Harris, Linea Entfesselte Kraft

ivi_Logo.jpg

 

 

Lesen was ich will!
www.lesen-was-ich-will.de

 

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Prolog

»Kronos, ich beschwöre dich.«

Die Worte hallten in seinem Kopf. Ganz schwach und doch gut hörbar schlichen sie sich in seine Gedanken. Das Ziehen in seinem Magen verriet ihm, dass jemand ein Ritual zur Beschwörung durchzuführen versuchte. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Kronos lehnte sich zurück und kostete den Moment aus. Er hätte nicht nachgeben müssen. Seine Macht war mittlerweile so groß, dass er selbst entscheiden durfte, ob er sich in der Realität zeigte. Die Beschwörung war nutzlos. Es hätte nur einen leichten Wink mit der Hand benötigt, um die flehende Stimme in seinen Gedanken verstummen zu lassen.

Doch zugegeben, die Neugier war ebenso groß. Wer in drei Teufels Namen wagte es, ein so mächtiges Wesen wie ihn zu beschwören? Er hatte so eine Vermutung.

Jillian Benett musste wissen, dass er die Unterwelt nicht verlassen konnte, dafür war er viel zu sehr mit dieser Welt verbunden. Er war ein Teil von ihr. Seine eigene Macht zog er direkt aus der Prana, aus der diese Welt bestand. Genau das war der Punkt, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Es ließ sich nicht mehr leugnen, dass die Unterwelt schrumpfte. Und mit ihr verringerte sich auch seine Lebensenergie.

Zumindest Letzteres wusste Jillian nicht und er beabsichtigte auch nicht, es ihr zu sagen. Das Ziehen in seinem Bauch wurde stärker, je mehr er es zuließ. Er konnte sich gut vorstellen, um was sie ihn bitten würde, schließlich hatte er gerade ihren heiß geliebten Vater Baal entführt.

Baal war sein eigener Sohn, der nichts weiter als eine Enttäuschung für ihn gewesen war.

Die Welt verschwamm um Kronos herum. Er spürte, wie sich ein Teil seiner Seele löste und in die Realität wanderte, angezogen von der Beschwörungsformel, die seine Enkelin immer und immer wieder vor sich hin murmelte, mit wachsender Verzweiflung, je länger er auf sich warten ließ. Es war ein unangenehmes Gefühl, so auseinandergerissen zu werden. Während sein Körper in der Unterwelt verblieb, spaltete sich sein Geist und ein Teil davon wechselte die Welten.

Das Bild vor seinen Augen veränderte sich. Die wirbelnden Farben bildeten Kontraste und fügten sich zu einem gemütlichen Zimmer zusammen. Jillian konnte ihn noch nicht sehen, also nutzte er die Zeit, um sich umzublicken. Ihr Zimmer gab nicht viel Aufschluss über ihre Persönlichkeit. Ein unordentliches Bett, ein mit Waffen beladener Schreibtisch, kaum persönliche Gegenstände.

Sie verbrachte offensichtlich nicht allzu viel Zeit hier. Dann fiel sein Blick auf seine Enkelin, sein eigen Fleisch und Blut. Mit zusammengekniffenen, leuchtend grünblauen Augen musterte sie den Beschwörungskreis, als könne sie ihn tatsächlich sehen. Braune Locken umrahmten ein hübsches, schmal geschnittenes Gesicht. Sie ließ sich ihre Aufregung nicht anmerken, aber er konnte sie förmlich am eigenen Leib spüren. Er beschloss, dass es an der Zeit war, Gestalt anzunehmen. Wo vorher nur ein schwaches Flimmern zu sehen gewesen war, formte sich sein Geist zu einer tiefschwarzen Rauchsäule. Mehr würde sie von ihm nicht zu Gesicht bekommen. Er konnte sowieso keine feste Gestalt in dieser vermaledeiten Welt annehmen.

»Kronos.« Ihre Stimme klang kratzig, aber fest. Er betrachtete sie genauer, konnte aber keinerlei Ähnlichkeiten zu ihm feststellen. Das war nicht verwunderlich, denn er hatte sich über die Jahre so verändert, dass er selbst kaum noch wusste, wie seine ursprüngliche Gestalt ausgesehen hatte.

Seine Enkelin jedenfalls hatte etwas Kriegerisches an sich. Es war die Art, wie sie ihn anfunkelte und furchtlos die braunen Locken über die Schulter warf, die geschwungenen Lippen fest zusammengepresst. Dunkle Augenringe und blasse Haut verrieten, was sie in den letzten Tagen der Ungewissheit durchgemacht hatte.

Und da war diese Dunkelheit in ihr. Dieselbe Dunkelheit, die auch ihn beherrschte.

»Was willst du?«, fragte er grollend.

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme in ihren Gedanken hörte, ohne dass ihre Ohren sie vernommen hatten.

»Ich will meinen Vater zurück.«

Er lachte auf, freudlos und kalt. Dass sie so direkt war, hatte er nicht vermutet. Unwillkürlich beeindruckte ihn ihr Mut. Nicht jeder würde dem gefährlichsten Geschöpf der Unterwelt solche Forderungen stellen.

»Nein«, antwortete er schlicht. Amüsiert beobachtete er, wie Jillian aufbrausend aufstand.

»Wieso hast du ihn entführt? Er stellt keine Bedrohung für dich dar!«

»Das weiß ich.«

Er sah die Fragen in ihren Augen sowie den verzweifelten Versuch, die Zusammenhänge zu verstehen.

»Was willst du von Baal? Jahrzehntelang hast du ihn in Ruhe gelassen, also wieso jetzt? Weil er die Dämonen in die Realität integrieren wollte? Der Versuch ist gescheitert, du hast ihn vereitelt. Baal hat keinen Nutzen für dich, also lass ihn frei!« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich bitte dich«, fügte sie hinzu.

Bitte. Wie sehr er dieses Wort verabscheute. Bitten und Flehen, über Jahre hatte er nichts anderes gehört, von Untertanen, Gefangenen und Feinden. Sie flehten um ihr Leben, um seine Gunst und um Gnade.

Als sie noch Forderungen gestellt hatte, war er kurzzeitig beeindruckt gewesen. Doch nun verzog sich sein geistiges Gesicht vor Enttäuschung. Um etwas zu bitten bedeutete, Schwäche zu zeigen. Er hasste Schwäche. Dieses Gespräch begann ihn zu langweilen.

»Baal kann gehen, sobald seine Aufgabe erledigt ist«, gab er gedehnt zurück.

Jillian horchte auf und unterdrückte mit Mühe ihren Zorn. Er spürte ihre Magie in Wellen von ihr ausgehen, ihre Haare schwebten bereits in der knisternden Luft. Seine Neugier kehrte zurück.

»Welche Aufgabe?«, forderte sie zu wissen.

Kronos zog den Moment bis zu seiner Antwort in die Länge und beobachtete interessiert, wie ihre Wut und Verzweiflung sich mit jeder Sekunde steigerten. Bläuliche Funken tanzten bereits auf ihrer Haut, als sie mehr und mehr die Kontrolle über sich selbst verlor.

