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Michele Rigby Assad

Unter dem Radar

Gott, die CIA und ich

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Müller

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Inhalt

Über die Autorin

Anmerkung der Verfasserin

Prolog

KAPITEL 1
Die Spionin von nebenan

KAPITEL 2
Das Richtige

KAPITEL 3
Der Schein trügt

KAPITEL 4
Eine Musterspionin

KAPITEL 5
Ruhig bleiben und Kompass lesen

KAPITEL 6
Hinein in die Wüste

KAPITEL 7
Mr & Mrs Smith

KAPITEL 8
Heraus aus der Gefahrenzone

KAPITEL 9
Die Wahl zwischen Irak und Cholera

KAPITEL 10
Willkommen in der Hölle auf Erden

KAPITEL 11
Dem Feind ins Gesicht sehen

KAPITEL 12
Sein oder Schein – eine Geschichte von drei Quellen

KAPITEL 13
Sag niemals nie

KAPITEL 14
Eine unerwartete Mission

KAPITEL 15
Was nun?

KAPITEL 16
Kein Weg zurück nach Hause

KAPITEL 17
Zurück in den Irak

KAPITEL 18
Zeit der Entscheidung

KAPITEL 19
Die Rettung

KAPITEL 20
Auf der Zielgeraden

Epilog

Dank

Anmerkungen

Über die Autorin

Michele Rigby Assad ist heute international als Sicherheitsberaterin tätig, spezialisiert auf die Bereiche Terrorismusbekämpfung, Personenschutz und Flüchtlinge. Sie tritt regelmäßig als Referentin auf. Mit ihrer Familie lebt sie in Florida.

Anmerkung der Verfasserin

Einige Namen und biografische Angaben in diesem Buch wurden verändert, um die Identitäten von Quellen, Offizieren und anderen Mitarbeitern der CIA zu schützen, für die es nachteilig sein könnte, mit ehemaligen CIA-Geheimagenten in Verbindung gebracht zu werden. Auch wenn ich die genauen Umstände der Operationen verwischt habe, war ich doch bemüht, meine Erfahrungen möglichst detailgetreu wiederzugeben, dabei aber genügend Informationen zu verändern, um Quellen, Orte und Methoden zu schützen.

Ich bin froh, dass ich viele meiner Überseeabenteuer für persönliche und berufliche Zwecke festgehalten habe. Bei meinem ersten Einsatz im Jahr 2003 begann ich ein Tagebuch zu schreiben, um einen kleinen Kreis von Verwandten und Freunden an meinen Erlebnissen teilhaben zu lassen. Während der Gespräche, die wir vor der Evakuierung in der Mar Elia Church in Erbil im Irak führten, machte ich mir Notizen. Außerdem konnte ich auf jede Menge E-Mails und Textnachrichten zurückgreifen, um mir Daten und Einzelheiten dieser Aktion in Erinnerung zu rufen. Die Namen der Kandidaten für die Evakuierung, die wir in Mar Elia befragten, und einige persönliche Angaben über sie habe ich verändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.

Die in diesem Buch geschilderten CIA-Operationen wurden ursprünglich in Telegrammen festgehalten, in denen ich die Dynamik von Treffen, das Beschaffen von Geheiminformationen, Hinweise auf gegnerische Spionageaktivitäten sowie meine Erkenntnisse und Bewertungen aufzeichnete. Da ich nicht mehr bei der CIA beschäftigt bin, fehlt mir der Zugang zu diesen Akten und ich musste die Situationen aus dem Gedächtnis wiedergeben. Als ehemalige Mitarbeiterin habe ich mir das Manuskript von der CIA genehmigen lassen, um sicherzustellen, dass keine immateriellen Vermögenswerte wie Quellen oder Arbeitsmethoden durch die Veröffentlichung des Materials beschädigt werden.

Prolog

ERBIL, IRAK
SEPTEMBER 2015

»Warum wollen Sie den Irak verlassen?«

Die sechsköpfige Familie sah uns ängstlich und fragend an.

»Wissen Sie denn noch nicht, was mit uns geschehen ist?«, fragte Danial, der Vater. »Wir dachten, deshalb seien Sie hier.«

Da hatte er allerdings recht. Das war tatsächlich der Grund für unser Kommen. Im Verlauf der vergangenen Woche hatten mein Mann Joseph und ich mehr als vierhundert Christen befragt, die von islamischen Extremisten aus ihren Häusern vertrieben worden waren und nun verzweifelt außerhalb des Irak Schutz suchten.

Zwar blieben auch viele Muslime von dem Leid nicht verschont, Christen waren jedoch wesentlich gefährdeter. Wenn der IS oder andere islamische Rebellen eine Stadt einnahmen, befahlen sie den Christen, ihre Häuser zu verlassen oder zum muslimischen Glauben zu konvertieren. Viele flohen – hatten aber kein Ziel. Sie wussten, dass Christen, die in UN-Camps Schutz suchten, häufig eingeschüchtert, angegriffen oder anderweitig verfolgt wurden.

»Wir möchten wissen, was Ihrer Familie genau passiert ist«, erklärte ich Danial. »Um ein sicheres Land zu finden, das bereit ist, Sie aufzunehmen, müssen wir Ihre Geschichte im Einzelnen kennen. Nur so können wir begründen, warum diese Staaten Ihnen helfen sollen.«

Ich sagte ihm aber nicht, dass Joseph und ich die Kandidaten dabei auch sehr genau unter die Lupe nahmen. Denn wir mussten sicherstellen, dass sich keine Elemente des IS oder anderer Extremistengruppen untermischten – niemand, der jetzt oder in Zukunft für Länder, die bereit wären, Schutz zu gewähren, eine Bedrohung darstellen könnte. Als ehemalige Terror- und Spionageabwehrspezialisten bei der CIA waren wir für ein solches Unternehmen bestens gerüstet.

Nachdem wir in dieser Woche bereits Hunderte von Leuten befragt hatten, waren Joseph und ich mehr als erschöpft. Wir mussten unsere Gefühle richtiggehend abschalten, um diese Gespräche zu überstehen, in denen wir mit einer tragischen Geschichte nach der anderen konfrontiert wurden. Denn wir waren weder körperlich noch emotional in der Lage, das tiefe Leid zu verarbeiten, das diese und Hunderttausende anderer Menschen hatten ertragen müssen. Müdigkeit hin oder her – wir hatten eine Aufgabe zu erfüllen.

Das sagte ich mir jedenfalls immer wieder. Manchmal war es unmöglich, nicht von der schieren Verzweiflung angerührt zu werden, die so vielen ins Gesicht geschrieben stand. Kurze Zeit vor meinem Gespräch mit Danial hatte ich einem jungen Ehepaar gegenübergesessen. Kaum hatten wir die Befragung begonnen, da wurde ihr kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutter unruhig. Er drehte und wand sich, um sich aus ihren Armen zu befreien, und machte sich auch lautstark bemerkbar. Immer wieder wurde unsere Unterhaltung durch das Plappern des gelangweilten Kleinen gestört. Seine Eltern fuhren ihn an und versuchten verzweifelt, ihn im Zaum zu halten.

