Die Autorin

Josephine Pennicott – Foto © privat

Josephine Pennicott kam in Tasmanien zur Welt und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Papua-Neuguinea. Wenn sie nicht schreibt, verbringt sie ihre Zeit mit ihrer Tochter Daisy und ihrem Partner David Levell, der ebenfalls Autor ist. Sie leben mitten in Sydney in einem winzigen Backsteinhaus, das sehr alt ist und voller Bücher.

Das Buch

Eine unheilvolle Lüge. Eine große Liebe. Ein ungeklärter Todesfall.

Australien 1945: Als die junge Ginger beginnt, für den Maler Rupert Partridge als Aktmodell zu arbeiten, ändert sich ihr Leben schlagartig. Im Herrenhaus des Künstlers wird sie zu seiner großen Inspiration. Doch dann wird Ruperts Tochter tot in den Wäldern gefunden. Alle verurteilen den Maler als Mörder. Gingers Leben als bewunderte Muse ist schlagartig vorbei.
Jahrzehnte später will Ruperts Enkelin Elizabeth herausfinden, was damals wirklich geschah. Sie reist zu dem vernachlässigten Haus ihres Großvaters, um mehr über die faszinierende alte Frau zu erfahren. Doch Ginger ist abweisend. Fragen zur Familiengeschichte weicht sie aus. Elizabeth ist entschlossen, Gingers Vertrauen zu gewinnen. Als sie erkennt, was sie beide verbindet, ist es fast schon zu spät.

Josephine Pennicott

Sturmtöchter

Roman

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Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Februar 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, 2019
© 2014 by Josephine Pennicott
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Published in 2014 by Pan Macmillan Australia, Sydney
Published by arrangement with Joesphine Pennicott
Titel der Originalausgabe: Currawong Manor
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Autorenfoto: © privat
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-96048-224-6

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Widmung

»Wissen Sie überhaupt, wovon Sie da reden? Der Krieg passiert nicht irgendwo dort drüben in Europa. Er ist hier, hier in diesem Zimmer. Überall um uns herum ist Blut, Blut auf allen Dingen. Können Sie
es nicht riechen?«
Norman Lindsay

»Der Tod macht uns traurig, aber er kann auch dazu führen, dass wir uns lebendiger fühlen … Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zu kommen. Der Geruch machte mir nichts aus. Und Sie sollten mal die Farben sehen – die sind wirklich wunderschön. Wie Wallace Stevens sagt: Der Tod ist die Mutter der Schönheit.«
Sally Mann,
Fotografin, aus einem Interview in The Guardian

»Der Tod ist die Mutter der Schönheit. Nur das Vergängliche kann schön sein, weshalb uns künstliche Blumen völlig kaltlassen.«
Wallace Stevens

Prolog

Geheimnisse

Mount Bellwood, Blue Mountains, November 1945


Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.

Im wilden Märchengarten von Currawong Manor hüllte sich traumgleich eine Statue der nackten Göttin Diana in den Bergnebel. Ihr steinerner Körper war mit Rosen bedeckt: cremegelbe, rosafarbene, purpurne und scharlachrote Blütenblätter – sie alle verwelkten zu einem einheitlichen Schlammbraun. Diana hielt Pfeil und Bogen gen Himmel gerichtet und bewachte stolz ihr üppig verziertes Reich, während der gleichgültige Blick ihrer leeren Augenhöhlen die Sterne herauszufordern schien. Die in den Sockel eingemeißelten Tiere schienen dem Heulen eines herrenlosen Hundes im Wald zu lauschen. Es war Neumond, die dunkle Phase des Mondes. Die Schatten wurden länger, als der Abend sich an das Anwesen heranschlich. Eine gefährliche Zeit, um draußen unterwegs zu sein, würden die Alten im nahe gelegenen Dorf Mount Bellwood vielleicht sagen. Ein Schwarm bunter Sittiche sauste wie ein Wirbelwind aus grünen, blauen und dunkelroten Tupfen über den Garten hinweg.

Currawong-Würgerkrähen mit schwarzen Schwingen, Krallenfüßen und scharfen, gebogenen Schnäbeln ließen sich mit feierlichem Schweigen auf den Türmen des Herrenhauses nieder. Die Vögel nisteten dort, seit das Haus im Jahr 1855 erbaut worden war. Im Laufe der Jahre hatten die Einwohner von Mount Bellwood die Tatsache, dass die Vögel dort ihre Nester bauten, mit immer phantastischeren Interpretationen ausgeschmückt. Eine große Anzahl von Krähen prophezeite demnach einen gefürchteten Besucher: Der Tod war auf dem Weg nach Currawong Manor, das auch gerne »die Ruinen« genannt wurde.

Der gellende Schrei einer Frau schallte über das Anwesen. Ein schauriger Laut, der sich mehrmals wiederholte. Dann durchschnitten unverständliche Rufe die Luft. Eine Tür wurde aufgerissen, und die schreiende Frau kam herausgerannt. Sie trug ein rotes Seidenkleid mit passender Stola. Immer noch kreischend floh sie in die Owlbone Woods. Und oben auf den Türmen hockten immer noch die Vögel in ihrem unheimlichen vereinten Schweigen.

Die folgende Geschichte würde Lokführer Henry Kelly im Laufe seines Lebens viele Male all jenen erzählen, die sie hören wollten: Es war der Abendzug von Sydney nach Lithgow. Kelly hatte gerade in Blackheath einen Zwischenhalt eingelegt und war nun auf dem Weg nach Mt Bellwood. Als er an den dunklen Waldschatten der Owlbone Woods entlangfuhr, tauchte urplötzlich eine Frau aus dem Nebel auf und lief direkt vor ihm auf die Gleise. In diesen wenigen endlosen Sekunden nahm er ihr weißes Gesicht wahr, den aufgerissenen Mund, schreiend – ein Alptraumgesicht, umweht von einem roten Tuch. Ihre überraschte Miene, als seine Lok über sie hinwegpflügte, verfolgte ihn seither Tag und Nacht. Die arme Frau streckte noch die Arme aus, als könnte sie, durch irgendein göttliches Wunder, den Zug aufhalten. Henry zitterte, wann immer er die Geschichte erzählte – sogar noch als alter Mann mit über neunzig. Doris Partridge zu überfahren hatte sich wie ein Fluch über sein Leben gelegt. Er fing an zu trinken, um jenen Abend zu vergessen, und trotzdem wachte er nach wie vor mit der Erinnerung daran schweißgebadet und schreiend vor Angst auf. Und an alledem war nur dieser Drecksack Rupert Partridge schuld! Ein Teufel von einem Mann, der sein eigenes Fleisch und Blut getötet und damit so viele Leben zerstört hatte. Sein Spitzname war »Der Teufel der australischen Kunst« – was für eine treffende Bezeichnung! Gott sei Dank hatten sie diesen Lumpen aufgehängt. Sollte er doch in der Hölle schmoren!