Zum ersten Mal bekam er persönlich einen Eindruck davon, mit was für einer Energie sie gesegnet war. Mit eigenen Augen zu sehen, wie dieses Mädchen um Beherrschung kämpfte, begeisterte ihn fast genauso, wie es ihm Sorge bereitete. Kisin hatte nicht gelogen, als er Kronos regelmäßig Bericht über Jills Fortschritte erstattet hatte. Aber Kisin war tot. Er war Kronos’ Wut zum Opfer gefallen, weil er seinen letzten Auftrag nicht richtig ausgeführt hatte. Kronos duldete keine Fehler. Die Luft um Kronos herum vibrierte spürbar, als sich Jills Prana weiter aufbauschte und sich immer mehr ihrer Kontrolle entzog.

Er beschloss, dass er nicht weiter auf seine Antwort warten lassen konnte, wenn er nicht riskieren wollte, dass seine Enkelin sich doch noch selbst umbrachte. Ob sie am Ende genügend Selbstbeherrschung erlernen würde, um die ihr gegebene Macht zu beherrschen, würde sich noch zeigen. Aber nicht heute.

»Baal wird einen Weg finden, die Unterwelt vor der Zerstörung zu bewahren. Danach steht es ihm frei, zu gehen«, sagte Kronos schließlich.

Jills Augen weiteten sich.

»Aber das ist unmöglich«, hauchte sie. »Die Unterwelt kann nicht gerettet werden, wir haben es versucht.«

»In einem Meer voller Schwierigkeiten liegt immer eine Insel der Möglichkeiten. Man muss sie nur finden.«

Frustriert brauste Jill auf. »Baal wird es nicht schaffen. Lass ihn frei, die Unterwelt braucht ihn. Ich brauche ihn.«

Kronos antwortete nicht. Stattdessen zog er sich zurück und bereitete sich auf seine Rückkehr in die Unterwelt vor. Jill bemerkte es.

»Warte!«, rief sie zornig aus und konnte die Panik in ihrer Stimme nicht mehr unterdrücken. »Kronos, es gibt keinen Weg, die Unterwelt zu retten!«

Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Vater scheitern würde.

»Dann wird er sterben«, ließ er seine Stimme ein letztes Mal in ihrem Kopf hallen, bevor er sich zurückzog. Es wurde Zeit, dass er ihr Gelegenheit gab, sich wieder zu fangen, bevor sie noch das Haus über sich selbst einstürzen ließ. Er ignorierte ihre wüsten Beschimpfungen, als die Welt um ihn herum begann, sich wieder in Farben aufzulösen.

Doch plötzlich veränderte sich etwas. Durch die Schlieren konnte er gerade noch erkennen, dass Jill ihre Hand in den Schutzkreis streckte, als wolle sie ihn gewaltsam in der Realität halten. Was bei den drei Teufeln tat sie da? Ein überraschter Laut entglitt ihm, als sie versuchte, nach der Rauchsäule zu greifen, ohne dass sie sie zu fassen bekam.

Auch Jill musste einsehen, dass es ein sinnloses Unterfangen war, Kronos zu einem Gespräch zwingen zu wollen. Ihr frustrierter Aufschrei vermischte sich mit dem Tosen ihrer Magie. Sie würde tatsächlich noch das Haus zum Einsturz bringen, wenn sie diese Energie nicht sofort unter Kontrolle bekam.

Doch dann tat sie etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Statt sich zurückzuziehen und alles daranzusetzen, sich um ihre Selbstbeherrschung zu kümmern, ließ sie die Energie frei. Und zwar direkt in den Beschwörungskreis, in dem er sich befand.

Er war viel zu überrascht, um rechtzeitig handeln zu können. Mit einem schmerzerfüllten Schrei kehrte er zurück in die Unterwelt, wo sich sein gepeinigter Geist wieder mit dem dort zurückgebliebenen Teil vereinte.

Knurrend presste er die Hände an die Schläfen, als rasende Kopfschmerzen von ihm Besitz ergriffen. Sie hatte ihn mit ihrer unbändigen Magie verbrannt, als sein Geist mehr oder weniger schutzlos gewesen war. Doch trotz der Qualen, die ihn die nächsten Stunden vermutlich nicht mehr loslassen würden, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sie würde seinen Zwecken dienlich sein, dessen war er sich nun sicher. Die Zeit würde kommen.

Kapitel 1

»Prinzessin, Ihr müsst etwas essen.«

Jennas Stimme drang nur teilweise durch das dichte Gewirr meiner aufgewühlten Gedanken. Nicht einmal der Pranahimmel der Unterwelt konnte den Aufruhr in mir besänftigen, obwohl die blauen Wellen, die das Schwarz des Himmels in beruhigender Langsamkeit durchzogen, mich immer wieder an die Nordlichter der Realität erinnerten.

»Ich habe keinen Hunger«, murmelte ich, ohne mich von dem Fenster meiner Gemächer abzuwenden. Doch Jenna wäre nicht Jenna gewesen, wenn sie diese Antwort ohne Weiteres akzeptiert hätte. Mit mütterlicher Bestimmtheit fasste die Haushälterin meines Vaters mich am Ellenbogen und führte mich zu der eleganten Sitzgruppe aus Polstermöbeln. Ich ließ es geschehen und als sie die Servierplatten auftischte, meldete sich tatsächlich mein leerer Magen zu Wort. Ich hatte gar nicht bemerkt, was für einen Hunger ich hatte.

»Ihr müsst bei Kräften sein, wenn die Herrschaften eintreffen«, erläuterte Jenna überflüssigerweise.

Das Hungergefühl verschwand. Die Herrschaften. Natürlich.

»Was, wenn sie mir nicht helfen wollen?«, flüsterte ich zum wiederholten Mal, während mir die Haushälterin eine Ladung Kartoffelpüree und Gemüse auf den Teller schöpfte. Sie drückte mir den Teller in die Hand, ich nahm ihn widerstandslos entgegen. Jenna würde den Raum nicht verlassen, bevor ich etwas gegessen hatte. Ich traute ihr auch zu, dass sie mich füttern würde, sollte ich mich verweigern. Aber das war nicht nötig. Das Essen duftete himmlisch und Jenna hatte recht, ich brauchte die Energie.

»Wenn sie nicht helfen wollen, finden wir eine andere Lösung«, beantwortete die Haushälterin meine Frage, wie schon so oft zuvor. Ich schob mir nachdenklich etwas Essen in den Mund und zwang meinen Fuß dazu, mit dem nervösen Wippen aufzuhören.

»Prinzessin, Ihr wisst, was ich von Eurem Vorhaben halte«, begann Jenna zögerlich und ihre Falten vertieften sich vor Sorge. Ich hinderte sie mit einem scharfen Blick daran, weiterzusprechen.

»Ich werde meinen Vater nicht im Stich lassen«, entgegnete ich bestimmt. »Kronos braucht ihn, was bedeutet, dass er ihn am Leben lässt. Und solange er am Leben ist, besteht auch noch eine Chance, dass wir ihn befreien.«

Dabei stellte sich nur die Frage, wie lange das sein würde. Kronos verlangte von meinem Vater, dass er eine Lösung zur Rettung der Unterwelt fand. War das überhaupt möglich? Und wie lange würde es dauern, bis Kronos die Geduld verlor, falls nicht?

