Philipp Lyonel Russell

Am Ende
ein Blick
aufs Meer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Christoph Hein

Insel Verlag

1. Kapitel

In jenem bedeutsamen Jahr, in dem die britische Armee im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg in der Schlacht bei Maiwand durch die Stammeskrieger von Mohammed Ayub Khan völlig unerwartet eine überaus schmähliche und endgültige Niederlage erlitt und in London der Cul de Paris, auch Cul de Ouatte oder Cul de la Reine genannt, die weiblichen Hinterteile der Angehörigen der britischen Hautevolee aufbauschte und mit einer vergleichbaren Endgültigkeit wie bei der militärischen Niederlage des Empire in Afghanistan ein für alle Mal die Robe à l’Anglaise verdrängte, am 12. September des Jahres 1880 kam Frederick Bingo Mandeville im kleinen Städtchen Farnham in Surrey zur Welt.

Bingo war der geborene Possenreißer. Bereits als kleines Kind nannten seine Ammen ihn »Sonnenstrahl Gottes« und sein ganzes Leben lang blieb ihm sein heiteres, durch nichts zu verstörendes Gemüt erhalten. Er war der sprichwörtliche Witzbold, und selbst während der Zeit, in der die gesamte Nation sich über ihn entrüstete und seine Bücher verschmähte, in der die altehrwürdige BBC wiederholt unmittelbar nach den Abendnachrichten flammende Schuldsprüche gegen ihn in den Äther schickte, in der seine einst getreue und ihn bewundernde Leserschaft verlangte, ihn wegen Landesverrat anzuklagen, lebenslang einzusperren oder gar hinzurichten, und in der sich selbst der britische Premierminister öffentlich herabwürdigend über ihn äußerte – auch in diesen schweren Jahren blieb Bingo heiter und gelassen.

Es überraschte ihn aber durchaus, mit welcher Wucht sich der Zorn der gesamten Nation gegen ihn richtete. Seinen schärfsten Kritikern entgegnete er, möglicherweise habe er aus reiner Unbekümmertheit einen großen Fehler begangen, doch das habe nichts daran geändert, dass er das Leben eben von der heiteren Seite zu nehmen pflegte. Er habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, sich jemals dem sogenannten ›Ernst des Lebens‹ zu stellen, und nichts liege ihm ferner, als sich ins politische Geschehen zu mischen. Ganz im Gegenteil erheiterten ihn Meinungsäußerungen zu Angelegenheiten des Staates, ganz besonders dann, wenn diese im Brustton der Überzeugung vorgetragen würden. Je leidenschaftlicher ein Standpunkt vertreten werde, umso drolliger erscheine ihm derjenige, der ihn vertrete. Er nehme sich dabei selbst gar nicht aus und ziehe es daher vor, auf Meinungsäußerungen zu Fragen der Politik gänzlich zu verzichten. Ihm sei es nur darum gegangen, seine Zuhörer zum Lachen zu bringen, wie jeder unvoreingenommene Radiohörer doch sicherlich bestätigen müsse. Die Kameraden im Lager jedenfalls hätten sich seinerzeit großartig amüsiert und ihn gefeiert.

Bingo mied nach diesen Angriffen jedoch sein Heimatland, wo er ohnehin unerwünscht war, und weilte bis zu seinem Lebensende in Frankreich, blieb unerschütterlich heiter und war stets bereit, seine ewige Seligkeit für eine treffende Pointe aufs Spiel zu setzen. Selbst in seiner Todesstunde rang er dem herbeigerufenen anglikanischen Pater, der den Sterbenden aufforderte, ihm seine Sünden zu beichten, um seine Seele zu erleichtern und unbeschwert vor den Herrgott zu treten, ein widerwilliges Lächeln ab, so dass dieser schließlich seufzend das Kreuz über ihm schlug und ihn wissen ließ, der Herr habe ihm alle seine Sünden vergeben.

