Krausser, Helmut Trennungen. Verbrennungen

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Für Martin Wettges

 

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1

An einem der bereits legendären Sonntagabende im Salon der Reitlingers, bei Kachelofengeknister und Flackerschatten, kam es zur Debatte darüber, wer die schönste Frau gewesen sei, die je auf Erden gelebt habe. Gerry Bronnen, Frederick Reitlingers Lieblingsstudent, zitierte Hofmannsthal: »Die Schönste? Wer kann das entscheiden?«, während Leo Kniedorff, Bronnens energischster Rivale, einen Autor zitieren wollte, an dessen Namen er sich leider partout nicht mehr erinnerte, weshalb er das Gesagte, um sich keine Blöße zu geben, als Eigenkreation ausgab.

»Nichts«, sagte er, mit einer Prise feierlichem Pathos, »war je und wird je wieder so schön sein wie Audrey Hepburn im Jahre 1959.«

Kniedorff wußte sehr genau Bescheid über den Geschmack Professor Reitlingers und war bester Hoffnung, Bronnen vielleicht doch noch den Rang als Liebling des Herrn abzujagen. Frederick aka »Fred« Reitlinger zeigte sich entzückt über die gravitätische Formulierung. Er, ein grauhaariger, dabei sportlicher Mann knapp jenseits der Sechzig, wendete sich lachend zu seiner Frau Nora und meinte:

»Eins steht fest! Mit Audrey, wenn sie noch lebte und wenn sie mich ließe, würd ich dich betrügen, Liebes. Ich würd’s dir sogar sagen. Ich würde damit angeben! Ich würde es notfalls öffentlich mit ihr treiben und dich zusehen lassen!«

Alle am Tisch lachten, auch Nora, obwohl sie zuerst einen Schmollmund zog, der natürlich nicht ernst gemeint, sondern dem Rollenspiel geschuldet war. Sie hatte ja auch keinen Grund, beleidigt zu sein. Ihr geliebter Gatte Fred drückte, wenn auch auf etwas zotige Art, aus, daß er sie, wenn überhaupt je in diesem Leben, dann nur mit einer schon lange toten Ikone betrogen hätte. Was wiederum implizierte, daß er ihr ansonsten stets treu gewesen sei. Nora, eine dünne, elegante und sehr geschmeidige Frau, war gute zehn Jahre jünger als Fred und mit außerordentlichen Genen gesegnet. Waren auch ihre Stirn und Wangen nicht von ersten Symptomen des Alterns verschont geblieben, hätte ihr Körper noch jeder Fünfundzwanzigjährigen zur Ehre gereicht. Sie hatte tiefbraune, fast schwarze Augen und diesen gewissen melancholischen Blick von unten, der aufreizend und provokant wirken kann. Mit einer Tasse in der Hand an eine Säule gelehnt, sah sie aus wie die Lässigkeit selbst, strahlte aber auch, wenn sie zu lächeln vergaß, eine Art Müdigkeit aus, als sei sie gelangweilt. Seit einigen Wochen trug sie ihr dunkles Haar hochtoupiert im Stil der Siebziger, als sie durch einen Zufall festgestellt hatte, wie gut ihr das stand.

An diesem zweiten Sonntag im November verließen die letzten Gäste das Wannseehaus der Reitlingers gegen 22 Uhr. So, wie es im vorhinein vereinbart worden und typisch war für diese Art von Soiree, die gegen 17 Uhr begann und nur äußerst selten, höchstens in sehr heißen Sommern, aus dem Ruder lief. Frederick Reitlinger lud einmal im Monat ein paar Freunde ein, dazu professorale Kollegen, einigen vielversprechenden studentischen Nachwuchs und – gegen den drohenden geistigen Inzest – fachfremde Autoritäten aus den unterschiedlichsten Sparten, manchmal auch Prominente. Es wurden simple Schnittchen gereicht, Kuchen und Gebäck, es wurde Kaffee und Tee getrunken, und erst gegen acht Uhr abends kredenzte Fred Reitlinger drei, manchmal vier sorgfältig karaffierte Flaschen eines – wie er es salopp ausdrückte – schweineteuren Weines (≥ 200 Euro), den sich die Anwesenden, selten mehr als achtzehn, zwanzig Leute, teilten.

