Agnès Poirier

An den Ufern der Seine

Die magischen Jahre von Paris 19401950

Übersetzt aus dem Englischen
von Monika Köpfer

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Left Bank.

Art, Passion and the Rebirth of Paris, 1940–1950«

im Verlag Bloomsbury Publishing, London, Oxford, New York© Agnès Poirier, 2018

Für die deutsche Ausgabe

© 2019, 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images, Bildnr. 116478017

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98381-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11569-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für

François

[Paris war] … unser noch nicht müde. Wir sahen gut aus und waren begehrt; man lächelte uns zu und sah uns auf der Straße nach. Die Zimmer waren kalt, aber geräumig, es war mehr als nur die Andeutung eines anderen Lebens, frei von den gewohnten Hemmungen, ein Leben, für das dieses große Museum, dieser Garten der Lüste, geschaffen schien.

James Salter(1), Verbrannte Tage

Chronologie

1939

23. August    

Der sowjetische Außenminister Molotow(1) und sein deutscher Amtskollege von Ribbentrop(1) unterzeichnen einen Nichtangriffspakt, der Hitler(1) freie Hand lässt, um den Westen anzugreifen.

24. August    

Jacques Jaujard(1) schließt den Louvre: 4000 Kunstschätze werden klammheimlich verpackt, um an geheimen Orten sicher verwahrt zu werden.

1. September    

Deutschland überfällt Polen.

3. September    

Frankreich und Großbritannien erklären Deutschland den Krieg.

1940

Mai    

Arthur Koestler(1) versteckt sich in Sylvia Beachs(1) Buchhandlung »Shakespeare and Company«; von hier aus schickt er das Manuskript von Sonnenfinsternis an seinen Londoner Verleger.

10. Mai    

Deutschland marschiert in Belgien und Nordfrankreich ein.

10. Juni    

Unter Mussolinis(1) Führung erklärt Italien Frankreich und Großbritannien den Krieg.

11. Juni    

Die französische Regierung flieht aus Paris.

14. Juni    

Die deutschen Truppen marschieren in Paris ein.

18. Juni    

In einer Rundfunkansprache in der BBC fordert General Charles de Gaulle(1) von London aus die Franzosen dazu auf, weiterzukämpfen, und ermuntert alle jungen Männer und Frauen, es ihm gleichzutun und sich der Résistance anzuschließen.

22. Juni    

Jean-Paul Sartre(1) und Henri Cartier-Bresson(1) geraten in Gefangenschaft und werden in deutschen Kriegsgefangenenlagern interniert.

23. Juni    

Adolf Hitler(2) posiert vor dem Eiffelturm für Fotografen.

1941

März    

Jean-Paul Sartre(2) kehrt nach seiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenenlager nach Paris zurück.

April–September    

Beauvoir(1), Sartre(3) und Merleau-Ponty(1) gründen die Widerstandsgruppe »Socialisme et Liberté«, die sich jedoch alsbald wieder auflöst, weil sich viele ihrer Mitstreiter lieber den schlagkräftigeren kommunistischen Widerstandszellen anschließen. Sartre(4) beginnt wieder Philosophie zu unterrichten, jetzt am Lycée Condorcet.

Dezember    

Deutschland erklärt den Vereinigten Staaten den Krieg.

1942

Januar    

»Sonderführer« Gerhard Heller(1), ein frankophiler Feingeist und dennoch Zensor für die französische Literatur, liest Albert Camus’(1) Roman Der Fremde und genehmigt dessen Veröffentlichung.

September    

Der CNE, Comité National des Écrivains, die Schriftstellergruppe der Résistance, hält seine wöchentlichen Treffen in der Wohnung von Édith Thomas(1) ab.

November    

Die Vereinigten Staaten beginnen ihre Invasion in Nordafrika.

1943

Juni    

Jean-Paul Sartres(5) Stück Die Fliegen wird im Théâtre de la Cité uraufgeführt.

August    

In derselben Woche erscheinen Jean-Paul Sartres(6) 700-seitiges Werk Das Sein und das Nichts und Simone de Beauvoirs(2) Romanerstling Sie kam und blieb, die Geschichte einer Dreiecksbeziehung mit autobiografischen Anklängen.

September    

Picasso(1) bittet den ungarischen Fotografen Brassaï(1), der in Paris untergetaucht ist, seine bislang unter der Besatzung geschaffenen Werke zu fotografieren.

1944

6. Juni    

Im Morgengrauen beginnen die Operationen des D-Day. Henri Cartier-Bresson(2) und Georges Braque(1) verfolgen am Radio die Neuigkeiten.

August    

Der Aufstand in Paris beginnt am 16. August. Dietrich von Choltitz(1), Wehrmachtsbefehlshaber von »Groß-Paris«, unterzeichnet am 25. August um 16 Uhr 15 die Kapitulation.

