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Kurzbeschreibung:

Süddeutschland im Jahr 1900: In der Manzeller Bucht fiebern tausende Schaulustige dem Aufstieg des ersten Luftschiffes entgegen, während der italienische Katholik Angelo und die schwäbische Protestantin Frida zueinander finden. Doch ihre junge Liebe wird im Dorf Neckartailfingen mit Argusaugen verfolgt. Fridas Schwangerschaft sorgt kurz darauf für einen handfesten Skandal und macht aus ihr eine gefallene Frau. Gegen alle Widerstände wartet Angelo, bis sie volljährig ist, und heiratet sie. Frida verliert dabei ihre Staatsangehörigkeit, gewinnt jedoch eine neue Familie. Viele Jahre später begibt sich ihre Urenkelin Christine auf die Spuren ihrer Vorfahren: Warum ist Angelo so jung gestorben? Ist er ermordet worden, wie eine geheimnisvolle Notiz im Familienalbum behauptet? Ein lange gehütetes Geheimnis wartet darauf, endlich aufgedeckt zu werden …

Sabine Kampermann

Ikarus fliegt noch


Roman


Edel Elements

Für meine Freundin Regine, deren Urgroßeltern mir für Frida und Angelo als Vorbild gedient haben.

Christine

Am Tag, als Angelo Lombardi starb und Walter Rathenau erschossen wurde, verdorrte südlich der Alpen auf dem Grab von Angelos Babbo der steinalte Granatapfelbaum. Seine einzige Frucht löste sich vom Zweig, fiel zu Boden, platzte auf und färbte die Erde rot.

Angelos Mamma betete dort täglich für das Seelenheil ihrer Söhne. Als sie nun Gott neben der Grabstätte anflehte, entdeckte sie blutende Sandkörner.

Ich starre auf das Papier und lese noch die beiden folgenden Sätze: Starb Angelo an gebrochenem Herzen, oder wurde er wie der jüdische Außenminister ermordet?

Der letzte Satz ist rot unterstrichen: Wenn Mord, wer trägt die Schuld daran?

Aus Versehen zerknittere ich den Papierfetzen mit meinen zittrigen Fingern. Der Zettel ist aus dem Familienalbum gefallen, als ich es aus dem hintersten Winkel des Regals gezogen habe.

Wer hat diese sechs Sätze hingekritzelt? Sie klingen wie ein Romananfang.

Ich glätte den Fetzen und betrachte die verschnörkelte Schrift. Sie gehört einer Frau, nehme ich an, und sie kommt mir vertraut vor, aber ich bin keine Expertin für Handschriften. Zudem ist das Papier alt und die Tinte verblichen.

Ich schnuppere daran, suche den Duft von Papier, doch er ist verschwunden. Die Staubschicht auf dem Fotoalbum hat ihn geschluckt. Ich wische das Album ab und blättere darin. Neben dem Kaiserreich und der Weimarer Republik enthält es Zeugnisse zweier Weltkriege und mindestens einer großen Liebe. Weniger die Kriege erkenne ich in den Bildern, mehr die Liebe. Das Album ist dick, zerfleddert und die Fotos bereits vergilbt. Ein Bild fällt aus den Seiten, ohne Klebstoff auf der Rückseite.

„Mädle, was suchst du bloß in dem alten Kruscht? Wie oft willst du deine Nase da noch hineinstecken?“, ruft meine Mutter in ihrem üblichen gequälten Hochdeutsch aus der Küche.

„Das letzte Mal ist schon lange her“, erwidere ich.

Ein Mädle mit fünfzig Jahren? Nun ja.

„Kannst du nichts Vernünftiges schaffen, Chrischtine?“

Ihre Stimme durchfährt mich wie ein Messer. „Könntest du meinen Namen endlich richtig aussprechen?“, zische ich vor mich hin.

Die Namen meiner Geschwister verschwäbelt sie nicht. Wohl, weil meiner nicht Christian lautet, Michael oder Thomas. Wieder nur ein Mädle, hat meine Mutter bei der Geburt meiner zweiten Tochter gewiss gedacht. Wenigstens hat sie es nicht mit Worten ausgedrückt, nur mit den Augen.

Sie kommt ins Wohnzimmer und nimmt mir gegenüber Platz. „Nutz deine Arbeitslosigkeit und kümmre dich mehr um deine Familie!“

„Ich bin nicht entlassen worden, sondern nehme ein Sabbatjahr“, entgegne ich so ruhig wie möglich.

„Sicher, das hab ich auch gar nicht behauptet und schrei mich nicht an! Empfindlich, wie du eben bist. Ich mein es doch gut.“

Schweigend balle ich hinter meinem Rücken die Hände zu Fäusten.

„Betracht es positiv! Du hast beide Töchter vernachlässigt. Denk nur an die Wochen, die du in der Klinik zugebracht hast. Michael musste sich allein um eure Kinder kümmern. Dein Mann hat wirklich Großes geleistet. Jetzt hast du Zeit für die Familie. Nutz das! Lara ist zu kräftig und Julia zu dünn.“

Die Entgegnung bleibt auf meiner Zunge kleben.

„Es ist doch wahr! Lara isst wie ein Müllschlucker und Julia wie eine sterbende Schlange.“

Ich zucke zusammen und schrumpfe von der erfahrenen Ärztin zu einem kleinen Mädchen. Meine Worte wollen nicht heraus, vergiftet von Mutters seltsamen Bildern. Warum nur habe ich keine Normkinder bekommen? Nach was genormt? Nach Schuhgröße, Umfang, Intellekt, Anzahl der Sommersprossen oder Zeckenbisse? Weiß sie es selbst?

„Du solltest dich im Spiegel sehen, Mädle, deinen Blick, die Stirnfalten. Dabei hab ich dir nichts getan, ich sag halt, was ich denk.“ Sie geht wieder in die Küche.

Ich atme auf. Lara hat wegen der Medikamente zugenommen.

„Chrischtine!“

Nein, nein, nein, ich brauche Ruhe und möchte nicht gestört werden, schon gar nicht von Mutter. Weshalb zerrt sie stets an meinen Nerven? Dabei meint sie es doch immer gut! Wieso fühle ich das nicht, trotz meiner Psychotherapie- und Hypnosesitzungen? Sie hat uns geliebt, liebt uns, uns alle fünf. Mich bringen zwei Kinder bereits an die Grenzen. Aus welchem Grund zittere ich in Mutters Gegenwart? Als ob sie mich als Säugling ersticken wollte. Das träume ich oft. Doch es sind bloß Träume.

„Mein Apfelkuchen ist fertig“, ruft Mutter und läuft zum Ofen.

Ich höre die Schritte, sie ist noch gut zu Fuß für ihr Alter. Der Kuchen duftet verführerisch süß nach warmen Äpfeln und Zimt mit dem bitteren Hauch leicht angebrannter Rosinen. Sie hat ihn extra für mich gebacken, weil ich Bratäpfel liebe. Ein Wasserfall strömt über meinen Gaumen. Ich kann es kaum erwarten, bis das Gebäck abgekühlt ist.

Kurz sehe ich durch den Türspalt zu ihr hinüber, erkenne den lichten Haarschopf und die Sorgenfalten. Ja, selbst sie ist vom Leben gezeichnet, so wie die ganze Familie. Nur hat sie es verdient!