Als ich die Panik in den Augen seiner Mutter sah, wurde mir klar, wie groß ihre Angst war, dass ihr Sohn den Ausgang des Gesprächs aufs Spiel setzen könnte. Ich stand auf, kniete mich vor die Mutter hin, nahm die Hand des kleinen Jungen und fragte: »Kfak habibi? Ismak eh? Kam omrak?« (»Wie geht es dir, mein Lieber? Wie heißt du denn? Und wie alt bist du?«)

Die Eltern sagten mir seinen Namen – George – und seine Mutter hob drei Finger, um mir sein Alter zu zeigen. Als ich mich dem Jungen zuwandte und seine süßen Pausbäckchen drückte, huschte ein Lächeln über die ängstlichen Gesichter der Familie. Ich schnappte ein Spielzeugauto vom Tisch hinter mir und drückte es George in die Hand.

Seine Eltern entspannten sich sichtlich. Da wurde mir schlagartig wieder die Ungerechtigkeit der Situation bewusst. Dieser kleine Junge war einer von Millionen vertriebenen Irakern. Dabei hatte er noch Glück, denn er hatte nur seine Heimat verloren; seine engste Familie war ihm noch geblieben. Nun versuchten sein Vater und seine Mutter verzweifelt, aus dem Land zu fliehen. Sie hatten keine Ahnung, wer wir waren oder was genau wir hier taten – sie wussten nur, dass wir uns darum bemühten, für hundert oder mehr Iraker einen sicheren Zufluchtsort in einem anderen Land zu finden.

Nach dem Gespräch mit Georges Eltern hatten wir noch mehrere Befragungen ohne Zwischenfälle geführt. Das mit Danial und seiner Familie schien zunächst genauso zu laufen wie die Unterredungen zuvor, bis Miriam, die achtzehnjährige Tochter der Familie, fragte: »Können Sie bitte Hamad, meinen Verlobten, auch mit auf die Liste setzen? Er ist vom Islam zum Christentum übergetreten und wir sind in Gefahr, wenn wir hier im Irak bleiben.«

»Wo ist Hamad denn jetzt?«, fragte Joseph.

»Er lebt bei seiner Familie hier in Erbil«, erklärte sie.

Das ist aber seltsam, dachte ich. Die meisten muslimischen Familien akzeptieren es überhaupt nicht, wenn eines ihrer Mitglieder sich vom Islam abwendet.

»Sie sind natürlich nicht begeistert von seinem Übertritt«, fuhr sie fort. »Aber mit ihnen hat er weniger Ärger als mit dem IS.«

»Warum das denn?«, fragte Joseph.

»Hamads Mutter war früher Christin. Sie ist bei ihrer Heirat mit einem Moslem vor vielen Jahren zum Islam konvertiert. Als der IS Mossul einnahm, wo sie wohnten, suchte er gezielt Menschen, von denen er Geld erpressen konnte. Sie war zwar zum Islam konvertiert, der IS hatte jedoch erfahren, dass sie früher Christin war und noch christliche Angehörige hatte. Also entführte der IS sie und verlangte ein Lösegeld. Hamad wollte unbedingt seine Mutter befreien und verkaufte deshalb eine seiner Nieren. Den Erlös daraus sandte er den Entführern, die daraufhin seine Mutter freiließen.«

Was? Ich neigte mich auf meinem Stuhl nach vorne. »Moment mal! Ihr Verlobter hat allen Ernstes eine Niere verkauft, um das Lösegeld für seine Mutter zu bezahlen?«

»Ja.«

Joseph und ich warfen einander einen verstohlenen Blick zu. Irgendetwas war faul an dieser Geschichte, und je mehr Fragen wir stellten, desto verworrener wurde sie.

Das erinnerte mich an meine Zeit bei der CIA. Im Vernehmungsraum hatte man uns so manches Lügenmärchen aufgetischt. Und die Erfahrung hatte gezeigt: Je weiter hergeholt sich eine Geschichte anhörte, umso wahrscheinlicher war es, dass sie nicht stimmte. Aber ab und zu kam es doch vor, dass eine Quelle uns etwas Haarsträubendes erzählte, was wir anfangs nicht glauben konnten und das sich aber letzten Endes doch als die entsetzliche Wahrheit herausstellte. Wie verhielt es sich hier?

Wir mussten herausfinden, ob Hamad wirklich zum christlichen Glauben übergetreten war. War er ein tapferer Mann, bereit, für seinen neu gefundenen Glauben sein Leben aufs Spiel zu setzen? War er einfach ein Lügner, der nach einer Möglichkeit suchte, aus dem Irak zu fliehen? Oder war er am Ende ein islamischer Extremist, der sich als christlicher Konvertit ausgab, um in ein anderes Land einreisen zu können?

Diese Befragung, die doch begonnen hatte wie Dutzende zuvor, hatte eine bedrohliche Wendung genommen. Wenn wir uns über die Absichten dieses Mannes täuschten, lieferten wir ihn vielleicht direkt in die Hände des IS aus – was einem Todesurteil gleichkäme. Wenn er aber andererseits irgendeine Verbindung zum IS hätte, könnten wir das Leben von unzähligen unschuldigen Menschen in Gefahr bringen.

Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich Miriam ins Gesicht sah. Würde sie doch nur irgendetwas über diesen Mann preisgeben! Aber sie blieb unergründlich, den Blick zum Boden gerichtet und die Hände zurückhaltend in ihrem Schoß gefaltet.

»Miriam«, sagte Joseph. Schüchtern sah sie ihn an. »Wir müssen mit Hamad sprechen. Bitte sagen Sie ihm, er soll heute Abend vorbeikommen.« Sie nickte flüchtig.

Einige Stunden später waren Joseph und ich wieder in dem Wohnwagen, der uns als Büro diente, und warteten auf das Paar. In meinen Gedanken versuchte ich fieberhaft, die einzelnen Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen.

Als ich draußen auf den Stufen schwere Schritte hörte, dann das Quietschen der Tür, sah ich auf. Miriam trat zuerst ein, gefolgt von einem unentschlossen aussehenden jungen Mann.

Zunächst wirkte Hamad auf uns nicht anders als Hunderte anderer Männer, die wir schon befragt hatten: Still und mit leerem Blick in den Augen als Ausdruck tiefer Niederlage, waren sie doch nicht imstande, für ihre Familien zu sorgen oder sie zu schützen.

Aber Hamad war alleinstehend. Er hatte keine Familie zu versorgen oder zu beschützen. Sein leerer Blick zeugte nicht von Verlegenheit oder Versagen, es war … etwas anderes.

