Das Buch

Tritt ein und entdecke das düstere Geheimnis von Mallory Manor …

Dana ist genervt: Die Ferien bei Tante Meg im englischen Nirgendwo verbringen? Langweilig! Das ändert sich jedoch schnell, als sie merkt, dass es in dem alten, ehrwürdigen Haus nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Denn plötzlich fangen die Gemälde an zu sprechen, Türen verschwinden einfach in den Wänden und Dana hört Stimmen, die ihren Namen rufen! Zusammen mit dem mysteriösen Will macht sie sich auf, das Geheimnis um Mallory Manor zu lüften. Nach und nach wird Dana klar, dass das Herrenhaus mehr mit ihrem Schicksal zu tun hat, als sie ahnt …

Die Autorin

Autor

© Fotostudio Nieder

Claudia Romes wurde 1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Sie war schon immer eine begeisterte Leserin und liebte es, in fremde Welten einzutauchen. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem kleinen Dorf in der Vulkaneifel.

Mehr über Claudia Romes: www.claudiaromes.de

Claudia Romes auf Facebook: www.facebook.com/romesclaudiaschriftstellerin/

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Dana Mallory und das Haus der lebenden Schatten

Für meinen Vater, für den Fantasie ein Werkzeug war.
Für Emily, die die Sprache der Tiere versteht, und für Fabian, der Farben lebendig werden lässt.

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»Ist es nicht beeindruckend?«, schwärmte Dad, nachdem er das Auto vor dem schmiedeeisernen Tor geparkt hatte.

»Absolut«, murrte ich. »Ich hab selten einen so verrosteten Zaun gesehen.«

»Das ist Kunst, Dana. Kunst!«

»Klar.« Widerwillig nahm ich die Kopfhörer ab, aus denen noch laut Musik tönte, und befreite mich vom Anschnallgurt. »Was sollte es auch sonst sein?«

Dad stieg aus dem Wagen, stellte sich vor das Tor und sah auf das ehrwürdig wirkende Gebäude, das dahinter auf einem Hügel thronte. Seine Augen funkelten fasziniert. »Da sind wir also!« Er drehte sich halb zu mir um. »Du glaubst gar nicht, wie viel es mir bedeutet, mit dir hier zu sein.« Seufzend wischte er sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel. »Nach all den Jahren stehen wir endlich gemeinsam davor.«

»Ja, ich kann’s kaum glauben.«

Dad achtete nicht auf meine miese Stimmung. Was auch besser war, denn eigentlich hatte ich ja vorgehabt, den Aufenthalt hier durchzuziehen – ohne zu jammern. Aber aus irgendeinem Grund musste ich mich ständig an meinen Plan erinnern. Dabei war doch alles genau wie in einer dieser Reisebroschüren, die immer die Vorzüge des englischen Nordens hervorheben: ein einsam gelegenes, altes Haus auf einem Hügel, umgeben vom Hochlandmoor. Krähen, die krächzend darüber ihre Kreise ziehen, und ein undurchdringlicher Nebel, der über die Zufahrt wabert.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Nein, ich wusste beim besten Willen nicht, warum mir die Lust auf Urlaub bereits vergangen war, bevor ich überhaupt einen Fuß ins Schloss gesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte mich das Mallory-Gen einfach nicht erwischt. Das Gen, das für die ultimative Familienzugehörigkeit verantwortlich war.

Schnaufend sank ich in den Sitz und sah zu Dad. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Er grinste zufrieden. So unbekümmert hatte ich ihn lange nicht erlebt. »Der Geruch der alten Zeiten liegt noch immer in der Luft«, sagte er freudestrahlend.

Stirnrunzelnd hielt ich meine Nase aus dem offenen Autofenster.

»Ich spreche von der Geschichte unserer Familie, die dieses Haus umgibt«, klärte er mich auf.

Jetzt verstand ich, was er meinte. Ich lächelte schief und nickte.

»Bestimmt hältst du die Vorfreude darüber auch kaum aus, endlich hineinzugehen.« Dad ahnte ja nicht, wie weit er von der Wahrheit entfernt war.

Ich schluckte gequält, dann setzte ich ein breites Grinsen auf, bei dem meine Augen jedoch nicht mitspielten. »Äh ja. Bin ganz aus dem Häuschen deswegen.«

»Kein Wunder! Hier habe ich als kleiner Junge jeden Sommer verbracht.«

»Ach wirklich? Ist mir völlig neu.« Selbstverständlich war es das nicht. Mein Vater erzählte ständig davon, wie das alte Familienanwesen seine Kindheit geprägt hatte und dass er sich auch heute noch keinen schöneren Ort vorstellen konnte, um Ferien zu machen.

»Willst du nicht endlich aussteigen?« Dad hatte die Hand bereits auf der Klingel. Ich schaltete die Musik aus und robbte vom Sitz. Erst jetzt konnte ich das Tor mit dem dahinterliegenden Anwesen richtig erkennen. Für mich sah es eher aus wie eine Festung aus grauem Stein, die unter einem ebenso grauen Himmel lag. Vergeblich suchte ich die positive Atmosphäre, die es, laut Dad, haben sollte. Auf mich wirkte das Schloss dunkel und Furcht einflößend. Zwischen den Eisenstäben des auffällig verzierten Tores waren überall Spinnweben und deren Bewohner waren so groß wie Tischtennisbälle.

»Sie wünschen?«, tönte eine dunkle Stimme aus der Sprechanlage.

»Oh-mein-Gott!« Ich stieß einen spitzen Schrei aus und verkroch mich auf den Beifahrersitz.

»Wer ist denn da?«, fragte die Stimme mit osteuropäischem Akzent nach.

