Hanns-Josef Ortheil

Wie ich Klavierspielen lernte

Roman meiner Lehrjahre

Insel Verlag

1

Es klingelt, und meine Mutter geht an die Tür unserer Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses im Kölner Norden. Draußen im Flur stehen drei Möbelpacker, die ein altes Klavier bringen. Sie warten darauf, dass Mutter sie einlässt und ihnen zeigt, wo das Klavier abgestellt werden soll.

Mutter spricht damals nicht, die Möbelpacker scheinen aber von ihrem Stummsein zu wissen, denn sie reden Mutter sehr freundlich und vorsichtig an, und dann macht sie einige Zeichen, führt die Männer ins Wohnzimmer und zeigt ihnen den Platz, den sie zusammen mit meinem Vater leergeräumt hat. Sie deutet auf die große Lücke, und die Männer nicken und bestätigen, dass sie das Klavier in diesen Leerraum rücken werden.

Dann gehen sie hinunter und holen das Klavier aus einem Möbelwagen, der vor unserer Haustür steht. Der Wagen ist hinten geöffnet, und einige Passanten stehen um ihn herum und beobachten, was passiert. Ich schaue aus einem Fenster unserer Wohnung zu und bin erstaunt, als ich das dunkelbraune Möbelstück sehe. Es ist nicht leicht zu tragen und sieht aus wie ein schweres Gehäuse mit merkwürdigen Bestandteilen. Einem langen, geraden Rücken, einem steifen Brustkasten, zwei gebogenen Beinen und (ganz unten) zwei Pedalen (wie bei einem Auto).

Ein solches Möbelstück habe ich noch nie gesehen. Ich bin fast fünf Jahre alt und spreche auch selbst kein Wort. Die einzigen Menschen, denen ich noch bedingungslos vertraue, sind meine Eltern. Tagsüber lebe ich an Mutters Seite, abends bin ich mit Vater unterwegs. Allein kann und will ich damals nicht sein, dazu ist die Angst einfach zu groß.

Auch vor dem schweren Möbelstück habe ich Angst. Ich will nicht, dass es bei uns wohnt, und gehe sofort auf Abstand, als es schließlich auf kleinen Rollen in die Wohnung gebracht wird. Die Möbelpacker schieben es an den vorgesehenen Platz und bleiben einen Moment regungslos stehen.

Auch Mutter wartet und betrachtet das Klavier. Dann öffnet sie den Tastaturdeckel langsam, und eine lange Reihe von schwarzen und weißen Tasten kommt zum Vorschein. Sie sehen aus wie kleine Katzen, die im nächsten Augenblick ins Wohnzimmer springen und sich dann in der ganzen Wohnung verteilen.

Mutter tritt näher an sie heran und berührt einige mit den Fingern. Mit zwei Fingern solche ganz oben und mit denselben zwei Fingern solche weiter unten. Die vier Tasten lassen vier Töne hören. Sie tropfen wie helle Perlen auf den Boden und kullern durch die ganze Wohnung. Die Möbelpacker sagen nichts, sondern nicken nur wieder.

Mutter muss etwas unterschreiben und tut das sehr rasch. Dann erhalten die Möbelpacker ein Trinkgeld. »Viel Freude damit, junge Frau!«, ruft einer von ihnen. Schließlich verschwinden sie. Mutter aber dreht sich um, geht zu dem merkwürdigen Möbel zurück und schließt es ab. Den Schlüssel steckt sie in eine Tasche ihres Kleides.

Das Klavier ist bei uns angekommen, aber wir lassen es warten. Vorerst haben wir nicht vor, es zu begrüßen oder etwas anderes mit ihm zu tun. Vielleicht hat auch Mutter Angst davor, dass es zu reden anfängt. Außer meinem Vater spricht niemand in unserer Wohnung. Stattdessen herrscht eine schwere, oft lastende Stille.

Mutter scheint nicht daran zu denken, das zu ändern, und so lassen wir das Klavier in Ruhe. Es steht wie etwas Überflüssiges, Monströses und sehr Fremdes an der Wohnzimmerwand. Was befindet sich in seinem Gehäuse? Ich denke an Schlangen, wie ich sie einmal im Zoo gesehen habe. Fette, reglose und unheimliche Schlangen, die wochenlang ohne Nahrung auskommen.

2

Sofort nach dem Aufstehen bin ich eine halbe Stunde im nahen Wald unterwegs. Ich drehe eine kleine Runde, komme zurück, trinke einen Tee und gehe ins Musikzimmer. Wenn ich die Tür von draußen öffne, blicke ich direkt auf das dunkelbraune Gegenüber. Es ist das alte Klavier, das uns vor sechzig Jahren ein Bruder meiner Mutter geschenkt hat. Ursprünglich stand es bei diesem Onkel im Arbeitszimmer. Da er wegen seiner beruflichen Verpflichtungen als Pfarrer einer großen Gemeinde nicht zum Üben kam, schenkte er es weiter. Im Haushalt meiner Eltern war es, wie er hoffte, gut aufgehoben.

Meine Mutter konnte Klavier spielen, besaß aber damals kein Instrument. Das alte Klavier, an dem sie jahrzehntelang geübt hatte, war während eines Bombenangriffs in Berlin zerstört worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie zwei Söhne verlor, hatte sie sich nicht entschließen können, ein neues Klavier zu kaufen. Sie war schweigsam und nach dem Tod von zwei weiteren Söhnen sogar stumm geworden. An ein Klavier oder an ein erneutes Klavierspiel hatte sie nie mehr gedacht.

Ich öffne den Tastaturdeckel und drehe den Klavierhocker etwas nach oben. Ein Blick nach draußen ins Grün, das so tut, als neigte es sich zu mir. Ich streife mit den Fingern kurz über die Tasten. Sie antworten sofort, lebendig, klar und hellwach.