Es war eine seltsame und bedauernswerte Angelegenheit, da waren sich alle einig. Weshalb jedoch Rupert überhaupt so verrückt wurde, seiner bildschönen kleinen Shalimar etwas Derartiges anzutun, hatte niemand verstehen können. Nie hatte es in den Bergen ein schöneres Kind gegeben – auch da waren sich alle einig. Doch auf Rupert Partridges Anwesen Currawong Manor war es immer schon ein wenig seltsam zugegangen, und wer vernünftig war, hielt sich vom Haus und von den Owlbone Woods fern. Auch Henry Kelly versuchte, die Leute mit seinen betrunkenen Schimpftiraden davor zu warnen, doch die meisten wurden nicht schlau aus dem, was der verrückte alte Mann da faselte. Schließlich brachten ihn seine Kinder nach Katoomba ins Altenheim, wo ihn seine Alpträume weiter plagten, auch wenn die Medikamente sie ein wenig linderten.

Wahrheit, Legenden, zerbrochene Träume und Lügen – sie waren so untrennbar und unbegreiflich miteinander verwoben wie Nebelschwaden in den Bergen, wie Geschichte, Mythologie oder Traum. Die verbotenen Orte schwiegen, und doch verharrten sie abwartend in ihrem Schmerz, hielten sich fest an den Mysterien von Mond und Erde. Bei manchen Geheimnissen tut man besser daran, sie ungestört schlummern zu lassen. Die Tiere des Busches verstanden diese uralte Wahrheit.

Die Nacht war weich und weise. Begleitet vom Abenddunst folgte sie der Dämmerung, wand sich um Diana und ihr regloses steinernes Gesicht, umarmte knochenweiße Eukalyptusbäume. Wie Geisterhüter bewachten die Bäume auf ewig das Land, seine Geschichten und seine Träume, mit ihren mageren Stämmen und ihrer struppigen Rinde, die sich wie Menschenhaut in Schichten löste und ihren reinen, jungfräulichen, im Verborgenen leuchtenden Kern offenbarte.

Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.

1. Kapitel

Beerdigung einer Blume

Mt Bellwood, Blue Mountains, Mai 2000


Elizabeth beobachtete die Gruppe von Leuten, die sich vor St Rita’s Catholic Church, der kleinen Steinkirche von Mt Bellwood, im Schneeregen versammelt hatten. Am liebsten würde sie im gemütlichen silbernen Volvo ihrer Freundin Fleur sitzen bleiben, dachte sie bei sich. Es war geplant, dass Fleur sie im Anschluss an die Beerdigung weiter nach Currawong Manor fahren würde, wo Elizabeth die nächste Zeit über wohnen wollte, während sie an einem Fotoprojekt arbeitete. Auf Currawong hatte nämlich Mitte der vierziger Jahre ihr Großvater, der Künstler Rupert Partridge, zusammen mit seiner Familie und seinen drei berühmten Aktmodellen, den sogenannten »Flowers«, gelebt.

»Was für eine hübsche kleine Kirche«, meinte Fleur. »Hast du denn zwischen all den Regenschirmen schon jemanden entdeckt, den du kennst?«

Als Elizabeth den Blick über die mehrheitlich schwarz gekleideten Personen schweifen ließ, war sie erneut dankbar dafür, dass Fleur trotz ihres vollen Terminkalenders angeboten hatte, sie zur Beerdigung einer Frau zu begleiten, die keine von ihnen beiden persönlich gekannt hatte. Kitty Collins war eine der »Blumen« des skandalösen Aktmodelltrios gewesen, und heute fand Kittys Feuerbestattung statt.

Ginger Lawson, ebenfalls ein ehemaliges Flower-Mädchen, sowie Holly Shaw, die jetzige Besitzerin von Currawong Manor, waren es gewesen, die Elizabeth dazu ermuntert hatten, sich als Fotografin für das Buchprojekt Flowers of the Ruins: Die Aktmodelle von Currawong Manor zu bewerben. Es handelte sich dabei um einen aufwendigen Bildband, der im Verlag Dean & Wills erscheinen und Fotos, Tagebuchauszüge, Briefe und Artikel über die drei jungen Frauen enthalten sollte, die dem Künstler Modell gestanden hatten, bevor 1945 der Mord an dessen Tochter Shalimar geschah. Zwei andere Journalisten hatten sich dieses Themas zwar in der Vergangenheit bereits angenommen, aber ihre Bücher waren inzwischen vergriffen. Seit dem Kinofilm Verführung der Sirenen – eine Komödie über den australischen Maler Norman Lindsay und seine Aktmodelle – war das Interesse an der Thematik wiedererwacht. Wie hatte Holly Shaw es scherzhaft formuliert? »Ohne Elle Macphersons Brüste würde sich ja kein Schwein für Norman interessieren. Wir hingegen haben einen echten Mord, eine Hinrichtung und Brüste zu bieten!«

Es kam Elizabeth so vor, als wäre Hollys Angebot, einige Zeit auf dem ehemaligen Anwesen ihres Großvaters zu verbringen, das einzig Gute, was ihr in den vergangenen paar Jahren widerfahren war. Obwohl ihre Arbeiten in der ständigen Sammlung des Museum of Contemporary Art und der Art Gallery of New South Wales in Sydney vertreten waren und die einflussreiche amerikanische Kunstzeitschrift Visions sie als »eine australische Künstlerin, die es im Auge zu behalten gilt« bezeichnet hatte, war sie jüngst von einem führenden Kunstkritiker sowie von Kirchen- und Gemeindeverbänden mächtig an den Pranger gestellt worden. Von Kinderpornographie über Sensationsgier bis hin zu Mediengeilheit hatte man ihr so ziemlich alles vorgeworfen.

Elizabeths geheimnisvolle, traumbildhafte Fotografien, die sie mit ihrer »Linda« aufnahm, einer antiken Kamera ihres Großvaters, hatten inzwischen aber auch eine ganze Menge Anhänger gefunden. Elizabeth verwendete für ihre Fotos bevorzugt Glasplatten statt Filme, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich gewesen war. Es handelte sich um einen mühsamen Prozess, der sich aber der weichen, zeitlosen Aufnahmen wegen lohnte, die sich von den heutigen, meist scharf fokussierten Bildern der Fotoszene deutlich abhoben. Liebhaber ihrer Werke lobten ihr poetisches, elegantes, melancholisches Portfolio aus Landschaften und Porträts in der Kollodium-Nassplattentechnik, die 1851 von Frederick Scott Archer in England entwickelt worden war.