Wieder streiche ich über das Album. Die Staubschicht ist fort. Ich habe das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ja etwas zu stehlen. Mutter wendet sich nun der Strickarbeit zu. Etwas Vernünftigem! Ich trage diese kratzigen Strickpullis nicht gerne, doch die Motten lieben sie.

Warum bewahrt Mutter die Fotoalben im hintersten Regal auf? Den Zettel verstecke ich in der Hosentasche. Das Foto hebe ich auf, drehe es um und betrachte es. Urgroßmutter Frida lächelt scheu in die Boxkamera, den Kopf geneigt, das blonde Haar hochgesteckt. Schüchtern soll sie sonst nicht gewesen sein, sondern widerspenstig und aufmüpfig, das schwarze Schaf der Familie.

Ich mustere die hellen, wachen Augen. Topasblau! Das weiß ich aus Erzählungen, das Schwarz-Weiß-Bild verrät es nicht. Sie schimmern wie Wasser und zwinkern mir zu, bloß eine Sinnestäuschung, trotzdem zwinkere ich zurück.

Die Farbe des Kleids kann ich nur erahnen. Noch wird geschnürt, die Brust raus- und der Bauch reingedrückt. Sie aber brauchte Luft zum Atmen. Wie ich. Deshalb zeichnet sich ein kleiner Bauchansatz unter dem Kleid ab – oder weil sie auf dem Bild schwanger ist? Falls dieses Foto sie als Siebzehnjährige zeigt.

Ich betrachte die anderen Familienbilder. Auf den Fotos wirken die Abgebildeten stets älter, Kinder wie Kindergreise. Ich blättere zu dem Bild von Frida zurück. Das Kleid hatte sie wohl selbst geschneidert und sich dabei von dem berühmten Modekünstler Charles Frederick Worth inspirieren lassen. Sie trägt kein Korsett, zeigt auf dem Foto aber trotzdem eine schmale Taille und mehr Busen, als sie in Wahrheit gehabt haben soll. Ihr Schnitt betont beides. Doch wer wusste ihr Geschick in einem engen schwäbischen Dorf zu würdigen?

Ich fixiere das Foto, die Hälfte fehlt, ist amputiert worden. Mit der rechten Hand umklammert Frida eine andere Hand, die eines Mannes, meines Uropas wahrscheinlich. Jemand hat Angelo abgeschnitten. Wer? Wer ermordet ein Foto? Das Warum kann ich mir denken. Wer hat das Bild gemacht und wer in das Album gesteckt und weshalb? Wird zwischen den Blättern ein Mord dokumentiert, und ich erkenne es nicht? Bin ich blind?

Hochzeitsbilder von Frida und Angelo finde ich keine. Ich weiß, wieso. Niemand hat sie entfernt. Es gibt sie nicht. Geheiratet haben sie im Verborgenen, allein mit den Trauzeugen.

„Wie romantisch“, habe ich gesagt und verträumt geseufzt, als ich nach meiner ersten unglücklichen Beziehung von der Liebe meiner Urgroßeltern hörte.

Dabei wurde mir diese Geschichte bereits an der Wiege eingeträufelt. Nur sollte sie mir zur Abschreckung dienen. Frida, die Dorfmatratze, hätten Kinder und Kindeskinder getuschelt. Die Nachbarn damals haben gewiss andere Ausdrücke benutzt, aber das Gleiche gemeint. Neid, nichts als Neid! Ich finde Frida und Angelo doch romantisch.

„Romantisch? Was denkst du da? Zwei uneheliche Kinder, beschämend ist das“, entgegneten meine Eltern einstimmig, als ich es aussprach. Sonst waren sie sich selten einig.

Abgesehen davon hatte Frida nur ein uneheliches Kind!

„Sie hat die gesamte Familie dem Gespött der Leute preisgegeben und etwas in Gang gesetzt, das sich nicht mehr hat aufhalten lassen. Es setzte sich über Generationen hin fort.“ Meine Mutter lächelte vielsagend und traurig zugleich.

„Eine furchtbare Schmach! Er hätte gehen sollen, dann wär alles anders gekommen“, pflichtete ihr mein Vater bei.

Beide funkelten mich an.

Ja, gewiss: Ich wäre nicht geboren worden, meine Mutter ebenso wenig. Sie haben Frida die Schande nie verziehen. Woher kam diese Wut? Die Oma liebt man doch!

Das lose Foto lege ich auf den Tisch, blättere im Fotoalbum und sehe mir die anderen Bilder genau an. Drei von Fridas vier Töchtern entdecke ich zwischen den Kindern und Ehemännern. Von Urgroßvater Angelo als jungem Mann gibt es in diesem Album kein Foto, nur Großvaterbilder mit silbrigen Haaren, Stirnfurchen und einem Jungengesicht. Aber er muss früher gut ausgesehen haben mit diesen dunklen, brennenden Augen. Sie sahen, ebenso wie die seiner drei Töchter, aus wie mit Kajal umrandet. Die vierte Tochter finde ich nicht, aber ich gehe davon aus, dass auch sie dieses Erbe teilt. Es macht den Blick sinnlich. Seine Augen wirken auch auf den Großvaterbildern ungewöhnlich. Eins dieser Fotos halte ich mir dicht vors Gesicht und versuche, in seinem Blick etwas über sein Leben zu entdecken. Ich schüttle den Kopf.

Wenn Mord, wer trägt die Schuld daran? Ich lese diesen Satz noch einmal und starre auf den roten Strich darunter. Welch seltsame Formulierung. Hat ihn tatsächlich jemand ermordet?

Der Zettel brennt zwischen den Fingern. Schon lange wollte ich die Geschichte der beiden Liebenden aufzeichnen und bin nie dazu gekommen. Jetzt habe ich Zeit, zwangsweise, dank meines Nervenzusammenbruchs vor Kurzem. Zuvor, nun ja ... Ich weiß es nicht. Mein Sabbatjahr wurde jedenfalls gewünscht, nicht von mir.

Mit den Fotos und Erzählungen der Kinder und Kindeskinder werde ich die Suche beginnen. Ich muss die Verwandten aufsuchen und fragen, auch meine Mutter. Sie sitzt noch immer im Raum nebenan und strickt. Mit ihr könnte ich beginnen. Ich müsste nur die Tür öffnen. Ich will nicht, noch nicht. Es gibt andere Möglichkeiten.

Freiheit ist, die Fesseln selbst zu wählen

Angelo

Ein Jahr, nachdem Thomas Deutschland verlassen hatte, kroch etliche Kilometer südlich der Alpen die Feuchtigkeit noch tiefer ins Gebälk und nagte an den Ziegeln.

„Geh aufs Dach, Angelo! Sieh nach, ob du etwas machen kannst“, bat die Mamma und schleppte sich zu ihm hin.

Das war ein Befehl und duldete keinerlei Widerspruch.

„Womit soll ich denn abdichten? Es hält nicht. Ich bin kein Handwerker“, protestierte er trotzdem, allerdings so leise, dass man ihn nicht hören konnte.