In Jennas Blick aus den dämonenblauen Augen mischte sich ein Hauch Mitleid. Sie leistete mir schweigend Gesellschaft und ich schätzte sie dafür. Jenna machte keinen Hehl daraus, dass sie meine Meinung nicht teilte, doch sie respektierte sie immerhin. Sie hatte mir ihre nun unausgesprochenen Gedanken schon einmal mitgeteilt.

Euer Vater würde nicht wollen, dass Ihr Euch in Gefahr begebt. Niemand weiß, wo Kronos sich aufhält. Selbst wenn Ihr es herausfindet, wird Euch niemand folgen. Allein seid Ihr chancenlos.

Ich erkannte die Wahrheit in ihren Worten, auch wenn sie mir ein Loch in die Seele brannte. Doch tatenlos abzuwarten, bis Kronos meines Vaters überdrüssig wurde, war noch viel schlimmer. Ich brauchte also Männer, die sich an meine Seite stellten, bestenfalls eine Armee bestehend aus den besten und fähigsten Dämonen der Unterwelt. Ich wollte keinen Krieg anfangen. Die Unterwelt hatte genug unter Kriegen zu leiden gehabt, die Folgen waren bekanntermaßen verheerend. Auch Kronos war sich dessen bewusst. Was würde passieren, wenn er sich einer Streitmacht gegenübersah? Würde er Vernunft annehmen? Zumindest erhoffte ich mir, dass er mir zuhören würde. Ich musste ihn dazu bewegen, meinen Vater freizulassen.

Doch mit dem Verschwinden meines Vaters hatte sich auch der Zusammenhalt seiner Gefolgschaft im lauen schwülwarmen Wind der Unterwelt aufgelöst. Die meisten seiner Anhänger waren noch in derselben Nacht wie er verschwunden, um sich andere Fürsten zu suchen oder die neu gewonnene Freiheit zu genießen. Nur die treuesten waren geblieben, kaum zwei Dutzend Dämonen, die zu Baals engsten Gefolgsleuten und Beratern gezählt hatten. Und Jenna.

Mein Vater hatte noch keinen offiziellen Nachfolger bestimmt, seit mein Bruder Chaz verkündet hatte, dass er den Rest seines Daseins mit seiner großen Liebe Alissa in der Realität verbringen würde. Ich verdrängte den leichten Anflug von Wut, wie immer, wenn meine Gedanken dahin wanderten, wie einfach Chaz sich aus dem Verkehr gezogen hatte.

Nun hatte man eine Versammlung der Dämonenfürsten des Landes einberufen. Es musste eine Lösung für die Zeit gefunden werden, in der mein Vater abwesend war, damit der von ihm über viele Jahre hergestellte Frieden bestehen blieb. Ich erhoffte mir die Hilfe der Fürsten, die Baal unterstellt gewesen waren.

»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte ich Jenna und zwang den Rest des Essens hinunter.

»Die Ersten sind schon im Schloss eingetroffen. Ihr solltet Euch fertig machen, Prinzessin.«

Sie stand auf und verschwand in dem begehbaren Kleiderschrank, in dem noch immer die Kleider meiner Mutter hingen, die mir aber ebenfalls passten. Baal hatte den Schrank mit einigen moderneren Sachen aufgestockt, nachdem ich lange genug über die fehlende Bewegungsfreiheit der älteren Kleider geklagt hatte. Ich fühlte mich eben am wohlsten in meinem ledernen Kampfanzug, den ich auch jetzt wie eine zweite Haut trug.

Daher war ich überrascht, als Jenna mit einem bodenlangen, tiefseeblauen Kleid zurückkehrte.

»Auf keinen Fall«, stieß ich hervor, doch Jennas bestimmter Blick sagte mir bereits, dass ich verloren hatte. Sie schürzte die Lippen.

»Kleider machen nun einmal Leute, Prinzessin. Es geht heute nicht darum, Eure Kampffertigkeiten zur Schau zu stellen, sondern darum, als die Tochter Eures Vaters aufzutreten. Ihr müsst die Dämonen davon überzeugen, dass Ihr mehr seid als ein rebellisches und draufgängerisches Mädchen, das eine Selbstmordmission plant. Ihr müsst beweisen, dass Ihr befähigt seid, bis zu Baals Rückkehr die Zügel in der Hand zu halten und einen Einsatztrupp für seine Befreiung zu leiten.«

Mein Magen rebellierte wieder.

»Ich habe also absolut keinen Druck«, murmelte ich sarkastisch und ließ mich zurück in die Kissen des Sofas fallen. Wie gerne hätte ich mich hier eingerollt und in meinem Zimmer verkrochen. Einfach das Zepter aus der Hand gegeben und irgendwem anders die Rettung meines Vaters überlassen. Doch ich wusste, dass ich nicht darauf hoffen durfte. Niemand würde Baal zu Hilfe kommen, wenn ich nicht endlich ein paar Dämonen zusammentrieb, die bereit waren, ihr Leben für den kompetenten Anführer aufs Spiel zu setzen.

Jenna kannte kein Erbarmen. Sie verschränkte die Arme und blickte mich abwartend an, bis ich schließlich nachgab und mir von ihr beim Anziehen helfen ließ. Ich musste zugeben, dass sie eine ausgezeichnete Wahl getroffen hatte. Der Stoff umschmiegte meinen Körper, doch das Kleid war keinesfalls zu aufreizend. Der hochgeschlossene Stehkragen aus schwarzer Spitze war elegant. Automatisch strafften sich meine Schultern, als ich einen Blick in den Spiegel warf.

»Macht Euch keine Sorgen, Prinzessin. Haltet den Kopf oben und lasst Euch nicht unterkriegen.«

Ich nickte und mit einem letzten Gedanken an meinen Vater kehrte auch meine Entschlossenheit zurück.

Vor meinem Zimmer wartete Oriax, einer der treuesten Anhänger Baals. Er war nicht nur ein guter Stratege, dessen Rat mein Vater sehr schätzte, sondern kannte als Befehlsgeber auch sämtliche Untertanen meines Vaters.

Der hochgewachsene Mann mit den grauen Schläfen neigte grüßend den Kopf. »Prinzessin.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Nenn mich Jill.«

»Das steht mir nicht zu, Prinzessin.«

Ich rollte innerlich mit den Augen. Wie oft schon hatte ich Jenna und Oriax gebeten, mich beim Vornamen zu nennen und Du zu mir zu sagen? Sie weigerten sich strikt, erwarteten jedoch trotzdem, dass ich ihnen nicht mit der gleichen Höflichkeit entgegentrat und sie beim Namen nannte.

»Wie ist der Stand der Dinge?«, fragte ich Oriax, obwohl mir vor der Antwort graute.

»Drei weitere Deserteure heute Nacht«, antwortete er knurrend und ich schloss für einen Herzschlag die Augen. Nach der Entführung meines Vaters hatte es nicht lange gedauert, bis die ersten seiner Anhänger aus dem Dienst getreten waren. Zuerst war es nur eine kleine Gruppe Aufsässiger gewesen, die morgens einfach nicht zum Dienst erschienen war, obwohl Oriax strikt befohlen hatte, dass alles wie bisher laufen sollte, bis Baal wieder seinen Herrscherposten einnahm.