Die schlechte Presse in jüngster Vergangenheit schien dies alles jedoch zu überschatten, vor allem seit ihrer letzten Ausstellung, bei der sie nicht nur Aktfotografien kleiner Kinder und alter Menschen, sondern auch Bilder von Toten im Leichenschauhaus gezeigt hatte.

»Liz, alles klar bei dir?« Fleurs Stimme holte Elizabeth in die Gegenwart zurück, wo der Graupelschauer unvermindert aufs Autodach prasselte. »Du grämst dich doch hoffentlich nicht immer noch, weil dich dieser bescheuerte Kritikerheini und die Kirchenfuzzis als sensationsgeile Kinderpornographin bezeichnet haben?«

Trotz ihrer melancholischen Stimmung musste Elizabeth lachen. »O Gott, so formuliert klingt das echt furchtbar!«

»Ich hoffe sehr, du hast dich aus den richtigen Gründen entschieden, Hollys Angebot anzunehmen«, sagte Fleur geradeheraus, »und willst nicht einfach nur flüchten und dich hier oben verkriechen, weil Lois die ganze Publicity um deine Ausstellung herum so peinlich ist?«

»Du weißt doch, wie sehr meine Mutter alles Makabre und Kontroverse hasst. Sie sieht darin eine Art Verbindung zu Ruperts Werken. Und von allem, was mit den Ereignissen von damals auf Currawong Manor zu tun hat, will sie erst recht absolut nichts wissen. Rupert Partridge ist definitiv eine Leiche in unserem fest versiegelten Familienkeller, die einen ja nie interessieren darf. Für meine Mutter ist ihr Vater ein Perverser und ein Mörder, und die Tatsache, dass er 1950 am Galgen starb, wird von ihr eisern totgeschwiegen. Deshalb hasst sie ja auch die meisten meiner Arbeiten.« Elizabeth spürte, wie die vertraute Bitterkeit sie zittern ließ.

»Liz, ich weiß, dass Lois unheimlich stolz auf dich ist und auf alles, was du erreicht hast«, sagte Fleur leise. »Sie hat mir gegenüber im Lauf der Jahre so oft erwähnt, was für eine begabte Tochter sie hat. Wegen ihrer eigenen traumatischen Kindheit fällt es ihr nur einfach schwer, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen – die vielen Heime und Pflegefamilien, die sie durchlaufen musste.« Sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr. »Vermutlich kenne ich die Antwort bereits, aber hat sie denn vor, heute hier zu erscheinen?«

»Natürlich wird Mum nicht kommen. Ja, sie hatte eine schreckliche Kindheit, aber gibt ihr das automatisch das Recht, eine furchtbare Mutter zu sein? Und warum zeigt sie dann nicht mehr Interesse an meiner Arbeit?«, gab Elizabeth zurück. »Aber jetzt hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, weshalb ich dieses Angebot mit Currawong Manor angenommen habe. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich fährst. Und woher willst du eigentlich wissen, dass ich nicht bloß deshalb zugesagt habe, weil sie Nick Cash als Autor gewinnen konnten?«

»Begeistert bin ich ja nicht gerade, dich da oben in den Bergen mit diesem Nick Cash allein zu lassen«, erwiderte Fleur. »Er soll schon ein ziemlicher Frauenheld sein.«

»Du bist ja genauso schlimm wie Lois.« Elizabeth zog eine Grimasse. »Ich werde mich in seiner Gegenwart gerade noch beherrschen können. Übrigens hab ich ihn mal bei einer Filmpremiere fotografiert, als er noch mit diesem Seifenopern-Starlet Elsa Varino verheiratet war. Ich finde ihn jedenfalls ziemlich sexy, aber ich hatte ja schon immer ein Faible für Männer in Leder.«

Elizabeth war tatsächlich hocherfreut gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass Nick Cash mit ihr an Flowers of the Ruins arbeiten würde. Inzwischen schrieb er hauptberuflich Bücher über wahre Kriminalfälle, aber in den Siebzigern hatte er in einer ihrer Lieblingsbands gespielt.

Durch die nasse Windschutzscheibe betrachtet waren die Trauergäste nur verschwommene schwarze Schemen im grauen Zwielicht des Winternachmittags, die ihre Schirme ausschüttelten, bevor sie die Kirche betraten. »Bist du immer noch traurig, dass du Kitty nicht mehr kennengelernt hast?«

Elizabeth schüttelte den Kopf, da sie Fleur nicht noch mit weiteren emotionalen Dramen belasten wollte.

»Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen«, verkündete Fleur in ihrer pragmatischen Art. »Woher hättest du denn wissen sollen, dass die arme Frau bald stirbt. Du hattest so viel um die Ohren mit der Ausstellung und diesem verdammten Verriss von Jeremy Morrison.«

Seit Holly ihr telefonisch die Nachricht von Kittys Tod überbracht hatte, bereute Elizabeth, dass sie Kitty nicht aufgesucht hatte, als sie noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch die bösartigen Reaktionen auf ihre Ausstellung hatten sie dermaßen belastet, dass sie kaum in der Lage gewesen war, zu essen oder zu schlafen. Als Kitty während dieser Zeit unerwartet Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, weil sie »mit Ruperts Enkeltochter etwas von großer Wichtigkeit besprechen wollte«, hatte sie die alte Dame vertröstet. Nun wetteiferte das Bedauern darüber mit ihrem sonstigen Stress, wenn es darum ging, Elizabeth den Schlaf zu rauben. Mit Kittys Tod war eine weitere Verbindung zur Vergangenheit und zu ihrem Großvater unwiderruflich zerrissen, und so freute sie sich umso mehr darauf, Ginger Lawson, die ehemals Dritte im Bunde, endlich kennenzulernen und mit ihr an diesem Buch zu arbeiten.