Bloß konnte die Mamma von den Lippen lesen. „Geh! Handwerker kosten Geld, und woher bitte soll ich das nehmen?“

Er verzog den Mund. Warum traf es immer ihn und nie Roberto oder Marcello? Schließlich hatten nicht sie den Babbo gefunden und seitdem Albträume. Beide Brüder waren kräftiger als er und schwindelfrei, jedoch auch übermütiger, besonders Marcello. Fürchtete die Mamma um ihr Leben und um seines nicht? Außerdem, was hieß hier: „Geh!“? Es müsste heißen: „Erklimm, und zwar hoch empor!“

„Ich habe sonst niemanden. Deine Brüder sind nun mal in der Schule. Du sagst doch immer, wenigstens sie müssten regelmäßig hingehen. Ich könnte sie hier viel besser gebrauchen, und für dich wäre dann ebenfalls vieles leichter. Ich jedoch habe auf dich gehört. Wirf mir das jetzt ja nicht vor!“ Die Mamma seufzte.

Das mit der Schule stimmte. Trotzdem. Er hasste es, irgendwo hinaufzuklettern. Er blickte nach oben, sah, wie sich der Himmel über ihm drehte, taumelte und war noch nicht einmal auf die Leiter gestiegen. Irgendwann würde er vom Dach in die Tiefe fallen wie der Babbo. Es war nur eine Frage der Zeit. Dabei träumte er von der Höhe, vom Fliegen, hatte etwas versprochen. Er kniff die Augen zusammen und starrte in die Wolken. Wolkenvögel zogen am Himmel vorbei mit Schwingen, die ihn davontragen könnten.

„Beim nächsten Regenguss wird es innen dennoch nass, egal, was ich tue. Wir sollten umziehen“, sagte Angelo und sah zu Boden.

Dort im Sand zeichneten sich Engelsflügel ab, genau wie damals. Er zitterte.

„Ohne dich kommt es schlimmer!“

Nein, wollte er schreien, krächzte jedoch nur.

„Die Miete hier ist gerade noch bezahlbar. Finde du uns doch etwas Billigeres.“

Die Gleichgültigkeit hatte sich längst in ihre Stimme und den Blick geschlichen und raubte ihren Augen noch den letzten Rest Farbe.

„Es gibt Dörfer mit günstigeren Mietpreisen“, entgegnete er trotzig.

Sie schwieg.

Nie würde sie dem Friedhof und dem Granatapfelbaum den Rücken kehren. Das verstand er nur zu gut.

Schrei mich an, tu es!

Die Stille erdrückte ihn bald.

„Wie lange willst du mich noch warten lassen? Das Dach flickt sich nicht von selbst. Zum Glück regnet es hier nicht allzu oft, und nur wenige kalte Wintertage quälen uns. Schnee kennst du nicht. Sei froh! Denn Geld zum Heizen haben wir ebenfalls nicht, das weißt du so gut wie ich.“ Mammas Blick durchbohrte ihn erbarmungslos.

Er schrak zusammen und erwiderte nichts. Ihrem Willen konnte er sich nicht länger entziehen der letzte frostige Wintertag griff gerade nach ihm. Schritt für Schritt kletterte er die Leiter hinauf aufs Dach und vermied es, hinunterzusehen. Die dünne Sprossenstiege ächzte.

Als er den höchsten Punkt erreicht hatte, läuteten die Kirchenglocken, und der Blick der Mamma verlor sich in der Ferne. Der letzte Glockenschlag erklang lauter als die vorherigen und fuhr ihm in die Glieder. Vor Schreck taumelte er über den Dachfirst, rutschte ab und glitt über die Ziegel. Nun segelte er gleich, ähnlich wie der Babbo, mit ausgebreiteten Armen vom Dach. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Sein letztes? So musste es geschehen sein: Tod durch Glockenschlag!

Er rutschte und rutschte. Die Haut an seinen Beinen brannte, an einigen Stellen löste sie sich ab, das Fleisch darunter brannte noch mehr. Erst spät gewann er das Gleichgewicht zurück. Die Mamma schien nichts gesehen zu haben, dabei sah sie ansonsten sogar voraus, wer im entferntesten Winkel des Dorfes unerwartet zu Tode kommen oder verletzt werden würde. Zitternd stieg er die Leiter hinab.

Sie fasste an sein Knie, als er schwer atmend wieder auf ebener Erde stand, und sagte gelassen: „Mit ein bisschen Jod kommt das wieder in Ordnung.“

Er schrie auf.

„Werde Padre wie deine Brüder. Tretet alle drei ein in den Dienst der Mutter Kirche! Dann seid ihr gut versorgt und müsst nicht frieren.“

Trotzig fixierte er den Boden. Sie fasste ihn am Kinn und hob seinen Kopf, sodass er sie ansehen musste, denn die Augen zu schließen getraute er sich nicht.

„Tag für Tag bete ich für euch. Ich erwarte dafür keinen Dank. Nur vergiss nicht, Schimmel gibt es an den Kirchenwänden keinen und aufs Kirchendach klettern musst du auch nicht.“ Sie verstummte, blickte erst verträumt in Richtung Gotteshaus und schließlich mit verhärteten Gesichtszügen wieder zu ihm hin.

„Nein, nein, nein, niemals“, entgegnete er und schwankte noch leicht, hielt ihrem Blick jedoch stand.

Sie kniff die Lider zusammen, funkelte ihn wie eine Katze durch die Schlitze an und zischte: „Du wirst tun, was ich sage! Du tust immer, was ich sage. Aufs Dach geklettert bist du ja auch, und so schwierig war es doch gar nicht. Heul bloß nicht wegen deiner Knie. Das passiert dir oft genug. Wenn es nicht auf dem Dach geschieht, stellst du dich deswegen nicht so an.“

Er reckte das Kinn vor, trat ihr einen Schritt entgegen, musterte sie und schüttelte den Kopf. „Es reicht!“ Kurz sah er sie zusammenzucken. Das gab ihm Mut. Bevor sie etwas entgegnen konnte, fuhr er fort: „Mich kriegt die Kirche nicht. Mich nicht, auch wenn Roberto und Marcello sich beide weihen lassen. Zwei sind genug, ich bin anders!“ Er atmete kräftig aus und setzte hinzu: „Mir ist es da zwischen den Kirchenbänken und Kerzen zu eng.“

Jetzt war es heraus. Aber nicht nur in der Kirche war es ihm zu eng. Die Mamma würde das schnell begreifen.

„Leider! Du gleichst deinem Babbo und träumst dich ebenfalls noch um dein Leben. Und was soll das heißen, eng? Du hast noch keine Ahnung von den Mühsalen des Lebens! Weißt du, wie ich mich und euch durchbringen musste, und was es mich gekostet hat? Gebettelt habe ich um Geld und um Aufträge als Wäscherin. Die Schönheit meiner Hände habe ich verloren und unzählige Demütigungen ertragen, nur für euch. Er hat dir nur ein nutzloses Heft hinterlassen, sonst nichts, gar nichts. Und wenn du noch so lange hineinstarrst, es bleibt unnütz.“ Sie atmete hörbar aus und flüsterte: „Und mir bleibt nicht einmal das.“

Die Mamma hatte recht. Er schwieg und starrte ins Leere. Die Brüder würden sich nicht wehren. Sie verrieten die Mamma nie. Zudem war gegen eine kirchliche Laufbahn wahrhaftig nichts einzuwenden. Beide konnten gut lesen und schreiben und einiges mehr. Sie könnten es in der Kirchenhierarchie weit bringen. Er sah den besonnenen Roberto bereits als Kardinal. Trotzdem wollte er dieses Los nicht teilen, auf keinen Fall. Nein, nein und nochmals nein. Dabei liebte er den Duft von Weihrauch und die Gemeinde, wenn sie gemeinsam und voller Andacht betete. Dieses Bild der Verschmelzung liebte er, aber nicht Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr um Jahr.

