Das Buch

»Weißt du, was die Japaner mit zerbrochenen Dingen machen? Sie setzen sie wieder zusammen. Aber die Lücken füllen sie mit Gold. Sie gehen davon aus, dass diese Risse eine Sache nur noch schöner und wertvoller machen, weil sie ein Teil ihrer Geschichte sind.«

Als Ava und Gideon sich beim Nebenjob im Schnellrestaurant kennenlernen, vermutet keiner von beiden, dass diese Begegnung alles verändert. Das beliebte Mädchen und der schüchterne Poetry-Slammer könnten nicht unterschiedlicher sein. Gemeinsam haben sie nur, dass Schicksalschläge etwas in ihnen haben zerbrechen lassen. Schnell entsteht zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft, in der sie sich gegenseitig Halt geben. Immer intensiver werden die Gefühle, aus der Freundschaft wird mehr. Doch so viel Nähe sind beide nicht gewöhnt, ob ihre Liebe das aushalten wird?

Eine poetische Liebesgeschichte für alle Fans von »Eleanor & Park«

Die Autorin

© Jess Jackson

Claire Christian erzählt Geschichten: in Gedichten, Theaterstücken und Romanen. Sie feiert große und kleine Erfolge mit ihrer Arbeit und nimmt sich doch immer Zeit für den Kunstnachwuchs – so arbeitet sie gemeinsam mit Jugendlichen an den verschiedensten Projekten und hat schon ganze Theaterstücke mit ihnen auf die Beine gestellt. Für ihr Jugendbuchdebüt »Du bringst mein Leben so schön durcheinander« erhielt sie 2016 den wichtigen australischen Text Prize. Claire Christian lebt in Brisbane.

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Claire Christian bei Instagram: https://www.instagram.com/claireandpearl/

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Aus dem australischen Englisch von Bettina Obrecht

THIENEMANN

Für …

den siebzehnjährigen Liam

den sechzehnjährigen Dave

den fünfzehnjährigen Steve

»Wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier in der Schule von Mount Saint Michaels eine Gemeinschaft sind.« Die dreieckigen Augenbrauen von Mrs Bryan unter ihren öligen, mit Gel nach hinten gekämmten Haaren wirken sehr ernst. »Und wenn eines der Mitglieder unserer Gemeinschaft zu Fall kommt, müssen wir zusammenhalten. Einer muss dem anderen auf die Füße helfen.« Kurze Schweigepause. »Dieser Baum soll uns als Erinnerung daran dienen.«

Dann räuspert sie sich, aber ich weiß nicht, was sie als Nächstes sagt, weil ich schreie. Mein Körper katapultiert sich vom Stuhl, aus meinem Mund bricht ein so wütendes Gebrüll, dass ich beinahe Angst vor mir selbst bekomme.

»Sie ist nicht gefallen, sie ist gestorben! Sie ist tot!«

Eine Welle scheint über die Zuhörer hinwegzugehen, siebenhundert Köpfe wenden sich in meine Richtung, alle sehen mich an.

»Und ein Baum? Im Ernst jetzt? Sie hat die Natur gehasst!« Ich brülle Mrs Bryan an, die in ihr Mikrofon brummelt, dass die Schüler sich wieder setzen sollen.

Der Zorn, den ich spüre, ist anders als alles, was ich je empfunden habe – jedes einzelne meiner inneren Organe möchte am liebsten aus meinem Körper springen und um sich beißen wie ein tollwütiger Hund, und das liegt an den Dingen, die hier über sie gesagt werden. Oder nicht gesagt werden. Das, was hier nicht gesagt wird, macht mich so sauer. In den letzten sechs Monaten habe ich es ganz gut hingekriegt, cool zu bleiben, aber heute, als sie angefangen haben, über diese dämliche Gedenktafel zu reden, die auf diesem dämlichen Betonklotz neben diesem dämlichen Baum angebracht wurde, diesem Scheißbaum – ach ja, es hat ja so lang gedauert, den zu pflanzen, und jetzt tun sie so, ich weiß nicht, sie tun so, als wäre das eine Riesenleistung – sie tun so, als wäre es ihnen nicht scheißegal –, da habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten.

»Und wenn Sie schon über sie reden müssen, dann nennen Sie doch wenigstens ihren Namen.«

Geflüster und Gekicher wälzt sich durch den Raum wie eine Lawine. Mrs Bryan brüllt jetzt auch, versucht sich gegen die Übermacht zu wehren. Ich bin in der Mitte einer Sitzreihe eingeklemmt, klettere über diejenigen, die neben mir sitzen, hinweg, rede dabei vor mich hin wie durchgeknallt. Der Typ mit den abstehenden Ponyfransen kneift mich in den Hintern, ich wirble herum und versetze ihm einen Schlag auf die Brust. »Scheiße, meinst du das ernst?«, schreie ich ihm ins Gesicht und ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem, was da in seinen winzigen blauen Augen zu sehen ist, um ernsthafte Angst handelt.

Als ich endlich den Durchgang erreiche, mitten zwischen den wogenden Schülergruppen, die sich zwar jetzt beruhigt haben, mich aber immer noch anstarren, bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Mach irgendwas, Ava.

Mrs Bryan funkelt mich so an, als möchte sie mich mit Blicken töten, und dann breche ich einfach in Gelächter aus. Sag irgendwas, Ava. Hör auf zu lachen. Aber ich kann nichts dagegen tun. Mir ist sehr bewusst, dass ich garantiert aussehe, als käme ich aus der Klapsmühle. Aber das ist mir egal.

Ich streiche mir die Haare zurück und schüttle den Kopf, als ich den ganzen Saal anspreche. »Und wisst ihr, was an der ganzen Sache die schlimmste Beleidigung ist? Dieser Chor, der das dämliche Lied von Miley Cyrus singt – das, in dem es darum geht, wie sie in ihrer Erinnerung irgendeinen bekloppten Berg bestiegen hat – wenn sie das gehört hätte, dann hätte sie sich garantiert am liebsten gleich noch mal umgebracht.«

Im ganzen Saal brandet Gelächter und Gejubel auf.