Vor wenigen Tagen wurde das Klavier wieder einmal gestimmt. Ich mag das und bin den halben Tag mit zugegen, wenn der fast blinde Klavierstimmer sich des Instruments annimmt. Meist fachsimpeln wir ein wenig und sprechen über die neuen Standards der großen Klavierfabriken. »Wie lange wollen Sie es noch mit diesem Altertum aushalten?«, fragt der Klavierstimmer, und ich antworte: »Bis an mein Ende.« Wir lachen, und der Klavierstimmer legt sich wieder ins Zeug, hartnäckig, so dass ein und derselbe Ton manchmal minutenlang repetiert wird. Das tut ihm gut, es ist, als unterzöge man ihn einer Spezialuntersuchung.

Ich lockere die Schultern ein wenig, dann greife ich nach den Noten. Seit kurzem beginne ich wieder jeden Tag mit einer Übungsphase. Ich übe keine Stücke großer Komponisten, nein, ich übe überhaupt nicht die vertraute Musik, wie ich sie seit den Kindertagen kenne. Stattdessen übe ich kleine Etüden von Carl Czerny, keine länger als dreißig, vierzig Sekunden.

Es sind spezielle technische Übungen, jede mit einer anderen formalen Aufgabe. Früher fand ich sie anstrengend und hielt das Üben solcher Stücke für »Sport«. Jetzt gefallen sie mir erheblich besser. Es sind genau die richtigen Stücke, um mich wieder an das Klavierspiel zu gewöhnen. Ganz von vorne werde ich wieder anfangen, genau da, wo ich vor mehr als sechzig Jahren schon einmal begonnen habe.

Seit langem habe ich nicht mehr richtig geübt. Ich habe noch etwas gespielt und geklimpert, anspruchsvolle Stücke sogar, alles aber mit einer miserablen, unzulänglichen Technik. Den Ehrgeiz, ein Stück klassischer Musik (wie etwa eine Beethoven-Sonate) so wie früher einmal spielen zu können, hatte ich längst aufgegeben. Das ist jetzt anders, ich spüre zwar weiterhin keinen Ehrgeiz, aber doch einen starken Antrieb. Ich möchte es noch einmal wissen und zurück in die Zeiten finden, als ich gut Klavier spielen konnte.

Ich beginne mit kleinen Übungen in C-Dur. Die rechte Hand stürmt eine Quinte hinauf und hinab, die linke hat fast nichts zu tun. Dann umgekehrt: Die linke macht sich auf den Weg, die rechte begleitet mit wenigen Akkorden. Ich spiele sehr langsam und natürlich ohne Pedal. Kein laut und leise, überhaupt keine klanglichen Manöver. Ich trainiere meine lahm und müde gewordenen Finger, mehr nicht. Es ist wie beim Sport: Körpertraining, Training der Muskeln, Einübung von Kraft, Ausdauer und Geschwindigkeit.

Sehr allmählich werde ich etwas schneller. Schleichen sich Fehler ein, nehme ich das Tempo sofort wieder zurück. Kein lauter Anschlag, alles leise und verhalten. Nach etwa einer Dreiviertelstunde ist Schluss. Ich schließe den Tastaturdeckel und verlasse das Musikzimmer. Von draußen schaue ich noch einmal zurück. Das Klavier der Firma Seiler schaut mich an. Über ihm an der Wand hängt ein Plakat, auf dem nur ein einziges Wort steht: »Salve«.

Ich nicke, ich bin wieder bereit, ich habe wieder mit ernsthaftem Üben begonnen. Mal sehen, wohin mich das führt. In meinem Arbeitszimmer trage ich die Zahl der geübten Minuten und die Titel der Stücke, die ich gespielt habe, neben dem exakten Tagesdatum in ein kleines Heft ein: 7.32 Uhr bis 8.17 Uhr. Übungen op. 261 von Carl Czerny. Befriedigend.

3

Das Klavier der Firma Seiler bleibt in den fünfziger Jahren zunächst auf Distanz in unserem Wohnzimmer stehen. Mein Vater schaut es oft an, berührt aber keine Taste. Ich erkenne sofort, dass er mit dem Instrument nicht umgehen kann und gewiss kein Klavierspieler ist. Bei meiner Mutter dagegen ist das anders. Nach wenigen Tagen fängt sie an, sich um das Klavier zu kümmern, und an der Art, wie sie das tut, erkenne ich, dass sie mit dem fremden Ding Kontakt aufnehmen will.

Dann öffnet sie den Tastaturdeckel und holt ein weiches Tuch, das sie zuvor etwas angefeuchtet hat. Damit säubert sie die Tasten, langsam und gründlich. Mit den tiefen, heiser röchelnden geht es los, dann kommen die eher langweiligen, farblosen in der Mitte dran und schließlich die hohen, bis hin zu den kreischenden.

Ich sitze im Erker des Wohnzimmers auf dem Boden und schaue Mutter zu. Mit einem Mal begreife ich, dass zu jeder Taste nur ein einziger, ganz bestimmter Ton gehört. Es müssen sehr viele und sehr verschiedene sein, und die weißen klingen anders als die schwarzen. Wird nach einer weißen Taste eine schwarze gespielt, klingt das nicht gut, eher mühsam, als stiege man schwitzend einen Abhang hinauf. Wird dagegen nach einer schwarzen Taste eine weiße angeschlagen, hört sich das wie ein friedliches Ausruhen an.

Mutter säubert die Tastatur von unten nach oben und danach noch einmal von oben nach unten. Jede Taste erhält eine gründliche Behandlung und Säuberung von ungefähr gleicher Dauer, keine wird bevorzugt oder benachteiligt. Es ist, als wollte Mutter sich vergewissern, dass alle Tasten einsatzbereit sind – so kommt es mir jedenfalls vor. Beim Säubern werden sie getestet, und das so oft, bis Mutter sicher sein kann, dass keine von ihnen ausfällt.

Nach der Säuberung wird der Tastaturdeckel wieder verschlossen. Manchmal wird das Gehäuse später noch mit einem anderen Tuch behandelt, nachdem es einige Spritzer aus einer Flasche Tinktur abbekommen hat. Die Tinktur riecht stark und beizend, und man bekommt Kopfschmerzen, wenn das Auftragen auf dem Gehäuse zu lange dauert. Hinterher glänzt das dunkelbraune Holz aber sehr schön, und das Klavier wirkt wie frisch gebohnert oder glasiert.

