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Finnland ist ein zweisprachiges Land, in dem neben Finnisch auch Schwedisch gesprochen wird. Da die Verfasserin finnlandschwedische Wurzeln hat, hat sie sich für die schwedische Ortsbezeichnung Helsingfors statt Helsinki entschieden.

© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: H. Armstrong Roberts/Getty Images; ullstein bild Dtl./Getty Images
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Inhalt

TEIL I

Schmetterlinge
1932–1938

1

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TEIL II

Mitten unter uns
1939–1940

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TEIL III

Pusteln
1940

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46

NACHWORT

DANKSAGUNG

ZITATHINWEISE

TEIL I

Schmetterlinge
1932–1938

Nichts für ein einzelnes Leben wirklich Veränderndes geschieht ohne die Zuneigung zweier Menschen zueinander. Nichts beginnt ohne Liebe. Wir neigen dazu, diesen Umstand zu vergessen, doch nur das unumstößliche Vertrauen, das ein Mensch dem anderen entgegenbringt, kann dem nahekommen, was wir unser Wesen heißen, und liegt nicht in dessen Entfaltung der Sinn unseres ganzen Daseins? Was aber passiert mit uns, wenn die große Liebe geht, wenn Schweigen und Stille an die Stelle von Gespräch und körperlicher Vereinigung treten? Mit wem sollen wir fortan ­sprechen, wir Wesen der Sprache?

Edith Sundström

1

»Weil ich noch nicht den Richtigen gefunden habe!«, rief Linda. »Du dumme Nuss, glaubst du, ich lass mich in eine Ehe einsperren? Lene, hör doch mal: E-H-E. W-E-H-E. Reimt sich sogar. Und jetzt hör mal: L-i-e-b-e. Das eine kurz, das andere lang. Dreimal darfst du raten, was schneller vorüber ist.«

Linda lächelte Lene, ihre Freundin aus Kindertagen, mit hochgezogenen Augenbrauen und fliegenden Haaren an. Sie erntete einen verängstigten Blick. Zu Hause, bei Arnold, würde Lene Linda als »implusiv« bezeichnen, »implusiv und unbeherrscht«. Ein feiner Schneestaub bedeckte Lindas Pelzkragen. Ihre Schuhe auszuziehen und ihren Mantel abzulegen hatte sie sich keine Mühe gemacht. Was tat Lene schon wieder hier?

»Schau dich an. Arnold hier, Arnold da, dein Arnold ist für jeden da, was? Dein ewiges Gerede. Meinst du, alle müssen sein wie du, so lieb und brav und nett und immer alles richtig machen und dem Mann Mantel und Hut abnehmen, wenn er nach Hause kommt?«

»Ich lieb meinen Mann eben.«

»Das nennst du Liebe? Dieses Hinterhergetrage? Hast du mal überlegt, wo du bleibst, Lene Gruber? Genau, wo bleibst du?« Linda tippte sich mit ihrem Zeigefinger an die Schläfe.

»Ich mach das doch gern«, erwiderte Lene. »Ich hab eben nie eine Familie gehabt so wie ihr.«

»Deswegen musstest du doch nicht gleich heiraten«, sagte Gitte nüchtern und warf einen Seitenblick auf ihre Schwester, während ihre Finger langsam durch ihre bauchlange Perlenkette glitten. Der Stoff ihres hellgrauen Kleides, maßgeschneidert, ließ ihre weiße Haut durchschimmern, und die zu einem Knoten im Nacken gelegten dunklen Haare unterstrichen einen schmalen langen Hals.

»Und Kinder kriegen«, ergänzte Linda.

Lene riss die Augen auf, auf ihren Wangen schimmerten zartrosa Flecken, ihr Blick senkte sich in die Fransen des dicken Perserteppichs, hob sich wieder, fiel auf die schmale silberne Vase, die auf dem Wohnzimmertisch stand und die sich, sobald es Frühling wurde, mit Narzissen oder Tulpen füllte. »Dekorativ«, das Wort hatte Lene bei den Hoffmanns gelernt. Lene wirkte, als wolle sie gehen, unentschlossen sah sie sich um, vor ihr standen die Schwestern wie eine uneinnehmbare Festung. Auch wenn sie sich äußerlich unterschieden, machten ihre neugierigen hellblauen Augen und ihr gleichermaßen klirrend fröhliches Lachen sie unverkennbar zu Schwestern, und manch einer hielt sie für Zwillinge.

»Bist du Arnolds Bedienstete, oder was?«

»Ich … ich … Arnoldchen verdient doch das Geld, ich kümmere mich darum, ein Heim zu schaffen. Das ist doch viel schöner, als stumpfsinnig in der Fabrik zu schuften. Jetzt hab ich’s doch viel schöner!«

»Weißt du was, Lene, schmier weiter deine blöden Butterbrote, aber lass Gitte und mich außen vor, wir wollen nämlich unser Hirn benutzen, die Wahrheit suchen und sie vor allem auch leben. Fürs Heimchensein ist das Leben zu kurz. Lene, stell dir mal vor, wir benutzen nur einen Bruchteil unseres Gehirns, jetzt willst du auch noch dieses bisschen auf die Wickelkommode legen und Betten machen und waschen und dämlich lächeln, als wäre alles gut, alles gut, alles gut. Mensch, Lene, was ist denn daran so toll?«

Wie ein Lasso schwang Linda ihren Muff, den linken Arm in die Hüfte gestemmt. Lene zuckte zusammen wie ein verschrecktes Huhn vor dieser Angriffslust, vor diesem Übermut, der auf ein Kontern wartete, das nicht kam. Nicht jetzt, noch nicht. In dem Augenblick, als Linda wieder das Wort ergreifen wollte, betrat Mutter Margarete das Wohnzimmer. Das Gespräch der Mädchen hatte sie, da die Tür zur Bibliothek nur angelehnt war, mitgehört. Es war ihr nicht möglich gewesen, sich auf den Brief, den sie schreiben wollte, zu konzentrieren.