»Lass gut sein, Liz«, beharrte Fleur. »Kitty hätte dir vermutlich sowieso nichts Wesentliches zu erzählen gehabt. Und da du es jetzt nie erfahren wirst, vergisst du es am besten einfach.«

»Trotzdem ist es irgendwie erschütternd, wenn man sich überlegt, dass die bezaubernde Blondine von damals, die Rupert wie besessen gemalt und fotografiert hat, am Ende in einem Backpacker Hostel gestorben ist.«

»Keiner von uns kommt lebend hier raus«, scherzte Fleur. »Und Kitty hatte immerhin ein langes, erfülltes Leben, im Gegensatz zu Shalimar Partridge …«

Elizabeth war immer wieder überrascht, wie viele Menschen sich an den Fall Partridge erinnerten. Er schien ins Gedächtnis der Australier ebenso tief eingebrannt zu sein wie das Verschwinden der Beaumont-Kinder oder der Mord an Graeme Thorne. Selbst Menschen mit wenig Interesse an Kunst erinnerten sich dunkel an den Namen Rupert Partridge. Dabei warfen sie Rupert oft mit seinem Zeitgenossen Norman Lindsay in einen Topf, der ebenfalls in den Blue Mountains gelebt und gearbeitet hatte. Sie sagten Dinge wie: »War das nicht der Teufelsanbeter, der seine Tochter umgebracht hat?«

»Hat der nicht immer Orgien mit Aktmodellen gefeiert?«

»War das nicht der aus Verführung der Sirenen mit Elle Macpherson?« Trotzdem waren den Leuten einige von Ruperts eher kontroversen Werken zumindest vage bekannt. Dazu gehörten zum Beispiel Trollop, Pigs of War oder Bones of the Flower Men.

Durch den Regen hindurch erspähte Elizabeth die große, blonde, elegante Holly Shaw mit ihrem Ehemann Bob, der neben ihr her trottete. »Da sind die Shaws. Lass uns schnell rüberlaufen.«

Holly, die Elizabeths Interesse an der australischen Kunst der vierziger Jahre teilte, war zwar in den Blue Mountains geboren worden, aber als Kind mit ihren Eltern nach England ausgewandert. Später hatte sie viele Jahre lang eine kleine Galerie in London betrieben. Nachdem ihr Sohn flügge geworden war, war sie mit ihrem Mann nach »Down Under« zurückgekehrt und hatte über einen Bekannten erfahren, dass Currawong Manor zum Verkauf stand.

Seither versuchte Holly, ihre Investition zu Geld zu machen, indem sie für Ruperts Kunst warb. Inspiriert durch die erfolgreiche Vermarktung von Norman Lindsays ehemaligem Wohnsitz weiter unten in den Bergen, wollte sie das Anwesen nun nach einem ähnlichen Prinzip präsentieren. Sie hatte kleine Hütten im Stil des Haupthauses errichten lassen, die sie »Nester« nannte und in denen sie Residenzen für Künstler, Schriftsteller und Kunsthandwerker anbot.

Als Holly sich bei Elizabeth gemeldet und sie eingeladen hatte, eine Weile in einem solchen Nest zu wohnen, hatte diese nicht widerstehen können, obwohl sie wusste, wie wütend ihre Mutter darüber sein würde, dass sie »in der schmutzigen Vergangenheit herumwühlte«.

Nur wenige Wochen später hatte Holly ihr berichtet, dass Ginger Lawson Elizabeth außerdem als offizielle Fotografin für das geplante Buch engagieren wollte. Holly selbst war von der Idee, Rupert Partridges Enkelin die Fotoaufnahmen dafür machen zu lassen, sofort hellauf begeistert gewesen, als Ginger ihr diesen Vorschlag unterbreitete. Wenigstens das war ein wenig Balsam für Elizabeths angeschlagenes Ego.

Elizabeth hatte die Shaws in der Art Gallery of New South Wales in Sydney getroffen und mit wachsender Begeisterung Hollys Vision von Currawong Manor gelauscht. Ganz offensichtlich teilten sie den Wunsch, den Ruf ihres Großvaters wiederherzustellen und Rupert Partridge zwischen den anerkannteren Künstlergrößen wie Arthur Boyd, Sidney Nolan und Albert Tucker eingereiht zu sehen. Ihre Mutter würde zweifellos die Nase rümpfen, dass eine Engländerin Ruperts Kunst so sehr schätzte, aber Elizabeth war gerührt von Hollys Leidenschaft für ihren Großvater und alles, was mit ihm zu tun hatte.

Hier vor der Kirche wirkte Holly immer noch genauso sympathisch wie bei ihrem ersten Treffen – und ebenso schick in ihren schwarzen High Heels, einem schwarzen Trenchcoat und einem langen gelb-schwarzen Schal. Elizabeth, die normalerweise immer eine gewisse Distanz zwischen sich und ihren Mitmenschen verspürte (Berufskrankheit aller Fotografen, pflegte sie zu scherzen), fühlte sich zu der quirligen Frau sofort hingezogen.

»Da sind Sie ja! Willkommen in unserem wunderbaren Mount-Bellwood-Wetter.« Holly umarmte und küsste Elizabeth und Fleur auf eine ganz und gar unenglische Weise. »So was von kalt und ungemütlich. Gerade hab ich noch zu Bob gesagt, wie gut, dass wir unsere Thermowäsche aus England mitgebracht haben. Sie müssen Fleur sein, wie schön, Sie kennenzulernen. Bob, glotz die hinreißende Fleur nicht so an, sondern mach den Mund zu und gib ihr die Hand. Und jetzt, Mädels, lasst uns schnell in die Kirche gehen, denn Ginger ist bereits da!«

Bob, der ungefähr so wortkarg war wie seine Frau extrovertiert, gab einen undefinierbaren Grunzlaut von sich und wurde von seiner Gattin auf der Suche nach Ginger in die Kirche gezerrt.

Obwohl Elizabeth durch ihre Arbeit schon einigen berühmten Persönlichkeiten begegnet war und sich nur noch selten von ihnen eingeschüchtert fühlte, war sie beim Gedanken daran, Ginger Lawson endlich kennenzulernen, etwas nervös. Während die meisten Kunstsammler entweder Kitty wegen ihrer engelsgleichen Erscheinung oder Wanda wegen ihrer Sinnlichkeit und den gewagten Aktdarstellungen bevorzugten, hatte sich Elizabeth immer am meisten zu den Bildern hingezogen gefühlt, die Ginger zeigten.

Sie hatte Gingers Karriere über die Jahrzehnte hinweg nachverfolgt und wusste deshalb, dass Ginger in den frühen australischen TV‑Seifenopern mitgespielt hatte, bevor sie nach Amerika übergesiedelt war. Mit der Chance, eine der Musen ihres Großvaters sogar vor Ort, auf Currawong Manor, zu fotografieren, ging für Elizabeth ein Traum in Erfüllung. Da Kitty nun so tragisch verstorben war und Wanda in einem Pflegeheim in Sydney lebte, blieb nur Ginger als Modell.