»Ach, leckt mich alle am Arsch!«, brülle ich abschließend, drehe mich auf den Fersen um, marschiere durch den Saal nach hinten, direkt durch die zweiflügelige Tür hindurch. Ich höre, wie sie hinter mir mit einem Knall zufällt.

Super hingekriegt, Ava.

Ich habe mir gerade heute Morgen geschworen, dass ich versuchen würde, eins dieser stillen, unauffälligen Mädchen zu sein, die sich ihrer Umgebung anpassen. Ich habe sogar mit schwarzem Filzstift »sei farblos« auf meinen Handrücken geschrieben, als Erinnerungsstütze. Seit ich wieder in die Schule gehe, glotzen mich die Leute an, flüstern, zeigen mit dem Finger auf mich, so feinfühlig wie ein Schlag mit dem Dampfhammer mitten ins Gesicht. Ich habe überlegt, ob ich mir nicht ein T-Shirt bedrucken soll: Meine beste Freundin ist tot, tut mir leid, wenn dir das unangenehm ist. Aber die Druckertinte war alle. Na ja, indem ich aus meinem Sitz hochgeschossen bin und aus vollem Hals gebrüllt habe, habe ich vermutlich eine ähnliche Wirkung erzielt.

Ich besuche erst seit einem Monat wieder ganztägig die Schule, davor bin ich ein paar Wochen lang nur unregelmäßig hingegangen, und das auch nur, weil ich musste. Wenn ich es hätte entscheiden können, dann wäre ich niemals wieder hingegangen. Ich hätte noch eine kleine Abschiedsvorstellung gegeben, zum Beispiel mit Unkrautvernichter einen dicken Stinkefinger ins Gras gesprüht oder so etwas. Aber Mrs Bryan und die anderen Lehrer haben einen Riesenaufstand gemacht, das sei doch jetzt die elfte Klasse und ich würde den ganzen Stoff verpassen, und meinem Vater fielen allmählich keine Argumente mehr ein, mit deren Hilfe er sie mir noch weiter vom Hals halten konnte. Die letzten Wochen fließen in meiner Erinnerung zu einem einzigen verwischten Bild zusammen – da sitze ich und versuche, mich zu konzentrieren, oder plappere einfach irgendwas. Oder ich schalte einfach komplett ab, wenn jemand mich zutextet, dass er ja genau weiß, wie ich mich fühle, weil irgendwann ja auch seine Omi gestorben ist oder das Tantchen oder damals der Scheißköter, da waren sie ja auch so traurig blablabla. Aber keiner hat auch nur einen blassen Schimmer. Nicht meine Oma ist gestorben, nicht meine Tante, nicht mein Hund oder meine Katze – sondern Kelly. Meine beste Freundin. Es gibt keine Worte, die ausdrücken können, wie sich das anfühlt, und ich möchte auch gar nicht darüber reden, wie es sich anfühlt, weil alles, was seither passiert ist, alles jetzt im Moment, einfach nur richtig, richtig scheiße ist, und irgendwelche Quadratgleichungen ergeben nicht den leisesten Sinn, wenn dir von Kopf bis Fuß alles wehtut. Wenn diese schreckliche Traurigkeit dich vollkommen betäubt.

Eigentlich fühlt es sich so an, als würde die Zeit langsamer vergehen. Vor ihrem Tod kam es mir auch schon so vor, als würde sich ein Schultag unglaublich in die Länge ziehen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, die Zeit ist einfach mit ihr gestorben. Was die Sache noch schlimmer macht, ist, dass alle sich so aufführen, als wären sie sauer auf sie, weil das passiert ist, und sie sind sauer auf mich, weil ich mich einfach nicht damit abfinden kann, dass es passiert ist. Aber es sind doch erst sechs Monate vergangen. Das ist nichts. Ich vermute, ich werde mich für den Rest meines Lebens so fühlen.

Als ich an Kellys Elternhaus ankomme, öffne ich das Seitentor und marschiere an den Mülltonnen vorbei in den Hof. Lincoln sitzt im Innenhof auf dem Boden. Er trägt nichts außer seiner Unterhose.

»Was machst du da?«, frage ich.

Lincoln zuckt zusammen. Erkennt, dass ich es bin, und entspannt sich. »Mum hackt dauernd auf mir herum, weil meine Klamotten nach Rauch stinken.«

»Und?«

»Und jetzt stinken sie nicht.« Er zieht kräftig an seiner Kippe.

Ich versetze ihm einen kleinen Tritt und setze mich neben ihm. »Kluges Kerlchen.«

Ich beobachte, wie sich sein Brustkorb beim Atmen leicht hebt und senkt. Seine braune Haut strafft sich über seiner Brustmuskulatur. Es ist nicht dran zu rütteln, er ist sexy wie nur irgendwas. Aber nicht so normal gut aussehend; eher schon ein bisschen übertrieben schön, wie ein Model. Er könnte sich für einen Surfer-Katalog ablichten lassen, nur in Badehosen und selbstverständlich mit nacktem Oberkörper. Er hat ein kantiges Kinn und große, braune, tragische Augen, die sofort auffallen, weil er seine Haare immer ganz kurz rasieren lässt.

Die Mutter von Lincoln und Kelly ist voll aggressiv, seit Kelly tot ist. Wir sind früher richtig gut miteinander ausgekommen. Sie war fast so etwas wie meine Mum. Aber ungefähr einen Monat nach der Beerdigung fing das an. Ich hatte immer deutlicher das Gefühl, dass sie es hasste, in meiner Nähe zu sein. Dad meint, es liegt daran, dass ich sie an Kelly erinnere. Er sagt, es muss für sie total schwierig sein, und das verstehe ich, aber ich vermisse sie einfach, ich vermisse alles, mein ganzes früheres Leben. Jetzt kann ich nur vorbeikommen, wenn sie nicht zu Hause ist. Wenn Tina mich hier antreffen würde, dann würde sie ausrasten, und wenn sie das von Lincoln und mir rauskriegen würde, dann würde sie vermutlich völlig durchdrehen. Ich möchte nicht, dass sie wegen mir unglücklich ist, aber es lässt sich nicht ändern. Ich bin einfach gerne hier, der Geruch in diesem Haus ist mir so vertraut, eine Mischung aus Kokosöl und Lavendel und Staub. Ich weiß, wo in der Küche alles steht, und wie man so auf die Bodenbretter treten kann, dass sie nicht knarren. Wenn ich hier bin, habe ich nicht mehr so stark das Gefühl, dass ich abnormal bin, und das ist an sich schon abnormal, weil in ihrem Haus im Moment alles völlig abnormal ist.