Irgendetwas stimmte nicht mit diesem jungen Mann und seiner Geschichte. Ich war mir nicht sicher, was es war, vertraute aber fest darauf, dass Joseph und ich der Sache schließlich auf den Grund gehen würden. Denn genau dafür waren wir in den Irak gekommen. Genau dafür waren wir ausgebildet. Wir hatten einen Blick dafür, Konvertiten – und genauso auch Terroristen – an ihrem Aussehen und ihrem Verhalten zu erkennen. Wenn dieser Mann tatsächlich Dreck am Stecken hatte, würden wir es schon herausfinden.

Als Hamad sich auf den Stuhl uns gegenüber sinken ließ, spürte ich eine Welle von Adrenalin in meinen Adern. Dieser Mann weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Joseph und ich warfen einander einen flüchtigen Blick zu. Keiner von uns ließ sich auch nur die geringste Regung anmerken, aber das Gefühl war greifbar:

Wir schaffen das!

KAPITEL 1

Die Spionin von nebenan

Spionin zu werden wäre mir früher nie im Traum eingefallen. Meine Zukunft hatte ich mir weit weniger aufregend ausgemalt: Mann und Kinder, einen guten, sicheren Beruf und ein behagliches Heim am Stadtrand mit dem typischen weißen Lattenzaun ums gepflegte Grundstück – Inbegriff amerikanischer Vorstadtidylle.

Ganz ehrlich, hätte mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt, dass mich meine Berufung in Kriegsgebiete führen oder ich mit Aufständischen zu tun haben würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Solchen Dingen war ich als Kind nie ausgesetzt.

Mein Vater, ein Lebensversicherungsvertreter im Außendienst, war viel unterwegs, während meine Mutter mit mir und meiner kleinen Schwester Julie zu Hause blieb. Als ich sechs Jahre alt war, folgte meine Familie meinen Großeltern mütterlicherseits aus dem ländlichen Pennsylvania nach Mount Plymouth, einer Kleinstadt im Herzen Floridas. Wir lebten »in der Pampa«, das heißt, wir waren umgeben von Kuhweiden, Orangenhainen, Kiefernwäldern und Sumpfland. Mächtige, mit spanischem Moos bewachsene Eichen und ein kleiner mit Seerosenblättern und Schilfgras bedeckter See steigerten die wilde Schönheit dieser ländlichen Szenerie. Ganz zu schweigen von Reihern, Schildkröten, Fröschen, Krokodilen und Wassermokassinschlangen.

Zwar war ich als Kind nie weit weg von zu Hause, warf aber ab und zu einen Blick über die Grenzen meiner kleinen Welt. Jeden Sommer, wenn unsere Nachbarin Gladys im Urlaub war, gossen Julie und ich gegen ein Taschengeld bei ihr die Blumen. Regelmäßig rannte ich hinüber und versorgte ihre Zimmerpflanzen – sie hatte Dutzende! Doch bevor ich nach Hause ging, setzte ich mich auf den Boden vor Gladys’ Bücherregal, zog stundenlang eine National Geographic nach der anderen heraus und blätterte mich vorsichtig durch die bunten Hochglanzseiten. Ich war wie gebannt. Die fremden Kulturen faszinierten mich und weckten in mir den Wunsch, meine Ausflüge ins Unbekannte mit allen Sinnen zu erleben und diese Anblicke samt ihren Geräuschen und Gerüchen in mich aufnehmen zu können.

Gelegentlich waren Missionare in unserer kleinen Dorfkirche zu Gast und berichteten über ihre Arbeit in anderen Kulturen. Ihnen verdanken Julie und ich die paar Brocken Portugiesisch, die wir heute noch im Kopf haben; denn sie brachten uns einen Gospel in dieser Sprache bei, den wir unentwegt sangen. Eine fremde Sprache »lernen« zu können, hinterließ einen bleibenden Eindruck auf mich.

Und trotz alledem: Wir waren einfache Leute. In der Familie sprachen wir nicht über Politik oder internationale Angelegenheiten und äußerten uns nicht zum Weltgeschehen. Militärische Konflikte oder Staatsstreiche in anderen Ländern gingen völlig an uns vorbei. Eine leise Ahnung, dass es dort draußen eine wahnsinnige Welt geben musste, befiel mich erst in den Achtzigerjahren, als ich aus dem Fernsehen zum ersten Mal von Flugzeugentführungen erfuhr.

Ich weiß noch, dass ich meine Mutter fragte: »Könnte es sein, dass wir irgendwann entführt werden?«

»Ach Schätzchen«, sagte sie, »mach dir darüber mal keine Sorgen! Nur im Nahen Osten werden Flugzeuge entführt, da wirst du niemals hinkommen.«

Ganz bestimmt nicht, dachte ich, da werde ich niemals hinkommen. (Und dennoch: Sag niemals nie!)

Wer mit mir aufgewachsen ist und mich als süßes Mädchen aus den Südstaaten kannte, ist vermutlich allein schon über meine Bewerbung bei der CIA nachhaltig schockiert. Wie könnte auch die kleine Ballerina, die in ihrer Schule als Ballkönigin gekürt wurde – das Mädchen, das frei und häufig über seinen Glauben sprach –, in verborgene Machenschaften verwickelt werden, die Manipulation und Täuschung verlangen?

Michele Rigby, internationale Spionin.

Das war – gelinde gesagt – ein heftiger Widerspruch in sich.

Aber wie sich herausstellte, war dies genau das Profil, das die CIA suchte.

Wie die meisten Menschen kannte ich die CIA und ihre Arbeit nur aus dem Fernsehen und aus Filmen und hatte keine Ahnung, was davon Wahrheit und was erfunden war. Ich wusste nur eines: Es musste eine Institution sein, an der sich nur die gebildetsten und intelligentesten Menschen bewerben – keine normalen Leute wie ich.

Und trotzdem: Als das Career Center der Universität Georgetown ankündigte, dass CIA-Vertreter kommen und über Karrierechancen beim Geheimdienst sprechen würden, siegte meine Neugier – auch wenn ich wusste, dass sie keine Menschen wie mich suchten. Ich trat also wie eine schüchterne kleine Nonne mit gesenktem Kopf in die Bibliothek und setzte mich schnell in die hinterste Ecke des Raums.

Einfach mal anhören kann ja nicht schaden, dachte ich, oder? Was habe ich schon zu verlieren?

Ich stand gerade kurz vor meinem Diplom am Zentrum für zeitgenössische arabische Studien und hätte so gerne klare Berufsvorstellungen gehabt. Aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich machen wollte. Und lassen Sie sich von den arabischen Studien nicht täuschen. Mein Interesse am Nahen Osten war mehr persönlicher als beruflicher Art.

