araber, die früher im europäischen Bereich wohnten, zogen aus Angst auf die andere Seite, im Gegenzug füllten sich die verlassenen Wohnungen im Zentrum mit ärmeren Europäern. Gefahr lauert überall, sicher ist niemand, jeden Tag werden Menschen ermordet, auf beiden Seiten. Auch Soyer und seine Kollegen aus der Préfecture dürfen sich nicht sicher fühlen, denn die OAS (Organisation de l’armée secrète), die Terrororganisation der algerischen Franzosen, verfolgt in Oran eine Politik der verbrannten Erde, will mit dieser kompromisslos destruktiven Strategie das Eingreifen der französischen Fremdenlegion erzwingen.

Soyer hat sich bisher davon nicht einschüchtern lassen, obwohl sein Amtsvorgänger von OAS-Leuten emordet wurde. Er hat keine Angst vor dem Tod, hat den Krieg gegen die Deutschen überstanden, auch eine lange Zeit in Kriegsgefangenschaft, hat bereits im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, gemeinsam mit André Malraux. Beide hatten sie sich in Spanien unter der Devise „Ein sinnvoller Tod ist besser als ein sinnloses Leben“ für die republikanische Seite engagiert. Malraux, der linke Gaullist, ist mittlerweile Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten. Er hat entscheidend bei den Verhandlungen zur Unabhängigkeit Algeriens in Evian mitgewirkt. Bereits im Jahr 1958 hatte er sich zusammen mit François Mauriac und Jean-Paul Sartre gegen die immer häufiger praktizierten Foltermethoden der französischen Armee in Algerien ausgesprochen und für die Unabhängigkeit des Landes plädiert.

François Mitterand, ehemaliger Staats- und Innenminister und einer der wichtigsten französischen Politiker hat seinem Freund Soyer zu dem Posten des Délégué à l’information in Oran verholfen und für ihn absolute Handlungsfreiheit durchgesetzt, denn im Auftrag der französischen Regierung soll Soyer mit der algerischen Exilregierung GPRA (Gouvernement provisoire de la République algérienne) und der Nationalen Befreiungsfront FLN (Front de la libération nationale), der Organisation der arabischen Muslime in Algerien, eine friedliche Übergabe der Stadt an die Araber aushandeln.

Zwar existiert seit März der Friedensvertrag von Evian, von de Gaulles Unterhändlern mit dem FLN abgeschlossen, hier in Oran hält sich aber niemand daran. Die europäischen Einwohner von Oran empfinden das Friedensabkommen als Verrat der französischen Regierung an ihren Interessen. Seit 130 Jahren haben sie diese Stadt aufgebaut und wollen sie nicht ohne Widerstand den Arabern überlassen.

Soyer dagegen ist davon überzeugt, mit seinem Verhandlungsgeschick und seiner Überzeugungskraft eine friedliche Übergangslösung bewirken zu können. Kontakte zu den rivalisierenden Gruppen der Exilregierung und des FLN, auch zur französischen Armee und der Polizei konnte er bereits aufbauen in den wenigen Wochen seit seiner Ankunft in Oran. Das Vertrauen des französischen Generals Katz hat er ebenso gewonnen wie das der Araber. Es scheint ihm fast, als hätten die Araber nur auf jemanden wie ihn gewartet, um endlich konstruktive Verhandlungen aufnehmen zu können.

Nur an die OAS konnte er bis jetzt nicht herankommen. Er braucht jedoch dringend einen Erfolg in Oran, denn dieser Posten hier soll ihm helfen, sich in Frankreich zu rehabilitieren und einer drohenden Verurteilung wegen Betrugs aus dem Weg zu gehen. Immer wieder hat Soyer überlegt, wen er noch bemühen könnte, um eine Verbindung zur OAS herzustellen. Schließlich, nach langem Zögern, greift er zum Telefon, um im Grand Hotel anzurufen, wo die meisten internationalen Journalisten wohnen und wo, wie er weiß, auch die OAS ein- und ausgeht. Mit Tom Skandy, einem befreundeten amerikanischen Journalisten, will er die aktuelle Situation besprechen und Informationen austauschen, dieser Amerikaner kennt alle wichtigen Akteure in Oran. Tatsächlich erreicht er Skandy im Grand Hotel. Soyer kann nur seinen Namen nennen, wird sofort unterbrochen:

„Die OAS versammelt sich gerade hier bei uns im Grand Hotel in der Bar!“, hört er Tom Skandy leise durchs Telefon murmeln. Soyer legt den Hörer sofort auf, wählt erneut und bestellt sich einen Dienstwagen.

Unten vor dem Eingang öffnet der Chauffeur des schwarzen Citroëns beflissen die hintere Tür. Soyer nickt ihm zu, steigt ein, der Chauffeur schließt die Tür, setzt sich ans Steuer und wartet auf Anweisungen.