»Du warst nicht in der Schule«, sage ich. Mir fällt es jetzt auf, wenn er nicht da ist. Früher habe ich es überhaupt nicht bemerkt.

»Nee.« Er zögert kurz, dann sagt er: »Aber du warst da, habe ich gehört.«

O ja, selbstverständlich hat er davon gehört.

Ich atme laut aus und wende mich von ihm ab, reibe mir mit der Hand die Stirn.

»Möchtest du. Darüber. Reden?«

»Lincoln, du möchtest nicht darüber reden.«

»Nee. Aber was ist mit dir?«

»Nein«, sage ich schnell. Jetzt im Moment möchte ich nicht darüber reden, weil ich wohl oder übel noch ziemlich viel darüber reden werde. Ich werde es mit Dad durchkauen müssen, mit der Schulleiterin, mit dem Schulpsychologen und mit jedem dämlichen Mitschüler, der mich in den nächsten Wochen so ansehen wird, als hätte ich sie nicht mehr alle. Ich nehme Lincoln die Zigarette aus der Hand und genehmige mir einen tiefen Zug. Eine ganze Weile sitzen wir stumm da, keiner spricht ein Wort.

Wir sind immer gut miteinander ausgekommen, aber befreundet waren wir nie. Ich meine, seit ich vier war, habe ich praktisch jedes Wochenende hier verbracht, und Kellys Familie hat mich in beinahe jeden Urlaub mitgenommen. Aber Lincoln war immer nur der coole große Bruder, der Fahrräder repariert oder laut Musik gehört oder in der Garage mit seinen Kumpeln Bier getrunken hat.

Als wir noch kleiner waren, haben wir sie vom Hof aus heimlich beobachtet. Wir dachten, wenn wir herausfinden, worüber Jungs reden, wenn keine Mädchen dabei sind, dann würde es uns leichter fallen, mit ihnen zu reden, wenn wir mal bei ihnen waren.

Als wir in der neunten Klasse waren, haben wir zunehmend dieselben Partys besucht wie Lincoln, und ich glaube, das hat ihn ein bisschen aus der Bahn geworfen. Kelly hat mit seinen Kumpeln rumgemacht und er ist ausgeflippt, ganz der Beschützer, und Kelly hat sich mit ihm deswegen gestritten, und er hat dann gesagt: »So ist das nun mal, Kelly. Ich bin älter, deswegen weiß ich es besser.«

Das ließ Kelly sich von niemandem sagen, schon gar nicht von Lincoln. Sie stellte eine Regel auf: Er sollte niemanden aus unserer Klasse abschleppen und sie würde sich mit niemandem aus seiner Klasse einlassen. Beide haben sich an die Abmachung gehalten – bis zu dem Abend, als wir alle zu Stuart Gillespies achtzehntem Geburtstag eingeladen waren. Lincoln wollte unbedingt etwas mit Amanda Higgins anfangen, die mit den riesigen Titten. Also riesig wie im Pornofilm.

»Scheiß auf deine Regel, Kelly, Amanda wartet doch nur drauf, oder?«, sagte Lincoln. Er stand direkt vor ihr, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen wie ein Mädchen in einem Netzball-Spiel, sodass Kelly sich nicht an ihm vorbeidrängen konnte.

»Du bist ein Schwein«, fauchte sie.

»Komm schon, nur das eine Mal.«

»Wenn du etwas mit Amanda anfängst, schnappe ich mir …« Sie sah sich um und musterte die Jungs, die auf der Party waren. »Tom Greig.«

Lincoln lachte laut. »Das ist ein Vollidiot.«

»Du bist ein Vollidiot«, feuerte Kelly zurück.

Lincoln ächzte, warf einen Blick in Richtung von Tom Greig, der laut johlte, als einer der anderen Typen sich eine Flasche Wodka an den Hals setzte. »Na gut«, murmelte er im Davongehen. Dann wandte er sich um und sah mich direkt an. »Und mit wem willst du rummachen, Ava?«

Ich stand da wie vom Donner gerührt. »Mit keinem«, murmelte ich. »Mit keinem.« Beim zweiten Mal versuchte ich, es selbstbewusster zu sagen.

»Na dann.« Er zögerte. »Na ja, es gibt wahrscheinlich auch nicht wirklich viele Jungs, die daran Interesse haben.« Und er marschierte davon und Kelly schrie ihm nach, er sei ein Arschloch.

Sie wirbelte herum und sah mich an. »Er hat das nicht so gemeint, Ava, er versucht nur, mich auf die Palme zu bringen. Jeder einzelne der Typen hier würde sich glücklich schätzen, wenn er mit dir rummachen könnte.« Und plötzlich erstrahlte in ihrem Gesicht ihr breites, zahniges Grinsen, und ich musste unwillkürlich lachen. Sie lehnte ihre Stirn gegen meine, sodass ihre Augen mehr oder weniger zu einem einzigen Auge zusammenflossen – so dicht war sie vor mir. »Du bist die Allerschönste von allen«, flüsterte sie und ich nickte einfach. Sie fand immer genau die richtigen Worte. Immer.

Kurz nach diesem Vorfall fingen Lincoln und ich an, uns Textnachrichten zu schreiben, meistens über irgendeinen dummen Scheiß, den die anderen Leute so sagten oder taten, und dann hingen wir zusammen rum, und dann – na ja, das eben. Ich glaube, er ist der Einzige, der wirklich versteht, wie ich mich fühle. Irgendwie. Ich weiß nicht mal, ob ich ihn mag, noch nicht mal jetzt, nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist.