Ich kämpfte mich gerade durch mein Masterstudium und war zudem frisch verheiratet.

Joseph, meinen Mann, hatte ich während des Abschlussjahres auf der Highschool kennengelernt. Als Cheerleader hatte ich oft nach Fußballspielen zu mir nach Hause eingeladen. Eines Abends brachte einer meiner Mitspieler einen jungen Mann aus Ägypten mit, den seine Kirchengemeinde seit einiger Zeit unterstützte. Er hieß Joseph Assad und war anders als alle Menschen, die ich jemals kennengelernt hatte.

Wir lauschten alle mit gespannter Aufmerksamkeit, als er uns von seiner Kindheit in einem Teil von Ägypten berichtete, in dem eine gefährliche Form des islamischen Extremismus entstanden war. Er beschrieb die Erfahrung, von Mitschülern bedroht zu werden, deren Eltern Mitglieder einer geheimen Terrorzelle in der Stadt waren. Allein wegen seines christlichen Glaubens hatte er in Ägypten keine Universität und kein College besuchen dürfen.

Peinlich, aber wahr: Bevor ich Joseph kennenlernte, wusste ich nicht einmal, dass Ägypten ein Staat ist. Für mich war es einfach eine alte Zivilisation, ein historisches Land, das ich nur aus Dokumentationen im Fernsehen und aus der Bibel kannte. Ich wusste auch nicht, dass es im Nahen Osten Christen gibt und diese seit Jahrhunderten brutal verfolgt werden.

Josephs Geschichte erstaunte mich. Nachdem ich bisher ein bemerkenswert geschütztes Leben geführt hatte, war ich überrascht, jemanden zu treffen, der mit neunzehn Jahren bereits wusste, was es bedeutet, solch enormer Einschüchterung standzuhalten. Das war etwas völlig anderes, als in der Mittagspause von gemeinen Mädchen gehänselt zu werden. Hier ging es um Leben und Tod, und ich war völlig überwältigt. Als ich da saß und Josephs Geschichte hörte, dachte ich: Genau so einen Mann möchte ich heiraten.

Fünf Jahre später tat ich es.

Joseph öffnete mir die Augen für eine Welt, von deren Existenz ich vorher nichts gewusst hatte. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, reisten wir als Mitglieder eines von der Studentenmission der Universität Palm Beach Atlantic gesponserten Missionsteams nach Ägypten. Trotz der dramatischen Lage in dieser Region ließen meine Eltern mich gehen. Sie vertrauten Gott und wussten, dass er seine Hand über mir halten würde. Rückblickend war es unglaublich mutig von ihnen, ihre älteste Tochter in dieses Land auf der anderen Seite des Erdballs ziehen zu lassen, wo es schon riskant genug ist, eine Frau zu sein. Christ zu sein ist jedoch noch weitaus riskanter. Aber sie hatten den Mut und die geistliche Einsicht, mich loszulassen.

Ich hingegen war der Inbegriff der Naivität. Ohne eine Vorstellung von den mir bevorstehenden Herausforderungen stürzte ich mich mit Begeisterung in dieses neue Abenteuer, wie es nur junge, unerfahrene Menschen tun können. Niemand warnte mich vor der enormen Hitze, den Schwärmen von Fliegen, den blutdurstigen Moskitos oder der Schwierigkeit, mit Leuten zu kommunizieren, die eine andere Sprache sprechen. Nahezu augenblicklich wurde ich mit meinen romantischen Vorstellungen, wie fantastisch diese Tour werden würde, von der rauen Realität eingeholt. Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib und wurde beinahe ohnmächtig von der Hitze und der anstrengenden körperlichen Arbeit.

Auf dieser Reise sah ich Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte: bewaffnete Soldaten an jeder zweiten Straßenecke, in Hijabs und einengende schwarze Abayas eingehüllte Frauen, Dorfbewohner beim Spülen ihrer Töpfe und Pfannen im Nil, mit Waren beladene Eselsgespanne auf dem Weg zum Markt, Lehmziegelhäuser entlang staubiger, mit Schlaglöchern übersäter Straßen.

Wir waren umgeben von einer Welt, die so ganz anders war als unsere eigene. Hätten wir vorher gewusst, was uns erwartete, hätten sich manche von uns wohl nie für diese Tour angemeldet. Gott sei Dank war ich bei meinem Aufbruch ahnungslos, sonst hätte ich nie den Segen erlebt, diesem Team anzugehören. Ich lernte nicht nur eine Menge über mich selbst und meinen Glauben, diese Reise zeigte mir auch, wie wenig ich von dieser großen, schönen Welt wusste und wie viel es darin zu entdecken gab.

Im darauffolgenden Herbst schrieb ich mich an der Universität Palm Beach Atlantic ein, an der Joseph am Anfang seines zweiten Studienjahrs stand. Als Hauptfach wählte ich schließlich Politikwissenschaften. Dies gab mir die Chance, drei Jahre später im Rahmen eines Auslandsstudiums noch einmal nach Ägypten zu reisen. Neben meinen Studien in Politik, Kultur, Religion, Geschichte und der arabischen Sprache hatte ich Gelegenheit, den Berg Sinai zu besteigen, im Roten Meer Sporttauchen zu gehen, die großartigen Pyramiden von Gizeh zu erkunden, über den historischen Markt Khan al-Khalili mit seinen belebten Ständen zu schlendern, den tanzenden Derwischen in der Altstadt von Kairo zuzusehen, die ältesten christlichen Klöster der Welt zu besuchen und sogar in einem Werbespot für Eva-Hautpflegeprodukte im ägyptischen Fernsehen aufzutreten. »Entdeckt« hatte mich ein Fernsehproduzent in einer Eisdiele.

Wir verbrachten auch drei Wochen in Israel und Palästina, wo wir uns mit einem der brisantesten, umstrittensten Themen der frühen Neunzigerjahre beschäftigten. Das Oslo-Abkommen war frisch unterzeichnet und in weiteren intensiven Verhandlungen wurde versucht, beide Seiten an ihre Verpflichtungen zu binden und den Prozess konstruktiv voranzutreiben. Wir trafen führende Politiker, Vertreter von Bürgerplattformen und Pädagogen beider Konfliktparteien. Die Informationen, die wir erhielten, waren ernüchternd und aufschlussreich zugleich, und ihre Bedeutung wurde uns im Verlauf unserer Reise durch Israel und das Westjordanland immer klarer. Dieser Konflikt war keine Theorie, sondern flammte regelmäßig vor unseren Augen auf. Die Probleme waren offensichtlich und die Spannungen spürbar, als wir den Zankapfel Tempelberg und das jüdische, arabische und armenische Viertel der Jerusalemer Altstadt erkundeten.

Wir segelten auch über den See Genezareth, spähten über die Berge der Golanhöhen in den Libanon und nach Syrien hinüber und folgten den Fußspuren Jesus von Nazareths in Bethlehem, Galiläa und Jerusalem. Was wir hier lernten, war einmalig.