Er trat in die Hütte, nahm eine Mandarine aus der Olivenholzschale und schälte sie. Aus dem Fruchtfleisch quoll Saft und verklebte die Finger. Die Frucht verströmte diesen eindringlichen, süßsauren Duft. Er biss hinein. Saft rann am Kinn hinab, die Kerne spuckte er in den Spülstein.

Die Mamma griff nach einem Lappen und säuberte ihn damit. „O ja, du bist wahrhaftig anders! Nicht einmal essen kannst du ordentlich! Du isst noch wie ein Kind, schaffst es nicht, ohne zu kleckern.“

Schweigend und mit giftigem Blick trat er einige Schritte zurück. Diese Mandarinen waren die saftigsten Früchte der Gegend. Kaum jemandem gelang es, sie zu essen, ohne etwas zu verschmutzen, und jeder wusste das. Die Mamma humpelte auf ihn zu und fasste ihn am Arm.

„Du willst Mutter Kirche also nicht dienen? Das sagst du jetzt im Sommer. Da kannst du leicht reden. Zu dieser Jahreszeit fällt es nicht schwer, die Mütter mit Füßen zu treten. Warte nur, bis du frierst. Auch hier gibt es bisweilen erbarmungslose Winter. Du kannst dich bloß nicht erinnern. Du warst zu klein und hattest eine Mamma, die dich wärmte. Aber mir fehlt inzwischen die Kraft. Wenn dir erst die Fingerspitzen und Zehen abfrieren, denkst du anders, dann bleibt dir keine Wahl. Uns bleibt keine Wahl. Wie soll ich euch weiterhin versorgen? Das Laufen fällt mir von Tag zu Tag schwerer. Und dein Babbo, der Träumer, ist tot. Begreife das endlich, wenn du ihm nicht früh nachfolgen willst! Ich meine es gut. Jemand muss für euch Männer denken. Wir erfrieren und verhungern im Winter ohne Mutter Kirche. Womöglich schon im nächsten! Träume sind teuer, wir können sie uns nicht leisten!“ Sie schniefte, ihre Augen tränten.

Er hielt sich die Ohren zu, konnte jedoch den Blick nicht abwenden, und sah ihr krankes Bein, das mahnend unter dem Rock hervorlugte und an kalten Tagen einem Holzbein ähnelte. Als kleiner Junge war sie seine Heldin gewesen, die Heldin in Babbos Geschichten von Amazonen- und Piratenköniginnen. Von dem Bild der Piratenkönigin war nur das Holzbein geblieben. Eine Behandlung bei einem guten Arzt würde sie sich nie leisten können, nicht einmal bei einem schlechten. Konnte er etwas dafür? Wäre er besser nicht zur Welt gekommen? Warum beschimpfte sie den toten Babbo? Sie hatte ihn doch geliebt! Hatte sie? Er erinnerte sich an den Tränenfluss, mit dem sie das Grab begossen hatte. Derartig viele feuerrote Blüten wie in dem Jahr der Tränen hatte der Granatapfelbaum nie wieder hervorgebracht. Wieso ist die Mamma plötzlich nicht mehr schön? Der Babbo hat ihre Schönheit mit ins Grab genommen, dachte er damals. Danach hatte sie sich in eine harte Frau verwandelt, die kaum noch weinte und nicht davon ablassen konnte, ihm und den Brüdern das Leben schwer zu machen. Ihm besonders.

Angelo zupfte sich am Ohrläppchen. Er wollte fort, schon lange. Nur raus hier, raus aus der Enge! Waren zwei Söhne nicht genug in der winzigen Wohnung? Er lauschte. Die Mamma schwieg. Endlich.

„Ich gehe fort, weit weg, dein Geld brauche ich nicht! Vergiss mich! Ich komme allein zurecht und werde dir nicht länger zur Last fallen“, schrie er lauter als beabsichtigt und trat gegen den Tisch.

„Wie oft nur hast du damit gedroht? Zehnmal, zwanzigmal oder noch öfter? Nach zwei Tagen kommst du wieder angekrochen, wie immer. Du gleichst tatsächlich deinem Babbo. Werde erst einmal erwachsen, Jungchen!“

Er fühlte, dass er rot anlief. Was hieß hier Jungchen? Er arbeitete längst so hart wie ein Mann. Ohne ihn würde die Mamma bald in Schwierigkeiten ertrinken.

„Ich …“, begann er und verstummte.

Hatten Babbos Träume der Familie geschadet?

„Geh doch!“

Die Gleichgültigkeit in ihren Augen und ihrem Tonfall ließ ihn frösteln. Der Tisch wackelte noch, er schlug mit der Faust auf die Platte und durchschlug sie. Erschrocken starrte er auf die verletzte Hand. Blut tropfte aus der Wunde. Die Mamma wischte es ohne einen Laut des Protests weg. Der Boden glänzte danach sauber, die Verletzung beachtete sie nicht, sie war ihr nicht einmal einen Tropfen Jod wert.

Sie schwieg eine Weile und erhob dann die Stimme: „Jetzt reicht es! Geh mir aus den Augen.“ Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab.

„Gut, ich verschwinde. Aber diesmal für immer und ich verlasse das Land.“ Er hob einen Fuß an, stampfte auf und wartete auf die Reaktion.

Doch die Mamma regte sich nicht.

„Ich ziehe nach Deutschland, dort brauchen sie Bahnarbeiter. Das weiß ich von unserem Padre. Die Deutschen sollen gut zahlen.“

„Und wie kommst du dorthin? Die Bahn ist teuer und im Norden des Landes voll mit deinesgleichen. Nicht wenige holen sich das Geld lieber von den eigenen Landsleuten. Hat dir der Padre auch das erzählt?“

Er hatte Mühe, sie zu verstehen, wenn sie ihn nicht ansah.

„Ich gehe zu Fuß!“, brüllte er.

Die Mamma schwieg und drehte sich auch jetzt nicht zu ihm um.

„Falls Roberto Abate oder Bischof wird oder mit Glück Kardinal, bist du ja gut versorgt“, setzte er hinzu und drückte sich an ihr vorbei.

Dabei berührte er ihren Rücken und verharrte einen Moment länger als notwendig. Er spürte ihre Wärme und sog den Duft nach billigem Parfüm ein, das die Ausdunstung der täglichen Mühsal übertünchen sollte. Sie drehte sich nicht zu ihm um, gab ihm keine guten Wünsche mit, keinen Segen, ja nicht einmal einen Fluch oder eine bissige Bemerkung.

Er knallte die Tür zu und ging im Zorn, mit Groll auf die Mamma und ihren letzten Worten in den Ohren. Ihre Verwünschungen pflegten zu wirken. Dem war er wenigstens entgangen – noch. Er dachte an den Nachbarn, der, nachdem sie ihn verflucht hatte, auf völlig trockenem Boden ausgerutscht war und sich das Nasenbein gebrochen hatte. Seitdem trug er eine krumme Nase zur Schau.