»Ich bin es, James«, stotterte Dad und warf mir einen verständnislosen Blick zu. »Ich bringe meine Tochter Dana. Tante Meg erwartet uns bereits.« Eine Weile geschah nichts. Dad verharrte gespannt vor der Sprechanlage, bis ich ihn ins Auto winkte.

Ich merkte, dass er nervös war. Vermutlich war er aufgeregter als ich. Schließlich war er vor zwanzig Jahren das letzte Mal hier gewesen. Auch Tante Meg hatte er seitdem nicht gesehen. Zusammen mit Mum und mir hatte er sie früher des Öfteren besuchen wollen, aber sie hatte nie für uns Zeit gehabt. Also hatte er eines Tages aufgehört, sie danach zu fragen. Umso überraschter war er, als sie vor zwei Wochen in einem Brief schrieb, dass sie mich unbedingt kennenlernen wolle und mich in den Sommerferien zu sich einlud. Seitdem war Dad völlig überdreht, grinste die meiste Zeit oder flötete beschwingt vor sich hin. Er hatte oft von Tante Meg gesprochen. Wie herzensgut und witzig sie doch sei und dass sie voller Überraschungen stecke – was auch immer das heißen sollte. So wie es aussah, würde ich es wohl bald herausfinden.

»Du wirst begeistert sein«, sagte Dad und zog voller Vorfreude seine Augenbrauen hoch.

Ich tat es ihm weniger entzückt nach. »Meinst du, ja?«

Er legte den Arm um mich und drückte mich an sich. »Es wird dir hier gefallen, und ich komme nach, sobald ich kann. Dann werden wir hier sicher noch ein oder zwei Wochen zusammen Spaß haben.«

»Ich verstehe nur nicht, warum ich nicht mit dir nach Paris fahren kann. Ich wäre auch ganz brav. Du würdest gar nicht merken, dass ich da bin.«

Er seufzte tief. »Ach, Dana. Das hatten wir doch schon. Diese Kunstausstellung ist sehr wichtig für mich. Ich werde keine Zeit für dich haben. Dir wäre nur langweilig, allein im Hotel. Hier gibt es so vieles für dich zu entdecken. Glaub mir, am Ende wirst du gar nicht mehr wegwollen.« Er strich mir über die Haare, als wäre ich ein verängstigtes kleines Mädchen.

Aber darum ging es mir nicht. Angst hatte ich keine, außer vielleicht vor den Spinnen. Ich fühlte mich abgeschoben. Seit Mums Tod ging es mir manchmal so, wenn Dad viel arbeiten musste. Vielleicht lag es daran, dass ich jetzt nur noch ihn hatte. Ich musste ihn mit seiner Arbeit als Kunsthistoriker in den bedeutendsten Museen der Welt teilen. Das war nicht immer einfach.

Plötzlich öffnete sich quietschend das Tor. Dad schlug hastig die Autotür zu und drückte aufs Gaspedal. In dem Moment, in dem wir das Tor durchfuhren, hatte ich nur Augen für die Monsterspinnen und mich überkam eine Gänsehaut. Wir rollten die gepflasterte Auffahrt hinauf. Vorbei an hölzernen Tierskulpturen und Säulen, die scheinbar ziellos in den Himmel strebten. Vor dem Hauptgebäude aus grauem Backstein hielten wir an. Über der pompösen Eingangstür befand sich ein völlig ausgeblichenes Wappen. Etwas weiter oben, auf dem Dach, saßen mehrere Gargoyles mit unheimlichen Fratzen. Sie schienen auf uns hinabzustarren. Ging’s noch gruseliger?

Schnell stopfte ich Kopfhörer und Handy in meinen Rucksack und stieg mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube aus. Während ich mir beklommen den Rucksack über die Schultern streifte, fiel mein Blick auf den ungepflegten Garten. Ein ausgetrockneter Teich lag unter einer dicken Unkrautschicht begraben. Nichts sah so strahlend schön und einladend aus, wie Dad immer erzählt hatte. Die knorrigen Äste kahler Bäume warfen ihre Schatten auf die Eingangstreppe, auf der uns ein viel zu blasser Mann mit gekrümmtem Rücken in Empfang nahm.

»Igor!« Mein Vater stürmte die Stufen hinauf und schloss den Mann in die Arme.

»Igor?«, stieß ich leise aus. »Das ist doch wohl ein Witz!«

Auf dem Gesicht des Mannes zeichnete sich eine Zornesfalte ab. Gleich darauf entspannte sich seine Miene und er lächelte verschlagen. »So lange ist es her«, sagte er wieder mit diesem Akzent, der nur allzu gut zu seinem gruseligen Aussehen passte. »Ich bin höchst erfreut, Euch wiederzusehen, Master James.«

»Master James?« Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um meinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen.

»Und das muss wohl Eure Erstgeborene sein.« Igor strafte mich mit einem kritischen Blick.

Flink hüpfte Dad die Stufen hinunter und zog mich zu sich. »Ja, das ist Dana.«

Igor musterte mich mit ausdrucksloser Miene, dann drehte er sich um und stolzierte ins Haus. »Nun … wenn Sie mir bitte folgen wollen. Madame erwartet Sie im Salon.« Die schwere Eichentür schwang vor Igor auf, als stünde jemand dahinter.

Ehrfürchtig betrat ich zusammen mit Dad das alte Gemäuer. Drinnen stieg mir ein modriger Geruch in die Nase. Ich sah Dad an, der sich weder daran noch am völlig verstaubten Inventar des Flurs zu stören schien.