Der riesige holzgetäfelte Raum, für den die Bezeichnung Wohnzimmer eine absurde Untertreibung bedeutete, war durchweg in gedämpften bis dunklen Farben gehalten. Vor den kreisrunden großen Fenstern standen nebeneinander drei mächtige Biedermeier-Ottomanen, bezogen mit weinrotem Samt. Um dort Platz zu nehmen, mußte man in irgendeiner Weise privilegiert oder sehr kühn sein.

Vor etwas mehr als hundert Jahren hatte sich ein heute vergessener Landschaftsmaler die Villa erbaut, nicht weit entfernt von der des neidisch beäugten Konkurrenten Max Liebermann. Die Reitlingers hatten das verwahrloste Anwesen während der Wendejahre günstig erworben und renoviert, die Aura des Gebäudes war dabei erhalten geblieben. Erst später, als die Kinder auf der Welt waren, veränderte sich manches, nie aber jenes Wohnzimmer im ersten Stock, das immer seinen kalt-ehrwürdigen, leicht bedrückenden Charakter behielt.

Für Reitlingers Studenten war eine Einladung ins Wannseehaus der endgültige Beweis, die Sympathie ihres Professors erlangt zu haben. Leider beeinträchtigten gewisse junge Leute den Abend regelmäßig durch zu dick aufgetragene Versuche, die Versammelten geistvoll aufzuheitern, nur um sich selbst dabei vorteilhaft in Szene zu setzen. Für gewisse ältere Leute galt selbstverständlich dasselbe, nur hörte es sich bei denen natürlicher an.

Frederick Reitlinger galt als der vielleicht renommierteste, sicher aber einflußreichste Fachmann der klassischen Archäologie im Lande, ein Flaggschiff war er, saß als unangefochtene Koryphäe in zahllosen Gremien, die darüber entschieden, welche Projekte staatliche Förderungen erhalten würden. Er selbst spielte seine Bedeutung gern herunter, nannte sich einen besseren Pfandflaschensammler. Bei den Studierenden galt er als warmherzig, kompetent und hilfsbereit.

Gerd Bronnen und Leopold Kniedorff schüttelten ihrem Doktorvater die Hand, deuteten gegenüber seiner Frau Nora eine Verbeugung an, hinzu kam die schelmische Pantomime eines Kußmunds. Danach schlenderten die beiden gemeinsam zur S-Bahnstation. Sie hatten den außerordentlich autofeindlichen Standpunkt Reitlingers zu teilen gelernt beziehungsweise hart trainiert, diesen Standpunkt, der ihnen im Grunde völlig fremd war, überzeugend einzunehmen.

Sobald das schwere Buchenholz der Haustür hinter den letzten Gästen ins Schloß gefallen war, betrat, als habe sie in einem Mauerwinkel gewartet, Alisha die Diele. Alisha war die neunzehn Jahre alte Tochter der Reitlingers, als solche besaß sie ein natürliches Recht, den Salons ihrer Eltern beizuwohnen, wenngleich sie davon selten Gebrauch machte, höchstens wenn mal ein wirklich interessanter Promi am Tisch saß, mit dem sie bei ihren Freund*innen angeben konnte. Auch heute war sie kurz im Raum gewesen, allerdings nur, um sich ein Glas vom schweineteuren Wein einzuschenken. Den sie dann gar nicht so überragend fand und stehenließ.

Sie mußte mitbekommen haben, was ihr Vater über Audrey Hepburn geäußert hatte, denn jetzt, anderthalb Stunden später, fragte Ali ihre Mutter, wie um Himmels willen sie sich so habe behandeln lassen können, und das auch noch vor Leuten, ohne sich diese Gemeinheit zu verbitten und kräftig auf den Tisch zu hauen.

»Welche Gemeinheit?« Nora Reitlinger blinzelte irritiert und verstand nicht, wovon ihre Tochter redete.