Danach wurden schnell die ersten Stimmen laut und die einst so treuen Männer verließen in Scharen das Schloss, um woanders ihren Dienst anzubieten.

Später gab es noch ein paar wenige, die sich nachts davongestohlen hatten, aus Scham oder Angst vor Oriax’ Reaktion.

»Und die anderen?«

Der Dämon schnaubte und verkündete damit seinen Unmut. »Die verbliebenen sechsundzwanzig werden bleiben, wenn Ihr mich fragt. Ich habe ihnen heute Morgen ein Loyalitätsversprechen abgerungen und den Zweiflern eine letzte Möglichkeit eingeräumt, eigene Wege zu gehen. Wer bis jetzt geblieben ist, wird es vermutlich auch weiterhin tun.«

Sechsundzwanzig. Das also war übrig geblieben von Baals stolzer Streitmacht. Den Männern, die so viele Kämpfe ausgetragen hatten, bis sie endlich den lang ersehnten Frieden in Baals Reich wiederhergestellt hatten.

Die Hilflosigkeit, die ich bei dem Gedanken verspürte, machte mich wütend. Keiner von denen, die gegangen waren, glaubte an Baals Rückkehr. Niemand rechnete ihm auch nur die geringste Chance zu.

Nur Oriax und seine verbliebenen Männer taten alles, um Baals so mühsam aufgebautes Regime am Laufen zu halten. Doch der Frieden, den Baal in seinem Reich geschaffen hatte, begann bereits zu bröckeln. In der Stadt Ignis Tenebris machten sich die ersten Unruhen bemerkbar. Dämonen waren eben keine friedlichen Wesen und ohne einen Anführer, der die auferlegten Friedensregeln durchsetzte, war es nur eine Frage der Zeit, bis hier wieder Anarchie herrschte.

Und wir wissen, wohin das geführt hat.

Die vielen Kriege hatten die Unterwelt über Jahrhunderte so weit zerstört, dass sie sich nicht mehr selbst erholen konnte.

Baal hatte alles versucht.

Einst hatte ein Gleichgewicht in der Unterwelt geherrscht. Die Welt bestand aus Dämonenprana. Die reine Lebensenergie durchzog sogar den Himmel und war der Grund dafür, dass die Dämonen hier bedeutend mächtiger als die Hexen der Realität waren. Die Energie dieser Welt entstammte einer Quelle, einem See inmitten des verlorenen Waldes. Die Quelle wiederum zog ihre Energie aus den Bäumen und Pflanzen, die von Elfenmagie zum Blühen gebracht wurden. Es war ein Kreislauf, der lange Zeit wunderbar funktioniert hatte.

Dann hatten die Kriege Einzug gehalten, als die Dämonen ihren eigenen Frieden zerstörten, um ihre Kräfte zu messen.

Die Natur war weitestgehend vernichtet worden, die kleinen geflügelten Elfen verschwanden, das Gleichgewicht war gestört. Die Quelle zog weiter Energie aus dem Mutterboden. Energie, die die Pflanzen ohne die Fürsorge der Elfen nicht mehr aufbringen konnten.

Ich hatte die Unterwelt als trostlosen Ort kennengelernt, der von schwarzen Wiesen verrotteten Grases, verdorrten Bäumen und vertrockneten Blumen durchzogen war. Seitdem hatte sich nicht viel geändert. Mit der Freilassung der von den Dämonen in Gewächshäusern gefangenen Elfen schien es kurzzeitig so, als könne die Welt doch noch gerettet werden. Zumindest um Ignis Tenebris, der Dämonenstadt am Fuße des Bergs, auf dem Baals Schloss stand, hatte sich eine deutliche Besserung der Lage verzeichnet. Hier und da gab es sogar wieder Blumenwiesen.

Doch das alles war ein Trugschluss, wie sich herausgestellt hatte. Die Unterwelt war unwiderruflich zerstört. Sie löste sich auf, schrumpfte, wurde kleiner. Und den Untergang der Unterwelt zu verhindern, hatte Kronos nun meinem Vater auferlegt.

Baal allerdings hatte längst erkannt, dass es unmöglich war, die Welt zu retten. Er hatte die letzten Jahre seine Energie dafür verwendet, die Realität auf die Integration der Dämonen vorzubereiten, um wenigstens ein paar von ihnen retten zu können.

Wie viel Zeit würde ihm also verbleiben? Wie lange würde es dauern, bis auch Kronos zu dem Schluss kam, dass Baal machtlos und damit für seine Zwecke nutzlos war? Uns lief die Zeit davon. Alles hing davon ab, ob ich es schaffen würde, meinen Vater rechtzeitig aus den Fängen meines Großvaters zu befreien.

Wie ich schon sagte: Ich hatte absolut keinen Druck.

Kapitel 2

Die Versammlung fand in einem von Baals Besprechungsräumen im Schloss statt. Es war ein großer, gemütlicher Raum, mit Fackeln in Wandhaltern beleuchtet und mit hellem Teppich ausgelegt. Die Wände zierten wie fast überall im Schloss zahlreiche Gemälde und Teppiche. Ein großer runder Tisch in der Mitte nahm den meisten Platz ein.

Die acht Fürsten waren schon anwesend und in eine hitzige Diskussion vertieft. Ich räusperte mich und die Gespräche am Tisch verstummten. Blicke musterten mich, abschätzig und skeptisch.

Kopf hoch, Schultern gerade.

Ich trat an den noch freien Stuhl und legte die Hände auf die Lehne. Da stand der Dämon zu meiner Linken auf.

»Prinzessin«, sagte er mit seiner tiefen Bassstimme und neigte den Kopf. »Ich bin Fürst Abbadon von Bram.«

Nacheinander stellten sich die Fürsten vor, manche so höflich wie Abbadon, andere machten sich nicht die Mühe, aufzustehen und zu verbergen, dass sie mich für fehl am Platz hielten. Ich versuchte, mir die Namen einzuprägen, und scheiterte. Dafür prägte ich mir andere Details ein.

Graubart, Glatze, einer hatte anstelle eines Auges eine lange Narbe, der daneben sah aus irgendeinem Grund aus wie ein Anwalt. Die Kleidung der Fürsten variierte auf seltsame Weise, hier kam die Mode verschiedener Jahrhunderte zusammen.

Abbadon trug einen Gehrock aus Brokat mit silbernen Manschetten. Sein Nachbar sah in der Kniehose und den Schnallenschuhen aus wie ein Hofnarr. Dagegen war der Dämon, der mich an einen Anwalt erinnerte, in einen maßgeschneiderten Anzug gequetscht, während seine Haare schmierig am Kopf anlagen.

»Ich freue mich, dass Ihr Euch eingefunden habt«, sagte ich schließlich und setzte mich. Im Kopf bereitete ich mich bereits auf die lange und mitreißende Rede vor, mit denen ich die Fürsten der umliegenden Länder davon überzeugen wollte, mit mir ihren Anführer zu retten.

Sie alle regierten jeweils einen Teil von Baals Ländern, waren ihm aber unterstellt. Jetzt musste ich sie davon überzeugen, dass er es wert war, gerettet zu werden. Dass sie auf ihn angewiesen waren. Baal war der Einzige, der es ihnen ermöglichen konnte, sich in die Realität zu integrieren, bevor die Unterwelt über ihren Köpfen zusammenbrach. Doch Abbadon zu meiner Linken kam mir zuvor.

»Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wer von uns die Leitung von Ignis Tenebris übernehmen sollte«, sagte er förmlich und blickte mich abwartend an. Mein Blick blieb an seinem grauen Bart hängen, der mich fast ebenso aus dem Konzept brachte wie seine Worte.

»Ähm, wie bitte?«, fragte ich irritiert, doch dann dämmerte es mir. Die Geier stritten sich bereits um Baals Nachfolge. Ich atmete tief durch, um meinen Pulsschlag zu beruhigen. »Ignis Tenebris untersteht Baals persönlicher Verwaltung«, sagte ich ruhig, aber bestimmt.

»Baal ist auf unbestimmte Zeit nicht anwesend«, antwortete der Dämon, der mir gegenübersaß. Der schmierige Anwalt mit dem feisten Gesicht, der keinen Hehl aus seiner Abneigung mir gegenüber machte. Er rümpfte die Nase.

»Weshalb wir heute zusammengekommen sind«, übernahm ich wieder die Gesprächsleitung und unterdrückte den Anflug von Abscheu, den ich bei seinem Anblick empfand. »Nicht nur Ignis Tenebris braucht Baal so schnell wie möglich zurück, damit der Frieden bewahrt wird. Die Unterwelt . . .«

»Baal befindet sich in Kronos’ Gefangenschaft, wie uns zu Ohren gekommen ist«, unterbrach mich der Anwalt, bevor ich überhaupt auf die Sache mit der Rettung in die Realität zu sprechen kommen konnte. Er wurde mir immer unsympathischer. Ich räusperte mich erneut.

»Das ist richtig.«

Der Anwalt lehnte sich zurück. »Damit ist die Sache klar. Ignis Tenebris braucht wieder eine Hand, die es regiert und für Ordnung sorgt. Mein Sitz liegt kaum einen Tagesmarsch von hier entfernt. Ich werde . . .«

»Ihr werdet gar nichts, Marbas«, fiel ihm der Dämon mit dem fehlenden Auge ins Wort und verschränkte ruhig die Arme vor der Brust. »Dass Ihr am nächsten an der Stadt dran seid, befähigt Euch noch nicht dazu, sie zu regieren.«

Der Anwalt kniff die Augen zusammen. »Und was qualifiziert Euch dazu, Forcas? Ihr habt nicht einmal halb so viele kampffähige Dämonen wie ich.«

»Dafür ist einer meiner Leute mehr wert als drei von Euern«, konterte Forcas und funkelte Marbas mit seinem verbliebenen Auge an. »Wir genießen in Erlaris eine Ausbildung, die Ihr nicht einen einzigen Tag überstehen würdet.«

Ich sah fassungslos hin und her zwischen den beiden hitzigen Gemütern, die nun beide aufeinander einredeten, als würden sie sich am liebsten an den Hals gehen. Jetzt mischte sich auch der Glatzkopf zu meiner Rechten ein: »Ihr beiden Esel seid beide unfähig, auch nur ein Ameisenvolk zu regieren. Ignis Tenebris braucht jemanden mit Köpfchen und keine Soldaten.«

Weitere Fürsten mischten sich in das Gespräch ein, priesen ihre Vorzüge an und versuchten, die jeweils anderen Fürsten schlechtzumachen. Es war wie auf dem Fischmarkt. Jeder versuchte, seinen Nachbarn an Lautstärke zu übertrumpfen und die eigenen Vorzüge anzupreisen. Ich atmete tief aus und lehnte mich zurück, vollkommen überrumpelt von der Situation. Dass es schon aus dem Ruder lief, bevor ich überhaupt die Chance gehabt hatte, sie für Baals Rettung zu gewinnen, hatte ich nicht erwartet, auch wenn Jenna es prophezeit hatte.

Zu meiner Überraschung schlug der ruhige Abbadon links neben mir auf den Tisch.

»Ruhe«, dröhnte er unter dem grauen Vollbart und schaffte es damit tatsächlich, dass die Fürsten für einen Moment verstummten. »Keiner von uns wird Ignis Tenebris übernehmen, solange nicht geklärt ist, ob Baal zurückkehrt. Und für die Zeit der Überbrückung richten wir uns nach der üblichen Thronfolge.«

Wieder war es der Anwalt, Marbas, der sich einmischte.

»Baals Sohn Cherufe hat die Nachfolge offiziell abgelehnt«, knurrte er siegesgewiss.

Abbadon blieb ruhig, aber sein Blick fiel auf mich. »Cherufe ist nicht Baals einziges Kind.«

Ich schnappte nach Luft, aber das Geräusch ging in dem Sturm der Proteste unter, die uns wie eine Welle überrollten.

»Das kann nicht Euer Ernst sein, Abbadon!«, spuckte Marbas aus und durchbohrte mich dabei mit einem Blick, als wäre ich nichts weiter als ein Käfer, der zertreten werden müsse. »Sie ist eine Frau!«

Ich schnaubte unwillkürlich. Der Begriff Emanzipation war in der Unterwelt scheinbar ein Fremdwort.

»Sie ist nicht einmal ein vollwertiger Dämon«, stimmte Forcas zu. Sieh an, die beiden können sich ja doch einig sein.

»Cherufe ebenso wenig«, hielt Abbadon ruhig dagegen. Ich wollte dieser Diskussion ein Ende bereiten, ihnen sagen, dass ich absolut kein Interesse daran hatte, irgendeine Nachfolge anzutreten, doch Marbas’ Geschrei ließ mir kaum eine Chance dazu.

»In ihren Adern fließt Hexenblut zu gleichen Teilen wie Dämonenblut! Cherufe war wenigstens zum Großteil ein Dämon und er wurde über Jahre dazu ausgebildet, einmal zu herrschen. Die hier ist doch noch ein Kind!«

Marbas machte eine wegwerfende Handbewegung in meine Richtung. Kurz wollte ich protestieren, dass ich keineswegs ein Kind war. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass jeder Einzelne der Dämonenfürsten vermutlich schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel hatte, schluckte ich den Einwand hinunter.

»Ihre Dämonenmagie war bis vor Kurzem in einer Kapsel verschlossen, um sie zu schützen«, bellte Abbadon und sein Blick flackerte kurz zu mir. Lag Besorgnis darin? »Baal hat mir davon erzählt. Dieses Kind, wie Ihr sie nennt, hat mehr Macht im kleinen Zeh, als Ihr im ganzen Körper. Sie hat ihr volles Potenzial noch nicht einmal erreicht. Die Kapsel ist noch intakt, aber sie wird nicht ewig halten. Die Dämonenmagie darin läuft bereits aus.«

Nun waren wieder alle Blicke auf mich gerichtet. Ich verspürte den Drang, auf dem Stuhl nach unten zu rutschen und mich unter dem Tisch zu verkriechen. Wo war ich hier nur hineingeraten? Doch vielleicht wurde es Zeit, dass ich wieder die Leitung übernahm. Das hier war verdammt noch mal das Schloss meines Vaters!