Angelos Empörung nagte, sie nagte sich bis ins Blut. Die Wut erfasste zudem den toten Babbo, den Regen, die Kälte, die Kirche, ja alles, sogar die Brüder. Vor allem aber wollte er der Enge entfliehen. Die Mamma musste mit den zwei jüngeren Brüdern auch ohne ihn genug ums Überleben kämpfen. Als er daran dachte, schnürte der Abschiedsschmerz sein Herz zusammen.

Geh mir aus den Augen, geh mir aus den Augen, hallte es in den Ohren nach.

Nicht durch die Tür, sondern wie ein Einbrecher durchs Fenster kehrte er kurz darauf in die Hütte zurück. Er hatte die Mamma zuvor hinausgehen sehen.

Im Handumdrehen packte er seine Sachen zusammen, viel war es nicht. Zuletzt nahm er das legendäre Notizbuch in die Hand und sah hinein in Babbos letztes Geschenk. Ein Blatt hatte sich gelöst und flatterte heraus. Er klappte das Heft auf und klebte es wieder ein. Anschließend starrte er auf die absonderliche Zeichnung von einem Fluggerät aus Holz und Straußenfedern und schüttelte den Kopf.

„Babbo, du warst wahrhaftig ein Träumer“, murmelte er. „Menschen werden niemals fliegen können, sie gehören auf den Erdboden!“

Mamma hatte recht. Sie hatte immer recht, Träume brachten nichts ein, höchstens Unannehmlichkeiten. Er wollte das Heft in den Hausmüll werfen, besann sich jedoch, strich mit den Fingern die Seite glatt, riss sich endlich vom Anblick des Fluggeräts los und steckte das Büchlein zu den anderen Dingen in den Rucksack.

„Das ist alles, was mir von dir geblieben ist“, flüsterte er.

Von wem sollte er sich verabschieden? Es gab niemanden, zumindest nicht hier und jetzt. Ein Andenken an die Brüder konnte er auch nicht mitnehmen. Sie besaßen nichts. Selbst wenn, er würde sie nicht bestehlen.

Die namenlose Hauskatze schlich um seine Beine und schnurrte so laut und eindringlich, als wollte sie ihm ein Geheimnis verraten. Gedankenverloren streichelte er sie und lief anschließend rastlos durch die Wohnung. Jeden Fleck und jeden Riss in der Wand prägte er sich ein und kam an der Haushaltskasse, einer Pappdose, vorbei. Seine verletzte Hand zitterte, die Katze miaute.

Unschlüssig blieb er stehen. Die Finger zitterten noch immer und bluteten noch ein wenig, die Katze miaute lauter. Er vermisste sie schon jetzt. Plötzlich zuckte die Hand und griff wie von selbst in die Dose.

Er spürte eine Erregung wie bei der Selbstbefleckung, als er die Scheine und Münzen berührte, das Blutgeld. Nein, den Segen der Brüder verdiente er nicht, nicht einmal einen Abschiedsgruß.

Du bist ein Stück Dreck, die Priesterrobe nicht wert, hörte er Robertos Stimme.

Falls Berto tatsächlich Bischof oder Höheres werden sollte, würde er ihm dann wohl die Absolution verweigern? Nur gelang die Flucht leider nicht ohne Geld, ohne Geld funktionierte gar nichts. Auch da hatte die Mamma recht, wie immer.

Die Münzen brannten sich in die Handfläche. Erregt und angeekelt steckte er die Hand in die Jackentasche und schüttelte sie aus. Die Scheine raschelten unheilvoll. Der runde Brandfleck auf der Haut blieb. Irgendwann wusch er sich rein und zahlte alles zurück, mit Zins und Zinseszins. Irgendwann.

Er floh aus dem Hüttchen, ohne zu wissen wohin. Nur eins wusste er, er musste mehr Geld beschaffen, er musste! Und irgendwann musste er so viel Geld verdienen, dass er der Mamma und den Brüdern ein gutes Leben bereiten konnte. Die Schuld drückte, lastete wie eine Verwünschung auf Schultern und Rücken, als ob die Mamma ihn doch verflucht hätte. Womöglich tat sie das noch. Gebeugt ging er deshalb nicht. Ihn zwang nichts so schnell in die Knie, selbst wenn er sich Nasen- und Steißbein brechen sollte, und er war zu fast allem bereit. In der Fremde ließ sich mehr verdienen, und er würde das tun, was sich am meisten lohnte, alles, egal was.

Einen kleinen Betrag des Diebesgeldes verwendete er für Bücher. Er wollte Deutsch lernen, gutes Deutsch, wollte Eindruck schinden. Er war kein dummer Junge! Der Babbo hatte keineswegs nur geträumt, sondern mit Leidenschaft an der Volksschule gelehrt und ihm die Liebe zur Muttersprache vermittelt. Die neue Sprache würde er ebenfalls lieben lernen. Leider hatte er die Dorfschule nur selten besucht. Seit Babbos Tod gab es immer etwas zu tun, was wichtiger war als der Unterricht. Die Brüder gingen trotzdem hin, und das war gut so.

Nun studierte er die Bücher jede freie Minute bei Tageslicht und abends bei Kerzenschein in einem ausrangierten Waggon am Ortsrand. Natürlich sprach sich Derartiges immer herum. Diesen bewohnte außer ihm lediglich eine Spinnengroßfamilie. Im Stillen hoffte er, dass die Mamma oder die Brüder bei ihm vorbeischauen würden. Er ließe sich durchaus überreden, sein Vorhaben aufzugeben.

Aber kein Mensch kam. Ab und an besuchten ihn ein paar Spatzen und eine streunende Katze, die ihn an das namenlose Tier der Mamma erinnerte. Sie wuchs ihm ans Herz.

„Auch dich werde ich nie wiedersehen“, murmelte er und streichelte sie.

Er verdiente sich etwas Geld im Nachbarort, sodass es ihm nicht notwendig schien, allzu schnell fortzugehen. Hätte er damals doch nur erfahren, dass sein Bruder Marcello sterbenskrank im Bett lag. Der Mamma fehlte das Geld für Medikamente. Ihn verdächtigte sie nicht, er war ein braver Junge. Sie lieh sich das Geld von der Kirche. Hätte Angelo von diesem Leid erfahren, hätte er augenblicklich auf die Reisepläne verzichtet.

Nach einigen Wochen entdeckte ihn jemand, und zwar ein Nachbar der Mamma. Es war ein bloßer Zufall, dass er vorbeikam, und Angelo lud ihn in den Waggon ein.

Nach diesem Gespräch bedrückte ihn tiefe Schwermut. Er dachte an das, was er nun alles aufgeben musste. Da gab es unter anderem Sofia, die nachts noch immer durch seine Träume huschte. Vermutlich hatte sie längst einen anderen. Davon wollte er nichts wissen.

Ein letztes Mal streichelte er die Katze und füllte das Milchschälchen. Anschließend sah er in den Rasierspiegel und strich mit dem Rasiermesser über den Schnauzbart. Den hatte er sich stehen lassen, weil er älter wirken wollte. Ein Fremder blickte ihm entgegen und lachte ihn aus. Er ließ den Spiegel sinken. Aber wer würde ihn schon als Arbeiter beschäftigen, solange er wie ein Junge aussah? Er nahm den Rasierspiegel wieder auf, sah nochmals hinein und lachte zufrieden.