»Willst du kiffen?«, fragt Lincoln. Ich schüttle den Kopf. Will ich nicht. »Willst du«, er zögert, sieht mich mit seinen großen, braunen Augen an und holt tief Luft, »vögeln?«

»Mann, Lincoln.« Ich schüttle grinsend den Kopf. »Wer sagt denn ›vögeln‹?«

Er bewegt seine Hand nicht, lässt sie leicht auf meinem Nacken liegen und lächelt mich an. »Was willst du denn?«

Ich atme noch einmal aus und lehne meinen Kopf an seine Schulter, dann hebt er den Arm und legt ihn um mich. Ich spüre Lincolns Kuss auf der Stirn und muss schwer schlucken. Lincoln sieht mich an, sieht mir direkt in die Augen, und keiner von uns rührt sich, mindestens eine Minute lang. Wir sitzen nur so da und sehen einander an. Ich habe es nie geschafft, jemandem länger in die Augen zu sehen, aber mit Lincoln ist es so. Ich bin nicht mal nervös. Ich hatte schon Beziehungen mit Jungs und so, nichts Ernstes, aber immer war es Kelly, die die Sache ins Rollen gebracht hat. Sie war selbstsicher, vor allem bei Leuten, die sie mochte. Sie küsste jeden, den sie küssen wollte, und wenn sie jemanden mochte, dann sorgte sie dafür, dass derjenige sie auch mochte. Genauso sorgte sie dafür, dass jeder, den ich mochte, auch mich mochte. Es war ein ziemlich netter Ausgleich.

Es gab nur weniges, was wir nicht gemeinsam taten. Wir verloren sogar am selben Abend unsere Unschuld, im selben Haus, ziemlich genau gleichzeitig, denn so hatten wir es geplant. Ahmed war ein freundlicher muslimischer Junge, der gerade an unserer Schule seinen Abschluss gemacht hatte, und ich fand ihn am allernettesten. Er spielte im Streichquartett der Schule die erste Geige und er wollte an der Uni studieren und Ingenieur werden. Wir chatteten fast jeden Abend – über die Hausaufgaben, über unsere Zukunft und alles Mögliche, und wenn er mir in der Schule begegnete, achtete er immer darauf, mich zu grüßen. Er ging nicht häufig zu Partys und deswegen sah ich ihn außerhalb der Schule kaum. Sein bester Kumpel Jack spielte Rugby. Jack war ein groß gewachsener Typ, total witzig und total nett; er war zu Anfang der zwölften Klasse achtzehn geworden, und damit entwickelte er sich über Nacht zu einem der beliebtesten Schüler an der Schule – am Wochenende kaufte er Sprit für alle. Kelly mochte Jack, und so teilten wir uns zu viert eine Flasche Galliano und Kelly bat Jack, ihr sein Zimmer zu zeigen. Ahmed und ich blieben starr vor Schreck alleine im Wohnzimmer zurück. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte, bis er schließlich murmelte: »Willst du das Gästezimmer sehen?«

Ich nickte und wir gingen schweigend die Treppe hoch. Die stumme Verlegenheit war quälend, deswegen küsste ich ihn, sobald wir im Gästezimmer angekommen waren – auf diese Weise waren wir wenigstens beschäftigt und mussten das Schweigen nicht noch länger ertragen. Wir redeten praktisch gar nicht, während es passierte, wir taten es einfach. Ich weiß gar nicht warum, wahrscheinlich, weil wir dachten, wir müssten es tun und weil Jack und Kelly es im Zimmer nebenan auch machten und es leichter war, es einfach zu tun, als später zu erklären, warum wir es nicht getan hatten. Es war in Ordnung. Ich meine, es war nicht schlimm, es passierte eben, nicht so hochromantisch oder mit brennender Leidenschaft wie im Film oder so, sondern ganz schnell. Eigentlich ein Un-Ereignis.

Mit Lincoln ist es anders. Besser. Es macht Spaß. Meistens.

»Hozana hat mir ein Video von deinem Auftritt heute geschickt.« Lincoln lacht und ich sehe kurz auf, bevor ich mein Gesicht total verlegen in seiner Schulter vergrabe. Ich als tobende Irre, für immer online. Super. »Ich habe mich totgelacht, als du Mrs Bryan angebrüllt hast. Zana hat ihr Gesicht rangezoomt. Sie sah so aus, als würde sie gleich kotzen.«

Ich ächzte. »Sehe ich aus, als käme ich aus der Klapsmühle?«

»Nee. Du hast süß ausgesehen«, lügt er.

Ich lächle, versetze ihm einen Klaps auf den Schenkel und er packt meine Hand und drückt sie.

»Die machen mich einfach wahnsinnig.«

»Ja, Ava. Ich weiß.«

Wenn ich mit Lincoln erst ein bisschen flirte, habe ich ein besseres Gefühl zu dem, was gleich passieren wird. Vielleicht geht es ihm genauso. Ich weiß nicht mal, ob er mich mag. Ich meine, er muss mich ein bisschen mögen, aber nicht so richtig. Ich weiß nur eins: Wenn ich mit Lincoln zusammen bin, dann ist alles andere nicht so wichtig. Was heute in der Schule passiert ist, ist nicht so wichtig. Wenn ich mit Lincoln zusammen bin, kann ich vergessen, wie kaputt alles andere in meinem Leben ist. Oder vielleicht ist vergessen ein zu starker Ausdruck, vielleicht gibt er mir einfach nur einen Moment lang das Gefühl, etwas anderes zu sein als nur ein Stück Scheiße. Wie ich mich gefühlt habe, als Kelly noch am Leben war. Was seltsam ist, weil das alles niemals passiert wäre, wenn Kelly noch am Leben wäre.

»Na komm.« Lincoln hebt die Augenbrauen und steht auf. Er sagt kein Wort, führt mich einfach durch die Schiebetür, die Treppe hoch, an Kellys verschlossener Zimmertür vorbei und auf sein Bett.

Es ist bereits dunkel, als ich nach Hause komme.

»Wo warst du?«, ruft Dad in dem Moment aus der Küche, als ich zur Tür hereinkomme.