»Er hat gesagt, er würde eine andere Frau vor deinen Augen ficken, öffentlich, und er würde dich zwingen, zuzusehen. Das ist voll ERNIEDRIGEND! So was kannst du ihm doch nicht durchgehen lassen!«

Alisha rollte mit den Augen und stampfte mit einem Fuß auf den Boden. Sie war eine leicht pummelige Brünette mit Bürstenhaarschnitt, die gerne haribobunte Kleidung mit Querstreifen trug. Ihre Brille war klein, rund und lila.

»Neinnein, er hat nicht gesagt, daß er mich zwingen würde, zuzusehen. Das erfindest du, Kleines …«

»Warum nennst du mich Kleines? Ich bin zwei Zentimeter größer als du, und spiel die Angelegenheit jetzt bloß nicht herunter! Ich weiß genau, was Paps gesagt hat, und das geht so nicht, definitiv nicht, das muß frau ihm sagen, das muß ihm abgewöhnt werden. Nur so ändern wir was. Laß wenigstens im eigenen Haus – VOR ALLEM IM EIGENEN HAUS – nicht zu, daß du oder diese Audrey Hepburn zum Sexobjekt herabgewürdigt wird, für eine fiese Zote, das ist voll ekelhaft. Nebenbei: Wie viele Frauen waren heute da? Zwei! Von zwanzig! Wieso?«

»Liegt vielleicht daran, daß …«

»Wen ich einlade, ist allein meine Angelegenheit«, unterbrach der herantretende Fred Reitlinger, »und zum Thema Audrey Hepburn möchte ich dir Folgendes mitteilen, liebes Töchterchen …«

»Nenn mich bloß nicht SO

»Schön, Alisha, also Folgendes: Ich möchte dich wirklich auf keinen Fall verletzen, will es aber ausdrücken, ohne den darin enthaltenen brutalen und abstoßenden Fakt zu verharmlosen oder gar zu verniedlichen.« Frederick räusperte sich, ohne es zu müssen. »Mein liebes Kind, ich fürchte, es verhält sich tatsächlich, wie es einige deiner feministischen Vordenkerinnen schon immer behauptet haben. Nämlich, daß eine überwältigende Mehrheit der Männer, vor allem der jungen Männer, mit plumpen bis hin zu äußerst raffinierten Methoden, aber immer mit derselben perfiden Absicht dahinter, versuchen, Frauen zu penetrieren, in jede Körperöffnung und auf alle möglichen Arten, mir graut es bei dem Gedanken, aber so ist es eingerichtet von der Natur. Dennoch haben die meisten von uns brünstigen, triebgesteuerten und gemein hinterlistigen Kerlen gelernt, unsere Natur im Zaum zu halten und unseren Frauen einigermaßen treu zu bleiben, das hat etwas mit Fairneß zu tun oder mit der Angst, verlassen zu werden, egal. Aber wir sind immer noch Männer, und wir würden, wenn wir ehrlich sind, eben gerne Audrey Hepburn bespringen oder Halle Berry, Keira Knightley oder Catherine Deneuve oder wie die Göttinnen alle hießen und heißen, und das werde ich wohl noch sagen dürfen!«

»Daswerdichwohlnochsagendürfen ist so ’ne voll rechte Phrase, Daddy-O! Und wenn du meinst, unbedingt so was Beschissenes zur Unterhaltung deiner weißen älteren Herren loswerden zu müssen, dann nicht vor deiner Frau, wenn andere zuhören!«

»Falls ich mich danebenbenommen habe, sollte deine Mutter sich beschweren, nicht du in ihrem Namen. Das ist anmaßend und naßforsch. Falls du überhaupt noch weißt, was naßforsch bedeutet. Deine Mutter fand es außerdem lustig.« Fred zupfte an seinem neuen weißen Rollkragenpullover, der ihn am Hals kratzte. Am Morgen hatte er einen neuen Altersfleck auf seiner Stirn entdeckt. Das war nicht schön.