Mit einem derartigen Glanz verwandelt es sich in eine vornehme Gestalt, die ihr Geheimnis noch immer für sich behält. Nie würde ich es wagen, es zu berühren. Das Äußerste, was ich tue, ist mit dem runden Klavierhocker zu spielen, dessen Sitz ich mühelos hinauf- und hinabdrehen kann. Nachdem das Gestänge geölt worden ist, quietscht er nicht mehr, sondern schnurrt, wenn man heftig an ihm dreht, rasant auf- und abwärts.

Ich lege mehrere dicke Kissen aufeinander und nehme hinter dem Hocker auf ihnen Platz. Dann fahre ich los, ich drehe an der runden Scheibe des Hockers und bewege sie hin und her. Ich stelle mir vor, dass ich ein kräftiger Lastwagenfahrer bin, mit dem Steuer in beiden Händen. Die zwei Pedale sind das Gas- und das Bremspedal, so, wie ich einmal welche während einer Lastwagenfahrt mit einem Onkel kennengelernt habe.

Er ist ein Bruder meines Vaters, und er besitzt einen Bauernhof mit den unterschiedlichsten Fahrzeugen. Einen Traktor, einen Lastwagen, einen Mähdrescher. Sonntags fährt er mit seiner Frau und den Kindern in einem Mercedes zur Kirche, werktags aber ist er mit den schwereren Fahrzeugen meist gut gelaunt (und bekleidet mit einem Hut) unterwegs.

Ich denke daran, während meiner Klavierhockertouren ebenfalls einen Hut zu tragen, ja, ich probiere es sogar mehrmals. Dabei trage ich einen Hut meines Vaters, der mir viel zu groß ist. Bewege ich mich etwas heftiger, rutscht er vom Kopf und rollt über den Boden. Schade, dass ich keinen Kinderhut besitze, sehr schade! Ich versuche, einen zu zeichnen, um Mutter mitzuteilen, dass ich mir einen wünsche.

Mutter schaut sich die Zeichnung an und lächelt, dann legt sie das Blatt beiseite. Nein, sie hat nicht verstanden, woran ich denke, anscheinend glaubt sie, dass ich Vaters Hut gezeichnet habe. Ich streiche den Hut durch und zeichne darunter einen kleineren. Mutter lächelt auch über diese Zeichnung, ohne begriffen zu haben. Danach gebe ich das Zeichnen von Hüten auf. Ich könnte noch viele weitere zeichnen, ohne dass sie meinen Wunsch verstehen würde.

Also fahre ich weiter hutlos, immerhin aber bekleidet mit einem bunten, karierten Hemd, das ein wenig Ähnlichkeit mit den Arbeitshemden meines bäuerlichen Onkels hat. Ich brumme vor mich hin, als hätte ich einen Motor angeworfen, und ich verstärke und vermindere das Brummen, je nach den unterschiedlichen Straßen und Wegen, die ich gerade entlangfahre.

Das laute und das leise Brummen sind in der ganzen Wohnung zu hören. Manchmal kommt Mutter in den Türrahmen, bleibt dort stehen und horcht. Es ist nun nicht mehr ganz still, so wie früher. Meine Laute antworten auf die wenigen Klimpertöne des dunkelbraunen Gehäuses, das außerhalb der Säuberungsaktionen weitgehend schweigend und verschlossen vor mir steht. Ein erster, noch sehr zaghafter Kontakt ist nun auch von meiner Seite aus hergestellt.

In späteren Jahren, als Mutter längst wieder sprach, erzählte sie davon und sagte, sie habe erstaunt bemerkt, wie ich mit dem fremden Klavier langsam »Fühlung aufgenommen« habe.

»Fühlung aufnehmen« – das trifft es. Ich rücke dem dunklen Kasten zu Leibe, ich atme seinen Geruch ein und spiegele mich in seinem Tinkturenglanz. Und was ist mit meinem Brummen? Wirkt es nicht wie die Anrufung eines ehernen Standbilds und wie eine Aufforderung, seinen Holzpanzer endlich zu öffnen?

4

An einem Abend sitze ich mit meinem Vater in der Küche unserer Wohnung, da höre ich Mutter zum ersten Mal Klavier spielen. Zuvor ist es wie immer sehr still gewesen, nicht einmal das Radio (das Mutter nicht mag) haben wir eingeschaltet. Mutters Klavierspiel beginnt nicht leise oder verhalten, sondern gleich so, als eröffnete sie ein Konzert. Einige strahlende, helle Akkorde werden angeschlagen und marschieren durch unsere Zimmer. Sie verdrängen alles, was im Weg steht, und erobern die Räume, als wären sie aus der Fremde heimgekehrt und hielten nun wieder Einzug.

Vater und ich sitzen regungslos da und lauschen. Ich schaue Vater an und sehe, wie erschrocken er ist. Sein Gesicht ist rot und glänzt. Freut er sich oder hat er Angst? Ich jedenfalls habe im ersten Moment sofort wieder Angst, denn die Klänge wirken gewaltig und so triumphal, als gehörten sie nicht in unsere Wohnung. Menschen, die solche Musik spielen, leben woanders, in ganz anderen Städten und Ländern. Bestimmt sprechen sie auch eine andere Sprache und essen etwas ganz anderes als wir. Warum aber spielt Mutter eine solche Musik?

Noch heute wundere ich mich darüber, dass Vater und ich die Küche nicht verlassen haben. Wollten wir nicht sehen, wie Mutter spielte, wollten wir uns nicht überzeugen, ob sie es wirklich war? Nein, das wollen wir nicht, wir denken wohl nicht einmal daran. Kerzengerade sitzen wir auf unseren Stühlen, wie Zuhörer in einem Konzert.