Danach verließ er den Wagen für immer und näherte sich in kleinen Schritten seiner zukünftigen Frau.

Frida

Vier Jahre später auf der anderen Seite der Alpen schritt meine Urgroßmutter Frida wie jeden Sonntagmorgen neben den Eltern her.

„Eins und zwei und eins und zwei …“, zählte sie monoton vor sich hin. Im Backfischalter musste sie angemessen schreiten, vor allem auf dem Weg zum Gottesdienst. Bloß dann, wenn der gestrenge Vater nicht hinsah, erlaubte sie sich einen kleinen Hopser, und weiß Gott, nur einen unbeträchtlichen.

In der Martinskirche setzte sich die Familie in eine der vorderen Reihen in gleichmäßigem Abstand nebeneinander und lauschte der schnarrenden Stimme des Pfarrers.

Frida unterdrückte ein Gähnen und betete: „Bitte, lieber Gott, mach, dass etwas geschieht! Egal was und möglichst bald bitte, bevor ich hier erstarre.“

Nur ein klein wenig rutschte sie zur Seite, sodass der Abstand zu ihren Sitznachbarn ungleich ausfiel. Demnächst würde sie versteinern, oder sie erstickte, es sei denn, Gott befreite sie endlich aus der Eintönigkeit des Dorflebens.

Indessen leierte der Pfarrer irgendwelche Bibelstellen herunter: „Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still. Denn Adam wurde zuerst gemacht, danach Eva. Und Adam wurde nicht verführt, die Frau aber hat sich zur Übertretung verführen lassen ...“

Bla, bla, bla, dachte Frida. Diese alten Märchen mochte sie nicht, sie verströmten abgestandenen Mief. In der Kirche roch es nach Bewegungslosigkeit und Gefangenschaft, sie unterdrückte den Hustenreiz. Während der Predigt hob sie den Kopf nicht und starrte die Ameisen auf dem Boden an. Zweifellos wirkte sie ergriffen und fromm, dabei wollte sie nur den Pfarrer nicht ansehen müssen, sein glattes Gesicht und diese wintergrauen Augen. Womöglich bildete sie sich die Kälte der Augen nur ein, doch wenn sie ihn ansah, fror sie.

Lautlos zählte sie die Tage bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Ab tausend Tagen wollte sie eine Strichliste führen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war es noch lange hin, über tausend Tage, zusammen über zweitausend, fünfundsiebzig Monate, mehr als dreihundert Wochen. Bis dahin musste sie die Mutter bei den jüngeren Geschwistern noch mindestens hundertmal vertreten. Ihr ältester Bruder Thomas zeigte sich auch diese Woche nicht im Gottesdienst.

Frida spürte Vaters warmen Atem im Nacken, drehte sich zu ihm um und fuhr zusammen. Sein Blick ließ sie frösteln. Weshalb verstand er sich mit dem Lieblingsbruder nicht? Die grauschwarze Wolke wollte sich nicht heben und umhüllte die Beziehung von Vater und Sohn. Thomas betete oft im Gotteshaus außerhalb der Andachten. War er wegen Vater nicht mitgekommen? Sie sackte zusammen und rutschte fast von der Bank.

Die älteste Schwester stieß sie in die Seite. „Setz dich ordentlich hin! Du bist doch wohl kein Blaustrumpf wie diese Elsi und willst gegen jede Regel rebellieren? Deine seltsame Freundin meidet übrigens mal wieder den Gottesdienst. Auch solltest du dir züchtigere Kleider nähen, obwohl Vater dir alles durchgehen lässt. Pass bloß auf, sonst bist du sein Liebling gewesen“, flüsterte sie.

War das Neid? Für einen Blaustrumpf war Elsi eindeutig zu hübsch. Außerdem fand die Schwester die Predigten selbst oft langweilig, und ihre Nähversuche hatten bisher nur zu Putzlumpen geführt. Frida hingegen konnte mit ihren vierzehn Jahren keineswegs nur nähen und schneidern. Doch da ihr die höhere Schulbildung im Gegensatz zur Freundin verwehrt wurde, beschäftigte sie sich am liebsten mit Näharbeiten, leider viel zu selten. Auch konnte sie die selbstgefertigten Kunstwerke nur zu wenigen Gelegenheiten anziehen. So verführerisch wie Elsi war sie auch in dem weinroten Kleid nicht, das sie nun im Gottesdienst trug. Die zu klein geratenen Brüste überspielte die Nähkunst nicht ganz, die Beine waren ein wenig zu kurz geraten, die Taille nicht schlank genug, die Lippen zu blass.

Endlich läuteten die Glocken den Gottesdienst aus. Die Gemeinde strömte zum Ausgang.

„Frevlerin, du stinkst nach Sünde! Du Metze! Du solltest dich schämen, ein solches Kleid zu tragen, und das in so jungen Jahren!“, schrie die alte Berte, als Frida die Kirche gerade verließ.

Die aufgebrachte Frau erstickte fast, rang nach Luft und japste. Die gesamte Dorfgemeinschaft drehte sich im selben Moment zu Frida um und starrte sie und ihr Kleid mit offenen Mündern an. Sie blickte in lauter schwarze Löcher. Jemand kicherte und hielt die Hand vor den Mund.

Die Geschwister blieben stumm bis auf die älteste Schwester, die nuschelte: „Hab ich es dir nicht gesagt?“

Nicht einmal der Vater verteidigte sie. In Tübingen oder vermutlich schon im nächsten Dorf hätte sie kein Aufsehen erregt. Ein wenig hatte sie sich das sogar gewünscht, nur das Ausmaß unterschätzt. Jetzt wanderte die Einsamkeit direkt in ihre Seele und nistete sich ein. Sie würde diesen Tag nie wieder vergessen. Im Augenblick wünschte sie sich, der Boden würde sich auftun, und sie in ein tiefes Loch fallen, das sich über ihr schloss. Denn auch wenn sie niemand sonst beschimpfte und die alte Berte als nicht ganz richtig im Kopf galt, würde jeder, der in Neckartailfingen wohnte, in Kürze von dieser Sache erfahren. Solche Geschichten klopften an jede Haustür. Wie Stechmücken verbreiteten sie sich und drangen bis in die engsten Gässchen.

Frida wünschte sich weit fort und faltete im Stehen die Hände. Die Fingernägel krallte sie dabei so fest in die Handrücken, dass sich kleine rote Halbkreise abzeichneten. Sie betete oft, nur war Gott wohl zu beschäftigt, um sie zu hören.

Mit gesenktem Kopf ließ sie sich im Strom treiben und spazierte stoisch neben den Eltern und Geschwistern her, nun ohne Hopser. Diesmal entdeckte sie keine Ameisen, stattdessen beobachtete sie die Spiegelbilder in den Pfützen.

Zu Hause setzte sie sich sofort an die Nähmaschine. Die Tür flog auf.

„Frida, nähst du mir die Knöpfe an?“ Die älteste Schwester warf eine Bluse auf den Nähtisch und verschwand, ohne die Antwort abzuwarten.