Zweifellos haben die Reisen in den Nahen Osten den Lauf meines Lebens unwiderruflich verändert. Die Unterschiede zwischen meinem Wertesystem und der Weltsicht der vielen Ägypter, Palästinenser und Israelis, mit denen ich zu tun hatte, weckten in mir den Wunsch, sie zu verstehen. Was beeinflusste ihr Denken und welche Faktoren prägten ihre Lebensperspektiven? Ich wollte die Geheimnisse menschlichen Verhaltens entschlüsseln und den Bezugsrahmen anderer Menschen verstehen.

Im Sommer nach meinem Abschluss in Palm Beach Atlantic heirateten wir und zogen nach Washington, D. C. Joseph nahm dort eine Tätigkeit als Forschungsleiter für den Nahen Osten bei einer Expertenkommission, einem sogenannten Thinktank, mit den Schwerpunkten Menschenrechte und Demokratie auf. Gleichzeitig arbeitete er an der Universität George Mason an seinem Master in Konfliktanalyse und -lösung. Joseph war bereits als Zeuge vor dem US-Kongress und dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf aufgetreten. Diese Erfahrung und sein Studienschwerpunkt auf Konflikten und Diplomatie brachten ihn auf den Gedanken, eine Laufbahn bei der Regierung anzustreben. Hierzu legte er beim Auswärtigen Amt die Prüfung ab, die für einen Posten als Diplomat im Außenministerium Voraussetzung ist. Während er auf die Prüfungsergebnisse wartete, bewarb er sich noch auf andere Posten, bei denen ihm sein einzigartiger Hintergrund, seine Erfahrung und Bildung zugutekommen würden.

Drei Monate nach unserem Umzug nach Washington, D. C., erhielt ich eine Stelle als Verwaltungsassistentin in der Abteilung für Regierungsbeziehungen bei einer humanitären Organisation, bevor ich mich in Georgetown für arabische Studien einschrieb. Natürlich wollten meine Familie und meine Freunde meine Zukunftspläne verstehen. »Was willst du mit einem Abschluss in arabischen Studien anfangen?«, fragten sie.

Meine Antwort war nicht gerade vertrauenerweckend: »Das weiß ich selbst nicht so genau.«

Ich wusste zwar, dass dieser Abschluss ein Sprungbrett für verschiedene Laufbahnen als Journalistin, bei einem Thinktank, bei der Regierung oder einer internationalen Organisation war. Was aber würde ich damit anfangen? Da hatte ich keine Ahnung. Die Nahoststudien reizten mich nur einfach ungemein. Meine Reisen in die Region hatten mich auf den Geschmack gebracht und ich brannte darauf, tiefer zu graben und mehr zu lernen.

Und so tat ich das, was ich schon immer getan hatte: Ich folgte diesem Verlangen tief in meiner Seele, dem Gefühl, dass nur ein bestimmter Weg für mich infrage kommt. Schon sehr früh in meinem Leben hatte ich die Entscheidung getroffen, Gottes Weisung zu folgen, wo immer diese mich hinführen würde. Dieses Bauchgefühl hatte mich noch nie im Stich gelassen, also hörte ich darauf. Zwei Jahre später führte mich der gleiche Drang in die hinterste Reihe einer überfüllten Bibliothek, um den Ausführungen eines CIA-Vertreters über eine Berufslaufbahn zuzuhören, die ich mir für mich selbst nie hätte vorstellen können.

Ich weiß nicht mehr viel von dem, was der Personalreferent an diesem Tag sagte, aber ganz sicher verließ ich diesen Raum nicht mit dem Gefühl, der Typ Mensch zu sein, den die CIA suchte.

Am späten Nachmittag, als ich meine Bewerbung in verschiedene dafür vorgesehene Ordner legte, fiel mein Blick auf einen Kasten im Career Center mit der Aufschrift »CIA: Bewerbungen bitte hier ablegen«. Dieser Kasten war bereits übervoll mit Unterlagen erwartungsvoller Bewerber. Meine warf ich oben drauf. Warum ich das tat, weiß ich nicht, abgesehen davon, dass ich händeringend einen Job suchte. Ich bewarb mich auf alle möglichen Stellen.

Nach ein paar Wochen erhielt ich einen Anruf von einer Frau, die sich als Einstellungskoordinatorin bei der CIA vorstellte. Die Behörde habe meine Bewerbung geprüft und für gut befunden. Nun luden sie mich zu einem persönlichen Gespräch ein.

Ich war sprachlos. Von all diesen Bewerbungen haben sie ausgerechnet meine ausgewählt? Wie ist das möglich? Ich bereitete mich tagelang auf dieses Gespräch vor. Nicht vorbereiten konnte ich mich jedoch auf das seltsame Gefühl, das mich überfiel, als ich auf die Tore des massiven, einschüchternden Komplexes in Langley, Virginia, zufuhr.

Ich bog von der Route 123 zum Haupteingang ab und folgte genau der Beschilderung, die die Besucherstraße vom Angestellteneingang trennte. Zaghaft brachte ich meinen Wagen neben dem bewachten Tor zum Stehen, um mich anzumelden, wie man mich angewiesen hatte. Als ich den Sicherheitsbediensteten meinen Ausweis aushändigte, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich dachte an Charlie an den Eisentoren der großen Schokoladenfabrik, wie er sich bereitmacht, in die uneinnehmbare Festung vorzudringen. Wie er hatte ich das goldene Ticket in der Hand, meine Eintrittskarte zu einem Ort, den ich nur aus Filmen kannte. Der schroffe Ton der Sicherheitsbeamten verstärkte noch das deutliche Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein; ich drang hier in eine streng geheime Einrichtung ein, zu der ich eigentlich keinen Zugang haben sollte.

Trotz meiner Nervosität verlief das Gespräch drinnen in dem großen Gebäude ausgesprochen gut. Die Frau, die mich befragte, war intelligent und freundlich. Wenig später erhielt ich unter Vorbehalt ein Stellenangebot als Führungsanalystin bei der CIA.

Die Onlinebeschreibung für diesen Posten lautete wie folgt:

Führungsanalysten … sind dafür verantwortlich, US-Politikern und anderen namhaften Entscheidungsträgern Bewertungen und Analysen über führende ausländische Politiker und Parlamentarier, Vertreter sowie andere wichtige Personen in den Bereichen Wissenschaft und Technik, Soziales, Kultur, Wirtschaft und Militär zur Verfügung zu stellen. Führungsanalyse wird am besten definiert als das Untersuchen aller Facetten von Führungspersönlichkeiten, einschließlich ihrer psychologischen Anteile. Dieser Forschungsbereich, der häufig als Ableger der politischen Psychologie angesehen wird, nutzt das Instrumentarium der Psychologie, um die Charakterzüge der betreffenden Person auszuwerten. Führungsanalysten verwenden diese Untersuchung der Psyche zur Analyse der Charakterzüge der Führungspersönlichkeit im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext.1

Ich habe keine Ahnung, mit welchen Augen sie meine Bewerbung betrachtet und entschieden hatten, dass ich genau die Richtige für diesen Job sein sollte. Aber andererseits: Was erlaubte ich mir, die CIA infrage zu stellen?