Konzerte habe ich bis dahin noch nie erlebt, ich weiß also nicht, wie es in ihnen zugeht und wie die Räume aussehen, in denen sie aufgeführt werden. Ohne es zu ahnen, verhalte ich mich aber wie ein kleiner Konzertbesucher. Ich höre angestrengt zu, ich konzentriere mich – ganz wie mein Vater, der sogar mit leicht geöffnetem Mund dasitzt und hörbar aus- und einatmet. Anscheinend regt die Musik ihn sehr auf, ja: Die Musik fährt einem in den Leib und hinterlässt eine heftige Unruhe, die sich rasch ausbreitet und den ganzen Körper durchströmt.

Je länger ich zuhöre, umso freundlicher erscheinen mir die Klänge. Sie beginnen zu wandern und sich umzuschauen, und sie sind nicht im Geringsten bedrohlich. Erstaunlich ist, dass das Klavier sich wie ein großes Orchester mit vielen verschiedenen Stimmen anhört. Die Finger können einzeln, zu zweit, aber eben auch zu vielen Musik machen! Sie können trommeln, wirbeln und klettern – und zwar alle fünf, und das an beiden Händen!

Mutter scheint darin eine Meisterin zu sein. Natürlich habe ich das nicht erwartet, und natürlich habe ich keine Ahnung, wo sie das gelernt haben könnte. Viele Jahre muss sie Unterricht erhalten haben, damit sie so gut spielen kann, so treffsicher und leicht!

Erst sehr viel später habe ich sie einmal gefragt, welches Stück sie damals gespielt hat. Sie erinnerte sich genau und sagte, dass es ein Stück von Frédéric Chopin war. Und welches? Die Polonaise in A-Dur! Und warum die? Sie habe nichts Ruhiges oder Melancholisches spielen wollen, sondern ein Stück, das die Räume öffnet und frische Luft hereinlässt. Das Ganze habe ein Auftakt sein sollen, ein Entrée, als ginge ein Vorhang auf einer Bühne wieder auf, nachdem er lange Zeit geschlossen gewesen war.

Die Polonaise in A-Dur op. 40 also! Direkt nach dieser Unterhaltung habe ich sie mir wieder auf einer Schallplatte angehört, gespielt von Arthur Rubinstein. Schon mit den ersten Klängen war der große Kindheitsmoment mit all seinen Stimmungen wieder da: Vater und Sohn, zwei Zuhörer in der Küche! Die Zaubereien von Mutters Fingern, die über die Tasten sprangen! Und? – und der grausame Moment, als ihr Spiel zusammenbrach, weil es sie überforderte und weil sie das Strahlen dieser triumphal dahermarschierenden Klänge nach den tieftraurigen Erlebnissen in ihrem Leben noch nicht ertrug.

Von einem Moment auf den andern hört sie auf, schlägt auf die Tasten ein, stöhnt und weint. Mein Vater steht auf und geht sofort zu ihr, und ich schleiche hinter ihm her, unsicher, ob ich das Wohnzimmer wirklich betreten soll. Wir sind beide sehr hilflos, selbst Vater weiß nicht, was er tun soll. Er versucht, Mutter zu beruhigen, aber er hat dafür keine Worte, und so reicht er ihr ein Stofftaschentuch, damit sie ihre Tränen trocknen kann.

Ich sehe dieses Taschentuch bis heute vor mir: wie es aus Vaters Hose herausgezogen und entfaltet wird, wie es schlaff in der Luft hängt und hin und her baumelt und wie die Hand meines Vaters zittert. Ich nehme es ihm ab und reiche es an Mutter weiter, und als sie es direkt vor Augen hat, schaut sie auf, erkennt mich und wischt sich mit dem Tuch das Gesicht. Es ist die Sekunde, in dem sie sich besinnt. Sie lächelt sogar kurz angesichts des Taschentuchs, das sie in den Händen hält, ja, sie schüttelt den Kopf, als wollte sie der Trauer auf keinen Fall länger nachgeben.

Weiterspielen will sie anscheinend aber auch nicht, später vielleicht einmal, nicht jetzt. Soll sie das Klavier schließen, damit es wieder abtauchen und erstarren kann? Das kommt auch nicht in Frage, es sähe aus wie eine Niederlage.

Mutter hat eine viel bessere Idee. Und so nimmt sie mich an der Schulter und zieht mich hinüber zu dem Klavierhocker. Ich darf mich hinsetzen und meine Hände auf die Tasten legen. Dann holt sie sich einen Stuhl und setzt sich neben mich. Dicht nebeneinander sitzen wir vor den schwarz-weißen Tasten, bis Mutter eine von ihnen anschlägt. Dafür nimmt sie den zweiten Finger, sie krümmt ihn ein wenig und lässt ihn auf die Taste springen. Drei-, viermal darf der Finger hüpfen, dann zieht sie ihn zurück und deutet mit ihm auf meinen eigenen rechten Zeigefinger.

Ich bin dran, auch ich soll meinen Finger bewegen und eine Taste anschlagen.

Das kann nicht allzu schwer sein, oder? Von wegen. Ich lasse meinen Finger springen, und er schlägt auf die Taste. Viel zu laut hört sich das an, also versuche ich es ein zweites Mal. Diesmal klingt der Anschlag zu leise, er ist kaum zu hören. Also los, ein drittes Mal! Wieder bekomme ich es nicht so hin, wie ich es mir vorstelle. Der Ton klingt nicht normal, sondern zittrig, außerdem fühlt mein Finger sich hart an und steif. Was ist denn bloß los?

Ich habe gedacht, dass jeder Mensch auf diesem Klavier Musik machen kann, das ist aber keineswegs so. Die Tasten gehorchen mir nicht, und meine Finger fühlen sich verkrampft an. Selbst im Oberarm tut sich etwas, dort spüre ich ein kleines Zucken.

Mutter nimmt meinen Finger und hält ihn eine Weile still. Dann führt sie ihn zurück und lässt ihn eine Taste nach der andern anschlagen. Ganz langsam und ruhig, mit etwas zeitlichem Abstand. So wandere ich mit meinem Zeigefinger die Tastatur hinauf und wieder hinab, immer wieder, ruhiger und leiser werdend.