September    

»L’Épuration« – die Säuberungsaktionen unter den Kollaborateuren beginnen.

1945

Januar    

Albert Camus(2), der Chefredakteur von Combat, schickt Jean-Paul Sartre(7) als Reporter in die Vereinigten Staaten (dessen erste USA-Reise) und Simone de Beauvoir(3) nach Spanien und Portugal, um über das Leben der Menschen dort zu berichten.

Juli    

Alexander Calder(1) bereitet mithilfe von Marcel Duchamp(1) und seines neu gewonnenen Freundes Jean-Paul Sartre(8) eine Ausstellung seiner Mobiles vor.

August    

Marschall Pétain(1) wird wegen Hochverrats der Prozess gemacht. Über Hiroshima wird die Atombombe abgeworfen.

Oktober    

Sartre(9) hält im Club Maintenant seinen denkwürdigen Vortrag »Der Existenzialismus ist ein Humanismus«. Einige Frauen fallen in dem brechend vollen Saal in Ohnmacht. In Frankreich werden am 21. Oktober Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung abgehalten; damit endete die Dritte Republik (1870–1940) staats- und völkerrechtlich.

1946

Januar    

Charles de Gaulle(2) tritt am 20. Januar zurück, weil er die bis dahin ausgearbeitete Verfassung der Vierten Republik ablehnte.

April    

Arthur Koestlers(2) Sonnenfinsternis wird in Frankreich zum Bestseller.

Mai    

Richard Wright(1) lässt sich in Paris nieder.

September    

Simone de Beauvoir(4) beginnt ihre Recherchen zu Das andere Geschlecht.

Dezember    

Boris Vian(1) veröffentlicht unter dem amerikanisch klingenden Pseudonym Vernon Sullivan, »ein afroamerikanischer Autor«, Ich werde auf eure Gräber spucken. Die darin enthaltenen Sexszenen bringen seinen Verleger hinter Gitter.

1947

Januar    

Simone de Beauvoir(5) begegnet während ihrer viermonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten Nelson Algren(1) und verliebt sich in ihn.

März    

Der amerikanische Präsident Truman(1) ordnet die Überprüfung der politischen Loyalität sämtlicher Staatsbediensteter an.

April    

Der Jazzclub Le Tabou(1), der alsbald den Spitznamen »Höhle der Existenzialisten« erhält, öffnet in der Rue Dauphine seine Pforten.

Juni    

Albert Camus’(3) Roman Die Pest ist in den Buchhandlungen von Paris erhältlich. Der amerikanische Außenminister George Marshall(1) skizziert in einer Rede vor den Abschlussklassen von Harvard seine Ideen, die als Marshall(2)-Plan in die Geschichte eingehen werden.

November    

Norman Mailer(1) und seine Frau ziehen im Rahmen des amerikanischen GI-Wiedereingliederungsprogramms für ein Jahr nach Paris.

1948

Januar    

Alberto Giacometti(1) stellt seine jüngsten Werke aus, darunter der Schreitende Mann. Den Katalogtext hat Sartre(10) verfasst.

Februar    

Der Februarumsturz in der Tschechoslowakei erschüttert den Glauben vieler Kommunisten an ihre Partei.

März    

Sartre(11) gründet eine Partei, die RDR (Demokratische und Revolutionäre Allianz), als Sammelbecken aller nichtkommunistischen Linken und um für ein unabhängiges Europa zu werben.

Juni    

Die im Rahmen der »G. I. Bill« in Paris weilenden Studenten Art Buchwald(1), Richard Seaver(1), Ellsworth Kelly(1) und Lionel Abel(1) lassen sich im Rive Gauche nieder.

August    

Theodore H. White(1) zieht als Korrespondent nach Paris, um über die Umsetzung des Marshall(3)-Plans zu berichten.

September    

Saul Bellow(1) landet mit seiner Familie in Paris.

November    

James Baldwin(1) kommt mit 40 Dollar in der Tasche in Paris an. Der 27-jährige Garry Davis(1) und Gesinnungsfreunde unterbrechen mit einer spektakulären Aktion die erste Tagung der UN-Vollversammlung, um seine Bewegung »Eine Regierung für die ganze Welt« zu lancieren.

1949

Januar    

Der Krawtschenko(1)-Prozess findet statt. Samuel Beckett(1) beendet Warten auf Godot.

April    

Saul Bellow(2) beginnt seinen Roman Die Abenteuer des Augie March, mit dem ihm der Durchbruch gelingen wird.

Mai    

Ellsworth Kelly(2) findet seinen eigenen Stil. Nelson Algren(2) beendet Der Mann mit dem goldenen Arm und trifft zu einem viermonatigen Besuch bei Simone de Beauvoir(6) in Paris ein. Juliette Gréco(1) lernt Miles Davis(1) nach dessen erstem Auftritt in Paris kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick.