Der Tag verging wie unzählige andere zuvor. Vertraute Laute drangen zu ihr. Die jüngeren Geschwister zankten sich, spielten im nächsten Augenblick wieder miteinander und verrichteten zwischendurch kleinere Hausarbeiten. Müßiggang wurde schließlich nicht geduldet.

Die Tür zu ihrer Kammer flog ein weiteres Mal auf, die jüngste Schwester Johanna sprang herein, umarmte sie und drückte ihr fast die Luft ab. Frida spürte ihren warmen Atem und ihr weiches Haar. Nur widerstrebend löste sie sich aus den Armen des Mädchens.

„Kannst du mir die Schuhe binden?“, bat die Kleine.

Sie lächelte und bückte sich. Die Gänse schnatterten im Hintergrund. Ansonsten war es ruhig auf dem Hof und eintönig wie immer. Sie wartete, bis die Schwester wieder verschwunden war, begutachtete die Näharbeit und ging danach zeitig zu Bett.

Am nächsten Morgen erwachte sie früh. Die ersten Schneeflocken fielen, obwohl es erst Anfang November war. Sie betrachtete die Schneekristalle an der Fensterscheibe und hauchte von innen dagegen. Ihr Atem färbte die Scheibe weiß. Anschließend zog sie sich warm an.

„Bald ist Martinstag, hurra“, krähte der jüngste Bruder.

Ein Festtag für alle außer ihr! Betrübt nahm sie einen mit Blättern gefüllten Jutesack, in dem sie eine Weinflasche und ein Glas versteckte, und trieb die Gänse hinaus. Jede nannte sie dabei beim Namen. Die Tiere tauchten in das kalte Flusswasser ein und schwammen die gewohnten Bahnen. Frida setzte sich am Neckarufer auf den Sack und träumte vor sich hin. Diese Stunden der Muße genoss sie trotz des drohenden Martinstags.

„Du solltest ihnen keine Namen geben. Wie willst du eine Gans verspeisen, die Erika heißt?“

„Gänsefleisch werde ich niemals essen“, antwortete sie, drehte sich um, warf den letzten Rest der Niedergeschlagenheit ab und strahlte.

„Du weißt gar nicht, was dir entgeht.“

„Schade, dass du mein Bruder bist. In dich könnte ich mich verlieben, Thomas.“ Sie umarmte ihn. „Wie hast du mich gefunden?“

Er grinste sie an. Neben seinem kräftigen, dunklen Körper wirkte sie klein und bleich. Obwohl seine Volljährigkeit nahte und er groß vor ihr aufragte, sah er noch aus wie ein Junge, vor allem, wenn er dieses Grinsen aufsetzte. Das geschah allerdings immer seltener und nur noch, wenn sie mit ihm allein war.

„Die Gänse schnattern nicht eben leise“, sagte er, machte sich los und half ihr, die Tiere zu besänftigen. „Du wirst schon einen passenden Mann finden. Außerdem willst du doch eine angesehene Schneiderin werden.“ Freundlich zwinkerte er ihr zu.

Sie wuschelte ihm durch die schwarzen Haare. Er meinte ernst, was er sagte.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie, zog den Rotwein aus dem Sack und schenkte Thomas ein.

Die Flasche stammte aus dem Weinkeller des Vaters, und sie versteckte sie am Flussufer. Sie trank, damit überhaupt etwas geschah, und auch nur kleine Gläser.

Den ersten Schluck hatte ihr Elsi angeboten. Er hatte furchtbar geschmeckt. Elsi liebte Verbotenes. Für Frida war Wein zu trinken fast das einzig Unerlaubte, das sie sich zu tun traute, und es erschien ihr wahrhaftig gewagt. Normalerweise bediente sie sich am Mostfass. Niemand kontrollierte den Stand des selbstgegorenen Apfelmosts. Sie konnte sich so viele Krüge abfüllen, wie sie wollte. Es war vollkommen ungefährlich, für diesen Tag zu harmlos.

Thomas nippte nur und gab ihr das Glas zurück.

„Lass dich bloß nicht erwischen und trink nicht zu viel! Nicht, dass du die Beherrschung verlierst, du zitterst jetzt schon“, sagte er und zwinkerte ihr abermals zu.

Er umarmte sie wieder und verabschiedete sich viel zu früh. Sie blickte ihm nach. Er sollte fortgehen, bevor er vertrocknete. Was bot sich Thomas denn hier im Dorf schon für eine Zukunft? Aber er machte bereits einem Mädchen aus der Nachbarschaft den Hof. Von Verlobung war die Rede. Er sollte es lassen und diesem Ort endlich den Rücken kehren. Sie betete täglich für ihn. Für ihre Gebete brauchte sie keine Kirche.

Kaum war sie wieder zu Hause, wurde ihr inbrünstigstes Gebet erhört. Sie setzte sich in ihrem Zimmer aufs Bett und sah hinaus in die Wolken. Über den Dächern ballten sie sich zusammen, leuchteten rot in der Abendsonne. Sie kündigten ein Gewitter an. Die Stimmung weckte Fridas Neugier. Jetzt musste etwas geschehen! Sie sah es. Gott hatte sie erhört.

Noch immer war es still, sie genoss die Ruhe und beobachtete das Schauspiel der Natur. Die Luft knisterte seltsam, und die schweren Wolken türmten sich einer Festung ähnelnd über ihr auf.

Plötzlich vernahm sie die Stimme des Vaters aus dem Keller: „Thomas, du Faulpelz! Ich werde dich noch lehren zu arbeiten. Wird’s bald!“

Erschrocken sprang sie auf und rannte zur Kellertreppe. In gebührendem Abstand blieb sie auf der untersten Stufe stehen und starrte in das blau angelaufene Gesicht des Vaters.

Warum? Thomas schleppte täglich so viel Holz und Wasser wie die anderen Brüder und Schwestern zusammen. Der Schweiß in den Achselhöhlen bildete stets Ränder auf den Hemden, die sie auswaschen musste. Seine Schultern hingen herunter, und der Rücken krümmte sich bereits jetzt.

Frida hörte den Vater erneut brüllen und fröstelte. Wieder ein blitzartiger Wutausbruch, und wieder entlud er sich ausschließlich über Thomas. Sie schwieg mit einem Kloß im Hals, ebenso der Bruder, dessen Gesicht bleich schimmerte. Der Vater war fort oder hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt. Einen Menschen? Zumindest würde er Thomas nicht mehr schlagen, dafür war der inzwischen zu alt. Oder zu kräftig? Vor Kurzem hatte er sich gewehrt. Nun leuchtete das linke Auge des Vaters blau als böses Omen und klagte den Jungen an.

Es donnerte, und sie schrak zusammen, nicht wegen des Gewitters. Der Bruder warf ihr von Weitem einen flüchtigen Blick zu und blätterte wortlos in seinem Buch.

Mittlerweile hatte sich die restliche Familie auf der Kellertreppe eingefunden. Die Stille kroch schlagartig zwischen sie, legte sich auf die Schultern und drückte sie nach unten. In den Augen der Mutter flackerte es nervös.

Der Vater schrie: „Nichtsnutziger Bursche! Was kannst du überhaupt? Bücher lesen! Schwitzen sollst du, Faulpelz! Buch weg! Benutze die Hände! Arbeite endlich etwas Anständiges!“ Er verengte die Augen zu zwei Schlitzen, Falten formten sich auf der Stirn. Sein Blick durchbohrte den Jungen und hinterließ Löcher in dessen Leib.