»Wann wurde hier das letzte Mal gelüftet? Oder geputzt?«

Dad versetzte mir einen Knuff in die Seite. »Tante Meg ist eben alt. Sie kann das große Haus nicht mehr alleine sauber machen.«

»Wenn ich das richtig mitgekriegt hab, dann ist sie nicht alleine. Oder dient der da nur dazu, die Leute zu erschrecken?« Ich deutete auf Igor, der einige Schritte vor uns ging, und bekam direkt einen weiteren Knuff in die Seite verpasst. »Aua!«

»Sei höflich, Dana«, ermahnte mich Dad und ich beschloss, mir bis auf Weiteres solche Bemerkungen zu verkneifen.

Wir liefen durch einen langen Flur mit hohen Decken. An den Wänden hingen Porträts prunkvoll gekleideter Leute, dazwischen Landschaftsbilder und zweiarmige Kerzenleuchter. Ich machte große Augen, als wir das Ende des Flurs erreicht hatten. Er ging nahtlos in den Salon über, dessen Wände mit rotem Damast verkleidet waren. Ich hatte so etwas schon einmal im Fernsehen gesehen und es sehr bewundert. Auch der Rest des Salons war eindrucksvoll. So zierten feine Schnitzereien den großen Kamin, in dem ein prasselndes Feuer loderte. Darüber standen kostbare Porzellanfiguren und in Gold und Silber gerahmte Fotos. Kunstvolle Deckenmalereien schauten auf uns herab. Tief beeindruckt ließ ich meinen Blick durch den restlichen Raum schweifen.

In der Mitte des Salons angekommen, schreckte ich kurz und unmerklich zusammen. Denn dort, vor einer barocken Sitzgruppe, saß eine ältere Frau, die missbilligend zu uns aufschaute. Langsam erhob sie sich aus ihrem tiefen Sessel. »Willkommen auf Mallory Manor«, sagte sie. Es klang, als hätte sie diese Begrüßung vorher stundenlang einstudiert. Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem unheimlichen Lächeln.

Ohne es zu wollen, musterte ich sie eingehend. Ihr strenger weißer Dutt wirkte, als wäre er mit ihrem Hinterkopf verwachsen. Das blaue Kleid mit Blumenmuster sah aus, als wäre es früher einmal eine Tischdecke gewesen.

Ich schluckte nervös, denn ihr starrer Blick war nicht auf ihren Neffen gerichtet, den sie zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, sondern nur auf mich.

»Tante Meg!« Dad ging auf sie zu, um sie zu umarmen, aber sie wehrte ihn mit einer Hand ab. In seinen Augen blitzten kurz Enttäuschung und Unverständnis auf, dann holte er das kleine Päckchen mit der roten Schleife aus seiner Tasche. »Hier. Das haben wir dir mitgebracht.« Lächelnd hielt er es ihr hin.

Tante Meg sah auf das Geschenk herab und fragte: »Was soll das sein?«

Dad und ich schauten einander verwirrt an. »Nur ein Geschenk. Als Dank für deinen Brief und deine Einladung.« Dad räusperte sich. Plötzlich schien er nicht mehr sicher zu sein, ob die belgischen Pralinen das richtige Mitbringsel gewesen waren.

Tante Meg faltete die Hände vor ihrem Bauch und schritt durch den Raum.

»Ich war überrascht, als du geschrieben hast«, wieder räusperte sich Dad, »aber ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Und über die Einladung natürlich.«

Schwungvoll fuhr Tante Meg herum. »Nun, James. Die Einladung galt deiner Tochter. Warum also bist du hier?«

»Aber Tante Meg, wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.« Er hob verstört die Augenbrauen und blinzelte mehrmals. Offensichtlich war er an ihre Unhöflichkeit ihm gegenüber nicht gewöhnt. »Freust du dich denn gar nicht, mich wiederzusehen?«

Einen Moment lang stand sie einfach nur da und betrachtete ihn. Kurz darauf veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie sah aus, als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen. »Aber natürlich freue ich mich, dich zu sehen, lieber Neffe. Es ist nur … ich hatte ja keine Ahnung, dass du auch kommen würdest.«

Schlagartig entspannte sich mein Vater. »Oh, ich habe auch nicht vor, zu bleiben.«

»Ach nein?« Tante Meg setzte sich in einen der barocken Sessel und schlug ein Bein über das andere. »Wie bedauerlich.«

»Ja, leider. Geschäfte zwingen mich dazu, einige Zeit in Paris zu verbringen. Sobald ich dort fertig bin, komme ich zurück und hole Dana ab. Vielleicht werden wir ja dann noch etwas Zeit zum Plaudern haben, Tantchen?«

»Ganz bestimmt«, sagte sie überschwänglich. »Sag mir, Kind«, ihr Blick fiel erneut auf mich und ich zuckte innerlich zusammen, »wie alt bist du jetzt?«

Ich stand wie versteinert da. Diese Frau war mir nicht geheuer. Ihr Auftreten, ihre grauen starrenden Augen. Von der freundlichen, herzensguten Tante Meg, von der mir Dad immer vorgeschwärmt hatte, konnte ich nichts erkennen. Und mit ihr sollte ich meine Ferien verbringen? Diese Vorstellung jagte mir eine Heidenangst ein, sodass ich keinen Ton herausbrachte.

Dad stieß mich mit dem Ellenbogen in die Seite. »Antworte deiner Tante, Dana!«

»Zwölf«, stammelte ich. »Genau genommen fast dreizehn.«

Nachdem ich das gesagt hatte, blitzten ihre Augen merkwürdig auf. »Fast dreizehn also?«

Ich schluckte schwerfällig.

»Sie wird ihren Geburtstag hier verbringen«, warf Dad ein und ich schaute ihn genervt an. Warum musste er das vor ihr erwähnen?