»Linda, sei nicht gehässig. Lass Lene ihr Leben, du hast deins.«

Das Wohnzimmer in der dritten Etage des bürgerlichen Wohnhauses lag im Dämmerlicht. Zwischen den beiden gegenüberliegenden, mit hellgrünem Samt überzogenen Kanapees standen Gitte und Lene. Linda lehnte am Türrahmen zwischen Salon und Flur. Ihr Muff aus Kaninchenfell baumelte etwas langsamer zwischen ihren Händen, sie knöpfte ihren Mantel auf und riss ihre Baskenmütze vom Kopf, unter der sich ihre hellen, kinnlangen Haare wellten. Die winterliche Kälte mischte sich mit der warmen Luft des Wohnzimmers.

In letzter Zeit kam Lene täglich, wie früher, wenn Gertrud, ihre Mutter, sie zu sehr quälte. Meistens saß Lene mit Margarete am Küchentisch bei einer Tasse Tee und redete. Das übliche Zeugs. Linda nannte es »Lenes Wehklagen« und verdrehte die Augen. Seit sie denken konnten, kannten die Mädchen Lene und ihre Mutter. Sie wohnten im selben Viertel, Lene war auf dieselbe Volksschule wie Brigitte und Linda gegangen. Drei Jahre älter war sie als Linda, vier Jahre älter als Brigitte. Durch dieses Mehr an Jahren fühlte sich Lene offenbar berechtigt, mit Margarete von Gleich zu Gleich zu sprechen, erst recht seitdem sie mit ihrem Arnold vor zwei Jahren in eine Wohnung schräg gegenüber gezogen war. Wann Linda und Gitte endlich heiraten würden, fragte sie gerne bei jeder Gelegenheit, nur um noch einmal zu betonen, wie sehr sie Arnold den Rücken freihielt. Arnold war dabei, sich einen Namen zu machen, voranzukommen, comme il faut. Comme il faut war einer von Lenes Lieblingsausdrücken, den sie sich aus den Romanheftchen abgeschaut hatte, die sie jeden Freitag am Kiosk kaufte. Die Hoffmann-Mädchen, so hießen sie überall, belächelten Lenes Wunsch, vornehm sein zu wollen. Besonders sonntags bei ihrem Kirchgang trug Lene ihre dunkelblauen Kleider mit gestärktem weißen Kragen wie sichere Werte vor sich her. Zu Hause ersetzte sie die Kleider durch Kittel, das war praktischer für den Haushalt und wegen der zwei Kinder, und dann ahnte man: Lene kam ganz woandersher, als sie hinwollte. In welcher Abteilung ihr Mann im Reichsministerium des Inneren arbeitete, war keinem wirklich klar. »Sobald ein Posten frei wird in der Führung, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche, wird Arnold eine Stufe nach oben klettern«, sagte Lene und hob lächelnd ihren Kopf. Fragte man allerdings Vater Leonhard, brummte dieser: »In der Postabteilung ist er und wartet, bis die NSDAP an der Macht ist. Abteilungsleiter ist er jedenfalls nicht.«

Morgens sahen die Hoffmanns Arnold, wenn sie am Frühstückstisch saßen, wie er stets zur selben Uhrzeit das Haus verließ, den Völkischen Beobachter unter den Arm geklemmt und mit schnellen Schritten, als würde er das Leben selbst überholen wollen; eine kräftige Gestalt mit breitem Gesicht, das zwischen ebenso breiten Schultern saß und ihn gedrungen erscheinen ließ, den Mund im Halbmond Richtung Hals gekrümmt. Auf dem Kopf saß ein hellbrauner Hut, und sein Blick sagte nichts anderes als »vorwärts«. Seitdem Arnold in die NSDAP eingetreten war, als einer der Ersten, wie er gerne betonte, konnte ihn nichts mehr bremsen, den Auftrag auszuführen, den er in sich spürte.

Lene sah aus, als ob sie losheulen wolle.

Heute war Freitag! Wie konnte sie nur an einem Freitagabend hineinschneien. Mit dem Mantel war es heiß. Linda mochte ihn jedoch nicht ablegen, sonst würde Lene womöglich nie gehen. Gitte suchte nach beruhigenden Worten. Das hatte sie sich von ihrer Mutter abgeschaut. Das jedoch würde nur wieder dazu führen, dass Lene am nächsten Tag erneut bei ihnen klingelte. In Linda rief es nach einem anderen Dreh. Schneller pendelte der Muff zwischen ihren Händen. Draußen war es fast dunkel geworden. Lene verfiel in kindliches Quengeln. Linda hielt mit dem Muffschwenken inne und hob ihren Mantel ein wenig von den Schultern, um sich Luft zu verschaffen, und ließ ihn wieder fallen. Ihrer Mutter warf sie einen irritierten Blick zu. Den Moment nutzend, entschwand Lene im Flur. Vom Dienstmädchen ließ sie sich ihren Mantel geben und verabschiedete sich in aller Hast.

Margarete ging ihr hinterher, streichelte ihr über die Wange. »Nimm’s dir nicht zu Herzen, Lenchen, dieses Gerede. Du machst es, wie du denkst.«

Lene biss sich auf die Lippen, sie spürte das Gold von Margaretes Armreif auf ihrer Haut. Zu Hause bei Arnold würde sie den Kopf schütteln und wie so oft sagen, die Hoffmann-Mädels hielten zusammen wie »Pest und ­Cholera«, und Arnold würde darüber schimpfen, dass sie immer noch rübergehe und sich demütigen lasse, die Hoffmanns brauche sie doch nun wirklich nicht mehr.

Als sie die Tür ins Schloss fallen hörten, ließen Linda und Gitte ihre Mutter stehen, öffneten die Tür zum Balkon und zündeten sich Zigaretten an. Über ihnen hing ein grauer Januarhimmel, die Stille eines kalten Abends umgab sie, die eiskalte Luft drang in ihre Lungen, umhüllte die Worte, die nach einem Moment des nachdenklichen Schweigens aus ihren Mündern in die Schneeluft flogen. Über ihnen, aus den Dächern, stieg der Atem der Schornsteine, an den Straßenrändern unter ihnen türmten sich Haufen geschippten Schnees. Die kahlen Linden ringsum sahen aus wie Skelette im warmen Abendlicht der Gaslaternen. Die Schritte vereinzelter Fußgänger verschluckte die weiße Decke. Allmählich röteten sich die Wangen der Mädchen, und ihre Augen leuchteten in die Winternacht wie Eiskristalle. Margarete hatte ihnen verboten, im Haus zu rauchen. Ohnehin hielt sie es für unpassend. Gitte grinste und gratulierte ihrer älteren Schwester, die sie um knapp fünf Zentimeter überragte. Das sei mal wirklich gut gewesen, diese Hausfrau, die sich gerade mal die Goethestraße hoch- und runtertraue.