Im vorderen Teil der Kirche drängten sich mehrere Leute um eine Frau, bei der es sich vermutlich um Ginger handelte. Elizabeth betrachtete sie neugierig: Ihre großen, mandelförmigen grünen Augen waren dick von schwarzem Kajal und falschen Wimpern umrahmt, der Teint perfekt geschminkt, die Lippen dunkelrot. An Gingers Ohren baumelten bunte Ohrringe aus Glas und Perlen, und ihre schwarze Designerjacke zierte neben einem farbenfrohen Schal eine übergroße Brosche. Darunter trug sie ein tief ausgeschnittenes Oberteil, das ihren üppigen Busen betonte und ein Stückchen BH mit Leopardenmuster hervorblitzen ließ. Silberne Armreifen und Kettchen baumelten an ihren Handgelenken. Ihr hennarotes Haar hatte Ginger mit funkelnden Kämmen zu einem Knoten hochgesteckt. Mit über siebzig wirkte sie noch genauso dynamisch, elegant und faszinierend wie in den berüchtigten vierziger Jahren.

»Vielen Dank, vielen Dank Ihnen allen, Sie sind zu freundlich. Es ist wunderbar, wieder in Mount Bellwood zu sein.« Ihre durchdringende Stimme veranlasste alle in Hörweite, den Hals zu recken, um herauszufinden, welche wichtige Persönlichkeit da unter ihnen weilte. Es juckte Elizabeth in den Fingern, die Szene zu fotografieren. Ginger glich einem strahlenden Pfau inmitten eines Spatzenschwarms, da alle anderen in gedeckten Trauerfarben gekleidet waren.

»Kommen Sie, wir schnappen sie uns, bevor sie sich hinsetzt!« Holly zog Elizabeth hinter sich her. Ginger drehte sich mit herablassender Miene nach ihnen um, wurde aber ein wenig freundlicher, als sie erkannte, um wen es sich handelte.

»Darf ich die Damen miteinander bekannt machen?«, zwitscherte Holly mit ihrem britischen Akzent. »Ginger, diese junge Dame hier ist Elizabeth Thorrington.« Hollys Blick wanderte etwas hektisch zwischen den beiden Frauen hin und her. Da keine Reaktion kam, fuhr sie leicht nervös fort: »Elizabeth ist die Fotografin für Flowers of the Ruins. Sie wird ihr Nest neben Ihrem haben. Ihre Mutter …«

»Selbstverständlich weiß ich, wer sie ist. Seien Sie nicht albern, Holly!«, dröhnte Ginger. Ihr unverkennbar australischer Singsang ließ die Jahre in den Staaten nur fern erahnen.

Der feste Händedruck, mit dem sie Elizabeth begrüßte, strafte ihr Alter Lügen. Dabei studierte sie aufmerksam Elizabeths Gesicht. »Ruperts Enkelin«, sagte sie. »Ja, ich kann die Ähnlichkeit sehen.«

Völlig unerwartet zog sie plötzlich ein pinkfarbenes Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen ab. »Lois’ Tochter, so eine erwachsene, schöne Frau. Ist Ihre Mutter auch da?«

Als Elizabeth den Kopf schüttelte, putzte sich Ginger die Nase und fächelte sich Luft zu, während die Anwesenden ihren übertriebenen Gefühlsausbruch begafften. »Ich habe sie angerufen«, schniefte sie, »aber sie hat sich geweigert, mit mir zu sprechen.«

Dann zeigte Ginger mit einem schwarz behandschuhten Finger auf Fleur, wobei ihre Armreifen und Kettchen klimperten. »Und wer ist Ihre blonde Freundin da?«

Elizabeth war so auf Ginger fixiert gewesen, dass sie Fleur ganz vergessen hatte. Nicht, dass Fleur mit ihren klassisch schönen Zügen und der aufrechten Haltung von all den Jahren beim Ballett lange unbeachtet bleiben könnte. Einige Trauergäste hatten sie bereits neugierig beäugt. Ob es daran lag, dass sie Fleur erkannten, oder ob sie einfach nur ihre Schönheit bewunderten, konnte Elizabeth nicht mit Sicherheit sagen.

»Oh, Verzeihung. Das ist meine Freundin, Fleur Amos. Sie hilft mir beim Einzug ins Nest. Was für ein netter Name für die Cottages, die Holly hat bauen lassen, finden Sie nicht? Eine ausgezeichnete Idee, auf dem Anwesen Künstlerresidenzen anzubieten und damit die Renovierungsarbeiten zu finanzieren.« Verdammt, sie redete zu viel, aber Gingers durchdringender Blick machte sie irgendwie nervös. Täuschte sie sich oder mochte diese Frau sie nicht? Wahrscheinlich war es naiv gewesen zu hoffen, dass die gemeinsame Verbindung zu Rupert irgendwie von Bedeutung wäre. Oder bildete sie sich diese Antipathie vielleicht nur ein? Schließlich war es Gingers Wunsch gewesen, dass sie den Auftrag bekam. Nachdem sie ihrer Mutter von Anfang an offensichtlich nichts hatte recht machen können, war Elizabeth besonders empfindlich, wenn es um die Anerkennung durch andere Frauen ging. Vor allem bei Frauen, die etwas mit Currawong Manor zu tun hatten. Hoffentlich reagierte sie nur gerade etwas überempfindlich, denn sonst würden die nächsten Monate die Hölle werden – als wäre das Leben nicht schon höllisch genug.

»Ich habe Sie vor Jahren einmal im Opera House tanzen sehen, Fleur. Sie waren als Salome so wundervoll sinnlich.« In Gingers Tonfall lag ein Hauch mehr Wärme als zuvor. »Ich habe gelesen, Sie hätten sich zur Ruhe gesetzt, als Sie Ihre Kinder bekamen. Wie schade, dass Sie Ihre Karriere opfern mussten.« Elizabeth spürte, wie Fleur neben ihr stocksteif wurde. Selbst Holly machte bei diesem Kommentar ganz große Augen.