»Bei Kelly zu Hause.«

»Ava!« Dad taucht auf, mit grimmigem Gesicht, ein Geschirrtuch hängt über seiner Schulter. Sein zotteliges graues Haar wippt, als er den Kopf schüttelt. »Ich habe gedacht, wir wären uns darüber einig, dass du da nicht hingehst.«

»Ja, schon, aber Lincoln war nicht in der Schule und da wollte ich nachsehen, ob bei ihm alles in Ordnung ist«, lüge ich und beobachte, wie sich Dads Gesicht zu einem spöttischen Lächeln zusammenzieht.

»Blödsinn, Kleine.« Er wendet sich um und spaziert zurück in die Küche.

Ich kicke meine Schuhe von den Füßen und gehe ihm nach.

Als uns meine Mutter das erste Mal verließ, war ich ungefähr sechs Monate alt. Sie gab mich bei der Empfangsdame in Dads Büro ab und ging weg. Rund zwei Jahre lang hörten wir nichts mehr von ihr, aber dann tauchte sie plötzlich in einem Kastenwagen vor unserer Eingangstreppe auf. Eine Weile blieb sie, dann hinterließ sie eine Nachricht auf dem Kaffeetisch – Ich rufe euch an, stand darauf – und verpisste sich nach Übersee.

Das war ihr längster Trip – wir sahen sie erst wieder, als ich neun Jahre alt war. Sie schrieb Postkarten aus Paris, Berlin, Litauen, Ägypten, und sie unterschrieb diese niemals mit Mum, sondern immer mit Barb xx. Keinerlei Regelmäßigkeit, einfach immer dann, wenn ihr gerade danach war.

Sie und Dad hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Innerhalb von zwölf Monaten hatten sie geheiratet und mich bekommen. Sie befand sich wohl gerade in einer ihrer manischen Phasen; dann kommt sie immer ganz flatterig und offenherzig rüber, wie eine echte Zigeunerin. Aber an ihren anderen Tagen, wenn das Tief kommt, ist sie finster und launisch; sie lügt und ist bösartig.

Mein Verhältnis zu meiner Mutter ist sozusagen nicht existent. Ich denke an sie, wie man an eine entfernte Verwandte denken würde. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie nur über das, was mein Vater mir von ihr erzählt hat, oder aus ihren kurzen Anfällen von Interesse an mir. Wir haben absolut nichts gemeinsam bis auf die Gene. Ich glaube, würde ich sie kennenlernen und wüsste nicht, wer sie ist, würde ich sie immer noch nicht mögen, aber damit komme ich klar.

Ich habe gesehen, was sie Dad angetan hat, und eine Weile hat es mich wirklich belastet. Ich wollte sie bei mir haben, konnte es nicht verstehen. Ich verstehe es immer noch nicht, aber ich habe mich einfach dran gewöhnt. Ich habe sie seit einem Jahr nicht gesehen. Sie wohnt in Darwin. Sie hat irgendeinen langhaarigen Kerl geheiratet und mir ein Foto geschickt. Sie hat nie ein zweites Kind bekommen.

»Was gibt es zu essen?«

»Lenk jetzt nicht ab. Du hast einen üblen Tag gehabt?« Er wendet mir den Rücken zu, rührt das um, was sich da gerade auf dem Herd befindet. Den zweiten Teil spricht er aus, als wäre es sowohl eine Feststellung als auch eine Frage. Als wüsste er, dass ich einen üblen Tag hatte, und als wollte er wissen, ob es wirklich ein übler Tag war.

»Hat die Schule angerufen?«

»Ja.«

»Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Weil ich weiß, dass du es mir erzählen wirst.«

Er hat recht, ich werde es ihm erzählen. Ich werde ihm von dieser dämlichen Rede erzählen und von meinem Tobsuchtsanfall. Ich werde ihm erzählen, dass ich aus dem Raum gerannt und zu Lincoln gegangen bin. Natürlich werde ich ihm nicht erzählen, womit Lincoln und ich praktisch den ganzen Nachmittag zugebracht haben, aber er wird es wohl ahnen. Dad und ich konnten immer miteinander reden, aber früher haben wir regelmäßig bestimmte Teile der Geschichte übersprungen. Es ging einfach nur darum, was Dad unbedingt wissen musste, und ehrlich gesagt, es gab jede Menge Dinge, die er nicht unbedingt wissen musste. Ich sagte ihm zum Beispiel, ich würde zu einer Party gehen, aber ich erzählte ihm natürlich nicht, dass ich dort Alkohol trinken würde. Ich erzählte ihm, dass ich mit einem Jungen ausging, aber ich sagte nicht, dass ich bei ihm übernachten würde. Frag nicht nach, erzähl nichts. Das hat bei uns funktioniert. Aber seit Kelly tot ist, reden wir ernsthaft miteinander, ohne Spielchen. Ich sage ihm, was los ist, und er hört es sich an und sagt mir, was er denkt, und nur ganz selten wird er komisch.

Nach dem Abendessen und als wir eine Weile an der Küchentheke gesessen und über den Tag geredet hatten, fragt er: »Und was ist mit Lincoln?« Er greift über mich hinweg nach meinem Teller, betrachtet die Spaghetti Bolognese, die er zubereitet hat, und runzelt die Stirn. Ich habe kaum etwas gegessen, im Grunde nur alles auf dem Teller hin und hergeschoben.

»Was soll mit ihm sein?«

»Was ist das mit euch?«

»Keine Ahnung«, sage ich, und ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß nicht, warum es jedes Mal so ausgeht, wenn ich jetzt auf Lincoln treffe. Jedes Mal schlafen wir miteinander. Ich weiß nicht, warum wir kiffen. Ich weiß nicht, warum wir jedes Mal, wenn wir uns treffen, so tun, als wäre überhaupt nichts passiert, und ich weiß nicht, warum wir niemals über Kelly reden. Ich habe keine Ahnung.

»Nur …« Dad bremst sich selbst. »Sei einfach vorsichtig.«

»Klar.« Ich beiße mir auf die Lippen und das altbekannte schlechte Gewissen übermannt mich.

»Du musst einfach immer daran denken, dass im Moment alles …« Er zögert, holt tief Luft, sucht nach dem richtigen Wort. »… alles nicht so im Lot ist. Lincoln muss mit ein paar echten Hämmern zurechtkommen, und vielleicht ist er einfach … einfach nicht er selbst.«

Ich stütze die Ellbogen auf die Tischplatte und reibe mir mit den Fingerknöcheln die Schläfen, stütze mich in meine Hände.