2. Kapitel

Die kleine Stadt Farnham konnte sich mit zwei bedeutsamen Ereignissen in die britische Geschichte einschreiben, denn sie war nicht nur die Heimatstadt von Frederick Bingo Mandeville, woran eine eherne Gedenktafel an seinem Geburtshaus bis zum heutigen Tag erinnert, sondern der Ort wurde fast ein Jahrhundert später als Produktionsstätte der »Kit Car« genannten Bausatz-Automobile bekannt und erlangte landesweite Aufmerksamkeit, da die Produktion bereits nach vierzehn Monaten vollständig eingestellt wurde, nachdem von dem einzigen Modell, dem Zweisitzer-Sportwagen Alto, insgesamt drei Exemplare, die jedoch alle eine instabile Lenkung besaßen, hergestellt und an drei unglückliche Briten verkauft worden waren, ein Umstand, den Frederick Bingo Mandeville nicht mehr erleben konnte, der ihn aber zweifellos erheitert hätte.

Bingos Vater, Meiself Mandeville, verrichtete seinen Kolonialdienst in Hongkong als Ausbilder einer chinesischen Polizeitruppe und war bei Bingos Geburt nicht in England. Er sah seinen einzigen Sohn zum ersten Mal bei einem der seltenen Heimaturlaube, als dieser vierzehn Monate alt war. Meiself war es, der den ungewöhnlichen Namen Bingo für seinen Sohn bestimmt hatte, ein Name, der aus einer Verballhornung des Familiennamens seines chinesischen Stellvertreters in Hongkong entstanden war.

Bingos Mutter Merylliane war zwei Monate vor dem Geburtstermin von Hongkong nach Farnham gereist, auf dass der erhoffte männliche Erbe auf britischem Boden das Licht der Welt erblicke. Bingos Eltern hatten bereits zwei Mädchen und wünschten sich nun beide einen Sohn, der ihren Namen weitertragen würde.

Bingos Geburt verlief ohne Komplikationen, bereits drei Wochen später gab seine Mutter den Säugling in die Obhut seiner vier Tanten, die bereits die beiden Töchter betreuten. Sie selbst reiste nach Dover, um dort eine der wenigen Passagierkabinen der HMS Black Prince zu beziehen, eines Panzerschiffs, das sie mit einer Geschwindigkeit von fünfundzwanzig Knoten in der Stunde nach Hongkong bringen sollte.

Das Schiff, eins der stärksten Panzerschiffe seiner Zeit und durch die Schiffskanonen nahezu unverwundbar, gehörte zur Klasse der Her Majesty Ship Warrior und war, da es zusätzlich zu der vollständigen Takelage eines Vollschiffs als Hauptantrieb eine liegende, einzylindrige Dampfmaschine besaß, uneingeschränkt ozeantauglich.

Der Abschied von ihrem Baby verlief herzlich und mühelos, sie küsste Bingo und er schien daraufhin seine Mutter anzulächeln. Als sie jedoch den Töchtern Lebewohl sagen wollte, kam es zu den bei jeder Abreise der Mutter üblichen Dramen und Tränenausbrüchen. Die jüngere Tochter, Twyla, weinte herzzerreißend und Ashlee, die ältere, hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und weigerte sich, ihrer Mutter die Hand zu geben und ihr eine gute Überfahrt zu wünschen. Die beiden Mädchen litten unter dem Verlust der Eltern, seit diese vor drei Jahren nach China aufgebrochen waren und jährlich nur für zwei bis drei Wochen in die Villa Conqueror zurückkehrten, um nach ihren Kindern und dem Haus zu sehen.

Die einzige Schwester des Vaters, Tante Dahlia, sowie die drei sämtlich unverheirateten älteren Schwestern der Mutter, Honoris, Agatha und Constance, bewohnten die acht Zimmer des mittleren Stockwerks und sorgten in Abwesenheit der Eltern für die Kinder, beaufsichtigten Köchin und Gärtner und gaben notwendige Reparaturen am Haus in Auftrag.