»Ich gehe aber davon aus, dass ich bis dahin wieder zurück sein werde und wir ihren Geburtstag zusammen feiern können.« Dad lächelte flüchtig in meine Richtung, dann sah er wieder zu Tante Meg, deren Blick zwischen uns hin und her wanderte. »Dann wäre das ja geklärt.« Dad griff in seine Hosentasche und kramte etwas aus seinem Portemonnaie. »Hier werde ich in Paris zu erreichen sein. Das ist die Nummer vom Louvre. Hinten drauf steht auch die vom Handy. Aber während meiner Arbeitszeit im Museum ist es immer auf lautlos gestellt, also …« Er hielt Tante Meg eine Visitenkarte hin. Wortlos nahm sie das Papierstück an und verstaute es in ihrem Ärmel. »Sollte irgendetwas mit Dana sein, kannst du mich jederzeit anrufen.«

Sie nickte knapp und ihr Blick streifte mich erneut. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein seltsames Funkeln in ihren Augen zu sehen. Hatte ich es mir nur eingebildet? Verwirrt blinzelte ich. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Rasch wandte ich mich ab.

»Ich werde dann mal die Koffer reinholen.« Dad drehte sich um und ich folgte ihm über den Flur.

»Du kannst mich doch nicht bei diesen Irren lassen«, murmelte ich im Gehen.

»Dana, jetzt benimm dich bitte nicht albern. Tante Meg mag ein wenig exzentrisch wirken, aber sie ist eben alt. Alte Menschen sind manchmal seltsam.«

»Und was ist mit Igor? Ich meine … welcher Butler heißt schon Igor? Macht es da bei dir nicht gleich Klick?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon zu redest.«

Allmählich verlor ich die Geduld mit ihm. Er konnte doch unmöglich so starrsinnig sein. Ich half ihm auf die Sprünge. »Na, so heißen die doch nur in Schauergeschichten. Und … na, sieh ihn dir an. Du kannst nicht bestreiten, dass er aussieht, als wäre er aus einem dieser Schwarz-Weiß-Horrorstreifen entlaufen.«

Dad riss die Haustür auf, blieb am Treppenabsatz stehen und schaute mich mitleidlos an. »Ich kenne Igor bereits mein ganzes Leben lang. Er ist der Sohn rumänischer Einwanderer und sein ungewöhnlicher Rücken rührt von einer Verletzung, die er sich beim Cricket spielen zugezogen hat. Urteile nicht immer gleich nach dem ersten Eindruck, Dana. Du tust den Menschen damit oft unrecht.«

Ich nickte mürrisch. Sollten meine Sorgen tatsächlich unbegründet sein, tat es mir leid, sie überhaupt erwähnt zu haben. Ich wusste, dass sich Dad, seitdem Mum nicht mehr da war, ohnehin schneller sorgte als früher.

»Dana, wenn du absolut nicht hierbleiben willst, dann werden wir eine andere Lösung finden. Du könntest auch zu Cousin Flitwick auf den Bauernhof gehen und ihm bei der Schweinezucht helfen.«

Meine Augen weiteten sich. Cousin Flitwick? War das etwa die Alternative? Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein, nein. Ist schon okay. Ich schaff das. Ist toll hier. Und an die beiden werd ich mich schon gewöhnen.«

Dad lächelte erleichtert und drückte mich an sich. »Das ist mein Mädchen!« Er ging zum Auto und holte das Gepäck aus dem Kofferraum. »Du wirst sehen«, sagte er, während er meinen mit bunten Aufklebern geschmückten Trolley die Stufen hinauftrug, »es wird dir auf Mallory Manor gefallen.«

»Ja«, hauchte ich wenig überzeugt. Dad zuliebe wollte ich diesem uralten Gruselschloss mitsamt seinen schrägen Bewohnern eine Chance geben.

Im Flur zog Igor meinen Trolley an sich. »Ich übernehme jetzt, Master James.«

Dad sah ihm nach, wie er die breite Treppe in den ersten Stock hinaufhumpelte.

»Kein besonders geeigneter Job für jemanden mit einem Rückenleiden«, kommentierte ich leise den Anblick.

»Ich könnte mir nichts anderes vorstellen, Miss Dana.« Verwundert blickte ich zu ihm auf. Ich konnte nicht glauben, dass er mich gehört hatte. Aber dann fiel mir wieder ein, wie groß und verhältnismäßig leer es in diesem Flur war. Vermutlich hatte ich den Schall meiner Worte nicht richtig eingeschätzt. Schnell versuchte ich es mit einer Entschuldigung. »Oh, ich wollte Sie nicht beleidigen, Igor.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Ich stehe über den meisten Dingen.«

Endlich war er oben angekommen. Keuchend verschwand er im Obergeschoss, meinen Trolley zog er hinter sich her. Es war ein bizarrer Anblick.

»Er ist schon seit vielen Jahren in diesem Haus.« Dad legte den Arm um meine Schulter. »Und eins musst du dir merken: Er hört einfach alles!«

Oje, dachte ich. Für einen vorwitzigen Aufpasser fühlte ich mich definitiv zu alt.

»Ist alles zu deiner Zufriedenheit?« Dad und ich schreckten zusammen. Tante Meg war urplötzlich hinter uns aufgetaucht. Ich fuhr herum und nickte verdattert. »Ja. Ja, es ist alles umwerfend.«

»Schön«, entgegnete sie kühl und fixierte mich mit ihrem starren Blick.

»Ich werde mich dann verabschieden.« Dad ging wieder auf Tante Meg zu, um sie zu umarmen. Doch wie schon beim ersten Versuch wehrte sie ihn mit einer flotten Handbewegung ab. Kurz hielt er inne. »Ach, Macht der Gewohnheit.« Er lachte, dann nickte er ihr lediglich zum Abschied zu. »Bis in einigen Wochen also.«

»Ja, bis dahin.« Sie wirkte ungeduldig.