Frida sah Thomas zusammenzucken. Dann erhob er sich jedoch, näherte sich dem Vater mit schweren Schritten und packte ihn an den Schultern. Er schüttelte ihn, schob ihn aus dem Raum und schlug ihm die Kellertür vor der Nase zu.

Die Geschwister flohen mit der Mutter nach oben und löschten das Licht, Frida folgte ihnen. Ihr letzter Rest Speichel schmeckte nach Bittermandeln.

Der Vater versetzte der Tür einen Tritt, bollerte mit den Fäusten dagegen und schrie. Frida verstand die Worte nicht, die Wut ebenso wenig. Sie zitterte am ganzen Körper. Schritt für Schritt stieg sie die Treppe wieder hinunter, näherte sich dem Vater und lauschte. Der Bruder antwortete nicht, zumindest hörte sie nichts.

Zögernd schlich sie die Treppe weiter hinab und drehte sich etliche Male um, obwohl sie im Halbdunkel kaum etwas sehen konnte.

Wieder brüllte der Vater: „Drecksbücher! Vergiss den Buchladen! Kapiert? Morgen hilfst du mir! Verstanden?!“ Er senkte die Stimme und betonte Wort für Wort: „Das gehört zu deinen Pflichten, Junge. Du sollst Vater und Mutter ehren! Das gilt immer! Auch für dich! Den Worten des Pfarrers magst du entgehen, da du zur eigenen Schande den Gottesdienst meidest. Doch nützt dir das nichts, der Herrgott sieht es. Was für Blicke mir der Pfarrer deinetwegen zuwirft! Beschämend! Aber mir wirst du Respekt entgegenbringen. Den bringe ich dir bei! Hörst du? Unterschätze meine Möglichkeiten nicht!“

Sie spitzte die Ohren, vernahm jedoch noch immer keinen Laut vom Bruder. Der Vater entfernte sich von der Tür. Sie atmete auf, schlich die Treppe wieder hinauf und drückte sich im Schutz der Dunkelheit in eine Nische. Der Vater lief an ihr vorbei, ohne auf sie zu reagieren. Sie hörte Atemzüge und lauschte dem Klang der Schritte.

Erst, als er außer Hörweite war, verließ sie das Versteck und begegnete der Mutter, deren Gesicht sich kaum von der weißen Wand abhob. Frida wollte etwas Tröstendes sagen, brachte jedoch kein Wort heraus, der Hals war zu trocken. Auch das Bittere schmeckte sie nicht mehr, nein, gar nichts. Den Bruder sah sie an diesem Abend nicht mehr.

Mit Magenschmerzen ging sie zu Bett. Irgendetwas nagte an ihr. Bald ereignete sich etwas, das ihre bisherige Welt verändern könnte! Sie spürte es. Aber es würde nicht das sein, worum sie in jedem Gottesdienst und unter freiem Himmel gebetet hatte. Sie faltete die Hände, nur fiel ihr kein Gebet ein.

Regentropfen prasselten gegen die milchige Fensterscheibe und rannen am Glas hinab. Sie sah durch die Wasserspuren hinaus in rote Wolkentürme. Sie bluteten, natürlich. So mussten sie aussehen, das passte. Es donnerte nicht mehr. Gott erschien ihr im Himmel weit entfernt, zu weit weg. Niemand hatte so große Ohren, um so weit zu hören. Sie bettete den Kopf auf ihr Daunenkissen und wälzte sich hin und her. Schließlich schlief sie ein, fand jedoch auch im Schlaf keine Ruhe. Albträume peinigten sie die ganze Nacht. Sie hörte es wispern:

„Du wirst es erleben: Irgendwann erschlägt einer von beiden den anderen.“

Am nächsten Morgen weckte sie die Stimme des Vaters Stunden vor Sonnenaufgang. Diesen Klang hatte sie noch nie vernommen, er ähnelte dem Knurren eines wilden Tieres. Schweißnass richtete sie sich auf und lauschte. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, als sie ihn Thomas‘ Namen rufen hörte. Die Stimme hallte durch die Flure. Es folgte keine Antwort. Erst drangen leise Schritte zu ihr, danach knallte die Tür von Thomas‘ Zimmer ins Schloss.

Sie stand auf und trat auf den Flur. Die Mutter kam hinzu, ging zu Thomas ins Zimmer, ließ die Tür einen Spalt offen stehen und redete auf den Vater ein. Er erwiderte nur ein Wort: „Verschwinde!“ Unverzüglich verstummte sie und eilte aus dem Zimmer an ihr vorbei. Er nahm den Bruder mit zur Arbeit. Thomas wehrte sich nicht. Frida hörte auch jetzt keine Silbe von ihm. Das Schweigen bedrückte sie umso mehr.

Ihre Magenschmerzen verschlimmerten sich. Sie würgte über dem Spülbecken. Vergeblich. Dennoch hätte sie den Vater gern begleitet. Er besserte Fassaden aus, und das mit Hingabe als Bester seiner Zunft. Seine Arbeit liebte er, gewiss mehr als den Sohn. Was hatte ihm Thomas angetan? Aber bald würde der Vater für seinen Beruf zu alt werden, er war mehr als zwei Jahrzehnte älter als die Mutter. Wegen Thomas stritten sich die Eltern oft lautstark oder hatten es früher zumindest getan.

Damals hatte der Vater länger mit dem Stock auf den Jungen eingeprügelt, wenn er sich vordem allzu laut mit der Mutter gestritten hatte. Mit den Jahren war sie deshalb immer leiser geworden. Nur diesmal …

Bereitwillig hatte Thomas einen Großteil des im Buchladen verdienten Geldes zu Hause abgegeben, um bloß nicht an den Fassaden hinaufklettern zu müssen und jeder, wahrhaftig jeder kannte den Grund: Thomas schauderte vor der Höhe. Die Mutter wusste das, der Vater ebenfalls. Er wusste es ganz genau und fürchtete sich gleichermaßen vor den schiefen Mauern des Martinsturms.

Frida atmete tief ein. Thomas verdiente im Laden nicht schlecht. Der Vater hatte sich nie bedankt, lediglich gemurmelt: „Manche Menschen haben wohl zu viel Geld, wenn sie ein bisschen Bücherordnen so gut vergüten können.“

Sie fröstelte, als sie das Haus im Morgengrauen verließ, um die Gänse zu hüten. Das Zittern ließ nicht nach. Schreckensbilder verwischten ihre Sicht und nicht der Morgennebel. Ein Arbeiter war die Woche zuvor vom Turm hinab in den Tod gestürzt. Das stand groß in den Lokalnachrichten. Der Vater hatte sie auch gelesen und den Artikel zur Seite gelegt. Reglos lag der Mann auf dem Foto auf dem Boden. Sie sah das Bild vor sich. Den Bruder sah sie ebenfalls fallen. Erschrocken wischte sie den Tagtraum fort.

Als sie den Holzverschlag öffnete, watschelten ihr die Gänse sogleich entgegen. Sie trieb sie vor sich her. Am Flussufer angelangt, hockte sie sich ins Gras, während die Gänse in den Fluss purzelten.