Da Bingo noch ein Säugling war, organisierte Dahlia, die älteste der Tanten, eine Amme, die viermal am Tag im Haus erschien, um das Baby zu stillen. Und bereits zehn Tage später fragte Dahlia bei einer weiteren Frau im Dorf an, ob sie bereit sei, ebenfalls als Amme in ihre Dienste zu treten. Eine Freundin hatte ihr von weiteren Offiziersgattinnen wie ihrer Schwägerin erzählt, deren Ehemänner im Nahen oder Fernen Osten als Kolonialbeamte für das britische Imperium tätig waren und die diese nicht allein und völlig unbeaufsichtigt in jene exotischen Länder von bekanntlich ausschweifender sexueller Kultur reisen lassen, ihre Säuglinge aber keinesfalls dem dortigen ungewohnten und strapaziösen Klima aussetzen wollten. Und so hatte Dahlia kurzerhand beschlossen, weitere Säuglinge in die Villa Conqueror aufzunehmen.

Dahlia hatte mehrere der besagten Mütter angesprochen, ihnen die für die Kinderbetreuung vorgesehenen Zimmer der Villa gezeigt und auch die beiden Ammen Florrie und Cissie vorgestellt, reinliche und stämmige Bauernmädchen aus der Umgebung, die für das leibliche Wohl der Zöglinge sorgen sollten. Die Damen waren sich bald einig geworden, Dahlia und die beiden Ammen würden nun außer dem kleinen Bingo noch drei weitere Säuglinge für ein Jahr betreuen, so dass die Mütter unbesorgt die Schiffspassage antreten konnten, um in entlegenen Kolonien ihren Ehegatten beizustehen – schließlich hatte Her Majesty Victoria höchstpersönlich und wiederholt angemahnt, die tapferen Beamten der Krone nicht allein in die Weiten des britischen Imperiums reisen zu lassen, um ihre Moral und Gesundheit nicht zu gefährden.

Dahlia ließ zwei Zimmer im Erdgeschoss für die beiden Ammen und die vier Säuglinge als Still- und Schlafräume einrichten. Die drei anderen Tanten waren anfangs reichlich empört über Dahlias Eigenmächtigkeit. Dass ihr Haus nun von schreienden Säuglingen bevölkert sein sollte, ließ sie um ihre Ruhe und Muße fürchten, auch witterten sie bei Dahlia einen kalten Geschäftssinn und die Absicht, sich bereichern zu wollen, doch Dahlia konnte ihre Bedenken zerstreuen, die Einnahmen sollten zuvörderst die Kosten für die Ammen decken, und der restliche Gewinn werde unter ihnen vier aufgeteilt.

Bingo wuchs die ersten beiden Jahre in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen auf. Sobald die Kinder abgestillt waren, wurden sie Verwandten der Eltern übergeben, die bis zu deren Rückkehr für die Betreuung zu sorgen hatten. Und kaum war ein Kind in familiärer Obhut, nahm Dahlia umgehend einen neuen Säugling auf. Das Geschäft florierte, waren doch im Mutterland des Imperiums dazumal viele Gattinnen von Kolonialbeamten hochschwanger, und die Villa Conqueror hatte rasch einen weit über den Landkreis hinausreichenden Ruf als seriöser und empfehlenswerter Baby-Hort erworben.

Der Liebling der Tanten wie der Ammen war und blieb, ungeachtet aller wechselnden Schreihälse, der kleine Bingo. Cissie war es, die ihn einmal »Gottes Sonnenstrahl« nannte, was zunächst von Florrie, dann auch bald von den Tanten übernommen wurde.

Bingo weinte selten, strahlte jeden an, der sich über seine Wiege beugte oder sich zu ihm setzte, als er größer war, und verbreitete Heiterkeit und Wohlbehagen. Tatsächlich hatte er auch keinen Grund, unzufrieden zu sein, denn alle vier Tanten sowie die beiden Ammen suchten seine Nähe, wollten mit ihm spielen, ihn herzen und drücken. Da Dahlia streng darauf achtete, dass Florrie und Cissie ihre Arbeitszeit nicht vertrödelten, sondern diese ausschließlich auf das Stillen und die Pflege der Babys, nicht aber das Herumalbern mit Bingo verwendeten, Cissie und Florrie aber ebenso begierig wie die Tanten darauf waren, sich mit dem kleinen Sonnenstrahl zu beschäftigen, ihn auf den Arm zu nehmen und ihn zu streicheln, hatten sie sich angewöhnt, ihn bei jeder Gelegenheit an die Brust zu legen. Bingo bekam daher in den ersten beiden Lebensjahren täglich mindestens acht, meistens jedoch zehn Mahlzeiten serviert, und schon bald zeigten sich die Folgen dieser Zuneigung. Bingo nahm rascher als die anderen Säuglinge an Gewicht zu, sein Babyspeck war beachtlich und lud erst recht zum Knuddeln ein, und weinen oder gar lauthals schreien musste er nie, denn ehe er nur den kleinsten Hunger verspüren konnte, lag er ohnehin bereits an einer warmen Brust, und selbst nachdem er mit einem vernehmlichen und begeistert begrüßten »Bäuerchen« seine Mahlzeit beendet hatte, wurde er liebevoll zum Weitersaugen gedrängt.