Jeder angeschlagene Ton soll sich anhören wie der vorige, und genau das ist sehr schwer. Manchmal rutscht der Finger zur Seite und schlägt mehrere Tasten auf einmal an. Dann bleibt er zwischen zwei schwarzen hängen und muss sich erst wieder befreien.

Das Klavier, stelle ich fest, hat einen eigenen Willen, es gehorcht mir nicht. Um gut hörbar auf ihm zu spielen, muss ich mich auf seine Tasten einstellen. Wandern meine Finger nach rechts, muss der Oberkörper ein wenig mitwandern. Darf ich den Klavierhocker hinterherschieben oder wie bekomme ich es hin, immer aufrecht und gerade zu sitzen, auch wenn meine Finger sich immer weiter von meinem Körper entfernen und die weit entlegenen Regionen ansteuern, in denen die klirrenden, höchsten Töne zu Hause sind?

Leben die Tasten etwa wie Tiere? Sitzen sie tagsüber in ihrem großen Gehäuse und rühren sich nicht, rächen sich aber beim Spielen dafür, dass man sie gefangen hält? Etwas an ihnen lässt mich immer wieder an kleine Tiere im Zoo denken, Tiere, die sich kaum bewegen, plötzlich aber losfauchen, wenn man ihnen versehentlich nahekommt. Die Besucher nehmen an, es sind Freunde, das aber sind sie ganz und gar nicht. Sie leben in erbitterter Feindschaft mit den Menschen, zeigen das aber nicht offen, sondern nur, wenn sie nicht beobachtet werden.

Respekt haben sie dagegen vor jenen, die sich tagaus, tagein mit ihnen beschäftigen. Diese Menschen lassen sie näher kommen, und von ihnen lassen sie sich sogar füttern. »Pfleger« nennt man sie oder »Dompteure«, ich habe diese Worte viele Male gehört – und obwohl es fremde und seltene Worte sind, weiß ich ausnahmsweise einmal genau, was sie bedeuten.

Die große Frage ist also, wie ich ein Pfleger oder Dompteur der schwarzen und weißen Tasten werden kann. Was muss ich tun, und wie muss ich mich in Zukunft verhalten?

Das ahne ich natürlich noch nicht, ich weiß nur, dass ich viel Zeit werde aufbringen müssen, bis meine Finger die Tasten einigermaßen zum Klingen bringen. Und so höre ich nicht auf, sie mit meinem Zeigefinger anzuschlagen, so lange, bis die Nachbarn bei uns klingeln und sagen, das gehe aber nun wirklich zu weit.

Mein Vater entschuldigt sich, sagt jedoch, dass wir für die Zukunft Vereinbarungen darüber treffen müssen, in welchen Stunden des Tages ich üben darf. Ein wenig am Morgen, mittags natürlich nicht, aber nachmittags auf jeden Fall wieder ein wenig. Die Nachbarn sind entsetzt. So viel? »Das ist keineswegs viel«, antwortet mein Vater (störrisch wie er sein kann), »der Junge muss sich austoben dürfen. Wenn er es am Klavier nicht darf, wo soll er es sonst tun, stumm wie er ist?«

Stumm – da fällt das Wort wieder, das alle mundtot macht. Ich bin stumm, mit meinem Stummsein bin ich meiner stumm gewordenen Mutter in die sprachlosen Gefilde gefolgt. Wer genötigt wird, meine Lage zu verstehen oder mir gar zu helfen, schweigt und sagt dann zunächst nichts mehr. So auch die Nachbarn. Sie ziehen davon, so dass mein Vater schon am ersten Tag meines Klavierspielens die Voraussetzungen für eine baldige Existenz als perfekter Pfleger und Dompteur geschaffen hat. Ich könnte einer von denen werden, die den halben Tag mit ihren Tieren verbringen, einer, den die Tiere lieben lernen!

5

Mit dem Klavierspiel von Mutter und Sohn beginnt in der Wohnung im Kölner Norden eine neue Zeitrechnung. Von nun an erhalten die Tage eine Struktur und einen Verlauf. Nach dem morgendlichen Aufstehen warte ich sehnlichst darauf, dass der Tastaturdeckel geöffnet wird. Ich muss mich aber gedulden. Denn Mutter hat einen Beruf und deshalb zunächst noch anderes zu tun.

Was genau hat sie zu tun? Sie ist Bibliothekarin, arbeitet wegen ihrer Sprachprobleme jedoch nicht wie früher in den Räumen der Pfarrbibliothek. Die liegen aber nur wenige hundert Meter entfernt, und so kommt alle paar Tage eine Mitarbeiterin vorbei, um neu bestellte und eingetroffene Bücher in unsere Wohnung zu bringen. Mutter blättert sie durch, liest in ihnen und ordnet sie einem Themen- oder Sachbereich zu. Dann bekommen sie eine Nummer und erhalten auf einem kleinen Zettel einen kurzen Kommentar: für wen dieses Buch geeignet ist und wem es empfohlen werden sollte.

Wenn Mutter im Wohnzimmer liest und die vielen neuen Bücher in kleinen Stapeln um ihren Sessel herum aufbaut, darf ich nicht Klavier spielen. Ich muss mich beschäftigen und tue das, indem ich mir die vielen neuen Bücher für Kinder anschaue. Früher, in den Zeiten vor der Ankunft des Seiler-Klaviers, machte ich das eine Zeitlang sehr gern. Ich blätterte die vielen Bilderbücher durch und versuchte, ihre Geschichten einigermaßen zu verstehen. Lesen konnte ich natürlich noch nicht, deshalb blieb meine Lektüre auf das Blättern beschränkt.

Zuletzt hatte es mich allerdings mehr und mehr gelangweilt. Ich suchte stattdessen Zuflucht bei meinem Spielzeug und dachte mir Spiele aus. Wenn Mutter sich mit ihren Büchern beschäftigte, baute ich auf dem Wohnzimmerboden immer größere Spiellandschaften auf. Hatte ich möglichst viel Spielzeug verteilt, setzte ich mich in die Mitte und stellte mir vor, dass nun eine Geschichte begann. Die Elefanten brachen aus ihren Zoogehegen aus und streunten durch die Stadt, die Straßenbahnfahrer überfuhren vor lauter Schreck einige rote Ampeln, und die Eisverkäufer ließen das Eis auf den Boden fallen, als sich ihnen ein Zooleopard näherte.