»Und nun müssen Sie mich leider entschuldigen.« Ginger kramte in ihrer Lady-Dior-Handtasche herum und zog einen Rosenkranz heraus. »Ich werde eine Kerze anzünden, mir dann einen Platz suchen und ein Gebet für die arme Kitty sprechen. Was für ein bezauberndes Mädchen sie doch war, unsere Kitty – das perfekte Modell für Rupert und allen eine gute Freundin. Ich sehe ihre blonden Locken und die süßen Grübchen immer noch vor mir. Sie war die Hübscheste von uns allen. Unsere kleine Kitty haben wir alle geliebt. Was für ein erbärmliches Ende für ein solch reizendes Geschöpf. Wenn ich doch nur von ihrem Gemütszustand und ihren finanziellen Sorgen gewusst hätte! Ich hätte ihr doch helfen können.«

Ginger warf einen Blick zurück zum Eingang und verzog abfällig den roten Mund. »Warum allerdings ihre verdammten Kinder sie nicht mehr unterstützt haben, ist mir ein Rätsel. Ganz schön dreist von denen, hier heute ihre verheulten Gesichter zu zeigen!« Sie tupfte sich wieder die Augen ab, und Elizabeth hätte ihr beinahe tröstend die Hand auf den Arm gelegt, wäre sie nicht zu eingeschüchtert gewesen.

»Zuerst die gute Wanda mit Demenz in irgendeinem uralten Pflegeheim. Und dann stirbt Kitty in einem schäbigen Hostel. Nun bin ich gewissermaßen das einzige noch lebende Flower-Mädchen.« Ginger machte eine Pause und fasste sich an die Brust, als genieße sie diese melodramatische Aussage. Die Leute starrten sie nun ganz unverhohlen an, woraufhin sie ihre Bemerkung noch lauter wiederholte: »Ich bin gewissermaßen die einzige noch lebende Blume! Was zum Teufel will die denn hier?« Ihre Stimme wurde einen Ton schärfer. Als Elizabeth sich umdrehte, sah sie eine Frau Mitte sechzig in die Kirche kommen. Sie trug einen glockenförmigen Hut aus schwarzen und violetten Federn über ihren kinnlangen grauen Haaren, dazu eine schwarze Strickjacke und ein wenig schmeichelhaftes, formloses graues Kleid. Sie starrte Ginger mit glasiger, entsetzter Miene an.

»Das ist Miss Sharp, Ginger. Dolly Sharp. Die Tochter der alten Puppenmacherin. An die erinnern Sie sich doch sicherlich?« Holly lächelte und winkte mit den Fingern einen Gruß in Richtung der Frau, die mit versteinerter Miene Ginger anstarrte.

»Wie könnte ich die je vergessen?«, keifte Ginger. »Halten Sie mir dieses Weib bloß vom Leib, sonst vergesse ich mich noch! Und jetzt werde ich eine Kerze anzünden!« Mit diesen Worten stürmte sie davon. Die drei Frauen sahen sich verblüfft an.

»Das tut mir jetzt wirklich leid«, entschuldigte sich Holly ziemlich verwundert. »Es muss an der Beerdigung liegen. Normalerweise ist Ginger wirklich goldig.«

Wir hätten nicht herkommen sollen. Elizabeth dachte an die zornige Reaktion ihrer Mutter, als sie herausfand, dass ihre Tochter Kittys Begräbnis besuchen würde. »Ich werde doch sowieso eine Weile dort wohnen«, hatte Elizabeth argumentiert. »Das ist ein entscheidender Moment für das Buch. Der Tod eines der Flower-Mädchen ist eine wichtige Geschichte, und man hat mir erlaubt, beim anschließenden Leichenschmaus zu fotografieren.«

»Der Tod eines dieser verdammten Weibsbilder ist keine wichtige Geschichte!«, hatte ihre Mutter geschimpft. »Höchstens im völlig verblendeten Kopf einer Narzisstin wie Ginger Lawson, die glaubt, es würde das ganze Land interessieren, dass sie mal ein Jahr lang für irgendeinen drittklassigen Künstler nackt Modell gestanden hat. Du brauchst mich gar nicht, so anzusehen, Elizabeth! Es kümmert mich nicht die Bohne, dass er mein Vater war – nicht, dass er diese Bezeichnung verdient hätte. Er war ein miserabler Künstler, und ich werde auch nichts anderes behaupten, nur damit du zufrieden bist. Kein Schwein interessiert sich für Rupert Partridge außer dir, Ginger und Holly Dingsbums, die mehr Geld als Verstand oder Geschmack hat und von drittklassigen pseudokünstlerischen Mördern besessen ist.«

»Mum, wann kannst du die Vergangenheit endlich ruhen lassen?«, entgegnete Elizabeth. »Mein Großvater mag vielleicht ein Mörder gewesen sein – aber das macht ihn noch lange nicht zu einem drittklassigen Künstler! Du willst das wachsende Interesse an seinem Werk einfach nicht sehen.«

Doch nichts von dem, was Elizabeth je über Rupert sagte, änderte etwas an der Meinung ihrer Mutter. Sie fing dann höchstens an, über die Medien und deren Lügenmärchen herzuziehen. Als Elizabeth es gewagt hatte, ihr von ihrem Auftrag für Flowers of the Ruins zu erzählen, hatte ihre Mutter ihr vorgeworfen, aus der Verwandtschaft mit Rupert Kapital schlagen zu wollen, um ihre eigene Karriere voranzutreiben.

Die Schimpftirade war dann in die übliche Nörgelei übergegangen: Elizabeth würde ihre Karriere an erste Stelle setzen, indem sie für Aufträge so viel herumreiste, während ihre biologische Uhr tickte. Und nun enttäuschte ihre Tochter sie auch noch, indem sie das Angebot eines Aufenthalts auf Currawong Manor annahm. Als Reaktion darauf hätte Elizabeth am liebsten den Kontakt zu ihrer Mutter ganz abgebrochen. In den Bergen würde sie zumindest eine Erholungspause von ihren endlosen Sticheleien genießen können.

Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu lenken. Hier in der beschaulichen Ruhe von Mt Bellwood schien Sydney eine Million Galaxien von dem ganzen Ärger entfernt zu sein.

»Alles okay?« Fleur berührte sanft ihren Arm. Die Sorge im Blick ihrer Freundin drängte Elizabeth dazu, sich zusammenzureißen. Fleur war wie immer völlig gelassen, ganz egal, was um sie herum passierte. Sie war eine gefeierte Ballerina gewesen, bevor sie Mutter zweier gesunder Bilderbuchkinder wurde – dazu hatte sie einen gutaussehenden Ehemann, ein unkonventionelles, schickes Haus am Bondi Beach und ein klassisch schönes Gesicht, passend zu ihrem angenehmen Wesen. Mit all diesen Vorzügen und Annehmlichkeiten ausgestattet war es nicht verwunderlich, dass Fleur eine beneidenswerte Gelassenheit an den Tag legte. Elizabeth fragte sich oft, was ihre Freundin wohl in ihr sah. Vielleicht handelte es sich ja tatsächlich, wie Lois säuerlich angemerkt hatte, um einen Fall von Gegensätzen, die sich anzogen. Fleur war blond, gesellig und optimistisch – Elizabeth hatte schulterlanges braunes Haar und war eher schüchtern, vorsichtig und pessimistisch veranlagt. Das ungleiche Paar hatte sich jedoch schon vor Jahren angefreundet, als Elizabeth noch für die Sydney Daily gearbeitet und Fleur zum ersten Mal fotografiert hatte – anlässlich ihrer Rolle in Coppélia. Und trotz gegensätzlichen Temperaments und unterschiedlicher Herkunft wusste Elizabeth, dass sie sich auf ihre Freundin verlassen konnte.