Linda verschränkte die Arme vor der Brust. »Plötzlich wurde ich so wütend auf ihre Art, immer alles besser zu wissen. Immer tut sie sich mit Mama zusammen. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Sie tut mir ja leid, aber sie treibt mich auch zur Weißglut. Maßlos, Gitte, maßlos. Wenn ich könnte, würde ich ihr an die Gurgel springen und sie schütteln. Beinahe hätte ich sie noch gefragt, wo Arnold freitags hingeht. Es lag mir auf der Zunge.«

Gitte lächelte. Sie hatte ein breites Lächeln, Max hatte es »Dünungslächeln« genannt. Dahinter verbarg sich ein wacher Verstand. »Frau Ostermann hat mir neulich verraten, was seine Vorlieben sind.«

»Wirklich?«

»Es muss immer dunkel sein. Bei Helligkeit kann er nicht.«

Linda zog den Pelzkragen ihres Mantels dichter unters Kinn und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.

»Und weiter?«

»Rote oder schwarze Schuhe muss sie tragen, möglichst mit Schnüren oder Riemchen.«

»Riemchen? Aus Silber etwa? Ist nicht wahr? Warum das denn?«

Gitte zuckte mit den Schultern. »Jeder, was er muss.«

»Meinst du, Lene ahnt was?«, fragte Linda.

Statt einer Antwort zuckte Gitte wieder mit den Schultern.

»Arme Lene, da sitzt sie in ihrem Traum, und ihr Mann verrät ihn.«

Eine Weile schwiegen die Mädchen. Schließlich stieß Linda die Balkontür auf, warf ihren Mantel auf das Sofa und setzte sich an die Nähmaschine. Sie würde ihr Kleid fertig nähen. »Und dann gehen wir tanzen heute, was, Gitte? Darauf ist die Lene nämlich auch neidisch, dass sie das nicht mehr kann, jetzt, da sie ihre beiden Bamsen hat und so wunderbar glücklich ist. Tütüt.«

2

An den Augenblick, als Arnold in ihr Leben getreten war, würde Lene sich ihr Leben lang erinnern. Kurz zuvor war es ihr nach vielen Anläufen gelungen, auszuziehen und den Schikanen ihrer Mutter zu entkommen. Margarete hatte ihr ein Zimmer mit Küche vermittelt und freundlich zugeredet, und die Hoffmann-Schwestern hatten mit ihrer mitreißenden Art – »Lene, dein eigenes Zuhause! Wir nähen dir Vorhänge, Großvater schenkt uns bestimmt einen Stoff!« – vermocht, sie anzustecken, sodass in ihr fast ein Gefühl der Freude entstanden war, das ihre Angst zwar nicht beiseiteschob, ihren Blick jedoch auf anderes gelenkt hatte. Dieses winzige Stückchen Vorfreude auf etwas Eigenes, wenn sie diese nur zuließe, würde sich ihr Leben womöglich verändern. In der Anfangszeit, als es gegolten hatte, ihre Wohnung einzurichten, hatte Margarete Lene noch etwas Geld zugesteckt und ihr zuweilen ein Stück Butter mitgegeben. Nach dem Auszug hatte ­Gertrud sich bitterlich bei Margarete beschwert – »die Mutter im Stich gelassen von der eigenen Tochter, ohne ein Wort, wie der Vater, sie kommt nach dem Vater«. Gertrud beschwerte sich immerzu. Verwickelt in eine Klage über ihren Bluthochdruck, ihre Monatsblutungen, ihre Atemschwierigkeiten, machte sie das Leben ihrer Tochter unfroh. Lene hatte Margarete so lange angefleht, ihr zu sagen, was und wie ihre ­Mutter auf ihren Auszug reagiert hatte, dass Margarete schließlich gemeint hatte: »Lenchen, Kopf hoch. Du bist jung. Sie nicht.«

»Mutti, ach Mutti, ich mach mir solche Sorgen, das war nicht recht von mir«, hatte Lene gejammert und schon den Rückzug erwogen, hätten nicht Linda und Gitta gerufen, sie kämen doch morgen mit den Vorhängen und mit einem Bettvorleger, den Großmutter nicht mehr brauche, und ein paar Kaffeetassen, die hätten sie auch noch. Tags darauf hatten sich Pusteln auf Lenes Armen ausgebreitet, bis in den Abend hinein waren sie die Schultern hinauf bis zum Hals gekrochen. Zwei Tage später waren aus den roten Pusteln eitrige Bläschen geworden, die so schmerzhaft waren, dass Lene sich schließlich ins Wartezimmer von Dr. Elias Ruben gesetzt hatte. Dr. Ruben war ein freundlicher, sechsfacher Familienvater aus Österreich mit viel Erfahrung, auf den die Nachbarschaft große Stücke hielt. Bis vor Kurzem jedenfalls.

Als Lene ins Behandlungszimmer getreten war, hatte sie nicht viel zu sagen brauchen. Dr. Ruben hatte gefragt: »Die Mutter?«, und Lene hatte genickt, den Blick gesenkt vor den duldsamen und wohlwollenden Augen von Elias Ruben. Dieser hatte die Krankenschwester eine Tinktur auftragen und Lene täglich wiederkommen lassen, drei Wochen lang. Im Wartezimmer der Arztpraxis waren Lene und Arnold sich zum ersten Mal begegnet. Arnold hatte dort gesessen und heftig in sein Taschentuch gehustet, ein Husten, der sich in ein Würgen und in Atemnot verwandelt und Lenes mütterliche Instinkte wachgerufen hatte. Sie war zu ihm geeilt und hatte den Arm um seine Schultern gelegt. »Husten Sie nur, husten Sie nur, das ist besser.« Arnold hatte sie, von seinem Hustenanfall in Beschlag genommen, verwundert angesehen, und etwas in ihm hatte damals beschlossen – ob der Weichheit ihrer Berührung oder der Bestimmtheit, mit der Lene ihn zum Husten aufgefordert hatte, war ihm später nicht mehr gewiss –, diese Frau solle die Mutter seiner Kinder werden.