Das aufgesetzte Lächeln des Anwalts jedoch vertiefte sich.

»Und kann sie diese Macht auch kontrollieren?«, säuselte er gehässig und wusste ganz genau, dass er damit einen Volltreffer gelandet hatte.

»Es spielt keine Rolle, ob ich sie kontrollieren kann«, meldete ich mich schließlich zu Wort und hatte endlich die volle Aufmerksamkeit, »weil ich die Nachfolge nicht übernehmen werde. Niemand wird das, solange Baal noch am Leben ist.«

Ich stand auf, weil mit jedem Wort, das ich sagte, ein Teil meiner Wut und Verzweiflung zurückkehrte. Ich hatte mir Hilfe von diesen Leuten erhofft, stattdessen machten sie alles nur noch schlimmer.

»Ihr seid verpflichtet dazu, ihm weiterhin Folge zu leisten«, erinnerte ich die Dämonen und sah jedem einzelnen ins Gesicht. »Baal hat alles in seiner Macht Stehende getan, um diese Welt wieder zu der zu machen, die sie einst gewesen ist. Dank ihm herrscht wieder Frieden und die Zerstörung der Welt ist vielleicht nicht aufgehoben, aber zumindest aufgeschoben. Er hat sein Leben dafür aufs Spiel gesetzt, um Euch den Ausweg in die Realität zu ebnen, um Euch eine Zuflucht zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist er von Kronos entführt worden! Ihm selbst steht der Weg in die Realität längst offen, aber er ist geblieben, weil er Euer Leben retten wollte. Die Unterwelt löst sich auf und Ihr werdet mit ihr zugrunde gehen!«

Erst jetzt bemerkte ich, wie laut ich geworden war.

»›Ihr‹ und ›Euch‹. Sie zählt sich nicht einmal selbst zu den Dämonen«, knurrte Marbas leise und mein Geduldsfaden wanderte gefährlich nahe zum Zerreißpunkt.

»Wenn ein Dämon sein bedeutet, dass ich sämtliche Loyalität gegenüber den Leuten verliere, denen ich Treue geschworen habe, wenn es bedeutet, dass ich mich wie ein Geier auf jedes bisschen Land stürze, das in greifbare Nähe rutscht, unabhängig davon, ob ich dazu fähig bin, es zu verwalten, dann ja. Dann zähle ich mich tatsächlich nicht zu den Dämonen!«

Einige der Umsitzenden senkten immerhin beschämt den Blick. Nur Marbas und Forcas blickten mich weiter trotzig an.

»Ich bin in der Realität groß geworden und habe vieles von dem, was Euch bereits in die Wiege gelegt wurde, noch nicht erlernt. Ich kenne auch meinen Vater erst seit wenigen Jahren und trotzdem würde ich für ihn durchs Feuer gehen. Nicht, weil durch meine Adern sein Blut fließt, sondern weil er es wert ist, gerettet zu werden. Weil er versucht, aus diesem trostlosen Ort etwas Besseres zu machen, und weil er sein Leben aufs Spiel setzt, um sein Volk zu retten. Um die Dämonen zu retten, die nun hier sitzen und ihm in den Rücken fallen!« Meine Hände umklammerten die Tischkante, die Knöchel traten weiß hervor. »Baal allein trägt mehr Ehrgefühl in sich, als Ihr alle zusammen. Er wäre zu Eurer Rettung geeilt, wenn Ihr an seiner Stelle gewesen wärt, anstatt sich Euer Land unter den Nagel zu reißen.«

Nun spiegelte sich nicht nur Verständnis, sondern auch Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Fürsten wider. Selbst Abbadon konnte nicht verhindern, dass ihm der Mund aufklappte.

»Was?«, fragte ich angriffslustig. »Habt Ihr gedacht, ich hätte Euch rufen lassen, damit Ihr mir bei der Verwaltung dieser verfluchten Stadt helft?« Den verwirrten Gesichtern entnahm ich, dass sie genau diese Gedankengänge gehabt hatten. »Ihr seid hier, weil ich Euch um Unterstützung bei der Befreiung meines Vaters bitten will!«

Keuchen. Luftschnappen. Die Reaktionen der Fürsten waren allzu deutlich.

»Ihr wollt Kronos aufsuchen und Euern Vater befreien?«, fragte Abbadon leise und ungläubig. »Wisst Ihr nicht, wer Kronos ist?«

Ich biss die Zähne aufeinander und bemühte mich um Ruhe, doch der Aufruhr in meinem Inneren war kaum noch zu bändigen. Meine Prana wirbelte schon seit Minuten wie ein Sturm in meiner Brust und blaue Magiefunken glitten an meinen Armen hinunter wie funkelnde Tinte. Ich hatte es gar nicht bemerkt.

»Ich weiß sehr genau, wer Kronos ist. Und trotzdem werde ich mich ihm entgegenstellen, wenn es sein muss. Meinetwegen auch allein, wenn Ihr gestandenen Dämonen zu feige dazu seid.« Mein Blick wanderte zu Marbas und blieb an seinen eisblauen Augen haften, in denen seine Bestürzung sehr gut zu erkennen war. »Ich, ein Halbdämon, eine Frau, ein Kind«, fügte ich bitter hinzu. Dann drehte ich mich um und ließ die Fürsten sitzen.

»Verlasst dieses Schloss auf der Stelle«, sagte ich noch, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel und meine brennenden Augen vor den Blicken der Fürsten schützte.

Kapitel 3

»Ich habe es versaut«, sagte ich zum wiederholten Mal. Meine Stimme wurde durch das Kissen gedämpft, in das ich mein Gesicht presste. Jenna setzte sich an die Kante meines riesigen Himmelbetts und seufzte. Ich hatte ihr bereits von dem Fiasko bei der Versammlung der Fürsten erzählt.

»Ihr wart wütend, das ist verständlich«, beruhigte sie mich.

»Nein, ist es nicht. Ich hätte alles dafür tun müssen, sie auf meine Seite zu bringen, anstatt sie noch mehr zu verärgern. Nun stehen wir wieder ganz am Anfang.«

Jenna zog erbarmungslos die Decke weg, die ich mir gerade über den Kopf gezogen hatte.

»Diese Männer wären Euch nicht gefolgt, selbst wenn Ihr einen Glanzauftritt hingelegt hättet, Prinzessin. Sie sind feige und habgierig. Ihr könnt die Fürsten nicht mit Eurem Vater vergleichen. Edelmut liegt ihnen einfach nicht. Es liegt nicht in der Natur der Dämonen.«

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte den Baldachin aus weißem Stoff an.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand ich schließlich der Haushälterin meines Vaters. »Ich habe keine Ahnung, wo Kronos sich aufhält, wie viele Dämonen er auf seiner Seite hat oder mit was ich überhaupt anfangen soll, um Dad zu retten. Jedes Mal, wenn ich glaube, einen Schritt vorangekommen zu sein, finde ich mich zwei Schritte weiter zurück als zuvor. Es ist zum aus der Haut fahren.«

Und es zehrte an meinen Nerven. Jeder Tag, der verging, war einer mehr, an dem Baal in Gefahr schwebte. Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebte oder ob Kronos seiner schon überdrüssig geworden war. Ich war Baals einzige Hoffnung und was tat ich? Ich saß hier rum und hatte absolut keine Ahnung, was ich machen sollte.