2. Kapitel

Rauch und Flammen

Die Gäste – eine Mischung aus Einheimischen sowie Freunden und Verwandten von Kitty aus verschiedenen Teilen Australiens – waren in solchen Scharen zur kleinen alten Sandsteinkirche St Rita’s gepilgert, dass viele von ihnen draußen unterm Regenschirm der Lautsprecherübertragung des Gottesdienstes lauschen mussten. Elizabeth, die mit Holly, Bob und Fleur ziemlich weit hinten saß, war frustriert, weil sie keine freie Sicht auf Ginger hatte. Und weil sie während des Gottesdienstes nicht fotografieren konnte. Sie hätte so gerne ihre antike Großformatkamera benutzt, mit der jene verträumten, zeitlosen Bilder entstanden, für die sie bekannt war. Sie hatte zwar ihre Canon dabei, ging aber davon aus, dass es nicht gut ankommen würde, während der Messe Fotos zu machen. Die Steinkirche mit ihren juwelengleichen Buntglasfenstern, den cremefarbenen brennenden Kerzen, der großen blau-weißen Madonnenstatue mit den Wildblumensträußen ringsherum und den flackernden Teelichtern hätte einige schöne Aufnahmen in stimmungsvoller Ausleuchtung möglich gemacht. Elizabeth liebte es, Götterbilder und Madonnen zu fotografieren. Eines ihrer absoluten Lieblingsbilder zeigte einen Hexensabbat in der Innenstadt von Sydney, wo wild aussehende Frauen in einer alten Backsteinkirche nackt um ihren Hexenkessel herumtanzten. Obwohl Elizabeth sich selbst nicht als religiös betrachtete, faszinierten sie die unterschiedlichen Glaubensrichtungen, und sie liebte es, nackte Körper in frommer Pose mit ihrem Objektiv einzufangen. Deshalb waren die Hexen ein solch inspirierendes Shooting gewesen, weil sich Nacktheit mit gläubiger Ekstase gepaart hatte.

Auf dem Altar standen drei gerahmte Bilder von Kitty aus verschiedenen Lebensphasen. Das jüngste Foto war zehn Jahre alt und stammte aus einem Interview in der Kulturbeilage einer Wochenendzeitung. Es zeigte eine faltige Kitty um die sechzig, in der man aber immer noch das sechsjährige weißblonde Mädchen wiedererkannte, das auf der Schwarzweißaufnahme daneben die Hand seines ernst dreinblickenden dunkelhaarigen Vaters hielt. Außerdem gab es noch die Reproduktion eines Gemäldes. Elizabeth sah sofort, dass es sich um Ruperts Porträt von Kitty aus den Vierzigern, Kitty in the Owlbone Woods, handelte. Das junge Modell saß in blauen Satin gehüllt neben zwei spielenden Kätzchen. Man hätte es als ein niedliches Gemälde eines süßen Mädchens ansehen können, wären da nicht die unheilvollen dunklen Striche im Hintergrund gewesen, die Bäume darstellten. Obwohl die Bilder der Owlbone Woods-Serie nie als Ruperts beste Arbeiten betrachtet worden waren, hatte Elizabeth den Kontrast zwischen dem düsteren Wald und Kittys Märchenschönheit stets als gleichermaßen erschreckend wie faszinierend empfunden. Beim näheren Betrachten der Bilder, von denen es fast ein Dutzend gab, entstand immer wieder der Eindruck, als würde ein uraltes Wesen das unschuldige Mädchen heimlich beobachten. Die spindeldürren, hexenarmigen Bäume bildeten vor dem hellblauen Himmel ein filigranes Muster und streckten ihre knorrigen Äste nach Kitty aus, die mit den Katzen spielte. Hastige Farbtupfer in Weiß und Silber glichen Gespenstergesichtern – oder unliebsamen Naturgeistern, die durch Blätter, Rinde und Gestrüpp dem Mädchen mit ihren strengen kugelrunden Augen hinterherspionierten.

Die meisten der Sammler von Rupert Partridges Werken schätzten seine Serie Crossroads, Stems and Sirens oder natürlich Naked Flowers –seine umstritteneren erotischen Aktbilder und Fotografien. Rupert hatte Naked Flowers als seine liebsten Werke bezeichnet, da sie von zwei Künstlerinnen inspiriert waren, die er bewunderte: Florence Henri und Marianne Breslauer, die in den frühen 1920er und 30er Jahren bemerkenswerte erotische Darstellungen geschaffen hatten. Elizabeth war jedoch immer besonders empfänglich gewesen für die dunkleren, geheimnisvolleren Schatten in der Owlbone Woods-Serie.

Nun verrenkte sie sich fast den Hals beim Versuch, Gingers Reaktion auf Kittys Fotos zu beobachten. Ginger hatte alle früheren Bewohner von Currawong Manor überlebt, abgesehen von Wanda im Pflegeheim und Dolly Sharp – wenn man die mitzählen wollte. Nein, nicht alle. Lois, Ruperts Tochter – und Elizabeths Mutter – lebte gesund und munter in Sydney. Was tat ihre Mutter wohl jetzt gerade, um alle Gedanken an ihren Vater, an Currawong Manor und ihre beschmutzte Familiengeschichte zu verdrängen? Lois hatte aus Gründen, die Elizabeth nie ganz verstanden hatte, immer versucht zu verhindern, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigte. Auch Elizabeths Vater Michael war es nicht erlaubt, über Lois’ Familiengeschichte zu sprechen, und da er ohnehin ein eher in sich gekehrter Mensch war, leistete er dem nur zu gerne Folge. Lois würde sich ablenken, nur um nicht daran denken zu müssen, dass weniger als zwei Stunden Autofahrt entfernt gerade eine weitere Verbindung zu ihrer Vergangenheit eingeäschert wurde.