Das Angebot war abhängig vom Bestehen des Lügendetektortests, medizinischer und psychologischer Untersuchungen sowie von Recherchen zu meinem Hintergrund. Irgendwie schaffte ich es, all dies kurz vor meinem Abschluss in meinem Terminkalender unterzubringen.

Im Mai 2000 beendete ich mein Studium in Georgetown mit einem Master des Zentrums für zeitgenössische arabische Studien in der Tasche. In den Schoß gefallen war mir das nicht. Der Mastertitel wurde in diesem Studiengang nämlich erst nach Bestehen des gefürchteten Arabisch-Sprachtests mit mündlicher und schriftlicher Prüfung verliehen. Aber alle Mühe hatte sich gelohnt – einschließlich der Kopfschmerzen, die mir die arabische Sprache bereitet hatte –, denn ich würde für die CIA arbeiten!

Dachte ich zumindest. Eine Woche vor Arbeitsbeginn fand ich im Briefkasten ein seltsames Schreiben. Es war von der CIA, aber nicht so dick wie die Briefe, die ich sonst von ihnen bekommen hatte. Der Umschlag enthielt einen einzigen Bogen Papier mit einer kurzen Nachricht unter dem Briefkopf: »Sie erfüllen die Anforderungen für diesen Posten bei der CIA nicht mehr.« Sie hatten das Stellenangebot zurückgezogen. Punkt. Keine Erklärung. Einfach so. Vorbei.

Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Was habe ich falsch gemacht? Warum erfülle ich ihre Anforderungen nicht mehr? Welche Anforderungen meinen sie eigentlich? Was bedeutet das? Womit habe ich mir bloß diese Stelle verscherzt?

Nach all der Zeit und Mühe, die es mich gekostet hatte, einen Master von Georgetown zu erwerben und mir die Stelle zu sichern, stand ich nun mit einer kalten, unpersönlichen Absage da. Ich war am Boden zerstört.

Vielleicht haben sie ja recht, dachte ich. Vielleicht bin ich doch nicht die Richtige für die CIA, weil ich dies nicht habe kommen sehen.

Noch immer unter Schock begann ich am nächsten Tag meine Jobsuche noch einmal ganz von vorne. Ich bewarb mich auf alle nur denkbaren Stellen beim Außenministerium, bei Thinktanks, Interessenverbänden und Nachrichtendiensten im Raum Washington, D. C. Mein Posteingang quoll über von Absagen. Überall schien es Nahostexperten im Überfluss zu geben. Die Organisationen und Behörden, die offene Stellen hatten, suchten Leute mit langjähriger Erfahrung. Es ist das Rätsel, vor dem jeder Neuabsolvent steht: Wie soll man Berufserfahrung sammeln, wenn man nirgendwo eine Chance bekommt?

Um keinen Preis würde ich diesen Lebensabschnitt noch einmal durchleben wollen. Depression und Unsicherheit brachen über mich herein. Meine Chancen auf eine Stelle waren offensichtlich noch genauso gering wie vor fünf Jahren, als ich nach dem Grundstudium in D. C. ankam. Nun hatte ich zwar einen Master von einer Top-Universität in der Tasche, stand aber anscheinend nicht anders als vorher da. Wieder suchte ich nach Zeitarbeitsjobs, und hatte dabei Mitbewerber, die ein College nie gesehen hatten. Mir wurden Jobs als Hilfskraft unter der Leitung von anderen Hochschulabgängern vermittelt, die irgendwie in diese fantastischen Posten hineingerutscht waren. Was hatten diese Neuabsolventen, was mir fehlte? Warum fanden sie eine Stelle und ich nicht?

Jedes Gebet, das ich an Gott richtete, schien ungehört oder unbeantwortet in der Luft zu hängen. In der Stille betete ich: »Gott, wo bist du?« und »Gott, bitte zeige mir, wohin ich gehen soll!«

Keine Antwort.

Die mangelnde Weisung erzeugte in mir ein Gefühl der Leere, der Furcht und der Selbstzweifel, und ich fragte mich, ob Gott mich überhaupt jemals gehört hatte oder ob er mir vielleicht etwas Sagenhaftes vorenthielt. Ich ahnte noch nicht, dass er im Hintergrund längst die Fäden zog und mir den Weg in die Zukunft bereitete.

KAPITEL 2

Das Richtige

Nach einigen Monaten trafen Joseph und ich uns mit Justin, einem Freund, zum Essen. Begeistert erzählte er uns, dass er sich auf eine Stelle bei der CIA beworben habe. Zwar stehe er im Auswahlverfahren noch ziemlich am Anfang, sei aber schon ganz aufgeregt, weil er mit seiner Bewerbung überzeugt und die erste Runde an Vorstellungsgesprächen bereits hinter sich gebracht habe. Die Wunde, die die Absage bei mir hinterlassen hatte, war immer noch frisch. Deshalb fiel es mir schon schwer, diese drei Buchstaben – CIA – überhaupt nur zu hören, ganz zu schweigen davon, einen Freund zu unterstützen, der nichts lieber wollte, als dort zu arbeiten.

Aber es war nicht nur das: Mittlerweile hatte ich eine Stelle bei der Akademie für Bildungsentwicklung gefunden, einer gemeinnützigen Organisation mit Schwerpunkt Bildung, Gesundheit und Wirtschaftsentwicklung in Ländern der ganzen Welt. Meine Aufgabe als Programm-Mitarbeiterin war es, einen Marketingplan für ein nationales Stipendienprogramm auszuarbeiten und durchzuführen. Zwar mochte ich meine neuen Kollegen und fand den Auftrag dieser Organisation durchaus ehrenwert. Aber bald schon hatte ich erkannt, dass ich für diese Stelle nicht die Richtige war. Von Marketing verstand ich zum Beispiel nicht viel. Ich hatte lediglich einen Punkt erreicht, an dem ich einfach nur froh war, dass es beruflich irgendwie weiterging. Und ich bekam die Chance, nach dem Verlust der Stelle als Analystin wieder auf die Füße zu kommen.

Ich muss es Justin zugutehalten: Er wusste, was ich durchgemacht hatte, und zeigte sich durchaus einfühlsam. Außerdem hatte er etwas Interessantes zu erzählen. Er hatte sich nämlich nicht als Analyst beworben – die Position, für die ich bereits eine Zusage gehabt hatte –, sondern als Operations Officer.