»Aber genau das ist es doch. Genauso fühle ich mich, wenn ich bei ihm bin.« Ich sehe Dad an, der jetzt an der Spüle steht. »Wie ich selbst.«

Er betrachtet mich sehr lange. Seine Lippen bewegen sich, als würde er gleich etwas sagen, aber er tut es nicht, er nickt nur.

»Ich hasse das, Dad.«

»Ich weiß.«

Als ich klein war, durfte ich nie sagen, dass ich irgendetwas hasste. Mein Vater hasst das Wort »hassen«. Wenn ich etwas absolut nicht mochte, dann musste ich es zum Beispiel so ausdrücken, dass es mir absolut nicht schmeckte. »Ich hasse Brokkoli«, sagte ich zum Beispiel, und Dad verbesserte mich dann: »Nein, du hasst Brokkoli nicht, dir schmeckt Brokkoli einfach überhaupt nicht.«

Logischerweise hatten Mum und Dad eine verwirrende, chaotische, einfach-nur-beschissene Beziehung, hauptsächlich deswegen, weil sie ein absolutes Miststück war. Er hat sie gehasst. Jetzt ist es nicht mehr so schlimm, er hat das alles hinter sich gelassen, aber damals hat er sie gehasst und er hatte jeden Grund dazu. Er weiß, wie sich echter Hass anfühlt: die Wut, die Intensität, die Bitterkeit, die alles überdeckt, was gut und echt ist, die dir vollkommen das Gefühl dafür raubt, wer du eigentlich bist. Er kannte das Gefühl. Das, was ich für Brokkoli empfunden habe, unterschied sich ganz wesentlich von seinen Gefühlen für Mum. Wenn man das zur Messlatte macht, was mein Dad für meine Mum empfunden hat, muss man wohl zugeben, dass ich im Leben noch nie etwas wirklich gehasst habe.

Bis jetzt jedenfalls. Ich hasse das, was Kelly gemacht hat. Ich hasse es, dass sie mich ganz allein zurückgelassen hat.

Ich schreibe Gedichte.

Aber es ist unmöglich, so etwas auszusprechen und dabei nicht wie ein absoluter Vollidiot zu klingen. Ich verwende ziemlich viel Zeit auf den Versuch, nicht wie ein Vollidiot zu klingen. So verläuft mein Leben – ich versuche, nicht wie ein Vollidiot zu klingen und dann überschlage ich mich mit meinen Bemühungen, jene Momente auszugleichen, in denen ich zweifellos wie ein Vollidiot rübergekommen bin, jetzt gerade zum Beispiel. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gerade wie ein Vollidiot rüberkomme.

Ich schreibe Slam-Poetry.

Wenn ich das so formuliere, funktioniert es auch nicht, hauptsächlich deswegen, weil die meisten Leute überhaupt nicht wissen, was Slam-Poetry überhaupt ist, und wenn sie nachfragen, dann verwickle ich mich in umständliche Erklärungen zu Ursprung und Entwicklung der mündlich dargebotenen Dichtkunst rund um den Globus. Falls es jemanden interessiert: Eine todsichere Möglichkeit, wie ein Vollidiot zu wirken, ist die, ein schlaksiger, weißer Jugendlicher zu sein, der irgendwas über die Wiederbelebung der Poesie im Amerika der späten 1980er-Jahre daherstammelt.

Und genau aus diesem Grund entscheide ich mich in der Öffentlichkeit meistens dafür, stattdessen den Mund zu halten, und aus demselben Grund schreibe ich lieber, als mich mit echten Gesprächen zu belasten, es ist viel einfacher. Man kann seine Fehler korrigieren, sogar ganze Absätze im Nachhinein komplett löschen. Man kann intelligent oder künstlerisch klingen oder irgendwie anders, es gibt jede Menge Worte, die das beschreiben können. Zu diesen gehört: nicht-wie-ein-Vollidiot.

Ich zerre an dem viel zu engen Knoten an meiner Krawatte und starre auf die Rückseite der Klotür. Versuche, gleichmäßig zu atmen, mich zu beruhigen. Ich habe mich in helle Aufregung hineingesteigert, seit ich darüber nachdenke, welche Fragen sie mir wohl stellen werden, und jetzt trennen mich nur noch vier mühsame Atemzüge vom Schicksal, von meinen eigenen inneren Organen ermordet zu werden. Das möchte ich ganz gerne vermeiden. Ich starre auf die Werbeanzeige auf dem Türblatt und wackle mit den Zehen. Mir ist nicht klar, warum Zehenwackeln helfen soll, aber meine Eltern haben mir jedenfalls immer dazu geraten. Also tue ich es. Vermutlich soll es mich einfach ablenken von jenem drohenden Unheil, das wie ein Schatten am Rande meines Wahrnehmungsbereichs lauert. Konzentrier dich nicht auf den Schatten, sage ich mir immer und immer wieder. Konzentrier dich nicht auf den Schatten. Konzentrier dich nicht auf den Schatten. Konzentrier dich darauf, mit den Zehen zu wackeln. Konzentrier dich auf die Werbeanzeige.

Spalte diesen Teil von dir ab. Gut.

Während ich wie verrückt mit meinen Zehen in den engen braunen Lederschnürschuhen wackle, betrachte ich die Werbeanzeige, die Dame im kurzen schwarzen Rock und den hochhackigen roten Schuhen. Sie steht über einem Mann, dessen Gesicht einen Ausdruck typischer Witzblatt-Ratlosigkeit trägt. Die Dame mit den hochhackigen Schuhen hält einen Besen gegen seine Brust, und unter dem Bild steht in großen, geschwungenen Buchstaben: Lass dich nicht unterkriegen. Sei der Mann, den sie sich wünscht.

Ich brauche ein paar Minuten, bis ich kapiere, dass es sich um Werbung für ein Spray gegen Erektionsstörungen handelt. Aber als ich so ausgiebig ihre Schultern und die extrem steilen Brüste betrachte, die wohlkalkuliert über ihr trägerloses Top hinausquellen, sehe ich mich in einigen Dingen bestätigt. In so vielen Dingen, dass es für eine ganze Liste ausreicht.