»Eine endlose Sache«, hatte Arnold schweißüberströmt nach seinem Anfall hervorgepresst. »Es ist eine endlose Sache. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.«

»Der Herr Doktor wird’s richten. Er hat auch mich fast geheilt.« Und so hatten sie eine ganze Weile gesprochen und die Patienten um sich herum vergessen. Arnold hatte von Lenes tropfendem Wasserhahn erfahren, den der Hausmeister geflissentlich übersah, und versprochen vorbeizukommen. Einige Tage später, halb von seiner Bronchitis genesen, hatte Arnold mit Werkzeug und einem Strauß weißer und rosafarbener Nelken vor Lenes Tür gestanden. Als Dankeschön hatte Lene ein Süppchen gekocht, von Margarete hatte sie ein altes Suppenhuhn bekommen, woher Margarete es hatte, hatte auch Lene nicht gewusst, aber dankbar hatte sie es angenommen, und dankbar hatte Arnold die Suppe gelöffelt und sich urplötzlich völlig gesund gefühlt. Ein Wunder, hatte er gesagt, wie ein Wunder, die Suppe und Lene. Bald hatte sich herausgestellt, dass Arnold ganz in der Nähe wohnte und sie ihren Arbeitsweg teilten. Jeden Morgen trafen sie sich um Punkt sieben an der Straßenecke, Lene, um in die Fabrik zu gehen, Arnold auf dem Weg ins Ministerium. Ein Beamter vielleicht, hatte Lene gedacht und gehofft. Auf ein bisschen Glanz.

Inzwischen dachte Lene mit Wehmut an diese erste Zeit, als sie noch ohne Kinder gewesen waren und ihr Leben diesen Schimmer in sich getragen hatte, einen Schimmer, der ihrem Leben zuvor nicht vergönnt gewesen war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Gertrud auf die Hochzeit einzuladen, wieder Kontakt aufzunehmen, aber für Lene hatte es auch eine Erleichterung bedeutet, und schließlich, wen sonst außer den Hoffmanns hätte sie einladen können? »Gell, ich bin das dritte der Hoffmann-Mädels, nicht?«, hatte Lene das erste Mal auf ihrer Hochzeit gesagt und später immer wieder, und Vater Leonhard hatte sie zum Altar geführt. Das Wiedersehen mit ihrer Mutter hatte dazu beigetragen, dass Gertruds Jammern in Lenes und Arnolds Haushalt Einzug gehalten hatte und damit auch wieder in den der Hoffmanns. Arnold war dagegen gewesen, Gertrud einzuladen. Chronisch wie ihre Trunksucht sei ihr Jammern, die Kinder müsse man fernhalten, an deren Veranlagung sei nichts mehr zu ändern, aber das Umfeld, wenigstens das, könnten sie sauber halten und durch eine sportliche, gesunde Erziehung Einfluss ausüben.

Neuerdings war jedoch nicht Gertrud Gesprächsgegenstand Nummer eins.

»Er wirkt so weit weg«, verkündete Lene am Küchentisch, »was hat er nur? Es ist, als hätte sich etwas verschoben.« Lene zerbrach sich den Kopf darüber, was sie falsch gemacht haben könnte, und – überbot sich in der Küche.

»Sein Lächeln ist müde.«

Gitte fügte hinterher dazu, als Lene sie nicht mehr hören konnte: »Es ist nicht echt.«

Am Ende eines solchen Gesprächs erklärte Lene sich Arnolds Verhalten mit einem Seufzer: »Es ist eben die viele Arbeit, die er jetzt hat.«

»Die viele Arbeit«, murmelte Linda, »sie will einfach nur diesen Satz sagen. Die viele Arbeit.«

3

Müsste sie besser aufpassen auf ihre beiden?, fragte Margarete sich häufig und ermahnte ihre Töchter immer wieder: »Lasst euch ja begleiten!« Die Angst war groß, wenn die Mädchen nachts unterwegs waren. Am meisten fürchtete sie sich vor den gewaltsamen Männergruppen, die sich Gefechte in den Straßen lieferten und bewaffnet waren. Wie ungeordnet das Leben in Deutschland geworden war, ein Ausnahmezustand folgte dem anderen. Zu den Verletzten und Kriegsveteranen aus dem letzten Krieg hatten sich auf den Straßen nun all die neuen Armen, wie Margarete sie nannte, gesellt, diese neuen Armen, die alles verloren hatten, als Geld und Arbeit plötzlich wertlos wurden. Es herrschte eine entsetzliche Wohnungsnot. Sie fühlte sich an das Elend des letzten Hungerwinters erinnert. Manchmal fuhr Margarete klopfenden Herzens aus dem Schlaf, die Mädchen, die Mädchen, und lauschte auf Schritte im Treppenhaus oder das Umdrehen des Schlüssels im Schloss und atmete auf, sobald sie das Kichern eines der Mädchen vernahm. Sie sollten ihre Jugend und das unbeschwerte Dasein genießen, das sich in den Cafés, Tanzlokalen, Theatern und Kinos fand. Im Licht einer Ahnung wurden diese zu Knotenpunkten von Intensität, Wachheit und Leidenschaft. Dieser Stimmung, die dabei war, zu kippen und die Leichtigkeit zu verlieren, waren Linda und Gitte sich kaum bewusst – wie sollten sie auch? Noch nicht volljährig waren sie und voller Wünsche für die Zukunft – das heißt, Gitte hatte Pläne, Linda Träume. Gitte kam in ihrer ruhigen und verlässlichen Art nach Leonhard, aber Linda? Manchmal war Margarete ihre Tochter fremd, ihre Wirbelei, so ohne Ziel. Unbedingt wollten sie den Film M von Fritz Lang sehen. Sie hatte sie gewarnt, sie würden nicht schlafen können. Eine furchtbare Geschichte.

Nach der Vorführung im Franziskaner-Kino blieben die Mädchen sitzen. Keines sagte ein Wort.