Bis dahin war mir nicht klar, dass die CIA in mehrere Bereiche aufgeteilt ist, von denen jeder ein eigenes Aufgabenfeld hat. Die CIA, so erklärte er uns, bestehe aus folgenden sogenannten Direktoraten:

• dem Directorate of Operations (das später, von 2005 bis 2015, vorübergehend National Clandestine Service hieß),

• dem Directorate of Intelligence (das im Jahr 2015 in Directorate of Analysis umbenannt wurde),

• dem Directorate of Science and Technology sowie

• dem Directorate of Support.

Das Directorate of Operations sammle und bewerte Geheiminformationen; das Directorate of Intelligence analysiere die Informationen und stelle sie für politische Entscheidungsträger und andere Nutznießer in einen Kontext; das Directorate of Science and Technology stelle sicher, dass die Beschaffer von Geheiminformationen über die erforderlichen technischen Werkzeuge verfügten; und das Directorate of Support sorge dafür, dass der CIA das erforderliche Personal zur Verfügung stehe, um das gesamte Spektrum von Geheimdiensttätigkeiten abdecken zu können.

Wahrscheinlich hatte ich diese Beschreibung der CIA bereits bei der Informationsveranstaltung in Georgetown gehört. Aber da ich sie nicht mit den Menschen, die von der CIA angeworben werden, in Verbindung brachte, dachte ich nicht groß über ihre Struktur oder Organisation nach. Als ich also meine Bewerbung in den von der CIA aufgestellten Kasten warf und später von der Personalabteilung für die Stelle als Analystin kontaktiert wurde, verfolgte ich bloß diesen Weg. Ich wusste nicht, dass es noch andere Möglichkeiten gab.

»Das Nonplusultra«, sagte Justin, »ist das Directorate of Operations.« Zu den Aufgaben der Männer und Frauen in diesem Direktorat gehöre das Identifizieren, Entwickeln, Anwerben und Führen von Quellen, um an geheime Informationen zu gelangen, die für politische Entscheidungsträger in den USA von Interesse seien.

Für mich zumindest war der Gedanke an eine solche Tätigkeit völlig abwegig. Während eine derartig aufregende Aufgabe Justin und Joseph durchaus reizte, konnte ich mich selbst überhaupt nicht in dieser Rolle sehen.

Nachdem Joseph Justins Ausführungen eine Weile zugehört hatte, beschloss er, sich zu bewerben. Er meinte, ich sollte das auch tun, aber nein danke, das wollte ich nicht. Davon abgesehen war es auch gar nicht möglich. In dem Absageschreiben war mir mitgeteilt worden, dass ich mich frühestens in einem Jahr auf andere Stellen bei der CIA bewerben könne. Sechs Monate waren zwar bereits vergangen, aber so schnell wollte ich den ganzen mühsamen Prozess nicht noch einmal von vorne durchlaufen. Ich war also froh, erst einmal abwarten zu können, wie das Einstellungsverfahren für Joseph und Justin laufen würde.

Joseph reichte seine Bewerbung ein und erhielt beinahe augenblicklich Rückmeldung von der Personalabteilung. Am Telefon musste er einfache Fragen nach seiner Biografie beantworten und erklären, warum er für die CIA arbeiten wolle. Sie müssen mit seinen Antworten zufrieden gewesen sein, denn schon kurze Zeit später bekam er ein Einladungsschreiben zu einer Informationsveranstaltung über das Directorate of Operations.

Diese fand in einer Einrichtung im Norden von Virginia mit einer Gruppe von etwa sechzig Kandidaten statt. Ein Referent beschrieb die Tätigkeit eines sogenannten Undercover Officers, eines unter einer falschen Identität auftretenden Mitarbeiters, und allgemein die Arbeit im Ausland. Ein anderer beschrieb die drei Haupt-Laufbahnen: Operations Officer (OO) <etwa: Operationsoffizier>, Collection Management Officer (CMO) <etwa: Offizier im Sammlungs- und Erfassungsmanagement> und Staff Operations Officer (SOO) <etwa: Stabsoffizier>. Alle diese Mitarbeiter seien mit der Erfassung und Weitergabe von Informationen aus menschlichen Quellen befasst – manche jedoch unmittelbarer als andere.

Die Personalreferenten baten die Kandidaten, sich genau zu überlegen, welche Laufbahn sie bevorzugen würden, da sie sich vor dem Ende der Veranstaltung für eine Richtung entscheiden müssten. Es kam mir ein wenig verrückt vor, von den Bewerbern zu verlangen, sich so früh festzulegen, noch bevor irgendjemand eine genaue Vorstellung davon haben konnte, welche Stelle zu ihm passen könnte. Aber noch einmal: Was erlaubte ich mir, die CIA infrage zu stellen?

Sie erklärten auch, dass der Einstellungsprozess lang sei und die Kandidaten sehr genau unter die Lupe genommen würden. Schließlich müssten die Personalverantwortlichen sicher sein, nur Leute mit dem erforderlichen Hintergrund, der entsprechenden Erfahrung und dem für die Stelle am besten geeigneten Persönlichkeitsprofil einzustellen.

Die CIA legt nämlich Wert auf eine seltsame Kombination von Eigenschaften: Sie wollen ehrliche Leute, die aber lügen können. Sie wollen Leute, die noch nie das Gesetz gebrochen haben, aber dazu bereit sind. Denn wer für einen Geheimdienst im Ausland tätig ist, bricht zwangsläufig die Gesetze des betreffenden Landes. Sie wollen authentische, offene Leute, die aber gleichzeitig in der Lage sind, andere zu manipulieren. Sie wollen Leute, die gut im Team arbeiten, aber auch Operationen allein ausführen können, denn meistens ist man auf sich selbst gestellt. Sie wollen Leute, die sorgfältig vorausplanen, aber gleichzeitig blitzschnell auf eine veränderte Situation reagieren können.

Kurzum, die CIA sucht den wandelnden Widerspruch.

Der Anwerbe- und Prüfprozess ist auch deshalb so intensiv, weil die Personalabteilung komplex denkende Menschen sucht, denen höchst sensible nationale Aufgaben anvertraut werden können. Außerdem hat ein Geheimdienstmitarbeiter keinen Achtstundentag. Verdeckt zu arbeiten, ein geheimes Leben zu führen und seinen wahren Auftrag vor den meisten Menschen nicht preisgeben zu dürfen, ist ein Vollzeitjob im wahrsten Sinne des Wortes. Die Tätigkeit für einen Geheimdienst fordert die ganze Person und verlangt ihr im Dienst an einer höheren Sache Opfer ab. Das ist kein Abenteuer, in das man sich halbherzig stürzen könnte.