»Naja«, seufzte Nora, um ihren Gatten aufzuziehen, »so richtig lustig war es nicht, also definitiv kein Brüller, aber auch nicht schlimm und schon gar nicht demütigend …«

Die Reitlingers zwinkerten einander zu, leisteten sich den oft zuvor eingeübten Spaß, über die eigene Tochter zu sprechen, als befände sie sich gerade nicht hier, im selben Raum.

»Sie hat eben noch wenig Lebenserfahrung, ist aber rebellisch, rennt wie ein offenes Rasiermesser durch die Gegend, wütend und aggressiv – und ist dabei selbst sehr leicht verletzlich. Eine feuergefährliche Mischung, für jeden und für sie selbst vor allem«, sagte Nora zu ihrem Mann in einem bedauernden, jedoch verständnisvollen Tonfall.

»Verletzlich, sagst du? Das ist eine ganz unerträgliche Überempfindlichkeit eines Wohlstandskindes, dazu die übliche jugendliche Dauerbehauptung von überragender Intelligenz, resultierend aus wenig tatsächlich vorhandenem Selbstbewußtsein. Sie will die Welt verändern und neu gestalten, will sozusagen mit blankem Busen und wehender Fahne Frankreich führen …«

»Forsicht, Fred! Alliterationsalarm!«

»… zumindest mal ein bißchen souverän auftreten, aber für den blanken Busen ist sie viel zu prüde und verklemmt, und die Fahne zu tragen fiele ihr zu schwer, weil sie keinerlei Sport macht, und ihre Unsicherheit mündet in ideologisch getaktetes Prinzipiendenken, schlicht und ohne Fingerspitzengefühl, ohne Differenzierungsvermögen, vor allem: ohne Güte und Nachsicht. Ich fürchte, geliebte Gattin, wir haben eine doktrinäre Linksfaschistin großgezogen.«

»IHR SEID KOMPLETT VERNAGELTE ARSCHLÖCHER!« rief Alisha jetzt und rannte mit extra stampfenden Schritten die Treppe hinauf. Die Nacht unter diesem Dach zu verbringen mit solch verbohrten, geistig verwahrlosten Menschen war komplett unmöglich geworden, ganz und gar undenkbar. Genausogut hätte sie, wie irgendwelche Bescheuerten, die andere Wange hinhalten oder sich, wie früher, selber mit dem Messer ritzen können. Ma, wenn sie allein waren, hörte der Tochter nur zu und sagte am Ende ja und amen zu allem, um ihre Ruhe zu haben. Der Alte hingegen war unbelehrbar. Für heute zum Beispiel hatte er eine kleine Spendenaktion für die Flüchtlinge initiiert, die übers Mittelmeer kamen. Die Gäste sollten ein bißchen was geben, zur Unterstützung der Seenotrettung. Ali hatte ihren Vater zur Rede gestellt.

»Warum redest du immer von Flüchtlingen?« hatte sie ihn angefaucht. Das ist eine linguistische Herabsetzung. Man sagt jetzt Geflüchtete

»Ach, sagt man das? Dann will ich dir sagen, daß das maskuline Suffix -ling tatsächlich manchmal einen pejorativen Beiklang besitzt, aber nicht grundsätzlich, die Wörter Häuptling, Säugling, Frühling und Liebling sind ein paar Gegenbeispiele. Aber warum soll man einem Flüchtling, der sehr wahrscheinlich klein ist im Sinne von macht- und mittellos und auf Hilfe angewiesen, warum soll man ausgerechnet dem die Silbe -ling wegnehmen und seine Realität pink pinseln? Damit er sich prompt besser fühlt, kräftiger, stärker, würdevoller? Bei einem geflohenen Diktator, der sich mit viel Geld ins Ausland abgesetzt hat, würde ich auch nicht von einem Flüchtling sprechen. Ja, liebe Tochter, das sind die feinen Unterschiede der deutschen Sprache, über deren grobe Beherrschung du ruhig froh sein darfst, es gibt kaum eine Sprache in der Welt, mit der so viele Feinheiten ausgedrückt werden können. Ich liebe sie heiß und innig und lasse sie mir von Leuten wie dir nicht verschlimmbessern.«