»Wie grässlich«, murmelte Linda schließlich, als die Lichter angingen. »Wir hätten auf Mama hören sollen.« Eingehakt liefen sie zum Bahnhof. »Lass uns nach Hause gehen, Gitte. Die Lust am Tanzen ist mir gründlich vergangen.«

Gerade die Ablenkung bräuchten sie jetzt, meinte Gitte und drückte den zitternden Arm ihrer Schwester. Ein eiskalter Ostwind blies ihnen um die Ohren und durch die Kleider hindurch.

Ob man solch einen Psychopathen, solch einen Kindermörder wirklich nicht erkannte, auch wenn er ganz in der Nähe wohnte, in der Nachbarschaft, bei Muttern mitten unter uns, überlegte Linda. Vermutlich nicht, meinte Gitte.

»Die Schlimmsten sind wahrscheinlich die mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck und den treuen Augen, Gitte, die, die lieb tun, die haben was zu verbergen, vor denen müssen wir uns in Acht nehmen.«

»Der Schränker ist auch schrecklich. Man konnte froh sein, dass die Polizei zum Schluss auftauchte, sonst hätte die Meute ihn umgebracht«, sagte Gitte. »Und das Schlimmste war ihre Lust zu töten, die hatten Lust, ihn umzubringen.«

»Weil er doch der ganzen Stadt Angst gemacht hat!«, rief Linda aus. »Die armen Mütter! Du weißt genau, wenn du hinter der Küchentür stehst und mich erschreckst, ist der Schreck auch lustig. Sie hatten Spaß daran, ihn zu quälen, und haben sich stark gefühlt in der Gruppe.«

»Ja, aber die Spannung löst sich doch schnell auf, während hier die ganze Stadt in Dauerangst ist«, meinte Gitte.

»Stell dir vor, es wäre dein Kind.«

»Diese heimliche Freude, diese Lynchjustiz, sie sind ge­nauso verrückt wie M. Solche Menschen, die das Recht selbst durchsetzen wollen, für die das Gesetz nicht gilt, die müssen einem unheimlich sein.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Linda mit ihren Überlegungen fort. »Serienmörder, der war ein Serienmörder, dieser M. Etwas zwang ihn, zu töten. Er konnte nicht glauben, dass er die kleine Elsie umgebracht hat. Er fühlte sich gar nicht schuldig.«

»Als wäre er zwei. Aber wie wird man zwei?«

»Im Krieg, im Krieg musst du zwei sein, sonst schaffst du’s nicht. Vielleicht war er vorher im Krieg?«, erwiderte Linda.

»Und wenn du zurückkommst, wollen die beiden Teile nichts mehr voneinander wissen.«

»Im Krieg doch auch nicht«, stellte Linda fest.

»In Friedenszeiten noch viel weniger«, entgegnete Gitte, »M sah so normal aus, gar nicht wie man sich einen Verrückten vorstellt.«

»Wie soll denn ein Verrückter auch aussehen, Gitte?«

»Eben. Er sah aus wie ein Familienvater. Die meisten werden ja nicht verrückt geboren, die Gesellschaft oder Erziehung macht sie krank oder der Krieg. Sagt zumindest Tante Edith.«

»Ich finde, er sah aus wie ein großes Kind. Wir wissen es nicht. Vielleicht kann es jeden treffen, der einen riesigen Schrecken bekommt. Vielleicht können wir alle irre werden. Schau, all die Soldaten aus dem Krieg, die wir manchmal auf der Straße sehen, die rückwärtsgehen und den Kopf ruckartig hin- und herschleudern, wie der nervenkranke Mann von Frau Ostermann, der sich manchmal so schüttelt und zuweilen ins Stottern gerät. Der arme Mann.«

»Lene sagt, das sei wegen der Rente, die er bekomme, er wolle krank sein, und wäre er in Kriegsgefangenschaft, ganz schnell wäre er gesund geworden, der Herr Ostermann. Und was der schon erlebt hätte im Gegensatz zu Arnolds Vater. Die Ostermanns sitzen uns doch nur auf der Tasche, sagt sie. Arbeiten gehen solle er, wie alle anderen auch.«

»O Gitte, das ist ja hässlich, hat sie das wirklich gesagt? Der läuft doch bestimmt nur weg vor dem, was er im Krieg erlebt hat. So redet der Arnold, und Lene macht sich das zu eigen und plappert es einfach nach. Sie ist einfach hörig geworden.«

»Sie redet jetzt ständig davon, wie gesund ihre Kinder sind«, sagte Gitte.

»Ich habe gesehen, wie sie sie in die Wange kneift, wenn sie hört, dass Arnold von der Arbeit kommt.«

»Lene hat nie wirklich eine eigene Meinung. Du brauchst sie nicht in Schutz zu nehmen, Lindi. Erinnere dich, wenn wir gesagt haben, wir spielen Pferd, hat sie kurz gesagt, sie will nicht, aber letzten Endes ist sie mit uns gegangen. Hast du gesagt, deine Lieblingsfarbe ist Blau, war das kurze Zeit später auch ihre, obwohl sie vorher immer von Lila gesprochen hat.«

»Sie will keinem wehtun, da duckt sie sich weg«, entgegnete Linda.

»Nein, das stimmt nicht, sie passt sich an. Sie passt sich einfach an. Früher waren wir es, jetzt ist es eben Arnold. Tut dir das von vorhin leid, dass du sie so angeschrien hast? Jetzt musst du sie nicht verteidigen.«

»Sie hatte immer solche Angst vor ihrer Mutter. Sie hat mir schon oft leidgetan, wenn sie erzählt hat, wie Gertrud sie missachtet und ohrfeigt, als wäre sie schuld daran, dass der Vater sie verlassen hat. Deinetwegen, Lene, deinetwegen issa jejangen. Stell dir mal vor, du hörst das den lieben langen Tag.«

Gitte lachte, so wie Linda Lene nachahmte. Sie hatten das Kakadou am Ku’damm Ecke Joachimsthaler erreicht und mischten sich unter die Gäste. Ein Foxtrott ertönte, im Casino da steht ein Pianino, alles um sie herum wippelte, Rauch, Musik und Tanz. Am Klavier saß ein Rothaariger, seine Finger liefen über die weißen und schwarzen Tasten, und jedes Mal, wenn das Lied zu Ende war, hörte man die Menge rufen: Weiter, weiter, der Rothaarige aber verbeugte sich, warf den Kopf in den Nacken und schnappte sich die dunkelhaarige Schönheit mit der schmalen Nase und dem roten Kleid für eine Pause an der Bar. Gitte stieß den Ellbogen in Lindas Rippen.