Agenten leben nicht nur ihre falsche Identität, sie müssen auch in der Lage sein, sie zu verteidigen. Ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Wohlergehen hängen davon ab, ob ihnen dies überzeugend gelingt. Sie müssen also mit dem damit verbundenen Druck umgehen können. Ihre Identität zu verteidigen heißt, Fragen über sich selbst und ihren Beruf beantworten zu können, ohne Verdacht zu erregen oder Zweifel an ihrer Identität oder ihren Absichten zu wecken. Solche Fragen können von allen möglichen Leuten gestellt werden: von Angehörigen, Freunden und zufälligen Beobachtern bis hin zu möglicherweise feindselig gesinnten Kreisen wie ausländischen Regierungen, Sicherheitsdiensten, der Polizei, verdeckten Ermittlern oder feindlichen Gruppen.

Um geschickt Auskunft zu ihrer Identität, ihrem Beruf, ihrer Tätigkeit, ihren Verbindungen oder Reisen geben zu können, müssen Agenten in der Lage sein, schnell und entschlossen zu reagieren. Sie müssen klug und kreativ sein. Auf keinen Fall dürfen sie sich anmerken lassen, wenn sie durch Fragen beunruhigt sind. Vor allem aber müssen sie selbstbewusst und freundlich auftreten. Unter den schwierigsten Umständen ruhig zu bleiben, ist jedes Mal aufs Neue das A und O. So wichtig Vorbereitung und konsequentes Handeln auch sind, werden Geheimdienstmitarbeiter immer wieder in Situationen kommen, auf die sie nicht gefasst sind. Trotzdem müssen sie angemessen reagieren.

CIA-Agenten müssen lernen, sich normal zu geben und den Anschein zu wecken, als sei »alles im grünen Bereich«, auch wenn sie gerade etwas tun, das unbeteiligten Zuschauern zweifelhaft vorkommen müsste. Als ich selbst Agentin geworden war, musste ich während einer Übung für eine andere Regierungseinheit einmal die Rolle einer Quelle spielen, die möglicherweise von einer Terrorgruppe bedroht war.

Die an der Übung teilnehmenden Studenten wurden angewiesen, mich konsequent zu überwachen, um die Wahrheit herauszufinden. Stundenlang ließen sie mich meilenweit an alle möglichen Orte laufen, um festzustellen, ob mir irgendwelche Schurken zum Ort des Treffens auf den Fersen waren. Um sicherzugehen, dass ich nicht verdrahtet war, gaben die Studenten mir über mein Handy Anweisung, mein T-Shirt hochzuheben, meinen Bauch zu zeigen und mich dabei im Kreis zu drehen. Vermutlich waren sie in einer Garage vierzig oder fünfzig Meter vor mir versteckt und versuchten gerade mit einem Fernglas zu sehen, ob ich verdrahtet war oder verfolgt wurde. Diese Anweisung hätte mich nicht gestört, wäre ich allein auf weiter Flur gewesen. Ich befand mich aber in einem Park – noch dazu auf einem vielbegangenen Weg. Wie soll ich das anstellen, ohne mich total zum Affen zu machen oder bei Unbeteiligten Verdacht zu erregen? Das war hier die Frage.

Schnell hob ich mein T-Shirt hoch, um meinen Bauch zu zeigen. Dabei tanzte ich im Kreis herum und heulte: »Ahhh! Weg mit dir, du blöde Biene! Fort, fort mit dir!« Keiner nahm Notiz davon.

Hier war in einem kurzen Einsatzszenario schnelle Reaktion gefragt. Bei unerwarteten Zwischenfällen einen kühlen Kopf zu bewahren, ist ein kritischer Punkt bei dieser Arbeit.

Während ihrer ganzen Laufbahn sind die Mitarbeiter im Directorate of Operations dem Druck ausgesetzt, ihre Tarnung wahren zu müssen. Dies endet aber auch nicht, wenn sie die CIA verlassen: Selbst Agenten, die aus der CIA ausscheiden, sind gesetzlich weiterhin verpflichtet, ihre falsche Identität zu schützen und die Geschichten, die sie erzählt haben, aufrechtzuerhalten, solange sie von dieser Verpflichtung nicht ausdrücklich befreit sind. Sich zu enttarnen, erfordert eine spezielle Genehmigung.

Diese Belastung ist aber nicht die einzige. Wer sich für eine solche Laufbahn interessiert, muss sich auch darüber im Klaren sein, dass die Arbeit für einen Geheimdienst gefährlich ist. In vielen Ländern dieser Welt ist das Anwerben und Führen von Spionen eine riskante Angelegenheit. Nicht jeder hält dem Druck stand, illegale Aktionen vor den Augen ausländischer Sicherheitsdienste auszuführen, die aktiv versuchen, Spione zu enttarnen – und schließlich festzunehmen – und CIA-Operationen zu durchkreuzen.

Geheimagenten wissen, was im schlimmsten Fall passieren kann und sind darauf geschult, Risiken zu minimieren. Sie fixieren sich zwar nicht ständig auf das, was schiefgehen könnte, aber wenn sie auf feindlichem Gebiet auffliegen, könnte es sein, dass sie wegen ihrer Aktivitäten und Verbindungen im Gefängnis landen oder sogar getötet werden. Im besten Fall würden sie festgenommen, befragt und des Landes verwiesen. Dank der minutiösen Vorbereitung jeder Operation – und sei sie auch noch so klein – sind solche Zwischenfälle jedoch selten. Die Kandidaten müssen sich aber bewusst sein, dass dies kein Spiel ist. Diese Bedrohungen sind sehr real und die Aufträge können lebensgefährlich sein.

Während des ganzen Einstellungsprozesses werden die Bewerber auf Herz und Nieren geprüft, denn die CIA muss sicherstellen, dass sich keine Feinde der Vereinigten Staaten in die Reihen der Geheimagenten mischen. Joseph erzählte mir später, dass bei diesem ersten Treffen ein Personalreferent, der den größten Teil seiner Laufbahn im Nahen Osten verbracht hatte, der Gruppe halb im Scherz gesagt habe: »Unseres Wissens ist es nicht ausgeschlossen, dass hier ein al-Qaida-Mitglied in unserer Mitte sitzt.«

Als dem Einzigen im Raum, der aus dem Nahen Osten stammte, war Joseph in diesem Moment mulmig zumute. Er hoffte, niemand würde ihn anschauen und sich fragen, ob er wohl ein Terrorist sei oder für einen ausländischen Geheimdienst arbeite.

Am Ende der Veranstaltung füllten die Bewerber ein Formular aus, in dem sie ihr Interesse an einer Laufbahn bei der CIA bestätigten. Jeder Kandidat musste sich für eine der drei Richtungen entscheiden, die im Vortrag beschrieben wurden. Joseph kreuzte ein Kästchen an, gab das Formular ab, kam nach Hause und erzählte mir alles. Er war ganz aufgeregt.