Die Geschichten in meinem Kopf waren ausschließlich Katastrophengeschichten. Sie endeten erst, wenn die halbe Welt durcheinander war und auf dem Kopf stand. Vom vielen Fantasieren müde geworden, legte ich mich auf den Rücken und versuchte, wieder Ruhe in mein Hirn zu bekommen. Das gelang, wenn ich mit geschlossenen Augen genau darauf achtete, was Mutter gerade tat. Ich hörte sie Seiten umblättern, sich räuspern, mit Papier rascheln, sich eine Notiz machen, einen Schluck Tee trinken.

Manchmal stellte ich mir auch vor, ich hörte einer ganz anderen Person zu. Aber wem? Fast immer waren es Frauen, die ich während der Einkaufsgänge mit meiner Mutter gesehen hatte. Eine Kioskbesitzerin blätterte in ihren Zeitschriften und strickte zwischendurch. Eine Verkäuferin im Käseladen kämmte sich die Haare und wartete auf Kundschaft.

So spielte ich nur für mich imaginäres Theater. Die Menschen, die ich kennengelernt hatte, erschienen bei uns, spielten kurze Szenen und lösten sich wieder in Luft auf. Dadurch erhielt sich die Illusion eines Kontaktes und einer Nähe, die es in Wahrheit nicht gab. Die meisten Leute konnten mit Mutter und mir nämlich nichts anfangen. Sie lächelten uns mitleidig an, redeten irgendwas und gaben das Reden schließlich auf, da wir nicht antworteten.

Erst wenn Mutter sich nach dem Frühstück lang genug mit den neuen Büchern beschäftigt hat, kommt das Klavierspielen dran. Zusammen räumen wir meine Spiellandschaften wieder beiseite und nähern uns dem Instrument. Vom Speicher hat Mutter einen Karton mit Noten geholt. Sie wählt einige aus und legt sie auf den Klavierdeckel. Ein Heft oder auch nur einige lose Seiten werden aufgeschlagen. Die schwarzen Noten auf den feinen, geraden Linien wollen gespielt werden, das verstehe ich schon bald. Ich sitze seitlich auf dem Boden und kann Mutter beobachten, wie sie das Notenheft glattstreicht und die Seiten überfliegt.

Bevor sie ernsthaft zu spielen beginnt, zieht sie meist noch rasch etwas anderes an. Sie legt das Kleid mit Ärmeln, das sie zuvor beim Lesen getragen hat, beiseite und wählt ein Kleid (oder eine Bluse) ohne Ärmel. Schmuck trägt sie nicht, nicht um den Hals, nicht an den Armen und Fingern. Mutter sitzt mit flachen, festen Schuhen da wie eine Frau, die sich auf eine Wanderung begibt.

Die Art, wie sie sich auf das Spiel vorbereitet, beobachte ich genau. Anscheinend fällt es leichter, wenn man passend gekleidet ist. Kein Kleidungsstück darf stören, nichts darf im Weg sein, nichts ablenken, ein luftig gekleideter Körper begegnet dem gespannt wartenden Instrument, als wollten beide Sport miteinander treiben.

Mutters Umkleiden färbt ab. Wenn ich mich selbst ans Klavier setze, ziehe ich den Pullover aus und kremple die Ärmel des Hemdes hoch. Ich ziehe Turnschuhe an und kämme mir vorher die Haare mit Wasser, damit mir die langen Strähnen nicht ins Gesicht fallen. So entsteht die erste Ahnung einer konzertanten Figur: das für das Klavierspiel zurechtgemachte Kind, ein still gestellter Körper, der das Bild eines hartnäckig Übenden abgeben soll.

Dabei lernt der kleine Übende vor allem eins: Konzentration! Jeder Körperteil hat sich dieser Anstrengung unterzuordnen. Nicht zappeln, die Schultern nicht hochziehen, den Oberkörper leicht durchdrücken – im idealen Fall ist der kleine Übende eine Skulptur.

Sobald ich in den Bannkreis des Instruments gerate, spüre ich die Wirkung seiner Kräfte. Bin ich mit ihnen verbunden, denke ich an nichts anderes mehr. Ich blicke starr auf die Tasten und vergesse den Alltag ringsum. Es ist, als hätte ich (wie im Zirkus) eine kleine Arena betreten, um dort einige Kunststücke aufzuführen. Es geht um Artistik und somit darum, den Armen, Händen und Fingern Schnelligkeit, Gewandtheit und Anschlagskraft beizubringen.

Noch geheimnisvoller wird das Ganze aber dadurch, dass außer Vater, Mutter und mir niemand bei diesen ersten Übungen anwesend ist und sie auch auf anderen Wegen niemand mitbekommt. Ich übe sehr leise, kaum hörbar. Meine Aufgabe besteht darin, den Tasten ein möglichst reges Flüstern von Tönen zu entlocken. Laut auftrumpfen darf ich noch nicht, das ist vorerst ausschließlich Mutters Sache.

Früher habe ich vor allem in den Fantasiewelten meiner Spielzeuge gelebt. Ich war ein Geschichtenträumer gewesen, der seine Erzählungen so aufgebaut hatte, wie es ihm gerade gefiel. Die Spielfiguren leisteten keinen Widerstand, sie fügten sich allem, was ich mit ihnen vorhatte und anstellte.

Das Klavier aber ist anders, denn es ist widerständig. Als hilfloser Anfänger muss ich mich einem undurchschaubaren Apparat unterwerfen. Ich habe Haltung anzunehmen, muss bestimmten Regeln gehorchen und bekomme etwas zu spüren und zu greifen, das sich zunächst einmal starr, unzugänglich und kraftvoll präsentiert.