Auch bei seinen Milchbrüdern und -schwestern, die zunehmend jünger waren als er, war er beliebt. Die Kleinen achteten interessiert auf alles, was er äußerte und tat, und bemühten sich, seinem Beispiel zu folgen, wollten wie Bingo auf die Beine kommen, mit den Händen die Tischkante greifen oder den Rock einer der Ammen. Besonders sein Lachen steckte sie an. Wenn Bingo in ein scheinbar grundloses und glockenhelles Lachen ausbrach, war kurz danach das ganze Kinderzimmer in fröhlichster Stimmung, die Kleinen strahlten und quiekten vor Vergnügen, stießen Freudenschreie aus oder lächelten zumindest still vor sich hin.

Die Heiterkeitsausbrüche der Kinder erfreuten Tanten und Ammen, sie waren dem kleinen Bingo dankbar, dass er derart gute Laune verbreitete, und steckten ihm dafür gerne eine Süßigkeit zu oder Cissie und Florrie boten ihm die Brust an.

Als Florrie ihn einmal stillte und Cissie, die zwei Säuglinge angelegt hatte und Florrie neidisch beobachtete, lachte Florrie plötzlich auf.

»Hast du das gesehen, Cissie? Hast du gesehen, wie er mich eben angeschaut hat? Der Junge hat’s drauf.«

»Darauf kannst du wetten. Der weiß jetzt schon, wo es langgeht.«

»Was glaubst du, was er in achtzehn Jahren erst draufhat. Der wird abgehen wie eine Rakete.«

»In achtzehn Jahren, ganz bestimmt. Aber dann wird er nicht mehr an deine Brust wollen. Dann kannst du deinen ganzen Milchladen zumachen.«

»Wart’s ab. Meine Tittchen werden auch in achtzehn Jahren noch passabel aussehen. Da wett ich drauf.«

»In achtzehn Jahren? Nach der ganzen Stillerei? Da werden sie dir sonst wo hängen.«

Florrie grinste nur und tätschelte dem kleinen Bingo den Kopf.

»Da kannst du ganz unbesorgt sein. Ich habe ein Zaubermittelchen, da behalten meine beiden hübschen Tittchen ihre Form.«

»Ein Zaubermittel? Meinst du damit die schwarze Schuhwichse, die du dir jeden Abend draufschmierst?«

»Das ist keine Schuhwichse. Das ist Waldnachtschatl. Das habe ich von der Phelps.«

»Von der Phelps? Etwa von der Maggie Phelps?«

»Genau von der.«

»Wie kannst du nur, Florrie! Die Maggie Phelps ist eine Hexe. Das wissen doch alle.«

»Hexe oder nicht, das ist mir egal. Aber mit ihrem Waldnachtschatl bleibt meine Brust so, wie sie heute ist. Für fünfzig Jahre bleibt sie in Form. Mindestens, sagt die Phelps. Sie garantiert es.«

»Mit ihrem Hexengift? Wie kannst du nur! – Und was soll da drin sein, in deinem Waldnachtsowieso?«