Bevor Jenna näher darauf eingehen konnte, klopfte es an der Tür und Oriax betrat das Zimmer.

»Prinzessin«, begrüßte er mich förmlich, so wie immer. Meine Güte, wann würden die Dämonen es endlich lassen, mich so zu nennen? Vielleicht, wenn Baals Schicksal endgültig besiegelt war. Ich verdrängte den Gedanken schnell wieder.

»Wie schlimm ist es?«, fragte ich und legte mir den Arm über die Augen. Oriax war geblieben, um die Gemüter zu beruhigen, nachdem ich meine erste und vermutlich auch letzte Fürstenversammlung abgebrochen hatte.

»Abbadon wird Euch bei dem Versuch, Euren Vater zu retten, begleiten.«

Ich richtete mich ungläubig auf. »Wie bitte?«

Oriax lächelte verhalten unter seinem Schnäuzer. »Zumindest ihn hat Eure Rede überzeugt.«

Ich sprang auf. »Das sind großartige Neuigkeiten! Wie viele Männer bringt er mit?«

»Ungefähr zehn.«

Abwartend blickte ich Oriax an. »Zehn was? Zehn Dutzend? Zehntausend?«

Oriax räusperte sich unangenehm berührt. »Wie ich schon sagte, zehn. Sich selbst und die neun Dämonen seiner Leibgarde.«

Das Triumphgefühl verschwand wie Wasser, das durch ein Loch im Boden sickerte.

»Der Mann befehligt eine riesige Stadt mit kampffähigen Dämonen, und er bringt nur zehn von ihnen mit?« Ich konnte es kaum glauben.

»Dass er Euch bei der Suche nach Kronos begleitet, bedeutet nicht, dass Abbadon auch an Euern Erfolg glaubt. Er ist nach wie vor davon überzeugt, dass Ihr geradewegs ins Verderben rennt. Doch er ist, wenn ich es mit seinen Worten ausdrücke, es Eurem Vater schuldig, es zumindest zu versuchen. Die neun Männer, die er mitbringt, sind ihm treu ergeben und würden ihm, ohne zu zögern, bis in den Tod folgen. Doch er wird von keinem einzigen seiner Untertanen fordern, dass sie dieses Schicksal mit ihm und Euch teilen, sofern sie sich nicht freiwillig anschließen.«

Ich ließ mich zurück aufs Bett sinken. Abbadon glaubte also nicht daran, dass wir lebend zurückkehrten, sollten wir Kronos tatsächlich ausfindig machen. Vielleicht hoffte er auch einfach nur, dass unsere Suche erfolglos blieb und wir unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren konnten.

»Vielen Dank, Oriax«, erwiderte ich, um ihn zu entlassen. Doch Oriax räusperte sich erneut. Er war noch nicht fertig.

»Es wird mir nicht gefallen, was du als Nächstes zu sagen hast, oder?«, murmelte ich müde.

»Nein, vermutlich nicht«, seufzte Oriax.

»Was soll’s, viel schlimmer kann es ja nicht mehr kommen.«

Oriax’ Zögern verriet mir, dass es durchaus noch schlimmer kommen konnte.

»Marbas und Forcas geben Euch acht Wochen Zeit, um Euern Vater ausfindig zu machen und zurückzubringen. Bis dahin überlassen sie es Euch, die Stadt zu verwalten und Fürst Baals Amt fortzuführen. Solltet Ihr Euch nicht als würdig erweisen oder die acht Wochen vergehen, ohne dass Aussicht darauf besteht, dass Fürst Baal zurückkehrt, wird einer der beiden Baals Platz einnehmen.«

Er verneigte sich und verließ den Raum.

»Jenna?«, wisperte ich. »Bitte sag mir, dass das nur ein Albtraum ist, aus dem ich gleich wieder aufwache.«

Jenna seufzte wieder. »Ich fürchte nein, Prinzessin.«

Ich stieß die angehaltene Luft aus und schwang die Beine aus dem Bett. Viel zu viele Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Wenn Marbas oder Forcas erst einmal Baals Platz und Ignis Tenebris übernommen hatten, würden sie nicht wieder weichen. Dann wäre Dad abgesetzt.

Rastlos wanderte ich durch das Schloss meines Vaters. Die Müdigkeit zerrte an mir und doch kam ich nicht zur Ruhe. Nie in meinem Leben war ich so ratlos wie jetzt gewesen.

Ich schaffte es einfach nicht, einen Ansatzpunkt für die Lösung meiner Probleme zu finden. Im Gegenteil, es schien, als komme mit jedem Tag eine weitere Hürde dazu, die ich unmöglich überwinden konnte.

Wie sollte ich Baals Platz einnehmen, sein Amt fortführen und mich gleichzeitig auf die Suche nach ihm begeben? Er musste schnellstmöglich zurückkommen und in seinem Land wieder für Ordnung sorgen. Aber wie sollte ich ihn finden? Bis vor ein paar Wochen hatte ich nicht einmal gewusst, dass Kronos, der wohl mächtigste Dämon der Unterwelt, überhaupt existierte. Niemand konnte mir etwas Genaueres über ihn sagen, keiner wusste, wo er sich aufhielt. Wie sollte ich ihn finden? Und selbst wenn ich ihn finden würde, was sollte ich dann tun? Ich hatte Kronos nichts entgegenzusetzen und mit der Ablehnung der Fürsten war nun auch meine Hoffnung auf einen eindrucksvollen Rettungstrupp verschwunden.

Ich wusste, dass ich mir längst hätte eingestehen sollen, dass es unmöglich war, Baal zu retten. Doch ich konnte es einfach nicht. Er hätte mich nie meinem Schicksal überlassen, wäre ich an seiner Stelle gewesen. Er hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mir zu helfen. Und aus diesem Grund konnte ich einfach nicht tatenlos sitzen bleiben und abwarten, was passierte. Baal steckte in Schwierigkeiten und ich musste ihn rausholen. Ich musste einfach.

Wie mochte es ihm im Moment ergehen? Wo hatte Kronos sein Versteck und behandelte er meinen Vater gut?

Gedankenverloren sah ich aus einem der großen Fenster des Korridors, in dem ich gelandet war. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf die Gärten des Schlosses.

So vieles hatte sich verändert. Seit die kleinen geflügelten Elfen aus den Gewächshäusern in die Natur entlassen worden waren, hatten sie ganze Arbeit geleistet. Zwischen weißen Marmorstatuen blühten Blumen, die grünen Hecken bildeten ein Labyrinth und waren ordentlich geschnitten. Vor ein paar Jahren hatte auf Baals Schloss noch Trostlosigkeit geherrscht, die Natur war abgestorben gewesen und tote Pflanzen hatten das Bild beherrscht.

Durch die fehlende Sonne in der Unterwelt waren die Magie und der grüne Daumen der Elfen notwendig, damit die Pflanzen gedeihen konnten. Doch die Elfen waren hier vom Aussterben bedroht, nachdem die Kriege der Dämonen einen Großteil ihrer Lebensräume zerstört hatten.

Ich ließ meine Stirn gegen die kühle Scheibe sinken.