„Zum Grand Hotel.“

Der Chauffeur dreht sich um: „Wie bitte?“

„Wissen Sie nicht, wo das ist?“

„Jeder weiß, wo das ist.“

„Warum fahren Sie dann nicht?“

„Ich bin nicht lebensmüde. Das Grand Hotel ist der Treffpunkt der OAS!“

„Na und?“

„Wenn Sie da reingehen, kommen Sie nicht mehr lebend raus!“

„Wetten doch?“

„Sie sind größenwahnsinnig!“

Im Wagen ist es stickig, Schweiß läuft Soyer über die Stirn, mit einem großen sauberen Taschentuch tupft er sich das Gesicht trocken. Der Citroën nähert sich der Innenstadt, passiert zahllose Militärposten, die beim Erscheinen des offiziellen Wagens den Weg durch die Blockaden aus Stacheldraht, Sandsäcken und Tanks sofort freigeben in das Gewirr enger Straßen der Altstadt. Viele einst elegante Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen, darunter auch historische Gebäude, haben ihren Glanz und ihre Würde durch unzählige Einschüsse verloren, die Fassaden sind mit OAS-Parolen beschmiert. Soyer kurbelt die Fensterscheibe herunter, holt Luft. Der Citroën hält.

„Weiter fahr ich nicht. Viel Glück!“

Wortlos steigt Soyer aus. Als der Wagen wendet und davonrast, dreht er sich vorsichtig um, entdeckt um sich herum nichts Außergewöhnliches, fasst in seine Jackentasche, spürt den Revolver, den er eigentlich nicht hatte mitnehmen wollen. Nun ist er doch froh, ihn bei sich zu haben. Er folgt der Straße, die ihn zum Grand Hotel führt. Die fast quadratische, von Palmen eingesäumte Place de la Bastille wirkt etwas belebter als die engen Straßen. In einem der Cafés ist Betrieb.

Soyer geht auf das alte imposante Grand Hotel zu, das in seinen Glanzzeiten schön gewesen sein muss, jetzt aber etwas verkommen wirkt. Er öffnet die Tür und betritt die Eingangshalle mit dem stilvollen alten Marmorfußboden. Kein Gast ist zu sehen, nur ein kleines Mädchen und ein Junge mit einem Fotoapparat spielen in einer Sitzecke. An der Rezeption sitzt eine junge, dunkelhaarige Frau, liest die Tageszeitung „L’Écho d’Oran“, daneben liegt das Untergrundblatt der OAS. So sehr ist sie in ihre Lektüre vertieft, dass sie erst aufblickt, als Soyer schon fast an ihr vorbei ist. Irritiert wirft sie einen kurzen Blick auf ihre Kinder, wendet sich wieder der Zeitung zu.

Soyer läuft den Flur entlang, folgt dem Pfeil, der den Weg zur Bar weist, und dem lauten Stimmengewirr. Vor der Bar bleibt er stehen, vergewissert sich, dass der Revolver an der richtigen Stelle sitzt. Vorsichtig öffnet er die Tür, schiebt seine massige Gestalt in den Raum und schließt sie ruhig hinter sich. Hier innen ist die Luft völlig verqualmt, trotz Ventilator. Sofort verstummt die erregte Diskussion, alle Blicke richten sich auf ihn, den unbekannten Mann, der es wagt, in diese wichtige OAS-Versammlung einzudringen. Für einen Moment wirken die Gesichter der meist sehr jungen Männer völlig ratlos. Soyer weiß, diese Sekunden sind ausschlaggebend. Wenn er nur die geringste Unsicherheit zeigt, eine einzige falsche Bewegung macht, werden sie ihn umbringen. Die Stille wirkt fast unerträglich, das Hemd klebt ihm am Körper. Er versucht es mit Humor:

„Was ist los? Gönnt ihr einem durstigen Mann keine Anisette?“, und bahnt sich durch die Männergruppe seinen Weg zur Theke. Der verdutzte Barmann schenkt ein, die Männer scheinen immer noch nicht zu wissen, wie sie reagieren sollen. Soyer nimmt die Karaffe, verdünnt die Anisette mit etwas Wasser, trinkt mit kleinen Schlucken. Der junge schwarzgelockte Mann mit dunklen Kinderaugen und langen Wimpern neben ihm fasst sich als Erster, fordert ihn auf, sofort zu verschwinden. Soyer lässt sich nicht einschüchtern, erklärt, wer er ist und dass er hier ist, um mit ihnen zu reden. Jetzt rasselt ein aggressiver Wortschwall von allen Seiten auf ihn herab, lässt ihn einige Sekunden verstummen, dann spricht er ruhig weiter. Nein, er möchte keine Pressekonferenz geben, er hat nur ein Anliegen, nämlich die Männer kennenzulernen, ohne die in Oran nichts läuft, die für die Massaker verantwortlich sind, die Algerien in Schutt und Asche legen. Diesen Männern möchte er in die Augen schauen, mit ihnen will er diskutieren. Einige von ihnen ziehen jetzt ihre Revolver, richten sie auf den Eindringling, der die Drohungen ignoriert und sich eine Celtique, eine jener schwarzen dicken Glimmstengel ohne Filter, ansteckt. Der junge schwarzgelockte Mann, offensichtlich der Chef der Gruppe, stoppt die aufgebrachte Schar mit einer kleinen Geste, erhebt seine Stimme:

„Schluss jetzt! Lasst ihn reden!“

Soyer versucht, jedem einzelnen in die Augen zu schauen:

„Ihr wollt dieses Land verbrennen. Was habt ihr davon? Noch bevor es verbrannt ist, werden die meisten von euch tot sein. Gestorben für eine Entwicklung, die ihr nicht aufhalten könnt. Ihr sagt, ihr liebt euer Algerien, aber ihr zerstört es. Was ist das für eine Liebe?“

Ein Mann zielt direkt auf Soyer, doch der Chef drückt den Revolver nach oben und die Kugel zischt an Soyers Kopf vorbei, zersplittert den Hals einer Whiskyflasche. Verzweifelt versucht der Barmann, die letzten Tropfen des wertvollen Getränks zu retten. Drohend nähern sich jetzt die Männer ihm, dem Fremden, brüllen im Rhythmus: „Algérie française, Algérie française!“

Dem jungen Chef gelingt es, die Gruppe zurückzudrängen, den Ausgang für Soyer freizuhalten. Dem bleibt nichts anderes übrig, als die Bar zu verlassen.

„Wir sehen uns wieder“, kann er dem Chef noch im Vorbeigehen sagen.

PARIS – ORAN
LA GRANDE BLEUE

Am 14. Mai 1962, einem verregneten, tristen Tag, hat Hannah in Paris am Flughafen Orly ihre Reisetasche für den Flug nach Oran aufgegeben. Im Flieger sitzen außer ihr nur wenige Reisende, mehr Araber als Franzosen. Als sie den Sicherheitsgurt einrasten lässt und die Motoren starten, drehen sich ihre Gedanken immer wieder um ein und dieselbe Frage. Warum nur hat sie sich plötzlich entschlossen, nach Oran zu fliegen, in ein fremdes Land, in dem Krieg herrscht? René hat sie dazu nicht gezwungen, auch nicht gedrängt. Die Entscheidung, ihm zu folgen, hat sie ganz alleine getroffen. Später, nach der Landung im Ankunftssektor von Oran, bewegt sie sich in einer kleinen Gruppe Passagiere neben zwei verschleierten Frauen und einigen gepflegten, erkennbar wohlhabenden Arabern zur Passkontrolle. Sie trägt Jeans und T-Shirt, erregt Aufsehen, so ist hier offenbar keine Frau gekleidet. Bewaffnete Soldaten mustern sie aufdringlich, pfeifen ihr hinterher. Ohne zu reagieren, läuft sie an ihnen vorbei, stellt ihre Reisetasche ab, schiebt dem Beamten ihren Pass und die Einreisegenehmigung hin. Erst nach sorgfältiger Prüfung und eindringlichem Blickkontakt gibt der Beamte die Papiere zurück:

„Bonne chance, Mademoiselle.“

In der Halle hängt ein ungewohnt beißender Geruch, möglicherweise Haschisch, denkt sie, zusammen mit einem starken Abfallgeruch eine seltsame Mischung. Sie weiß, eine fremde Welt erwartet sie hier, voll unbekannter Gerüche und Geräusche, mit bewaffneten Männern, neugierigen und abschätzigen Blicken. Doch sie will sich nicht einschüchtern lassen. Vor seiner Abreise nach Oran hatte René ihr den Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens zwischen den dort lebenden Franzosen und Arabern erklärt. „Die einen kämpfen um ihre Freiheit und Unabhängigkeit, die anderen um die Daseinsberechtigung in einem Land, das ihnen seit Generationen Heimat ist“, hatte er gesagt. Alles war Theorie, jetzt ist sie hier und wird diese Realität selbst erleben.

Ob sie der Situation gewachsen sein wird, fragt sie sich, als sie Richtung Ausgang den Abflugssektor passiert, der brechend voll ist mit Europäern, die Oran verlassen wollen. Tage oder Wochen scheinen die Menschen hier schon zu kampieren, um einen Platz im Flugzeug zu ergattern, das sie von hier wegbringen soll, nach Frankreich oder Spanien, irgendwohin, nur raus aus diesem Land. Polizisten und Soldaten mit Maschinengewehren versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Zwischen verstreuten Gepäckstücken, Abfall, Zigarettenstummeln und verdorbenen Essensresten schlafen Kinder in den Armen ihrer müden Mütter, die sich an ihre Männer lehnen. Die meisten lagern auf dem Boden, auf den Sitzbänken ist kein Platz mehr. Es ist drückend heiß, stinkt nach Schweiß und Abfall, aber keiner wagt es, seinen Platz zu verlassen und ins Freie zu gehen – voller Angst, Neuankömmlinge könnten die bis jetzt gesicherte Position besetzen. Ein kleines Mädchen mit einem Teddybär weint, ruft nach seiner Mutter, irrt zwischen den liegenden Menschen umher. Die Atmosphäre hier ist erschreckend, auch die Situation der Wartenden, die vor den Toiletten Schlange stehen. Nur ein Araber ist zu sehen, er verkauft Thé à la Menthe, Couscous in Plastikschälchen und Mineralwasser. Die meisten Europäer dulden ihn, einige aber beschimpfen ihn laut als Verräter, der ihnen ihre Heimat wegnehmen will.