Juni    

Der erste Band von Beauvoirs(7) Das andere Geschlecht erscheint.

Juli    

Die 15-jährige Brigitte Bardot(1) ziert das Cover der Zeitschrift Elle.

November    

Die Veröffentlichung des zweiten Bands von Beauvoirs(8) Das andere Geschlecht löst einen Skandal aus.

Handelnde Personen

Nelson Algren(3): Amerikanischer Schriftsteller, 1909 geboren.

Dominique Aury(1): Französische Schriftstellerin, 1907 geboren.

James Baldwin(2): Amerikanischer Schriftsteller, 1924 geboren.

Sylvia Beach(2): Amerikanische Buchhändlerin und Publizistin, 1887 geboren.

Simone de Beauvoir(9): Französische Philosophin und Schriftstellerin, 1908 geboren.

Samuel Beckett(2): Irischer Schriftsteller, 1906 geboren. Erhielt 1969 den Literaturnobelpreis.

Saul Bellow(3): Amerikanischer Schriftsteller, 1915 geboren. Wurde 1976 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Sonia Brownell-Orwell(1): britische Übersetzerin und Herausgeberin, 1918 geboren.

Art Buchwald(2): Amerikanischer Journalist, 1925 geboren. Wurde 1982 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Alexander Calder(2): Amerikanischer Bildhauer, 1898 geboren.

Albert Camus(4): Französischer Schriftsteller, 1913 geboren. Erhielt 1957 den Literaturnobelpreis.

Jean Cocteau(1): Französischer Dichter, 1889 geboren.

Miles Davis(2): Amerikanischer Jazztrompeter, 1926 geboren.

Janet Flanner(1): Amerikanische Korrespondentin für den New Yorker in Paris, 1892 geboren.

Alberto Giacometti(2): Schweizer Bildhauer und Maler, 1901 geboren.

Juliette Gréco(2): Französische Muse und Chansonsängerin, 1927 geboren.

Jacques Jaujard(2): Direktor des Louvre während des Zweiten Weltkriegs, 1895 geboren.

Ernst Jünger(1): Deutscher Schriftsteller, 1895 geboren.

Ellsworth Kelly(3): Amerikanischer Maler, 1923 geboren.

Arthur Koestler(3): Aus Ungarn stammender britischer Schriftsteller, 1905 geboren.

Norman Mailer(2): Amerikanischer Schriftsteller, 1923 geboren. Erhielt 1969 und 1980 den Pulitzer-Preis.

Jean Marais(1): Französischer Schauspieler, 1913 geboren.

Adrienne Monnier(1): Französische Buchhändlerin und Verlegerin, 1892 geboren.

Jean Paulhan(1): Französischer Publizist und Lektor, 1884 geboren.

Pablo Picasso(2): Spanischer Maler, 1881 geboren.

Jean-Paul Sartre(12): Französischer Philosoph, Dramatiker und Schriftsteller, 1905 geboren. Erhielt 1964 den Literaturnobelpreis.

Irwin Shaw(1): Amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor, 1913 geboren.

Simone Signoret(1): Französische Schauspielerin, 1921 geboren.

Édith Thomas(2): Französische Schriftstellerin und Archivarin, 1909 geboren.

Boris Vian(2): Französischer Jazzmusiker und Schriftsteller, 1920 geboren.

Theodore H. White(2): Amerikanischer Journalist, 1915 geboren. Wurde 1962 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Richard Wright(2): Amerikanischer Schriftsteller, 1908 geboren.

Karte Rive Gauche

  

Einleitung

An den Ufern der Seine erzählt von Menschen, die zwischen 1905 und 1930 geboren wurden und zwischen 1940 und 1950 in Paris lebten, liebten, sich amüsierten, stritten und entfalteten, und deren intellektuelles und künstlerisches Schaffen noch heute unser Denken und unsere Lebensweise, ja selbst die Art, wie wir uns kleiden, beeinflusst. Nach den Schrecken des Kriegs, der sie geprägt und geformt hatte, war Paris der Ort, wo die originellsten Stimmen jener Zeit eine eigenständige Alternative zu den kapitalistischen und kommunistischen Lebens-, Kunst- und Politikentwürfen suchten – einen dritten Weg.