Dad wandte sich mir zu und umarmte mich. »Bis bald. Ich komme, so schnell ich kann, wieder.«

Mein Kopf lag an seiner Schulter. Ich drückte ihn fest an mich, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Abschiede hatte ich schon immer gehasst. Ich wollte nicht, dass Dad mich weinen sah, also presste ich meine Lider so fest aufeinander, dass sie die Tränen zurückdrängten – dorthin, wo sie hergekommen waren. Er merkte mir nichts an, als wir uns voneinander lösten, und ich war froh darüber.

»Und sei ein braves Mädchen.« Er grinste breit.

»Wie immer«, antwortete ich, während er die Eingangsstufen hinunterstieg.

Vom Treppenabsatz sah ich ein bisschen wehmütig zu, wie er ins Auto stieg und davonbrauste. Ich wollte ihm nachschauen, solange es ging, wollte warten, bis sich das eiserne Tor hinter ihm vollständig geschlossen hatte. Doch ich hatte keine Zeit für meinen Abschied.

ornament_left.jpegEin wahrer Katzenjammer ornament_right.jpeg

»Komm, Kind.« Tante Meg packte mich unsanft am Arm und führte mich ins Haus. Sie ließ die Tür hinter uns ins Schloss fallen und verriegelte sie anschließend. »Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.« Sie ging die breite Treppe hinauf und ich folgte ihr.

Ich fühlte mich nicht gut. Jede Stufe, die mich tiefer in das Haus hineinführte, beschleunigte meinen Herzschlag. Ich spürte, wie mein Körper zu zittern begann. Nun, da Dad weg war, fühlte ich mich ausgeliefert.

Jetzt nur nicht aufregen, versuchte ich mich innerlich zu beruhigen. Ich sah auf meine Hände, die vor Angst bebten. Sofort versenkte ich sie in den Taschen meines pinkfarbenen Sweatshirts. War das etwa eine Panikattacke? Die letzte hatte ich nach Mums Tod gehabt. Und ich war wirklich nicht scharf darauf, so etwas wieder zu erleben.

»Bleib cool«, ermahnte ich mich leise und atmete tief ein und aus. Es ist nur ein altes Haus. Es ist nur Dads schrullige Tante.

Ich ließ meinen Blick über das steinerne Geländer schweifen, auf dem ebenfalls zwei frech dreinschauende Gargoyles saßen. Fast sah es so aus, als würden sie mich mit heraushängender Zunge angaffen. Ein dunkelroter Teppich war im oberen Flur ausgelegt. Der Gang war so lang, dass ich das Ende vom Treppenabsatz aus nicht sehen konnte.

Ich nahm einen weiteren tiefen Atemzug. Zum Glück war es mir gelungen, mich einigermaßen zu beruhigen, als wir vor meinem Zimmer ankamen. Die Tür war fast genauso rot wie der Teppich, auf dem ich stand.

Tante Meg trat vor mir ein. »Es ist einer der schönsten Räume des Hauses.«

Mein Trolley stand bereits neben einem Himmelbett mit dunkelblauen Samtvorhängen. Der Raum war nicht besonders groß, hatte aber ein eigenes Badezimmer. Die Einrichtung war altmodisch, was mich nicht wunderte. Schließlich schien das gesamte Haus in diesem Stil eingerichtet zu sein. Wahrscheinlich hatte sich seit einigen Jahrhunderten hier nichts verändert. Aber wer hätte dieses urige Schloss auch schon umstylen sollen? Tante Meg sicherlich nicht.

Ich sah sie an und versuchte mich an einem dankbaren Lächeln.

Sie kniff die Augen zusammen. »Aber dass du mir ja nichts kaputt machst.«

»Bestimmt nicht, Tante.«

»Gut, gut. Dann lass ich dich mal alleine. Das Dinner wird um sechs serviert. Ich lege Wert auf absolute Pünktlichkeit.«

»Ja, Ma’am.«

Sie schloss die Tür hinter sich und ich sank auf die Bettkante. Mein Blick glitt durch das Zimmer, das für die nächsten Wochen mir gehörte. Mir gegenüber war ein Kamin, zwar etwas kleiner als der im Salon, dafür aber genauso aufwendig verziert. Ein Blumenmuster, geschmiedet aus Eisen, umrahmte die Öffnung. Darüber hing ein Ölgemälde, das ein niedliches Bauernhaus mit rauchendem Schornstein an einem heiteren Frühlingstag zeigte. Ich stand vom Bett auf, um es näher zu betrachten. Es wirkte unglaublich echt. Beinahe wie ein Foto. Das einzige Fenster in diesem Raum lag gegenüber der Badezimmertür. Es war in Blei gefasst und sehr schmal. Das Buntglas zeigte ein farbenfrohes und fantastisches Motiv: ein Einhorn. Umringt von roten Rosen stand es auf seinen Hinterbeinen. Über ihm strahlte ein Vollmond aus gelb-milchigem Glas. Ich wollte das Fenster öffnen, um meine Aussicht zu bewundern, aber es klemmte. Mit beiden Händen umklammerte ich fest den Griff. »Nun geh schon auf!«

»Gib dir keine Mühe«, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir.