Fast schafft sie es nicht, aus dem Flughafengebäude herauszukommen, verzweifelt hereindrängende Menschen erdrücken sie beinahe. Vergeblich sucht sie im Gewühl vor dem Eingang nach René, die Sonne blendet, sie wühlt ihre Sonnenbrille aus der Reisetasche, setzt sie auf, blickt um sich, wartet, hält weiter Ausschau nach René – er ist doch nicht zu übersehen. Die zwei verschleierten muslimischen Frauen drängeln sich eilig an ihr vorbei zu einem Auto, steigen ein. Bewaffnete Soldaten und Gendarmerie halten die ankommenden, mit Koffern und Schachteln beladenen Menschen in Schach. Sie müssen sich hier draußen gedulden, bis in der Flughalle Platz frei wird. Unschlüssig steht Hannah zwischen den aufgeregten Menschen vor dem Flughafengebäude, wird hin- und hergeschoben. Erneute Pfeifkonzerte machen sie nervös. Bei ihrem letzten Telefongespräch hatte René ihr den Namen des Hotels genannt, in dem ein Zimmer für sie reserviert ist. Noch länger kann sie hier nicht bleiben.

Am Taxistand schräg gegenüber ist nur ein einziges verbeultes Taxi zu sehen. Neben der geöffneten Tür steht rauchend ein arabischer Chauffeur. Als sie auf ihn zuläuft, drückt er schnell die Zigarette aus, nimmt ihr die Reisetasche ab, verstaut sie im Kofferraum. Während sie einsteigt, setzt er sich ans Steuer. „Ins Grand Hotel bitte!“ Ganz selbstverständlich kommt ihr die Adresse über die Lippen, so als würde sie in Paris ein bekanntes Hotel nennen. Der Chauffeur dreht sich zu ihr um, mustert sie nachdenklich, dann erklärt er ihr gestenreich in korrektem Französisch, aber mit stark arabischem Akzent, diese Fahrt werde teuer, denn ein Araber riskiere sein Leben, wenn er sich dorthin, in die Hochburg der OAS, wagt. Sie reicht ihm einen Hundertfrancschein, er lächelt nur kurz, steckt das Geld schnell in seine Hosentasche, legt den ersten Gang ein und fährt zügig los.

Durch das ruckartige Anfahren wird sie in den Rücksitz gepresst, gerade noch kann sie verhindern, dass ihr Kopf nach hinten fliegt. Ein süßlicher Geruch im Taxi macht sie fast schwindlig.

Das Taxi rast eine Landstraße entlang. Geschickt kurvt der Chauffeur um die größten Schlaglöcher herum, lacht dabei, beobachtet im Rückspiegel, wie sie hin- und hergeworfen wird. Sie will sich nichts anmerken lassen, weicht seinem Blick aus, hält sich an der Tür fest und blickt aus dem Fenster, bestaunt die Palmen, das weiter entfernt blau glitzernde Meer, die Dächer weiß getünchter flacher Häuser zwischen den grünen Palmen, einen jungen Araber, der mit seinem vollgepackten Esel die Straße vor ihnen überqueren will. Plötzlich steht der Esel mitten auf der Straße still, weigert sich, weiter zu laufen, obwohl der Junge heftig auf ihn einschlägt. Dem Chauffeur bleibt nur die Vollbremsung, knapp vor den beiden kommt der Wagen zum Stehen. Immer noch bewegt der Esel sich nicht vom Fleck, auch nicht, als er wütend angehupt wird. Laut schimpfend steigt der Chauffeur aus, geht auf die beiden los, der Junge beachtet ihn nicht, nur Hannah sieht er mit seinen dunklen Augen neugierig an, während der Chauffeur vergeblich versucht, den Esel von der Straße wegzuziehen. Sie starrt zurück, die Vollbremsung hat ihren Magen kurz in Aufruhr gebracht, wie gut, dass die letzte Mahlzeit schon so lange her ist. Schließlich reißt der Chauffeur den Jungen aus seinen Träumereien, schüttelt ihn heftig, schreit ihn an, bis er sich wieder seinem Esel zuwendet. Gemeinsam schieben die beiden das widerstrebende Tier an den Straßenrand. Sie können weiterfahren, erreichen bald schon die ersten Häuser der Außenbezirke von Oran, wo nur Araber zu leben scheinen. Hannah sieht bunt gekleidete Frauen mit Schleier, Kopftuch oder offenen Haaren, Männer in einer Art Tunika, eigentümlichen hinten lang herunterhängenden Hosen, andere mit Hemd und Hosen, einige auch in Anzügen, dazwischen Kinder und Hunde, Eselskarren, Fahrräder und Autos. Obwohl der Verkehr von niemandem geregelt wird, verläuft alles geordnet, ohne Hektik.