Diese jungen Männer und Frauen, aufstrebende Romanciers, Philosophen, Maler, Komponisten, Anthropologen, Theoretiker, Schauspieler, Fotografen, Dichter, Herausgeber, Verleger und Dramatiker, die von den Qualen des Zweiten Weltkriegs geprägt waren, teilten nicht immer die gleichen politischen und kulturellen Einstellungen, hatten aber drei Gemeinsamkeiten: die Kriegserfahrung, die Begegnung mit dem Tod und die Hochstimmung, die sie bei der Befreiung in Paris erfasste. Und sie waren fest entschlossen, der in Trümmern liegenden, entzauberten Welt neues Leben einzuhauchen. An den Ufern der Seine erzählt von ihrem Zusammenwirken, das ihr Leben veränderte, und untersucht das fruchtbare Zusammenspiel von Kunst, Literatur, Theater, Anthropologie, Philosophie, Politik und Kino im Paris der Nachkriegszeit.

Nach vier Jahren der Besatzung und täglicher Schikanen durch die Nazis wurden die Pariser Galerien, Boulevards, Jazzclubs, Bistros, Buchhandlungen und die unzähligen Tageszeitungen und Monatszeitschriften, die in den letzten Kriegsjahren gegründet worden waren, zu Foren, in denen man hitzig diskutierte und Schlachtpläne und Manifeste entwarf. Zu den einflussreichsten Zeitschriften zählten Combat, herausgegeben von Albert Camus(5), Les Temps Modernes von Jean-Paul Sartre(13) und Simone de Beauvoir(10) – benannt nach Charlie Chaplins(1) Film Moderne Zeiten – und natürlich auch die englischsprachigen Magazine, die ein paar Jahre später ins Leben gerufen wurden und sich an die internationale Szene aus GIs und Studenten richteten, die in Scharen nach Paris strömten.

Diese erfolgreichen Publikationen, allesamt herausgegeben in einem Gebiet, das gerade einmal zweieinhalb Quadratkilometer umfasste, rühmten sich eines großen Publikums, das weit über die Grenzen von Paris hinausreichte. Wenn Leitartikler und Künstler auf dem Boulevard Saint-Germain ihre Stimme erhoben, hallte ihr Ruf in Manhattan, Algier, Moskau, Hanoi und Prag wider. Diese Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller wurden von den Führungseliten in ganz Europa und anderswo auf der Welt gehört, und zwar genau aus dem Grund, weil sie aus Paris kamen.

Wie konnte Paris so bald nach dem Krieg ein solch großes kulturelles Ansehen gewinnen? Deutschland lag am Boden, das russische und osteuropäische kulturelle Leben war zerstört, Spanien durch das Franco-Regime isoliert, Italien damit beschäftigt, sich vom Faschismus zu erholen, der eine ganze Generation überdauert hatte, und Großbritannien für den intellektuellen europäischen Diskurs so marginal wie eh und je. Nie wieder seit 1815, dem Höhepunkt der napoleonischen(1) Vorherrschaft, so der angloamerikanische Historiker Tony Judt(1), habe die Stimme von Paris – obwohl auch Frankreich einen Niedergang erlebte – so viel Gewicht gehabt wie in dem Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg.

Gemeinsam setzten die Vorreiter der journalistischen Zunft in Paris neue Standards. Sie begründeten den New Journalism, der seinen offiziellen Namen zwar erst ein Jahrzehnt später erhalten sollte, aber in jener Zeit in den verrauchten Hotelzimmern auf dem linken Seine-Ufer seinen Anfang nahm und für alle Zeiten die Grenzen zwischen Literatur und Reportage verwischen sollte. Dichter und Dramatiker verabschiedeten sich allmählich vom Realismus und erfanden das absurde Theater; angehende Maler überwanden den sozialistischen Realismus, loteten die Grenzen der geometrischen Abstraktion aus und verschrieben sich dem Action Painting. Philosophen gründeten neue Denkschulen wie den Existenzialismus und gleichzeitig eine politische Partei. Aufstrebende Schriftsteller fanden im Kontakt mit der Pariser Gosse und den schäbigen Studentenbuden von Saint-Germain-des-Prés zu ihrer Stimme, andere entwickelten den Nouveau Roman. Fotografen machten mithilfe von Agenturen wie Magnum ihre Urheberrechte geltend. Amerikanische Schriftsteller, die, wie beispielsweise Henry Miller(1), in ihrer Heimat zensiert wurden, veröffentlichten ihre Werke zuerst auf Französisch. Schwarze Jazzmusiker, die wegen der Rassentrennung ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten, wurden in den Konzertsälen und Clubs von Paris bejubelt; hier erfuhr der New-Orleans-Jazz seine seit langem überfällige Anerkennung, während zugleich die brodelnden Bebop-Rhythmen die Szene eroberten. Der ein oder andere Vertreter der katholischen Kirche experimentierte mit dem Marxismus, und ein Illustrator und früherer Galerist namens Christian Dior(1) verwandelte sich in einen Couturier, der die Welt mit seinem New Look, einem ganz neuen Modestil, begeisterte.

Nach 1944 war alles politisch, da gab es kein Entrinnen. Die Weltbürger links der Seine wussten das und gaben sich alle Mühe, sowohl die US