»Sieh, er spielt heute wieder.« Gitte nickte ihrer Schwester zu.

»Aber sie ist auch da, er hat nur Augen für sie. Komm, wir gehen zu Peter und Suse. Und Max! Dort ist Max.« Linda fiel Max um den Hals. Max war immer da für alle Trost suchenden Frauen. Seine Arme konnten mit Leichtigkeit mindestens zwei Frauen umfassen, mit Max durfte jede schmusen, sein Gesicht lachte freundlich, seine Nase strich über Gittes Wange, und sein Mund flüsterte Liebkosungen in ihr linkes Ohr. Max war ein Frauenversteher, in Amerika geboren, in Berlin aufgewachsen, häufig unglücklich verliebt, ein Löwenzahncharakter, zäh, zart, Geschäftsmann.

»Gitte, nix gibt’s, hier wird kein Trübsal geblasen. Glaubst du, das lass ich zu?« Max’ Augen blinzelten Gitte durch die schwarze runde Brille an. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du weißt doch, Gittilein, die Welt ist voll von uns, hör auf, dir Sorgen zu machen. Was machen wir mit ihr, Linda?«

»Ein Tänzchen hilft bestimmt, Schnupps.«

»Die Zeiten werden sich ändern, Lindi. Bei der nächsten Wahl geht es nicht mehr glimpflich aus.«

»Max! Jetzt malst du aber den Teufel an die Wand. Hitler ist doch ein Trottel, das sieht ein Blinder mit Krückstock.«

Max machte eine Kopfbewegung. »Dahinten in der Ecke, sieh mal, all die Braunhemden, sie werden uns überrollen, mich, dich, alle, wie ihre Aufmärsche. Wenn die gewinnen, pack ich meine Sachen und geh, das schwör ich. Der Hitler hat die komplette obere Etage des Hotels Kaiserhof bezogen, der befiehlt schon von dort. Das ganze Hotel ist inzwischen so braun wie ein nicht gesäuberter Kuhstall.« Und Max erzählte, wie die Männer mit Hakenkreuz und Schlagring auf einen Taxifahrer und den jüdischen Boxclub Maccabi an der Ecke Unter den Linden neulich losgegangen waren, wie sie gegrölt und zugeschlagen hatten, sofort. Auch die Schuhverkäufer vom Leiser beschimpften sie regelmäßig und die Verkäufer beim Tietz und Wertheim. »Diese Judenhallen«, hieß es immerzu. Verteidigen tat sie niemand. »Peter glaubt noch, dass der Thälmann bei den Wahlen eine Chance gegen die hat. Aber der Rechtsterror ist überall jetzt.«

»Ach, wer sind die schon. Tanz jetzt lieber noch einmal mit Gitti, los, Max, tütüt«, sagte Linda.

Weit nach Mitternacht spielte das Orchester einen letzten Tanz, der Pianist schob die Dunkelhaarige über das Parkett zu einem Tango, den der Wind erzählte.

»Sie sind so ein anmutiges Paar, gegen sie habe ich keine Chance«, flüsterte Gitte Linda zu, als sie an der Bar standen.

»Ich finde, du solltest dich mit Max zusammentun. Er ist witzig, er will was, reich wird er mit seinen Filmprojektoren vielleicht auch noch. Du könntest nach Amerika! Du hättest alle Freiheit der Welt. Der liebt dich, Gitti, glaub mir, der kann richtig doll lieben.«

»Max?«

»Ja, Max Schilling. Und er ist der beste Tänzer weit und breit, da kann dieser rothaarige Lockenkopf, den du so anhimmelst, ohnehin ein Angeber, nicht mithalten. Keiner tanzt wie Max. Max ist nur schüchtern.«

»Max doch nicht.«

»Och, Gitte, du stehst auf die großen Könner, die Zeiger, die Obenaufseinwoller, immer Glitzerglämmer, immer dieses hohe Ross. Aber da drin, die Schüchternen, mit denen hast du Nähe und Zärtlichkeit. Ich sage: Max, Max und noch mal Max. Davon rück ich nicht ab. Und außerdem, Gitte, er hat gesagt, dass du ein Dünungslächeln hast.« Linda strahlte Gitte an und blickte sich suchend um.

»Pass auf, ich ruf dir diesen Rothaarigen, du wirst schon sehen, komm, ich hol ihn dir. Ich sag ihm, du möchtest mit ihm reden.« Linda war losgestürmt, schnell lief Gitte diesem Übermut hinterher und hielt Linda am Arm zurück.

»Hör auf, Linda, hör auf! Du bist total übergeschnappt!« Und wäre in dem Augenblick Max nicht gekommen und hätte diesen Tanz mit Gitte getanzt, hätte Gitte damals Fred kennengelernt.

Max fuhr die Mädchen nach Hause, bis vor die Haustür.

Als Linda die Wohnungstür aufsperrte, die Mädchen müde und beschwingt die Treppe hochliefen, verlangsamte Linda ihre Schritte, fiel hinter ihrer Schwester zurück und konnte sich nicht verkneifen, plötzlich mit Quietsch in der Stimme zu rufen: »Elsie! El-sie!«

»Hör auf, hör sofort auf! Jetzt muss ich wieder daran denken! Du bist gemein, Linda! Jetzt werde ich kein Auge zumachen können. Du blöde Ziege, du blöde.«

Linda lachte.

Warte, warte nur ein Weilchen.