An einem französischen Kontrollposten werden sie angehalten. Die Soldaten kontrollieren die Papiere des Chauffeurs, haben daran nichts auszusetzen. Hannahs deutscher Pass überrascht sie jedoch:

„Warum kommt denn eine Deutsche jetzt nach Oran?“ Sie will sich auf keine Diskussionen einlassen, tut so, als habe sie die Kommentare nicht verstanden. Die Posten fragen nicht weiter nach, lassen das Taxi passieren. Jetzt nähern sie sich der Innenstadt, das Straßenbild ändert sich, es ist, als ob sie in eine völlig andere Welt eintauchen. Straßen und Gassen wirken so wie in Paris oder Marseille, nur die Gerüche bleiben fremd und ungewohnt. Sicherlich sind diese beeindruckenden Gebäude, Monumente und Plätze historisch bedeutsam, Hannah kann sie aber keiner bestimmten Epoche zuordnen.

Die Place de la Bastille, in die sie schließlich einfahren, scheint ihr beherrscht vom Charme des etwas abgewirtschafteten fünfstöckigen Grand Hotels, mit heller Fassade, kleinen schmiedeeisernen Balkonen, einem vom roten Baldachin überdachten Eingang mit Palmen und Oleanderbüschen.

Vor dem Grand Hotel stoppt der Fahrer das Taxi, springt nervös hinaus mit gehetztem Blick auf eine Gruppe rauchender, europäischer Männer, die auf etwas zu warten scheinen. Schnell holt er die Reisetasche aus dem Kofferraum, stellt sie auf die Straße, drängt Hannah, sofort auszusteigen:

„Beeilen Sie sich, Madame!“ Als sie sich bückt, um die Tasche aufzuheben, rast das Taxi schon davon. Beinahe stößt sie mit einem Passanten zusammen, der eilig den Platz überqueren will. Plötzlich fallen Schüsse. Eine Kugel pfeift nahe an ihrem Kopf vorbei. Neben ihr bricht der Mann zusammen, die Männergruppe stiebt auseinander, ist wie vom Erdboden verschwunden. Voller Panik will sie wegrennen, da ist jemand hinter ihr, fasst sie um die Schultern, sie hört eine beruhigende Stimme:

„Nicht laufen! Ruhig weitergehen!“

Sie dreht sich um, blickt in beruhigend dunkle Augen, fasst sich, befolgt den Rat. Ob sie zum Hotel möchte? Sie nickt, er nimmt ihr die Tasche ab, bringt sie zum Hoteleingang. Nur ein kurzes „Merci“ kann sie hervorbringen, da ist er schon um die Ecke gebogen. Noch einmal blickt sie zurück auf den Platz, wo eine reglose Gestalt am Boden liegt. Alles ist still.

Entschlossen betritt sie das nicht sehr belebte Hotelfoyer. Die wenigen Gäste müssen die Schüsse gehört haben, lesen ungerührt weiter ihre Zeitung, trinken entweder Anisette oder Thé à la Menthe. Eine junge Frau an der Rezeption betrachtet sie mit erstauntem, aber freundlichem Blick. Auch sie scheint nicht weiter beunruhigt über die Schüsse vor dem Hotel, eher verwundert darüber, dieses blonde Mädchen ohne männliche Begleitung hier eintreten zu sehen. Hannah erkundigt sich bei ihr, ob ein Zimmer auf ihren Namen reserviert sei. Die Frau kontrolliert ihre Liste, nimmt den Zimmerschlüssel, überreicht ihn:

„Willkommen im Grand Hotel, Madmoiselle Fuchs. Sie sind die erste deutsche Journalistin bei uns.“

Wieso Journalistin? Ach ja, René hat davon gesprochen. Wo mag er nur stecken? Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Es muss einen triftigen Grund geben, warum er auch hier nicht auf sie wartet. Sie will zum Fahrstuhl gehen, wird beinahe von zwei Kindern umgerannt, die sich um einen Fotoapparat streiten.

„Josette, Jean! Hört sofort auf!“

Die Frau an der Rezeption ermahnt die beiden, kann sie aber nicht vom Spielen und Streiten abhalten. Das etwas ältere Mädchen entreißt dem Jungen den Apparat, befiehlt ihm mit energischer Stimme, sich in Positur zu stellen. Hannah muss lächeln, so wie die Frau an der Rezeption. Bevor sich die Fahrstuhltür hinter ihr schließt, winkt sie der Rezeptionistin noch einmal zu.