So beginnt das Üben als ein geheimer Zweikampf. Das Klavier und ich, ich und das Klavier – ich bin aus meinen Traumwelten herausgeschleudert worden und fühle mich nun versetzt in ein Land, in dem Töne, Klänge und Komponisten auf magische Weise regieren.

Einige Monate später sind die neuen Tagesabläufe in unserer Wohnung schon zur Gewohnheit geworden. Nach der Beschäftigung mit den Büchern setzt Mutter sich meist an das Klavier. Sie übt nicht, sondern spielt einige kurze Stücke, und jedes Mal bemerke ich kleine Fehler an jeweils anderen Stellen. Das scheint sie aber gar nicht zu stören, sie unterbricht das Spiel nicht, sondern spielt jede Komposition zu Ende. Täglich sind es nicht mehr als höchstens drei, und ich sitze neben dem Klavier auf dem Boden und bekomme alles genau mit.

6

Ich habe die Bilder von Mutters Üben noch genau vor Augen. Wie sie sich leicht nach vorne beugt, die langen schwarzen Haare hinten zu einem Knoten zusammengebunden. Sie spielt sich mit einigen Läufen und Akkorden warm, das dauert nicht mehr als ein paar Minuten. Danach geht es los, und sie spielt kraftvoll und energisch.

Die Stücke, die sie damals spielte, könnte man auch »ein Repertoire« nennen. Es besteht aus einer begrenzten Auswahl von Kompositionen, die eine Pianistin oder ein Pianist besonders gern (und deshalb immer wieder) spielt. »Das gehört zu meinem Repertoire«, bedeutet: Dieses Stück gehört zu mir, ich spüre eine enge Verbindung.

In den Zeiten, als ich Mutter jeden Morgen beim Spielen zuhörte, bestand ihr »Repertoire« aus Stücken der drei Komponisten Robert Schumann, Frédéric Chopin und Franz Liszt. Von Schumann spielte sie einfach klingende, ins Ohr gehende Kompositionen, von Chopin spielte sie einige Walzer und von Liszt sehr schwelgerisch klingende Werke. Mutter hat niemals Stücke von Bach, Mozart oder Beethoven gespielt, vielmehr ging es immer nur um die drei genannten Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts.

Wäre ich ein wenig älter gewesen und hätte ich mich ein wenig ausgekannt, wäre mir das sehr seltsam vorgekommen. Warum keinen Mozart? Und warum nicht wenigstens einen einzigen Satz aus einer Klaviersonate von Beethoven? Anders gefragt: Was steckte hinter dieser großen Vorliebe für die romantische Trias von Schumann, Chopin und Liszt?

Noch auffälliger wurde diese Faszination, als meine Eltern (auf besonderen Wunsch meiner Mutter) einen Plattenspieler anschafften. Nur wenige Wochen nachdem das Seiler-Klavier bei uns eingezogen war, wurde er gekauft und in der Nähe des Klaviers aufgestellt. Die ersten drei Plattenanschaffungen waren die Kinderszenen von Schumann, Walzer von Chopin und die Liebesträume von Liszt.

Mutter hörte sie, wenn sie mit ihren Büchern beschäftigt war oder sonst eine Arbeit in der Wohnung zu verrichten hatte. Was sie selbst am Klavier spielte, konnten wir daher noch zusätzlich in Interpretationen bekannter Klaviervirtuosen kennenlernen. Von da an lebten wir in einem musikalischen Raum, in dem vorläufig drei Komponisten die fast alleinige Vorherrschaft angetreten hatten. Es war ein Raum des romantischen Träumens und Sehnens, der für meine Mutter vor dem Krieg einmal eine große Bedeutung gehabt hatte. 

Ich habe von diesen Zusammenhängen erst erfahren, als ich längst auf das Gymnasium ging und auch selbst einige leichtere Kompositionen der heiligen Trias spielte. Mutter hat mir eher durch Zufall einmal davon erzählt, und ich setzte mir ihre Andeutungen wie bei einem Puzzle zu einer Geschichte zusammen. Was also war früher einmal geschehen?

Meine mütterlichen Großeltern hatten nach der Geburt ihrer ersten beiden Kinder (ein Sohn, eine Tochter) ein Klavier angeschafft. Damals gab es in dem kleinen Westerwaldort, in dem die Familie lebte, noch einen älteren Klavierlehrer, der fast ausschließlich die Mädchen aus den sogenannten gutbürgerlichen Familien unterrichtete.

Auch meine Mutter wurde ausgewählt, in die Rolle einer typischen »höheren Tochter« zu schlüpfen. Klavierspielen gehörte unbedingt dazu, aber meine Mutter fand keinen großen Gefallen daran. Der ältere Lehrer war ihr wegen seines langen Bartes nicht sehr sympathisch, und die Übungen, die sie zu absolvieren hatte, kamen ihr unsinnig vor.

So musste sie zum Beispiel mit einem Geldstück auf den Handrücken spielen, um die Hände möglichst still und ruhig zu halten. Nur die Finger sollten bewegt werden, was Mutter ausgesprochen lächerlich fand. Außerdem passte es ganz und gar nicht zu ihrem starken Bewegungsdrang, der am Klavier durch die unterschiedlichsten Manöver stillgelegt werden sollte.

Sie revoltierte nicht, aber sie betrieb das Klavierspiel nur nebenbei wie eine lästige Pflicht, die ihre Eltern der ältesten Tochter nun einmal auferlegt hatten. An den großen Feiertagen spielte sie im Kreis der Familie einige passende Stücke, die mit Familiengesang begleitet wurden, und wenn später die studentischen Freunde des älteren Bruders zusammenkamen, wurden sie mit einigen Schlagern unterhalten, zu deren Melodien mitgesummt werden durfte.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das Klavier für meine Mutter ein reines Unterhaltungsinstrument. Kompositionen der großen Klassiker ging sie aus dem Weg, sie hätten sowieso viel zu langes Üben erfordert. Stattdessen verständigte sie sich mit ihrem Lehrer, es bei einem schlichten Programm von volkstümlichen Stücken zu belassen. Im Grunde wollte sie genau das spielen, was man auch im Radio zu hören bekam. Stücke, die amüsierten, gute Laune machten, Stücke zum Mitträllern.