Dinge, die mir im Moment klar sind: eine Liste.

1.Ich habe eine leichte Panikattacke.

2.Ich habe eine leichte Erektion.

3.Die auf dem Plakat angegebene Telefonnummer für Männer mit Erektionsproblemen muss ich demzufolge nicht anrufen.

4.Ich schreibe Gedichte.

5.Und, wie man sieht, Listen.

Ich schließe die Augen und versuche, mich aufs Atmen zu konzentrieren, nur aufs Atmen. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie dämlich sich das alles anfühlt, wie dämlich ich mich fühle. Nur wegen eines dämlichen Vorstellungsgesprächs. Ein dämliches Vorstellungsgespräch in einem dämlichen Geschäft für Herrenbekleidung, in dem ich solchen Herren behilflich sein soll wie demjenigen auf dem Bild vor mir, die vermutlich das Spray gegen Erektionsstörungen benötigen. Wenigstens brauche ich das Spray gegen Erektionsstörungen nicht, das ist doch schon ein Lichtblick. Allerdings wünschte ich, es gäbe so etwas wie ein ganz einfaches Spray gegen alle möglichen Störungen. Das käme mir jetzt sehr gelegen.

Ich spüre, wie mein Herzschlag allmählich den lebensbedrohlichen Bereich verlässt und in einem Bereich ankommt, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Normalität hat, und dann lese ich den Werbetext noch mal.

Lass dich nicht unterkriegen. Sei der Mann, den sie sich wünscht.

Aber das ist es ja gerade, du attraktive Frau in deinem unerhört kurzen Rock: Du möchtest, dass ich einer dieser Männer bin, die Erektionen haben und damit etwas anzufangen wissen. Einen Typen mit schicker Frisur und annehmbarer Muskulatur, der sich von nichts und niemandem einschüchtern lässt, schon gar nicht von Bewerbungsgesprächen.

Ich klappe den Klodeckel herunter und setze mich. Ich bin jedenfalls keiner von diesen Typen. Nicht im Geringsten. Ich bin die Art siebzehnjähriger Typ, der fast durchgehend nervös ist, der Ausdrücke wie »helle Aufregung« benutzt und der ständig in helle Aufregung gerät, wegen jedem noch so albernen Anlass, ein Bewerbungsgespräch zum Beispiel oder, wenn man so will, wegen jeder Situation, in der ich über mich selbst sprechen muss. Ich bin einer von den Typen, die sich von einer wunderschönen Frau in einem Cartoon anturnen lassen, aber die sich lieber allein in ihrem Zimmer verbarrikadieren, als jemals ausreichend Kontakt zu wunderschönen Frauen aufzunehmen, um sich im echten Leben von ihnen anturnen zu lassen. Ich bin einer von den Typen, die in Toilettenkabinen Panikattacken durchmachen.

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.

Ich bin einer von den Typen, die am Ende zu spät zu ihren Bewerbungsgesprächen kommen. Einer von denen, die jetzt, wo sie sowieso zu spät kommen, ihr Bewerbungsgespräch gleich ganz sausen lassen, ihren Eltern aber erzählen werden, sie seien hingegangen. Einer von den Typen, die ihren Eltern erzählen werden, dass das Bewerbungsgespräch sehr gut verlaufen ist, die ihren Eltern nicht erzählen werden, dass sie das ganze Bewerbungsgespräch verpasst haben, wegen derartiger Dinge wie Panikattacken oder Erektionen oder weil sie in einer Toilettenkabine festgesessen haben und dort drin darüber nachdachten, was für Typen sie sind.

»Und das bedeutet, das Leben ist …«, fragt Robbie, mein Therapeut, und ich zucke mit den Schultern. Seit wir hierhergezogen sind, gehe ich zu Robbie. Er ist mein vierter Therapeut. Die anderen drei waren zu alt, zu herablassend oder einfach enttäuschend. Er ist anders. Robbie sieht absolut nicht wie der »typische« Therapeut aus. Er ist ein bisschen dick, trägt einen Bart und klammert sich verzweifelt an seinem Pferdeschwanz fest, obwohl ihm schon die Haare ausgehen. Er trägt Jeans und T-Shirts. Er ist daran schuld, dass ich mit Slam-Poetry angefangen habe. Er ist anders als jeder andere, den ich kenne.

Als ich zum ersten Mal bei ihm war, hat er zu mir gesagt, wenn man sich für einen Therapeuten entscheidet, dann ist das so, als würde man sich für eine Beziehung mit einem Mädchen oder mit einem Jungen entscheiden. Das gefiel mir auf Anhieb – er ging nicht selbstverständlich von irgendeiner sexuellen Neigung bei mir aus, und ich vermutete, dass er auch sonst keine Mutmaßungen anstellen würde. Bis dahin hatte ich immer nur erlebt, dass die Leute aufgrund der Dinge, die ich so sagte oder wegen meines Outfits oder wegen meiner lesbischen Mütter oder wegen meiner Narben irgendwelche Mutmaßungen anstellten. Robbie tat das nicht. Er tut es bis heute nicht. Er sagte, er würde nicht beleidigt sein, wenn ich ihn nicht mochte oder wenn ich nicht wiederkäme, weil manchmal eben etwas einfach nicht sein sollte.