»Waldnachtschatl. Da ist einiges drin, darum ist es auch teuer. Das kleine Fläschchen kostet ganze zwölf Cent. Da hat sie Tintenbeer reingemixt und Giftbeer, Barbenkraut, Nachtschatten, Teufelskirsche, Tollkraut und irgend so ein Muskimol oder so ähnlich. So genau weiß ich das auch nicht, und die richtige Mischung verrät die Phelps sowieso keinem, ist ja ihr Geschäftsgeheimnis.«

»Zwölf Cent für diesen Hexenkram! Und wie lange musst du das nehmen? Wie lange musst du dich mit dieser ekligen Schuhwichse einschmieren?«

»Drei Jahre, sagt die Phelps, dann ist alles stabil für immer.«

»Wer’s glaubt, wird selig.«

Als sie die Kinder tauschten und nun Cissie den kleinen Bingo an die Brust bekam, fragte sie: »Sag mal, Florrie, würdest du mir mal deinen Hexensaft geben? Nur mal zum Ausprobieren?«

»Zum Ausprobieren? Bei zwölf Cent pro Flasche? Da lass ich keine nix ausprobieren. Kauf dir selbst eine. Zwölf Cent sind zwar schweinisch viel Geld, aber wenn meine beiden Hübschen ihre Form behalten, ist es gut angelegt.«

Dahlia stellte den Hortbetrieb in der Villa nach vier Jahren ein und entließ Florrie und Cissie. Bingo war von den beiden zwei Jahre lang gestillt worden, spielte in seinem dritten Lebensjahr noch gern im Kinderzimmer mit den kleinen Gästen und den Ammen, aber als Vierjähriger zog es ihn zu den verwegeneren Vergnügungen seiner älteren Schwestern und er ließ sich zum Kummer von Florrie und Cissie nur noch selten in ihren Räumen sehen. Da der Sonnenstrahl nun nicht mehr das Kinderzimmer erhellte, veränderte sich dort die Stimmung, es wurde seltener gelacht und stattdessen weinten und quengelten die Säuglinge nun häufiger. Honoris, Agatha und Constance missfiel das Kindergekreisch, sie wünschten sich die alte Ruhe zurück, und selbst Dahlia, die den Baby-Hort nur ungern aufgeben wollte – immerhin machte er sie zum geschätzten Mittelpunkt der kleinen Aristokratie der Kolonialbeamten und ließ sie damit in gewisser Weise am Leben ihres verehrten Bruders teilhaben –, selbst Dahlia wurde das laute Kinderzimmer lästig, so dass sie, in ihrer gewohnt beherzten Art, innerhalb von drei Tagen den beiden Ammen kündigte und die vier Säuglinge dem staatlichen Kinderheim in Farnborough übergab.

An den Kosenamen Gottes Sonnenstrahl hatten sich auch Meiself und Merylliane Mandeville gewöhnt. Der kleine Bingo hatte sie ebenso rasch und bedingungslos wie seine Ammen und Tanten für sich eingenommen, da er die Eltern bei ihren jährlichen Besuchen aufgeschlossen und herzlich begrüßte, während die älteren Schwestern Mutter und Vater verschlossen und starrköpfig empfingen, ihnen nicht entgegenliefen, um sie zu liebkosen, und sich nur widerwillig umarmen ließen. Selbst die reichlichen Geschenke, mit denen die Eltern um ihre Liebe buhlten, beäugten sie lediglich mürrisch. Bingo dagegen, der das Familienleben nie anders erlebt hatte, der nicht wie seine Schwestern einige Zeit mit den Eltern zusammengelebt und daher auch keinen Verlust zu beklagen hatte, lief ihnen mit offenen Armen entgegen und verabschiedete sich ebenso herzlich, wenn die Eltern nach Dover abreisten, um sich dort Richtung Hongkong einzuschiffen.

Bei einem ihrer seltenen Besuche hatte Merylliane Mandeville ihre französische Freundin Noëlle de Dantzig in die Familienvilla eingeladen, was ihre Töchter mit Empörung aufnahmen, da ihre Mutter dadurch in den drei gemeinsamen Wochen noch weniger Zeit für sie aufbringen konnte. Bingo dagegen war von der ausschließlich französisch parlierenden Dame entzückt und erfreute sich an ihrer zierlichen Aussprache. Er verstand kein Wort, aber die fremde Sprache fesselte seine Aufmerksamkeit und er hielt sich daher gern in Noëlles Nähe auf. Sie beherrschte vier Fremdsprachen, aber das Englische war ihr aus familiären Gründen nicht vertraut.