»Mich liebst du nicht heiß und innig!«

»Weswegen denn auch? Laß gut sein, ich liebe dich bei 60°, so wie es sein soll. Und jetzt geh spielen und laß mich ein wenig ausruhen … Bald kommen die ersten Gäste.«

 

Alisha zog sich rasch zwei Pullover und einen Mantel über, denn es war ungewöhnlich kalt draußen. Sie whatsappte ihrer besten Freundin Caro die Ankündigung, bei ihr zu übernachten, ob Alk da sei? Caro schrieb sogleich zurück: – Alk ist da, aber Pete auch, kann ihn nich hopplahopp rausschmeißen. Inner Stunde?

okee.

2

Fred Reitlinger bekannte sich offen zu einem – wenn auch sehr liberalen und mondänen – Konservatismus. In seiner Fakultät war das kein großes Problem. Nur wenige derer, die sich für das Altertum interessierten, hätten sich selbst als weit links eingeordnet. Warum das so war, darüber wurden umfangreiche Studien publiziert. Der wahrscheinlichste Grund mochte sein, daß vor allem die Kinder konservativer Familien den humanistischen Bildungsweg gingen. Über die lateinische oder griechische Sprache wurde dann das Interesse an der Antike erweckt. Ein anderer plausibler Grund war, daß die Archäologie als brotloses Fach galt, welches sich am ehesten noch Studenten aus wohlhabenden Familien leisten konnten, die traditionell zur Mitte und gemäßigten Rechten tendierten.

 

In der S1 Richtung Berlin-Zentrum lästerten Gerry Bronnen und Poldi Kniedorff in keinem noch so kleinen Nebensatz über ihren Doktorvater, schon aus Angst, der jeweils andere könne petzen oder, noch schlimmer, ein Diktaphon mitlaufen lassen, wie es jetzt fast schon üblich war, wenn man ausging und die Aussicht bestand, eine Frau zu treffen. Darüber lästerten sie dann doch. Darüber, daß Reitlinger entschieden zu wenige Frauen einlud und wenn, dann nur interessante, aber keine gutaussehenden. Darüber, daß man mit köstlichem Wein angefixt und prompt nach Hause geschickt wurde, darüber, daß diese schwülstigen roten Ottomanen dem Salon etwas Pompöses gaben, nicht pompös, mehr obskur, sinister, überfrachtet – sie suchten gemeinsam das passende Wort, einigten sich endlich auf: überkommen.

Bronnen und Kniedorff, beide Anfang dreißig, waren Rivalen, doch eigentlich recht gut befreundet, sie bewunderten einander sogar und hätten gerne bei künftigen Projekten zusammengearbeitet. Doch Reitlinger würde aufgrund der Stellenkürzungen und Sparmaßnahmen nur einen von beiden für den neu zu schaffenden Posten in Potsdam-Eiche empfehlen können, und er würde seine Entscheidung bald, spätestens im Frühjahr, treffen müssen. So, wie sie ihn kannten, hielten sie es durchaus für möglich, daß er am Ende – vor ihren Augen – eine Münze werfen würde. Womit auf einen Schlag all ihre Scharwenzeleien und Futternapfscharmützel obsolet geworden wären. Beide dachten unabhängig voneinander diesen Gedanken und mußten lächeln.

Bronnen, der Impulsivere von beiden, schlug vor, zu viert, mit den Freundinnen, noch etwas trinken zu gehen, irgendwo in einer kuschligen Bar in Mitte, wo kein Wort, keine Silbe, nicht mal ein Satzzeichen über das gemeinsame Fachgebiet gewechselt werden durfte. Stattdessen, so lautete der Vorsatz, sollten ausschließlich mainstreamige und triviale Themen erlaubt sein, schon wegen Sonja und Iris, die sich beim letzten gemeinsamen Barbesuch einen halbstündigen Disput über die Antoninian-Prägungen des ominösen Usurpators Proculus des Jahres 280 n. Chr. hatten anhören müssen.