Das Hotelzimmer, ein mittelgroßer, gemütlich eingerichteter Raum mit Bad, Bidet und WC, ist angenehm kühl und dunkel. Am Waschbecken liegt Seife, auch saubere Handtücher sind da. Sie wäscht sich die Hände, zieht die Schuhe aus, wirft sie in eine Ecke. Ob draußen vor dem Hotel immer noch der erschossene Mann liegt? Als sie kurz die Läden öffnet, strahlt die Sonne unerbittlich herein und blendet sie. Lieber nicht selbst zum Ziel werden, überlegt sie und verdunkelt den Raum sofort wieder, holt ein Kofferradio aus der Reisetasche, schließt es an. Nur ein grässliches Rauschen ist zu hören. Nach vergeblichem Hin- und Hersuchen schaltet sie aus, zündet sich eine Zigarette an, legt sich aufs Bett und versucht, Rauchkringel in die Luft zu blasen. War es richtig, nach Oran zu fliegen, René nachzureisen? Wäre es nicht konsequenter und mutiger gewesen, nach Deutschland zurückzukehren und ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen, sich dort ihre eigenen Aufgaben zu suchen? Viele Fragen gehen ihr durch den Kopf. Fünf Jahre lang konnte sie durch die Unterstützung von René in Paris leben. Jetzt hat er dieses Amt in Algerien übernommen. Was wird sie hier machen können? Das Telefon klingelt, lässt sie hochschrecken, es gibt tatsächlich in diesem Land Telekommunikation. Die Stimme der Frau von der Rezeption ist ihr schon vertraut. Sie teilt ihr mit, dass ein Mister Skandy in der Halle auf sie wartet. Ob René den Mann geschickt hat?

Als sie aus dem Aufzug tritt, entdeckt sie einen großen blonden Amerikaner, der gerade den beiden Kindern erklärt, wie der Fotoapparat funktioniert. Um seinen Hals hängt ein neuer Apparat, der die Kinder viel mehr interessiert als ihr eigener. Der Amerikaner hat Hannah sofort bemerkt, beschäftigt sich noch kurz mit den Kindern, kommt dann auf sie zu, nimmt sie zur Seite, stellt sich leise als Tom Skandy vor, amerikanischer Journalist und Freund von René Soyer.

„René? Wo ist er denn? Am Flughafen habe ich auf ihn gewartet. Können Sie mich zu ihm bringen?“

„Sie wissen ja, die Situation ist extrem kompliziert, hier kann ich ihnen keine Einzelheiten erzählen. Kommen Sie einfach mit, er wird Ihnen sicher alles genau erklären.“

Gerne würde sie genauere Informationen haben, bevor sie ihm folgt, es scheint ihr aber unangebracht, diesen fremden Mann hier weiter auszufragen. Als sie kurz darauf an seiner Seite über die Place de la Bastille läuft, wirkt alles ruhig. Einige Bistros sind mit Europäern besetzt, die ruhig vor ihren Getränken sitzen, so als wäre nie etwas geschehen. Hannah geht schweigend, vor allem darum bemüht, mit dem großgewachsenen amerikanischen Journalisten Schritt zu halten. In einer Seitengasse eilt ihnen eine verschleierte Muslimin entgegen. Skandy fasst Hannah am Arm und hält sie zurück. In diesem Augenblick kommt ein junger Europäer aus einem Haustor, geht auf die Muslimin zu, die zu laufen beginnt. Mit ein paar Schritten ist der Junge neben ihr, zieht eine Pistole aus seinem Hosenbund, packt die Frau an den Schultern, hält ihr die Pistole an die Schläfe. Die Frau schreit auf, er drückt ab, ihr Schrei erstickt, sie bricht zusammen. Blut und Gehirnmasse spritzen auf ihr helles Gewand und das Trottoir. Der Junge verschwindet um die nächste Ecke. In den Häusern bleibt alles still, niemand lässt sich blicken. Tom Skandy nimmt seinen Fotoapparat, fotografiert das Opfer.

„Sicher eine Hausangestellte bei Europäern. Keine andere Muslimin hätte sich im Moment freiwillig in die Innenstadt gewagt.“

Hannah blickt auf die Leiche, auf den Journalisten, der diese Gräueltat offenbar ungerührt ablichtet. Beim Anblick des zerfetzten Gehirns muss sie würgen, dreht sich zur Seite, um sich zu übergeben. Wortlos reicht er ihr ein Taschentuch, zieht sie fort von dem schrecklichen Ort. Wie betäubt versucht sie nur, weiter mit ihm Schritt zu halten.