Ein Urgroßvater der Familie hatte im Juli 1812 als Colonel unter dem Oberbefehl Marschall Auguste de Marmonts gegen Wellington gekämpft. Diese Schlacht auf den Hügeln von Salamanca verloren die Franzosen, Marschall Marmont überdies seinen rechten Arm und Colonel Duc de Dantzig sein linkes Auge. Für den Colonel war Wellingtons Sieg wegen schweren Regelverstoßes irregulär, doch es gab auf der Welt kein Gericht, vor dem er den frisch ernannten Earl of Wellington sowie die kriegsverbrecherische Nation Großbritannien verklagen konnte, und er verfügte daher einen Familienbann gegen das Imperium, wozu auch die profunde Verachtung der englischen Sprache gehörte samt dem Verdikt, diese niemals zu erlernen, geschweige denn zu gebrauchen.

Noëlle de Dantzig hielt dieses Verdikt für unsinnig, doch die englische Sprache wurde an französischen Schulen nicht gelehrt, und erst mit fünfundzwanzig traf sie erstmals auf einen Engländer und hörte zum ersten Mal in ihrem Leben englische Laute. Sie bemühte sich, auch diese Sprache zu erlernen, beherrschte sie später jedoch nur eingeschränkt und vermied es, sie aktiv zu gebrauchen. Da Meiself Mandeville im Unterschied zu seiner Frau, die das Französische nahezu akzentfrei beherrschte, nur über dürftige Kenntnisse der Sprache verfügte, konnte er Noëlle zwar verstehen, musste aber, wie umgekehrt auch sie, stets in seiner Muttersprache antworten.

An einem der Tage, an denen Bingo im Wohnzimmer bei seiner Mutter und Noëlle de Dantzig spielte und dem französischen Geplauder der Frauen aufmerksam lauschte, stand er unvermittelt auf und fragte seine Mutter: »Weißt du eigentlich, Mama, dass du die wichtigste Frau meines ganzen Lebens bist? Heute und für alle Zeit.«

Die Mutter lachte auf, nickte und nahm ihn glückstrahlend in ihre Arme. Noëlle, die nicht sicher war, ob sie den Vierjährigen richtig verstanden hatte, ließ sich seine Worte übersetzen und meinte dann zu ihrer Freundin, sie habe mit Bingo wohl einen richtigen Gaillard im Haus. Bingo wollte wissen, was die Tante gesagt habe, und seine Mutter erklärte: »Noëlle hält dich für albern. Sie sagt, du bist ein alberner Spaßvogel.«

»Je n’ai pas dit niais. J’ai dit gaillard«, wandte ihre Freundin ein, doch Bingo lachte beglückt auf und rief: »Ja, ja, ja, ich bin ein Spaßvogel. Ich bin der Spaßvogel.«

Dann rannte er durch das Haus, zu seinem Vater, zu den Schwestern, zu seinen Tanten, um ihnen allen zu sagen, er sei der Spaßvogel, das sei sein eigentlicher Name und er wolle, dass man ihn künftig nur noch so nenne.

Auch noch als Jugendlicher und selbst als Erwachsener behielt er diesen Namen bei, auch neuen Bekannten gegenüber versäumte er es nie, seinem Geburtsnamen noch den gewohnten Necknamen anzufügen, und äußerte wiederholt, dass darin seine ganze Lebenshaltung Ausdruck finde. Noch im hohen Alter erlaubte er es sich, gewichtige und von seiner Ehefrau und seinem Anwalt sorgsam und akkurat geprüfte Verträge nicht allein mit seinem Namen zu unterschreiben, sondern hinter sein Frederick Bingo Mandeville noch den Namenszusatz der Spaßvogel zu setzen. Aus dem Sonnenstrahl Gottes war der Spaßvogel geworden und tatsächlich erreichte der Vierjährige, dass ihn ausnahmslos alle bei diesem Namen riefen.