Erschrocken drehte ich mich um. »Wer bist du denn?«

Vor mir stand ein Junge mit zerzaustem dunkelblondem Haar. »Die Fenster in den oberen Stockwerken lassen sich nicht öffnen.«

»Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

»Könnte schwören, dass das schon mal jemand zu mir gesagt hat.«

»Na, kein Wunder! Hast du noch nie etwas von Anklopfen gehört?« Ich musterte ihn abschätzig von Kopf bis Fuß, er musste ungefähr in meinem Alter sein. »Ich hab gar nicht bemerkt, wie jemand reingekommen ist. Wo bist du überhaupt so plötzlich hergekommen?«

Er verdrehte die Augen. »Woher wohl?«

Ich warf genervt den Kopf zurück. »Ja, was weiß ich denn? Deshalb frage ich dich ja.«

Er machte keine Anstalten, mir eine vernünftige Antwort auf meine Frage zu geben. Deshalb beließ ich es dabei. Im Grunde war ich sogar erleichtert, dass es außer meiner schrulligen Tante und ihrem unheimlichen Butler noch jemanden in diesem Schloss gab. Ich atmete durch und wechselte das Thema. »Wie war das? Die Fenster hier gehen nicht auf?«

»Sehr richtig.«

»Also schön.« Ich riss mich am Riemen. Anscheinend war ich es, die die nötige Höflichkeit in diese Begegnung bringen musste. Entschlossen reichte ich ihm meine Hand. »Ich bin Dana. Dana Mallory. Und du bist …?«

»Wirklich sehr erfreut, dich kennenzulernen!« Er grinste breit. Dann betrachtete er mit einem überaus fragenden Blick meine hingehaltene Hand. Zögernd legte er seine hinein. »William Derule. Genannt Will.«

»Na gut, William Derule. Und was verschafft mir die Ehre?« Mein Ton war jetzt nicht mehr so scharf.

Er schaute verdattert drein. »Oh, du willst wissen, was ich hier mache?«

Ich nickte knapp.

»Meine Familie und ich … wir … arbeiten auf Mallory Manor.«

»Tatsächlich?« Ich war verwundert. Dad hatte mir nicht gesagt, dass Tante Meg mehr als einen Butler und eine Köchin beschäftigte.

»Wir arbeiten seit Generationen für die Mallorys«, fügte Will hinzu.

Ich legte die Stirn in Falten. Merkwürdig, dass Dad nichts von der Familie erwähnt hatte, wenn sie doch schon so lange auf Mallory Manor waren. Wie konnte er das nicht gewusst haben? »Und was macht ihr hier genau?«

Will schob das Kinn vor, antwortete jedoch nicht.

Eilig grübelte ich über die Möglichkeiten nach, womit man wohl eine ganze Familie beschäftigen konnte.

»Seid ihr vielleicht so etwas wie Hausverwalter?«, mutmaßte ich.

Will zog einen Mundwinkel hoch. »Genau.«

Auf mich wirkte seine Antwort nicht unbedingt überzeugend. »Sollte das Haus dann nicht etwas sauberer sein oder der Garten zumindest ein wenig mehr nach Garten aussehen?«

»Wieso?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was gefällt dir denn nicht daran, wie es aussieht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich finde es einfach ein bisschen ungepflegt. Sonst nichts.«

»Aha.« Er nickte abschätzig. »Zum Glück bist du endlich da. Dann kann es ja nur besser werden.«

Ich bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Ich denke nicht, dass das meine Aufgabe ist.« Grummelnd warf ich meinen Trolley aufs Bett und packte ihn aus. Eigentlich ging es gar nicht um Will. Ich fühlte mich verletzt, weil Dad mich hier abgestellt hatte wie einen alten Koffer. Weil er von mir erwartete, dass mir seine alten Geschichten über Mallory Manor ausreichten, um mich wohlzufühlen. Wann begriff er endlich, dass ich nicht er war? Womöglich würde Will der einzige Grund sein, warum ich diesen Sommer nicht vor Langeweile einging.

»Jetzt reg dich doch mal ab.« Will lehnte sich gegen das Fensterbrett.

Ich atmete erst mal tief durch. Er hatte recht. Ich verhielt mich wirklich nicht sehr freundlich ihm gegenüber. »Entschuldige«, seufzte ich. »Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist einfach die Gesamtsituation.«

»Die Gesamtsituation?«, spottete er. »Und wie genau sieht die aus?«

Sorgfältig legte ich meine T-Shirts auf dem Bett zurecht. »Mein Dad arbeitet und währenddessen hat er mich hierher verfrachtet. Und das, obwohl ich Tante Meg überhaupt nicht kenne. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau da unten ist. Mir kommt sie jedenfalls nicht besonders liebenswert vor. Und deshalb habe ich ernsthafte Zweifel, ob ein Sommer reicht, um mit ihr warm zu werden.«

»Da reicht ein Sommer sicherlich nicht aus«, stimmte Will mir zu.

»Wenigstens sind wir uns da schon mal einig.« Einen Stapel Shirts auf den Händen ging ich zum Kleiderschrank. »Ich hoffe nur, der riecht nicht nach Mottenkugeln.« Ich öffnete erst eine, dann die zweite Tür und warf einen prüfenden Blick hinein. »Ganz schön geräumig«, sagte ich und versuchte die Innenwand zu ertasten, als mir plötzlich etwas aus der Dunkelheit entgegensprang. Vor Schreck warf ich die Shirts in die Luft. »Was zur Hölle …?« Mir drohte das Herz in der Brust zu explodieren, als ein lautes Miauen ertönte.

»Das ist doch nur Sissybell!«

Ich ließ mich rücklings auf den Boden sinken und schaute mich um. Meine Klamotten lagen im ganzen Zimmer verstreut. Noch immer zitterte ich wie Espenlaub.

Will saß nun auf dem Bett und streichelte eine Katze mit mehrfarbigem Fell und buschigem Schwanz. Ihre unnatürlich blauen Augen hafteten an mir, als wäre ich unerlaubterweise in ihr Reich eingedrungen.

»Was hat eine Katze in meinem Schrank verloren?«, fragte ich, als ich wieder zu Atem gekommen war.

»Genau genommen ist es nicht dein Schrank.«

»Ach nein?«

Will schüttelte den Kopf. »Nein.«

Das alles konnte doch nicht wahr sein. »Wessen Schrank ist es dann?«, scherzte ich. »Ach, ich verstehe schon. Es ist der der Katze.«

»Du hast es erfasst«, antwortete Will, als wäre das die einzig logische Schlussfolgerung.