Auf so etwas war sie nicht vorbereitet. Die Kugeln hätten auch sie treffen können. Dieser Amerikaner, kann sie ihm vertrauen, bringt er sie zu René, ist er tatsächlich Journalist? Als würde er ihre Gedanken erraten, nimmt er sie beruhigend am Arm:

„Sie als Europäerin müssen hier keine Angst haben.“

Er biegt von der Straße ab, geht mit ihr über steile, unebene Abkürzungen hinauf bis zu einem höher gelegenen, abgezäunten Hochhaus. Von den französischen Militärposten hier wird Skandy freundlich begrüßt. Hannah, neben ihm, halten sie wohl auch für eine Journalistin, sie gefällt ihnen, darf ohne Kontrolle passieren. Wie eine schwarze Ruine erscheint ihr das bewachte Verwaltungsgebäude im Inneren, auf den Treppenstufen häuft sich Schutt, die Wände sind übersät mit Einschussspuren.

„Das hier sind die Reste von Plastiksprengstoff“, hört sie Skandy neben sich. Sie versucht, ihre Unsicherheit zu überspielen, eilt entschlossen auf die zwei Fahrstühle zu und drückt auf den Aufwärtsknopf.

„Da können Sie lange drücken! Die funktionieren nicht. Treppensteigen ist auch viel gesünder!“

Skandy scheint sich über ihre Naivität zu amüsieren. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal, ist sofort im ersten Stock.

„Wie hoch müssen wir denn?“

Skandy, der ihr ganz gemächlich folgt, ruft von weiter unten: „Bis in den vierzehnten Stock!“

Wie schafft René das bloß mit seinem Übergewicht, fragt sie sich, läuft weiter die Treppen hinauf, bis sie völlig außer Atem ist. Skandy hat sie weit hinter sich gelassen, er ist nicht in Sicht. An einer Tür steht „Toilettes“, sie geht hinein. Hier ist schon sehr lange nicht mehr sauber gemacht worden. Sie dreht den Wasserhahn auf, kein Wasser. Wieder zurück im Flur muss sie immer noch auf Skandy warten. Ein Stockwerk unter ihr erklimmt er langsam und bedächtig Stufe für Stufe.

„René würde sicher ein Büro im Erdgeschoss vorziehen. Aber das ist viel zu gefährlich und wird von der Verwaltung nicht erlaubt“, erklärt er gelassen, als er sie schließlich eingeholt hat. Gemeinsam steigen sie weiter hoch bis in den vierzehnten Stock.

Oben ist Betrieb, sie hört Stimmen, einige Bürotüren stehen offen, Angestellte gehen mit Akten über den Flur, betrachten sie neugierig, grüßen Skandy, der schließlich am Ende des Gangs vor einer Tür stehenbleibt, klopft, die Tür öffnet. Er betritt den Raum vor Hannah, die an ihm vorbei sofort Renés typische Unordnung erkennt, geöffnete Aktenordner, Zeitungen, herumliegende Bücher, überquellende Aschenbecher. René sitzt an seinem Schreibtisch, telefoniert. Für einen Moment wirkt er beunruhigt, entspannt sich aber, als er sie hinter Skandy entdeckt. Schnell beendet er sein Telefonat, springt auf, läuft auf die beiden zu, um sie zu begrüßen. Skandy verabschiedet sich mit einigen wenigen Worten, ist sofort verschwunden, noch bevor sie sich bei ihm bedanken kann.

Jetzt hebt René sie hoch, wirbelt sie im Kreis und setzt sie behutsam wieder ab. Voll Besorgnis betrachtet er sie.

„Du bist blass!“

Vom Flughafen konnte er sie nicht abholen wegen einer wichtigen Besprechung. Hannah beruhigt ihn:

„Ich bin einfach nur übermüdet.“

Die beiden Morde will sie in diesem Moment nicht erwähnen.

„Ist dieser Tom Skandy tatsächlich ein Freund von dir und Journalist?“

„Ja!“

„Warum hast du mich hier als Journalistin angekündigt?“

„Weil du als Journalistin im Grand Hotel am besten an die OAS-Leute herankommst. So wirst du mich unterstützen können. Ich brauche diesen Kontakt dringend, um die Parteien hier in Oran an einen Tisch zu bringen. Du bist mein letzter Trumpf, musst die Bekanntschaft dieser Leute suchen, dich mit ihnen anfreunden. Ich selbst kann mich im Grand Hotel nicht blicken lassen, mich würden sie sofort umbringen. Als Deutsche und Journalistin bist du nicht gefährdet, vielleicht werden sie dir vertrauen. Die OAS-Leute dürfen aber auf keinen Fall erfahren, dass wir beide uns kennen! Tom Skandy ist ein guter Kontaktmann, auf den ist absolut Verlass.“