Wir waren so nah dran gewesen. Die Natur erholte sich, wenn auch nur sehr langsam. Rund um das Schloss und in Ignis Tenebris waren schon wieder die ersten grünen Stellen zu finden. Andere Fürstentümer waren Baals Aufruf gefolgt und hatten ebenfalls die in Gewächshäusern gefangenen, letzten verbliebenen Elfen befreit. Es herrschten strikte Friedensregeln, die zum Großteil auch eingehalten wurden. Man hatte endlich erkannt, dass Frieden notwendig war, um die Unterwelt wieder zu dem werden zu lassen, was sie einst gewesen war.

Aber uns fehlte die Zeit. Es war eine langwierige Angelegenheit, die Schäden vieler Jahrhunderte voller Krieg und Zerstörung zu beheben. Und die Unterwelt hatte scheinbar mehr Schaden davongetragen als angenommen. Sie hatte bereits begonnen, sich aufzulösen, da ihr die nötige Lebensenergie fehlte, die sie einst aus den Pflanzen gezogen hatte, die wiederum von den Elfen am Leben gehalten wurden. Der einst so gut durchdachte Kreislauf war durch Dämonenhand durchbrochen worden. Die Welt schrumpfte unaufhaltsam.

Kronos wollte, dass mein Vater eine Lösung für dieses Problem fand. Vielleicht setzte Kronos seine Hoffnung in seinen Sohn, weil Baal mit der Freilassung der Elfen bereits einen guten Lösungsansatz gefunden hatte.

Aber ich war mir sicher, dass Baal nicht wusste, wie man diese Welt retten konnte. Er hatte die letzten Monate damit verbracht, Verhandlungen mit Menschen aus der Realität zu führen und die Integration der Dämonen in die neue Welt vorzubereiten.

Er glaubte nicht daran, dass die Unterwelt gerettet werden konnte, sondern wollte so viele Dämonen wie möglich in Sicherheit bringen, bevor die Welt sich gänzlich auflöste.

Damit war auch der zweite Ausweg, der mir blieb, ein Schuss in den Ofen. Wenn es Baal nicht schaffte, eine Lösung zur Rettung der Unterwelt zu finden, um sich aus Kronos’ Fängen zu befreien, dann würde auch ich es nicht schaffen.

Ich zerbrach mir seit Tagen den Kopf darüber. Die Unterwelt benötigte Energie, die sie aus Pflanzen zog. Das bedeutete, sie brauchte mehr Elfen, die sich darum kümmerten. Aber der Bestand der Elfen benötigte noch Jahrzehnte, um sich zu erholen. Auch in der Realität gab es kaum genug von ihnen.

Die andere Überlegung, die ich gemacht hatte, bezog sich auf die Quelle der Unterwelt. Ich hatte sie schon einmal gefunden. Sie befand sich im verlorenen Wald, ein ganzes Stück entfernt von hier. Mal abgesehen davon, dass sie von einem monströsen Wächter bewacht wurde, sah der schimmernde See beinahe harmlos aus. Das war auch der Grund gewesen, warum ich in meinem jugendlichen Leichtsinn hineingefasst hatte. Die Quelle hatte, ausgehungert wie sie war, nach meiner eigenen Lebensenergie gegriffen und sie aus mir hinausgezogen. Hätte Baal mich nicht gerettet, hätte mein Leben dort geendet. Wieder etwas, das ich ihm schuldig war.

Doch der einzige Effekt, den meine Energiezufuhr in die Quelle bewirkt hatte, war ein Himmel gewesen, der für einige Monate in der Farbe meiner Prana gestrahlt hatte, in freundlichem Blaugrün – eine Mischung aus Hexenprana und Dämonenprana. Keine Pflanzen, die sich erholt hatten. Keine Auswirkungen, die die Zerstörung der Unterwelt aufhoben.

Die Quelle konnte augenscheinlich keine Energie verarbeiten, die nicht aus den Pflanzen und der Erde stammte. Somit war auch für mich die Rettung der Unterwelt ein Rätsel, das unlösbar war. Wie gerne hätte ich Kronos seinen Wunsch erfüllt und diese Welt gerettet, damit er meinen Vater wieder freilassen konnte. Doch es war unmöglich.

Frustriert stieß ich mich vom Fenster ab und ging weiter, bis ich in die große, mit weißen Säulen verzierte Halle gelangte. Von hier aus führte eine Treppe nach oben, hinter der die bodentiefen Fenster einen Blick auf den mitternachtsblauen Pranahimmel freigaben. An die tausend Kerzen an den Wänden und auf dem gläsernen Kronleuchter tauchten die Halle in goldenes Licht.

Doch sofort bereute ich es, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Marbas, Forcas und die anderen Dämonenfürsten hatten sich hier versammelt und machten sich gerade bereit für den Aufbruch. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen und zu verschwinden, aber Marbas hatte mich bereits entdeckt. Ich straffte die Schultern und beschloss, dass ich meine Unbeherrschtheit bei der Versammlung wenigstens damit etwas abmildern konnte, dass ich sie gebührend verabschiedete.

»Oriax hat Euch unsere Entscheidung mitgeteilt?«, fragte Marbas schroff. Mir lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, aber ich schluckte sie hinunter.

»Das hat er«, erwiderte ich betont höflich und neigte den Kopf. Marbas war anzusehen, dass er mit dem Beschluss keineswegs zufrieden war.

»Freut Euch nicht zu früh«, zischte er, als ich näher kam. »Ihr seid nicht fähig, zu herrschen. Bei dem kleinsten Fehltritt oder wenn es auch nur den kleinsten Aufstand in Ignis Tenebris geben sollte, werde ich zur Stelle sein und die Stadt übernehmen.«

Ich biss die Zähne fest aufeinander und ignorierte das Toben der Energie in meiner Brust.

»Dazu wird es nicht kommen«, entgegnete ich und erntete einen spöttischen Blick von Marbas.

»Ach nein?«, fragte er höhnisch. »Ihr habt nicht einmal im Ansatz eine Ahnung davon, was es bedeutet, eine Stadt oder ein Land zu regieren. Es war ein Fehler, uns die Leitung nicht zu übergeben. Von wem wollt Ihr Euch beraten lassen? Der Haushälterin Eures Vaters? Sie kann Euch nicht helfen, Prinzessin.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten.

»Aber ich kann es«, ertönte plötzlich eine mir wohlbekannte Stimme. Vor Erleichterung hätte ich beinahe aufgekeucht. Durch den Torbogen, der zu einem von Dads Beschwörungsräumen führte, kam mein Bruder Chaz, dicht gefolgt von Oriax. Hoheitsvoll schritt er den Dämonenfürsten entgegen, sein blondes Haar war wie immer verwuschelt, doch das tat seiner selbstbewussten Haltung keinen Abbruch.

»Fürst Cherufe«, schnarrte Marbas, doch er konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. Chaz und ich zuckten beide bei der Anrede zusammen. Chaz wurde erst offiziell zum Fürsten, wenn Baals Tod bestätigt war, was Marbas ganz genau wusste.

»Wenn das so ist, wissen wir das Land ja in guten Händen«, säuselte Marbas weiter mit gespieltem Lächeln, doch aus seinen dämonenblauen Augen sprühte der Hass.