Ich sah ihn perplex an und legte nach: »Und vermutlich ist das auch eigentlich das Zimmer dieser Katze, hab ich recht?«

»Jetzt hast du es verstanden.«

Hielt er mich etwa für total bescheuert? Meine Laune schlug schlagartig um, doch ich riss mich zusammen. »Wie dem auch sei. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich jetzt alleine lassen würdest«, sagte ich mit aller Höflichkeit, die ich aufbringen konnte. »Es war eine anstrengende Fahrt!«

»Na gut.«

»Ach, und würdest du deine Katze mit rausnehmen? Danke!«

Er lächelte freundlich, schnappte sich Sissybell und ging zur Tür. »Also eigentlich ist sie nicht meine Katze. Sie gehört niemandem. Sie ist einfach nur ein Bewohner von Mallory Manor.«

Der Junge begriff wohl überhaupt nichts. Meine Nerven lagen blank. Ich atmete erneut tief durch und stimmte meinen Ton möglichst ruhig. »Okay«, erwiderte ich kurz angebunden. »Dann bring diese Bewohnerin doch bitte hinaus. Ich brauche vor dem Abendessen ein bisschen Ruhe.«

»Ist gut«, sagte er und verließ das Zimmer.

Ich schlug die Tür hinter ihm zu und lehnte mich dagegen. »Ein unmöglicher Typ!«, murrte ich. Noch nie hatte ich ein so respektloses Verhalten erlebt. Wahrscheinlich waren die Menschen an diesem Ort einfach allesamt merkwürdig. Dad hatte mich bereits darauf vorbereitet, dass die Leute auf dem Land allgemein eigensinnig seien. Nach der Begegnung mit Will fragte ich mich nur eins: Hätte er sich dabei nicht etwas deutlicher ausdrücken können?

Nachdem auch der Katzenschreck überwunden war, sammelte ich meine Kleider vom Boden auf und verstaute sie im Schrank. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, mein Zimmer immer gründlich zu verschließen, damit Sissybell sich nicht mehr hineinschleichen konnte.

Missmutig zog ich mich für das Dinner um. Ich wusste nicht, ob Tante Meg Wert darauf legte, dass ich meine Kleidung zu den Mahlzeiten wechselte, aber es schadete sicherlich nicht, bei ihr mit meinem neuen roten Kleid Eindruck zu schinden. Für Dad war ich bereit, vieles zu tun, um das Eis zwischen Tante Meg und mir zu brechen.

Zehn vor sechs. Ich öffnete meinen Zopf und zupfte mir das lange braune Haar zurecht. Im Spiegel, der über der Kommode hing, begutachtete ich mein Äußeres. Gleich darauf ließ ich deprimiert die Schultern hängen. Ich hätte alles dafür gegeben, um so schön zu sein wie die jungen Frauen in den Star-Magazinen. Ich kam mir zu pummelig, zu blass, zu unscheinbar vor. Dad war mir da keine Hilfe. In solchen Augenblicken fehlte mir meine Mutter. Ich sehnte mich nach ihrem Rat, ihrer lieben Stimme und ihrer Nähe. Als fast Dreizehnjährige war es der absolute Horror, ohne eine weibliche Bezugsperson auskommen zu müssen. Bedrückt drehte ich mein Haar wieder zum Zopf. »Ach, Mum«, seufzte ich, während ich mein trauriges Spiegelbild betrachtete. »Wo bin ich hier nur gelandet?« Die Haarspange klickte zu und der lange Zopf fiel zwischen meine Schulterblätter. Ein letztes Mal sah ich mich im Spiegel an. Bei dem wenigen Tageslicht, das durch das Buntglasfenster in das Zimmer drang, wirkten meine Augen beinahe schwarz. Ich bewegte meinen Kopf hin und her, um den Sitz meiner Frisur zu prüfen, als etwas, das sich hinter mir spiegelte, meine Aufmerksamkeit erregte. Es war das Bild über dem Kamin. Ich ging darauf zu und merkte, dass das Gemälde, das eben noch ein Haus am helllichten Tag gezeigt hatte, nun dunkler geworden war. Jetzt war darauf eine anbrechende Nacht zu sehen, mit funkelnden Sternen und einem sichelförmigen Mond. Auch aus dem Schornstein stieg kein Rauch mehr auf. Merkwürdig! Hatte ich etwa zuvor nicht aufmerksam genug hingeschaut? Vermutlich war ich müde von der anstrengenden Reise. Dennoch kam es mir seltsam vor. Unwillkürlich erschauderte ich. Ich hatte mich noch nie zuvor so vertan. Mit dem Zeigefinger strich ich über die Leinwand. Es fühlte sich wie ein gewöhnliches Ölgemälde an. Die typischen Vertiefungen, die kleinen Hügel, die dort entstanden, wo die Farbe dicker aufgetragen worden war als an anderen Stellen – alles wirkte auf mich ganz normal. Ich ließ meine Finger über den teuren Rahmen gleiten. Er war außergewöhnlich breit, golden und mit Ornamenten geschmückt. Am rechten unteren Rand des Bildes war die Signatur des Künstlers zu sehen. Neugierig stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um die verblasste Schrift zu entziffern. »W. J. Derule.«