4

Linda hasste Montage. Heute war wieder Montag. Betrat sie morgens im Bannkreis ihres Traums das Esszimmer, wusste jeder Bescheid und ließ ihr ihren Frieden, bis der Tag sie mit Kaffee und Brot weckte und ihr zu ihrem üblichen Schwung verhalf. Montage fühlten sich für Linda an wie Schultage, Schultage, an denen eine Mathematikarbeit zu schreiben war, oder schlimmer – an denen eine zurückgegeben wurde. Montage waren Strafen von oben. An klarsichtigeren Tagen, sofern sie sich Zeit nahm, über ihr Leben nachzudenken, kam sie zu dem Schluss, dass diese Wochenanfangsgefühle mit ihrem Beruf aufs Engste verknüpft waren. Seitdem sie vor einem Jahr mit ihrer Ausbildung zur Sekretärin fertig geworden war, hatte sich der innere Widerstand vergrößert. Dem Beruf war jedoch nur auf eine Art zu entkommen, und diese sich vorzustellen war ebenso unerträglich, auch wenn jedes Mädchen im Büro freudig strahlte, sobald sie die Schreibmaschine für immer zuklappte, um im Haus der Ehe eine neue Aufgabe zu finden. Verglichen mit den Sonntagsspaziergängen, zu denen Margarete sie und Gitte anhielt und die bei Linda jedes Mal einen Sturm von Protesten nach sich zogen – »Sollte ich jemals Kinder haben, werde ich sie nie zwingen, nie zu irgendetwas, sie dürfen frei aufwachsen, tun und lassen, was sie wollen! Sie sollen sich entfalten können, und das entdecken, was in ihnen steckt« –, ver­glichen mit diesen Spaziergängen, führten Montage Linda vor Augen, dass sie kein freier Mensch war, dass sie einer Tätigkeit nachging, die nicht sie, sondern ihre Mutter ausgesucht hatte.

Gitte tröstete sich damit, dass sie so bald wie möglich Jura studieren und bis dahin, so gut es ging, versuchen würde, die Abläufe im Ministerium zu verstehen. Sie arbeitete in einer Abteilung des Reichsministeriums des Inneren und absolvierte das Stenografieren und Maschineschreiben mit Ruhe und Entschlossenheit. Es wäre zwar praktisch, reich zu heiraten wie Tante Edith, andererseits hatte sie ihre beruf­lichen Vorsätze, und an diesen hielt sie fest. Sie sträubte sich nicht ganz so gegen die Ehe, wie Linda es tat, doch wo in diesen Zeiten ein Millionär auftauchen könnte, konnte selbst Gitte sich nicht vorstellen. Eine Erbschaft wäre noch infrage gekommen, hatten die Schwestern überlegt. Dieser Traum hatte sich jedoch mit der letzten Wirtschaftskrise zerschlagen, in der sowohl Margarete und Leonhard wie auch die Großeltern zwar nicht alles, aber doch einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens verloren hatten. Eine Alternative wäre noch das Glücksspiel gewesen, hatte Gitte gefunden, und Linda hatte mit ihr gehalten, dies wäre die allerbeste Lösung. Diese Option hatte sich ebenso zerschlagen, da Leonhard Gitte strikt verboten hatte, auf diese Weise ihre finanzielle Unabhängigkeit zu suchen. Zu ihr hatte er gesagt, arbeite, spare und setz dich in die Vorlesungen. Und Margarete hatte hinzugefügt, dass ihre Arbeitsplätze rar und heiß begehrt seien. Margarete hatte von der Chance gesprochen, die Linda und Gitte hätten, als Frauen; sie verdienten nun ihr eigenes Geld, und schließlich seien Kompromisse im Leben nun einmal notwendig. Alles sei nicht zu haben in diesem Leben, und Leonhard redete ihr in die Erziehungsarbeit kaum hinein.

Fast jeden Morgen sah man die Schwestern eilig zum Bahnhof Charlottenburg laufen – sobald es schöner wurde, nahmen sie das Fahrrad. Trödelte Linda zu sehr, weil sie noch dies und das musste, lief Gitte voraus. Am Alexanderplatz stieg Linda aus und steuerte mit anderen jungen Frauen und rüstigeren Damen auf den Seiteneingang des Kaufhauses Tietz zu, der zu den Büroräumen im Obergeschoss führte. Von dort nahm sie den Fahrstuhl, legte ihren Mantel an der Garderobe ab und setzte sich mit einem Seufzer vor ihre Schreibmaschine. Vor ihr lagen acht Stunden Arbeit. Morgens tippte sie noch voller Schwung, nach dem Mittagessen überfiel sie Müdigkeit, und nachmittags drängte es sie zum Schlittschuhlaufen an den See oder ins Kino oder zu ihren Büchern. Doch es war Montag, ein schrecklicher Montag, ein langweiliger, ein erdrückender Montag, dem vier mal acht lange Stunden folgen würden, bis zum ersehnten Kinoabend.

Von ihrem Platz aus sah sie auf den Alexanderplatz und den blauen Winterhimmel, auf dem der liebe Gott Wattebäusche getupft und eine geriffelte Schneelandschaft gezeichnet hatte, links und rechts vom Geriffel hatte er zu tupfen vergessen, und warum eigentlich nur Weiß? Warum nicht auch ein leuchtendes Orange, vermischt mit einem Violett? Und zwischen jedem Tupfer müsste eine Hängematte schaukeln, Schaukeloase, ­Schaukel …

»Fräulein Hoffmann!« Johann Spiegelberg rief. Er war aus seiner Bürotür getreten mit einem Brief in der Hand, den Linda gestern für ihn abgetippt hatte. Spiegelbergs Haar war noch voll, unter dem Schwarz blinzelte vereinzeltes Weiß, er trug einen dunkelblauen Anzug aus feinem Tuch, blank gewichste Schuhe und lächelte charmant. Eine stattliche und sympathische Erscheinung war er. Kürzlich hatte Herr Spiegelberg Linda ermahnt, sie würde die Belegschaft unruhig machen und sei es nicht gewöhnt, einen Chef zu haben, doch das müsse sie nun wohl, hatte er gesagt und ihr dabei in die Augen gesehen und sie gemustert.

Nun begann er mit der Überlegung, sie sei doch eine Frau von Geschmack, wie es ihr denn in den Sinn gekommen sei, solcherlei Briefe zu schreiben. Das war sein ­erster Satz gewesen, der allererste Satz, den er an Linda richtete, und Linda erwiderte keck, wer denn sage, dass ein guter Geschmack nicht auch einmal einen Schlenker vertrage. Das war ihr so rausgerutscht, und sie korrigierte sich und sagte, sie habe vermutlich die Handschrift nicht richtig entziffert und dann, ja eben ab-ge-tippt.