Das Klavier als Zentrum einer gut gelaunten, geselligen oder familiären Runde – dieses Bild hatte Mutter also lange Zeit vor Augen. Bloß nichts Anspruchsvolles und nicht das, was in den Konzerthäusern der Großstädte vor einem elegant gekleideten Publikum gespielt wurde. Wenn sie von Verehrern zu solchen Konzerten eingeladen wurde, erfand sie Ausreden. Sie brachte das Klavier nicht mit dem in Verbindung, was sie »vornehmes Getue« nannte. Das schlichte, leicht wacklige Instrument, auf dem sie zu Hause spielte, war einfach nicht »vornehm«. Es hätte auch in einem Wirtshaus stehen können, so, wie im Wirtshaus meiner nun wiederum väterlichen Großeltern ein Klavier stand. Dieses Klavier spielte mein Großvater täglich zur Unterhaltung der Gäste am Feierabend.

Ich blättere in den alten Fotoalben der Eltern, in denen sich die Fotos aus der Zeit vor ihrem Kennenlernen befinden. Es gibt Aufnahmen, auf denen Mutter am Klavier sitzt und neben ihr die Geschwister stehen. Sie sind herausgeputzt, bringen aber kein Lächeln zustande. Auch Mutter wirkt ernst, daher sieht es auf dem Foto so aus, als wäre das Musikmachen eine anstrengende und etwas abwegige Sache, zu der man sie erst überreden müsse.

Fotos, auf denen sie allein am Klavier sitzt, gibt es nicht. Immer steht mindestens eine Person neben ihr, als müsste Mutter betreut oder beschützt werden. Erscheinen mehrere Personen, bilden sie eine Gruppe, die sich gegen das fremd und etwas bedrohlich dastehende Klavier zu wehren oder von ihm abzugrenzen scheint. In jedem Fall ist das Klavier ein Möbel, das nicht zum Alltag gehört. In seiner Nähe muss man sich benehmen, es spielt die Erzieherin, aber niemand scheint zu wissen, welche Leistungen diese Erzieherin im Einzelnen noch von einem verlangen wird.

Auf anderen Fotografien ist mein Großvater zu sehen, wie er am Klavier seiner ländlichen Gastwirtschaft sitzt. Niemand steht direkt neben ihm oder in seiner Nähe, er ist immer allein. Auch er lächelt nicht, wirkt aber entspannt und gelöst, als habe er an dem Klavier längst eine Seite entdeckt, die ihm gefällt und mit der sich leben lässt. Ja, so sieht es wirklich aus: Als habe mein Großvater dem Instrument seinen oft etwas penetrant erscheinenden Ernst genommen und es in eine andere Stimmung versetzt.

Vater ist auf keinem einzigen Foto mit Klavier zu sehen. Er hielt zu dem Instrument sein Leben lang respektvollen Abstand. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, Klavier spielen zu wollen, auch andere Instrumente kamen nicht in Frage. Ein passionierter Musikhörer war er dagegen schon – allerdings einer mit einem sehr speziellen Geschmack, den viele Bekannte und Freunde sonderbar fanden.

So hörte er gerne alte Musik (Renaissance und Barock), und so machte er zum Beispiel um Mozarts Kompositionen (mit Ausnahme seiner Opern) einen weiten Bogen. Beethoven-Symphonien dagegen mochte er sehr – und für den Schlussteil der Neunten Symphonie wäre er auch in tiefster Nacht aufgestanden, um sie mit einem zusammen zu hören. Hinzu kamen vor allem Arien aus Händels Oratorien, die er mehr liebte als alle anderen Gesangsstücke und die vielleicht überhaupt jene Musik waren, die seinem Gefühlsleben am ehesten entsprach.

Letztlich war Vater ein Sänger, aber (so seltsam es klingt): Er war einer, der sich nie traute, seine Stimme zu üben oder zu kultivieren. In seinen Augen war sie einfach nur da und kam in den Gottesdiensten gut hörbar zum Einsatz. Außerhalb von Kirchen sang er nie, ich vermute, er verband das Singen nur mit bestimmten religiösen Texten. Da hätte es nahegelegen, Mitglied eines Chors zu werden, auch das wollte Vater jedoch nicht. Was ihm vorschwebte, war eine seltsame Konstruktion: die eines »halben Solisten«, der vom Gesang der Gemeinde begleitet wurde, letztlich aber dasselbe wie die Gemeinde sang.

Was sagt mir dieser erste Teil des Rückblicks auf Mutters Vorlieben für eine bestimmte Musik? Dass die Musikstücke, die in jenen frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts im Kreis zweier Westerwälder Familien gespielt wurden, einerseits stark sozial gebunden und andererseits durchaus auch ein individuelles Spiegelbild der handelnden Charaktere waren. »Musik«, die von allen gespielt, gesungen oder gemocht wurde, gab es nicht, denn fast jeder, der mit ihren Klangwelten in Berührung kam, empfand sie als eine nicht in Worte übersetzbare, verborgene Gefühlsschichten in Bewegung setzende, etwas unheimliche Macht.

So galt ihr, mehr als Literatur oder gar Kunst, der überhaupt tiefste Respekt. »Musik« war unvergleichlich – wenn man sich ihr näherte, musste man vorbereitet und »auf der Hut« sein. Sonst konnte es passieren, dass sie einen entführte, Tränen erpresste oder Stimmungen provozierte, die man so schnell nicht wieder loswurde oder vergaß.

Im Zentrum des »Musikmachens« aber stand das Klavier, andere Instrumente erschienen dagegen »zu solistisch«. Das Klavier war das Instrument der Gemeinschaft: Es begleitete andere Menschen beim Singen, und auf ihm spielte man Stücke, die sonst von mehreren Instrumenten gespielt wurden. So war es ein »soziales Musikmöbel«, eine Art früher Jukebox, die man überall hinschieben konnte und die auch an den entlegensten, unscheinbarsten Orten jene Musik machte, auf die sich die Gemeinschaft jeweils verständigt hatte.