Derule, dachte ich. Diesen Namen habe ich doch heute schon einmal gehört. Womöglich handelte es sich bei dem Maler um einen Verwandten von Will. Ich musste zugeben, dass ich schon weit schlechtere Bilder gesehen hatte. Selbst in den berühmten Museen, in die mich Dad immer schleppte, war mir so ein Kunstwerk noch nicht untergekommen. Vor dem Haus war ein Meer blauer Blumen. Der silbrige Mond über dem Dach ließ sie an einigen Stellen lilafarben schimmern. Es sah aus, als würde der Wind sanft die Blüten neigen. Und mir war, als hörte ich sogar die Grillen zirpen. Nichts davon hatte ich vorher wahrgenommen. Was es auch war, das dieses Bild derart außergewöhnlich machte, es hatte bestimmt mit der Kunst dieses Malers zu tun. Trotz dieser Erklärung blieb eine gewisse Unsicherheit bei mir zurück. Hätte ich nicht gewusst, dass sich Bilder nicht einfach so veränderten, hätte ich glatt geglaubt, dass dieses Gemälde ein Eigenleben besaß.

ornament_left.jpegEin Gang zu viel ornament_right.jpeg

Ich war erst seit wenigen Stunden auf Mallory Manor, trotzdem gab es zwei Dinge, die ich schon jetzt mit Gewissheit sagen konnte. Das erste war: Dieses Schloss hatte einige Renovierungsarbeiten bitter nötig. Denn auf dem Weg ins Esszimmer wäre ich fast von einem Kristallkronleuchter erschlagen worden, der zuvor schief von der Decke gebaumelt hatte. Hätte ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört und wäre Sissybell nachgegangen, die vor meiner Tür entlanggeschlendert war, hätte er mich voll erwischt. Während ich mit heftig klopfendem Herzen gegen eine Wand lehnte, blieb die Katze bei mir. Irgendwann tippelte sie davon und ich lief ihr dankbar hinterher. Welch ein Glück. Sie führte mich direkt in den Speisesaal, wo mich Tante Meg bereits ungeduldig erwartete. Ich erzählte Igor von meinem Beinahe-Unfall, als er mir den Stuhl zurechtrückte. Er hatte nicht sonderlich überrascht gewirkt, versprach aber, sich um den zerschmetterten Leuchter im oberen Flur zu kümmern.

Tante Meg war alles andere als eine liebenswerte alte Dame – der zweite Punkt, in dem ich mir absolut sicher war. Zugegeben, ich kannte nicht sonderlich viele Menschen in ihrem Alter. Meine Großeltern hatte ich nie kennengelernt und andere Onkel oder Tanten gab es nicht mehr in unserer Familie.

Nachdenklich schaute ich sie über den Rand meines hohen Glases hinweg an und zog die Nase kraus. Sie schlang ihren Gurkensalat hinunter wie ein ausgehungerter Berglöwe eine Ziege. Etwas weißes Dressing hing ihr im Gesicht und verteilte sich sogar bis in die Nasenlöcher. Ich hatte das starke Bedürfnis, ihr eine Serviette zu reichen oder einen Waschlappen oder ein Babylätzchen. Unmerklich schüttelte ich meinen Kopf. Ich hätte den Blick abwenden sollen, aber stattdessen schaute ich sie weiterhin an. Ich konnte nicht anders. Ihr Essverhalten hatte etwas von einem grässlichen Unfall, bei dem man einfach nicht wegsehen konnte.

»Haben Sie denn gar keinen Appetit, Miss Dana?« Igor stand nun neben mir und griff nach meinem Gedeck.

Langsam blickte ich zu ihm auf. »Oh, nicht sonderlich viel«, sagte ich schnell. Das war eine Lüge. Ich hatte entsetzlichen Hunger. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen.

»Sie sollten dennoch etwas zu sich nehmen.« Igor zog seine Hand zurück und führte sie hinter den Rücken. »Bis zum Morgen kann es mitunter ein wenig dauern. Die Nächte auf Mallory Manor sind lang.«

»Ach ja?« Ich sah ihn verdutzt an.

»Ja.« Er verbeugte sich leicht und entfernte sich dann rückwärtsgehend vom Tisch. Wie hatte er das gemeint? Die Nächte auf Mallory Manor sind lang. Diesen Satz ließ ich mir nochmals durch den Kopf gehen. Während ich darüber nachdachte, starrte ich geistesabwesend in das Licht der Kerzen, die zwischen Tante Meg und mir auf dem langen Tisch standen. Ich kam erst wieder zu mir, als ich bemerkte, dass Tante Meg mich anstierte. Ruckartig fuhr ich zusammen.

»Stimmt etwas nicht, meine Liebe?« Blitzschnell wandte ich mich von ihr ab. Ich fixierte die lieblose Tischdekoration, die erstaunlich sauber aussehende Spitzendecke und schließlich meinen vollen Teller. Kopfschüttelnd tastete ich nach der Gabel und stocherte anschließend ziellos in meinem Salat. »Alles prima.« Mehr brachte ich nicht hervor.

»Ich bin untröstlich, Dana. Aber … hilf mir doch noch mal schnell«, Tante Megs Lippen spitzten sich, »wann war noch gleich dein Geburtstag?«

»Samstag in zwei Wochen«, antwortete ich verdrossen. Aus irgendeinem Grund kam mir sogleich der Gedanke, dass ich es ihr besser nicht verraten hätte.

»Samstag also.« Sie verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Soso.«

Wieder dachte ich, das seltsame Funkeln in ihren Augen zu sehen. Es war unheimlich. In ihrer Nähe fühlte ich mich unbehaglich. Das Gefühl war so stark, dass ich schlagartig keinen Hunger mehr verspürte. Trotzdem spießte ich eine Gurkenscheibe auf und schob sie mir in den Mund. Ich hoffte, dass Tante Meg endlich aufhören würde mich anzusehen, sobald sie dachte, dass alles in Ordnung war. Ich spürte noch eine Weile ihren Blick auf mir, während ich meinen Salat bearbeitete, der für meinen Geschmack etwas zu fad gewürzt war. Und, was in aller Welt waren diese kleinen schwarzen Punkte darin? Waren das … Fliegen?