Kittys Sohn, der aussah, als wäre er etwa Mitte dreißig (Elizabeth entnahm seinen Namen dem ausliegenden Faltblatt zum Ablauf der Trauerfeier: Stewart Hastings), sprach von der Kanzel herab über Kittys Kindheit. Seine sanfte Stimme beschrieb das Leben seiner Mutter als eines von dreizehn Kindern in Katoomba und die Not, die ihre Familie während der Wirtschaftskrise gelitten hatte. Über ihre schillernde Rolle als »Blume« verlor er nicht viele Worte, außer dass Kittys Zeit auf Currawong Manor ihre Karriere als Katalogmodell für Davis Jones angeregt und zu einigen kleineren Rollen in den frühen australischen Fernsehshows geführt hatte. Kitty war bis zum Tod ihres Gatten, Eugene Hastings, glücklich verheiratet gewesen. Sie hatte zwei Kinder und zwei Stiefenkel. Das ist ja alles ganz nett, dachte Elizabeth bei sich, aber es erklärt nicht, weshalb Kitty allein und mittellos in einem schäbigen Hotel gestorben ist. Wo war da dieser Sohn mit seiner weichen Stimme, dem gutgeschnittenen Anzug und der Designerbrille gewesen?

Nachdem Kittys Mahagonisarg hinter einem Samtvorhang verschwunden war, stand Elizabeth etwas unbeholfen neben den Shaws in einem Nebenraum herum, wo sich die Gäste zu einem kleinen Empfang versammelt hatten. Sie holte die Canon aus der Tasche und wünschte sich aufs Neue, sie könnte ihre antike Fachkamera benutzen. Doch Linda war nicht transportabel und auch viel zu sperrig für eine solche Veranstaltung. Es hätte die Trauernden zu sehr abgelenkt, wenn sie immer wieder unter einem Tuch verschwunden wäre, um den Gottesdienst mit Hilfe von Lindas akkordeongleichen Balgen, den Holzrahmen und langen Messingobjektiven festzuhalten.

Elizabeth stellte ihre Kamera scharf und machte ein paar schnelle Aufnahmen von der Menge. Durch eines der großen Buntglas-Erkerfenster fiel auf faszinierende Weise das Licht herein und malte einen Regenbogen auf den abgewetzten Holztisch, der mit Sandwichs und Kuchen beladen war.

»Was für eine gelungene Abschiedsfeier, findest du nicht, Bob?«, wollte Holly von ihrem Gatten wissen. Elizabeth bewunderte ihr markantes, attraktives Gesicht. Holly besaß diesen robusten Teint, der nicht zu altern schien. »Ich hoffe, du stellst mal eine ähnlich erbauliche Show auf die Beine, wenn meine Zeit gekommen ist. Wunderschöner Sarg – wirklich schade, dass der jetzt verbrannt wird. Und dass die Kinder das Geld nicht für sie ausgeben konnten, als sie noch am Leben war. Vielen Dank, meine Liebe –«, sie suchte sich eins der Schinkenbrötchen aus, die ein junges Mädchen auf einer großen Platte herumreichte. »Ich bezweifle stark, dass Kitty zu denen gehört hat, die ihre eigene Beerdigung im Voraus bezahlen, aber ich glaube auch nicht, dass ihre Kinder am Hungertuch nagen. Ganz schön viele Leute sind gekommen. Nicht schlecht für ein Mädchen aus einer Bretterbude in Katoomba! Schon merkwürdig, dass sie zuletzt in dieser lausigen Absteige gehaust hat! Irgendwie kommt mir das einfach falsch vor.« Elizabeth warf ihr einen überraschten Blick zu, da Holly damit ihre eigenen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Holly zog ein pinkfarbenes Puderdöschen aus der Tasche, fuhr sich einmal mit der Quaste übers Gesicht und klappte es dann wieder zu. »Davon hat sie auf jeden Fall nichts durchblicken lassen, als sie bei uns zu Besuch war, oder, Bob?«

Bob grunzte eine Erwiderung. Die beiden waren ein seltsames Paar. Bob verfügte über genau zwei unterschiedliche Gesichtsausdrücke: mürrisch und gequält. Er sah aus, als würde er ständig in Gedanken Finanzen durchrechnen und dabei feststellen, dass er sich im Minus befand, während Holly attraktiv, zupackend und lebensfroh war und offensichtlich sowohl Tratsch als auch die Gesellschaft anderer Menschen genoss.

»Haben Sie sie denn in letzter Zeit noch getroffen?«, erkundigte sich Elizabeth und beobachtete nebenbei Fleur, die am anderen Ende des Raums telefonierte. Fleur rief dauernd bei ihrem deutschen Au‑pair-Mädchen an, weil sie sich Sorgen darüber machte, was die Kinder gerade anstellen könnten.

Holly zögerte und sah kurz zu ihrem Mann hinüber, bevor sie antwortete: »Ja, haben wir, aber irgendwie wurden wir nicht so ganz schlau aus ihr. Ich glaube, sie war vom Flowers of the Ruins-Projekt nicht allzu begeistert. Es kam mir so vor, als hätte sie Angst, wir würden damit ihrem Buch Murder at the Manor Konkurrenz machen wollen, dabei ist das schon so lange vergriffen. Am Ende mussten wir sie leider bitten zu gehen. Ich war völlig am Boden zerstört, denn ich hatte mich so darauf gefreut, sie endlich kennenzulernen, aber sie war ganz anders, als ich es erwartet hatte.«

Genau wie Mum.

Bob zwinkerte Elizabeth über seine Tasse hinweg zu, und Elizabeth spürte, wie sie rot wurde vor Freude, dass dieser missmutige, griesgrämige Mann sie offensichtlich akzeptiert hatte.

Mountain Daily,

Australian LadySie

»Ich kann Sie gerne fahren«, bot Bob ihr an, doch Ginger erklärte ihm, sie wolle lieber ein Taxi nehmen. Dann rauschte sie in einer Wolke Chanel No. 5 mit klimpernden Armreifen und wehendem Schal von dannen, wobei sie beinahe einen elegant gekleideten älteren Herrn im schwarzen Smoking über den Haufen rannte. Schlohweiße Locken umrahmten sein faltiges, aber lebhaftes und freundliches Gesicht. Das Trio beobachtete, wie Patrick etwas zu Ginger sagte, worauf sie ihn mit unverhohlener Abneigung betrachtete. Die beiden wechselten einige hitzige Worte, ehe Ginger die Arme mit einer Geste in die Luft warf, die wohl ausdrücken sollte, dass sie mehr als genug hatte – und den Raum verließ.

Es blieb Elizabeth erspart, Bobs Antwort zu deuten, da in diesem Moment Fleur zurückkam.

Wie um alles in der Welt soll ich wochenlang diese hysterische Ginger ertragen?