»Also, Gideon, jetzt können wir uns mal ein bisschen beschnuppern«, hatte er verkündet. Die Hände hatte er auf seinem dicken Bauch verschränkt. Dann stand er auf, angelte zwei Coladosen aus dem kleinen Kühlschrank neben seinem Schreibtisch und stellte sie auf den kleinen Beistelltisch zwischen uns. Noch ein Punkt für Robbie. Seit Monaten waren meine Mütter besessen davon, mich vernünftig zu ernähren. Kein Zucker. Gar keiner. Sie stellten sogar selbst meine Zahnpasta her, weil Mum etwas über Zucker in kommerzieller Zahnpasta gelesen hatte. Zum Glück hatte diese Phase nicht sehr lange gedauert, aber diese Coladose war wie der erste Schuss nach langer Zeit für einen drogenabhängigen Sträfling. Der entscheidende Punkt ist, diese Cola war eine nette Geste, und durch sie wirkte Robbie in meinem leicht verdrehten, zuckerfreien dreizehnjährigen Hirn total cool. Den Rest dieser ersten Therapiestunde verbrachten wir damit, uns einfach nur darüber zu unterhalten, welche Promis wir gut fanden. Ich verriet ihm, dass ich keine der Frauen in der Serie Friends übermäßig attraktiv fand, und er sagte, ich würde das niemals verstehen. Er brachte mich zum Lachen. Dritter Punkt für Robbie. Er fragte nicht ein einziges Mal nach Antidepressiva oder Selbstverletzung oder Depression und Psychiatrie und Mobbing oder danach, wie ich mich fühlte. Nur danach, ob sich für mich die Simpsons oder South Park besser anfühlten. South Park, logisch. Robbie entschied sich für die Simpsons und witzelte dann darüber, dass er T-Shirts trug, die älter waren als ich.

Vier Jahre später ist Robbie immer noch mein Therapeut.

»Und das bedeutet, das Leben ist …« Lächelnd wiederholt er die Frage.

Ich kenne diese Gespräche so gut, aber deswegen fällt mir die Antwort trotzdem nicht leicht. Von dem Vorfall in der Toilettenkabine habe ich ihm schon erzählt, und zugegeben, er hat gelacht und mir dann erklärt, ich hätte eigentlich Glück gehabt, dass ich nicht in einem Job in der Männerkonfektion gelandet wäre.

»Das Leben ist gleich wie immer. Aber«, ich zögere und Robbie hebt erwartungsvoll die Augenbrauen. »Aber ich habe das satt.«

»Erklär mir das.« Seine Stimme klingt leicht beunruhigt.

»Nicht das Leben. Nein. Quatsch, Robbie. Ich habe es satt, dass alles wie immer ist.«

»Okay.«

Ich hole tief Luft und starre auf die alten Kinoplakate an seiner Wand. »Es langweilt mich«, sage ich schließlich, und sobald ich es ausgesprochen habe, kommt es mir so vor, als hätte ich einen riesigen Scheinwerfer genau auf meine Gefühle gerichtet. Ja, es langweilt mich. Das alles langweilt mich: das Vorsichtigsein, das Nervössein, und auch, dass ich ständig viel zu viel über alles nachdenke, dass ich mich in Toilettenkabinen einschließe.

»Das tragischste Dilemma überhaupt, mein Freund.« Robbie redet jetzt mit einem merkwürdigen Akzent. »Es heißt, der Tod würde dich umbringen, aber der Tod bringt dich nicht um, Langeweile und Gleichgültigkeit bringen dich um.«

Ich sehe ihn an und er grinst. »Wer hat das gesagt?«

»Gandhi?«

»Beinahe. Iggy Pop.«

»Wer?«, frage ich und er bewirft mich mit einem Bleistift.

»Ich möchte, dass du über kleine Risiken nachdenkst … sichere Risiken, die dich dazu zwingen, deine Komfortzone zu verlassen. Manchmal reicht eine Kleinigkeit aus, um ein Feuer zu entfachen oder dich auf eine ganz neue Spur zu bringen oder irgendeine andere beknackte Metapher, ja?«

Ich nicke. »Ich brauche einen Job.« Robbie hat recht. Robbie hat immer recht.

»Was für einen Job denn?«

»Irgendwas. Ich brauche Geld.«

»Für verbotene Substanzen, Alkohol, Damen mit zweifelhaftem Ruf? Ich durchschaue dich voll und ganz!« Robbie schmunzelt über seinen eigenen Witz. »Na dann reden wir mal über deinen Lebenslauf.«

»Schlaksiger, introvertierter, peinlicher Dichter, langhaarig und mit fragwürdigem Geschmack in Kleiderfragen, benötigt gut bezahlten Job zur Finanzierung seiner peinlichen, introvertierten Hobbys«, sage ich.

»Also irgendwas im Dienstleistungsgewerbe?«

»Gideon, du musst diesem Streit ein Ende bereiten.« Meine Mum, Mandy, steht im Wohnzimmer auf einer Leiter und hält sich ein iPad vors Gesicht. Ihre blonde Kurzhaarfrisur wippt, als sie den Bildschirm dreht und meine Schwester Annie mir vom iPad aus die Zunge rausstreckt. Ich lasse meine Schultasche fallen und drohe ihr mit beiden Fingern, tänzle dabei auf sie zu. Mum und Annie lachen, als Susan hinter mir hereinkommt und mein Fingerdrohen und Getänzel imitiert. Sie legt mir den Arm um die Schultern. »Das ist kein Streit, das ist eine Verschwörung. Deine Schwester und deine Mutter verbünden sich mal wieder gegen mich.« Kurze Pause. »Wie üblich.«

Von Mum und Annie promptes Hohngelächter und Spott darüber, dass Susan es ja so schwer hat und dass es sich hier nicht um eine Verschwörung handelt, alles liege nur an Susans grauenhaft schlechtem Geschmack. Im Mittelpunkt der ganzen Aufregung stehen zwei große Tapetenstücke, die über unserem längst erloschenen Kamin an die Wand gepinnt sind. »Welche von beiden, mein Sohn?« Mum deutet nacheinander auf die beiden Tapetenstücke wie der Moderator einer Quizshow und wirft Annie auf dem Rückweg zu ihrer Couch eine Kusshand zu. Ich stelle mich neben die Leiter und betrachte prüfend die beiden verblüffend ähnlichen Kringelmuster; eins ist grün mit silbernen Kringeln, das andere silbern mit grünen Kringeln.

»Mir gefällt die silberne«, sage ich.

Susan springt von der Couch und drückt mich an sich. »Mir war klar, dass mein Junge einen guten Geschmack hat.«

»Zwei gegen zwei.« Mum verzieht das Gesicht. »Am besten lassen wir sie beide hängen und treffen uns in einer Woche noch mal.« Sie steigt von der Leiter und legt mir den Arm um die Hüfte.