»Nur abgetippt. Und das Denken, Fräulein Hoffmann. Wem überlassen Sie das?«

»Dafür bin ich, glaube ich, nicht eingestellt«, brach es aus ihr heraus, und auf einmal spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Wie ein leiser Protest saß sie vor Johann Spiegel­berg, ein Bündel an Energie und Kraft. Herr Spiegelberg hielt inne, kaum merklich verzogen sich seine Brauen zu einem Runzeln, bevor er Linda die Anweisung erteilte, den Text noch einmal zu tippen und die erste Zeile, da unnötig, zu streichen. »Das ist doppelte Arbeit!« Kaum beherrschen konnte sie ihren Zorn und wandte sich ab, wollte sich ­erheben.

»Manchmal muss man Dinge zweimal tun, um zu lernen.« Die Stimme ihres Chefs klang sanft, und hätte Linda ihm in die Augen gesehen, hätte sie die Nachsicht darin gesehen. Linda hatte sich erhoben, murmelte etwas Unverständliches und schob sich an Spiegelbergs Schultern vorbei. Sie drückte die Klinke der Tür hinunter und verließ den Raum. Sie lief zur Toilette, neben ihr die Demütigung. Was für eine Ungerechtigkeit. Die Chefsekretärin Frau Segewiß, eine ältliche Dame, war Linda gefolgt. Für sie stellte dieser Streit einen Appetithappen sondergleichen dar, aber Frau ­Segewiß trug auch ein gutmütiges Herz mit sich herum und verfügte über einen nicht häufig anzutreffenden gesunden Menschenverstand. Da war sie, um Linda zu trösten und ihr zu bestätigen, dass Herr Spiegelberg manchmal schwierig, im Grunde aber ein handsamer Mensch sei. Sie solle sich das bloß nicht zu Herzen nehmen, aber sich entschuldigen, das müsse sie wohl.

»Niemals!«, entfuhr es Linda, und ihre Augen blitzten, warum denn, wofür denn?

»Tu es, Kindchen«, sagte Frau Segewiß, die Herrn Spiegelberg schon zwei Jahrzehnte lang kannte. »Sie reizen ihn, Fräulein Hoffmann. Der hat eine Schabracke zu Hause, verstehen Sie, eine betuliche Schabracke, da tauchen auf einmal Sie auf. Dazu geben Sie ihm nicht das, was er gewohnt ist: Bewunderung, Ehrfurcht und Gehorsam.«

Linda weinte. »Aber was hat er denn, da war doch gar nichts verkehrt an meinem Brief!«

»Pst! Nicht so laut. Darum geht es nicht. Der kann nicht anders. Den Brief müssen Sie neu abtippen, so oder so.«

»Wie, der kann nicht anders? Ich kann auch nicht anders.«

»Jetzt, Fräulein Hoffmann, benutzen Sie einmal Ihre Fantasie. Davon besitzen Sie doch einige.«

»Nein! Will ich nicht. Ich soll das jetzt alles noch mal abtippen, wegen dieser angeblich falschen Überschrift. Nein, das mach ich nicht. Basta.« Ihre Finger suchten Halt an dem Porzellanwaschbecken, vor dem sie stand.

Frau Segewiß, diese kleine, leicht dickliche Frau, begriff schneller als vermutet. Dann müsse wohl sie den Chef beschwichtigen, meinte sie. Das konnte Frau Segewiß zwar, Wunder vollbringen wiederum nicht. »Beißen Sie die Zähne zusammen, Fräulein Hoffmann, und springen Sie mal über Ihren Stolz, Sie wollen doch wachsen. Herr Spiegelberg ist ein sehr, sehr netter Mensch. Es hätte Sie schlimmer treffen können.«

Ein öffentlicher Streit mit einem jungen Mädchen, kaum der Schule entlaufen, vor all den Mitarbeitern, Johann Spiegelberg war anzusehen, dass es ihn gewisse Pein kostete, Frau Segewiß anzuhören. Doch Spiegelberg trug sein Herz am rechten Fleck und hatte ein offenes Ohr für die Ratschläge von Frau Segewiß, die in seiner Abteilung ein wenig wie ein Barometer funktionierte.

Und Linda würde das Ganze mit Gitte besprechen. Ihre Empörung richtete sich gegen die ganze Welt, gegen Mama, den Spiegelberg, gegen Papa, der sich nur immer für Gittes Fortkommen interessierte und Linda nie fragte, was sie einmal werden wolle. Gitte würde auch empört sein. Manchmal verstand sie sich selbst nicht, und das bereitete ihr zuweilen Kopfzerbrechen, denn sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte in Zukunft, sich selbst zu verstehen und dieses Riesendurcheinander.

Eine halbe Stunde später als sonst zog Linda an diesem Montag ihrer Schreibmaschine die Schutzhülle über den Kopf. Sie gähnte, und da hörte sie in ihrem Kopf ihre Mutter: Herrgott, Kind, was bist du naiv, wie kannst du so naiv sein, dich mit einem Vorgesetzten anzulegen? Sie würde sagen: Mama, das war doch bekloppt. Ach, Linda, manchmal muss man seinen Mund halten. Du trägst dein Herz auf der Zunge, Linchen, du musst lernen, sie zu zügeln, besonders in Gegenwart von Vorgesetzten. Und Linda wollte ihr Bestes versuchen. Ihr Vorsatz schien zu wirken, problemlos zogen die nächsten Wochen vorüber, sodass sie sich fragte, was es denn gewesen war, das sie aufgebracht hatte. Fand Linda Zeit, machte sie nun öfter einen Schlenker in die Stoffabteilung, schaute sich Schnittmuster und neue Stoffe an, um zu Großvater zu laufen und ihm von den Tietz-Stoffen zu erzählen. Großvater war Tuchhändler. Vielleicht könnte er ja den Tietz auch beliefern, rief Linda in ihrer Begeisterung. Großvater lachte, er hatte vollends zu tun und Kunden genug.