Er will also, dass sie für ihn einen Kontakt zur OAS aufbaut. Wie überzeugt René von ihren Fähigkeiten ist, was er ihr Ungeheuerliches zutraut! Ob sie Angst habe, fragt er sie, ob sie doch wieder zurück nach Paris wolle. Noch sei Zeit. Nein, natürlich nicht! Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, geht zum Schreibtisch und holt aus der Schublade einige Dokumente. Wie sehr er sich verändert hat! Er strahlt hier eine positive Anspannung aus, wirkt fitter und vitaler als in Paris. Etwas abgenommen hat er auch, aber er ist immer noch zu dick. Sein Gesicht ist markanter geworden, die Augen wirken größer und melancholischer. Seine charismatische Persönlichkeit wirkt noch so stark auf sie wie schon damals vor fünf Jahren bei ihrem ersten Zusammentreffen in Paris. Auf keinen Fall will sie jetzt vor ihm zögerlich wirken, sie nimmt ihm die Dokumente ab und blättert sie konzentriert durch. Da ist ein Stadtplan von Oran, ein Presseausweis, ausgestellt auf den Namen Hannah Fuchs, Journalistin bei „Die Welt“, ein Passierschein, Waffenschein, auch ein Fahrzeugschein. Journalistin soll sie hier sein, und ein Auto fahren! Ihr Herz schlägt etwas schneller. Fahren, möglichst schnell, um im Rausch der Geschwindigkeit all ihre Grübeleien vergessen zu können; sie liebt das, schon bevor sie den Führerschein gemacht hat, hätte sie sich fast bei einem selbstverschuldeten Autounfall umgebracht.

„Gibt es auch einen Schlüssel für das Gefährt?“

Sie versucht, möglichst gelassen zu erscheinen. René lächelt, zieht den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, wirft ihn ihr zu. Gut. Und wozu braucht sie den Passierschein? Gibt es eine Ausgangssperre in Oran? Ja, der Couvre-feu beginnt seit Neuestem schon um 19.30 Uhr! Und was soll der Waffenschein? Nur für alle Fälle, schießen sollte sie hier schnell lernen. Sie braucht viel genauere Informationen, bevor sie sich zurück ins Grand Hotel wagen kann. René hat die Nacht eingeplant, um sie genau zu informieren, sie ist mit ihm zum Abendessen angemeldet, und in einem leerstehenden Zimmer der Préfecture wurde auch ein Bett für sie überzogen.

Zum Abendessen nehmen Hannah und René Platz im obersten Stockwerk der Préfecture in einem Saal mit verdunkelten Fenstern. Sechs Verwaltungsangestellte sitzen bereits an einem langen gedeckten Tisch, auf dem Leuchter mit brennenden Kerzen stehen. Die Suppe wird serviert. Nur schleppend kommt eine Unterhaltung in Gang, die Männer versuchen fröhlich zu sein, ihre Unruhe können sie aber nicht verbergen. Mit seinem Plauderton lockert René die Atmosphäre auf. Entspannt erklärt er Hannah, sie könnten heute bestimmt in Ruhe essen, da die OAS bereits gestern zugeschlagen habe. Kaum hat er den Satz zu Ende gesprochen, wird von außen das Feuer eröffnet. Fensterscheiben klirren, Mörtelstücke spritzen in die Teller, blitzschnell sind die Männer unter dem Tisch verschwunden. Hannah will auch aufspringen, ein Blick auf René, der sitzen bleibt, hält sie zurück. Erst schenkt er ihr, dann sich ein Glas Wein ein. Seine Gelassenheit überträgt sich auf sie, es gelingt ihr, seinem leise gesprochenen Kommentar zu lauschen. Diese Herren, seine Kollegen, verbrächten ihre Abende eher unter dem Tisch als auf ihren Stühlen, tagsüber verkröchen sie sich hinter ihren Schreibtischen, diktierten unsinnige Aktennotizen, denn zum Agieren seien sie zu feige. So blieben sie völlig isoliert in Oran, hätten keine Ahnung, wie es in den Köpfen und Herzen der Bevölkerung aussehe.

Die Schießerei ist beendet, Renés Kollegen tauchen wieder auf, glätten ihre Anzüge, rechtfertigen ihr Untertauchen, indem sie René vorhalten, sich unbesonnen und mutwillig der Gefahr auszusetzen. Wenn er schon nicht auf sich selbst aufpasse, dann solle er wenigstens an das Leben der jungen, deutschen Journalistin denken. Deutlich zeigt er ihnen, wie kleinmütig und ängstlich er sie alle findet. Die Mahlzeit könne jetzt fortgesetzt werden, erklärt er ihnen.

Währenddessen nähern sich in der Innenstadt Henri, der Leiter der OAS-Versammlung, und vier junge OAS-Männer dem Eingang des Verlags, der die Tageszeitung „L’Écho d’Oran“ herausgibt. Sie entsichern ihre Pistolen, betreten das Gebäude. Die Belegschaft bereitet die Ausgabe für den nächsten Tag vor. In einer Ecke stehen zwei Polizisten in schwarzer Uniform mit Plastikhelmen auf den Köpfen. Sie gehören zur Sondereinheit der französischen Polizei. Rauchend und kaffeetrinkend unterhalten sie sich. Die Tür wird aufgerissen, Henri und seine Männer richten Pistolen auf die Polizisten und die Belegschaft.

„Hände hoch! Keine Bewegung!“