Gerry (sein eigentlicher Name Gerd war ihm verhaßt) hatte damals, schon angeschickert, den Frauen die Geschichte erzählt, wie es lange Zeit nur eine einzige, EINE Münze dieses Herrschers gegeben hatte, aufbewahrt in der MÜMÜ (Münzsammlung München). In der MÜMÜ, wiederholte er wiehernd, in der MÜMÜMÜ, und wartete auf Lacher (die ausblieben). Diese eine Münze hätte nicht ausgereicht, Proculus als tatsächlich gelebt habenden römischen Kaiser anzuerkennen. (Stichwort: Spaßprägung eines reichen Zeitgenossen.) Aber dann – ABER DANN – und bei diesen Worten war Gerry vom Barhocker aufgesprungen und hatte einen prophetenhaften Tonfall angenommen – sei 2012 in Nordengland eine zweite Münze gefunden worden, EINE ZWEITE MÜNZE!! IN NORDENGLAND!!! Was für ein Moment sei das gewesen für die Wissenschaft. Was für ein glorioser Moment … Seltsamerweise hatte Sonja ihn später in der Nacht trotz jener fabelhaften Geschichte nicht mehr rangelassen, er wäre dafür aber ohnehin zu betrunken gewesen.

3

Alisha hatte sich, bei klirrender Kälte, eine Stunde lang draußen herumgetrieben, danach in der Bahn aufgewärmt, bevor sie kurz vor Mitternacht bei Caro klingelte, die nicht nobel am See wohnte, sondern in einem Hochhaus im Potsdamer Prekariatsviertel Schlaatz.

Daß zwei junge Frauen so verschiedener sozialer Herkunft zueinandergefunden hatten, war der Uni zu verdanken. Beide waren registrierte Erstsemester im Fach Politologie, der Zufall hatte sie zu Sitznachbarinnen gemacht, sie kamen miteinander ins Gespräch, weil der Screensaver auf Caros Laptop aus einem Albumcover der Band Radiohead bestand, in gewissen Kreisen ein Hinweis auf mögliche Intelligenz und Eigenart.

Alisha mochte Caro für ihre eloquente Klugheit und ihr atemberaubendes Rehaugengesicht. Caro mochte Alisha, weil sie immer Kohle zur Verfügung hatte und großen Gerechtigkeitssinn besaß. Denn Alisha schämte sich sehr, die Tochter eines privilegierten weißen älteren Mannes zu sein, deshalb sei es ihre Pflicht und eine Selbstverständlichkeit, für die sozial schwächer gestellte Freundin mitzubezahlen. Eine bewundernswerte Einstellung, fand Caro. Das sehr hübsche, grazile Mädchen mit den hanfblonden Korkenzieherlocken war seit drei Wochen mit Pete (eigentlich Petar) zusammen, einem zweiundzwanzigjährigen Serben, von dem niemand genau wußte, was er machte beziehungsweise wovon er lebte. Genaugenommen waren Caro und Pete nicht richtig zusammen, sie trafen sich ein paarmal pro Woche, um zu vögeln und zu kiffen. Manchmal auch umgekehrt.

Pete war ziemlich groß, athletisch gebaut und völlig ungebildet, wenngleich mit einer gewissen Straßenschläue gesegnet. Caro, die spürte, wie eifersüchtig Alisha auf ihn reagierte, erwähnte bei jeder Gelegenheit, daß das nur so ein Sexding sei. Reiner Spaß. Reine Gegenwart. Ohne Zukunft. No Future, just Fun.

 

Alisha hatte Caro nie erzählt, daß sie noch Jungfrau war. Dabei hätte es Gelegenheiten gegeben, diesen Zustand loszuwerden. Aber Jungs hatten Alisha nie gereizt, und Penisse fand sie nicht nur eklig, sondern Monstranzen paternalistischer Dominanz. Sie konnte es im Grunde nicht verstehen, geschweige denn gutheißen, daß Caro solch einem Ding erlaubte, in ihren Körper einzudringen und sich dort auszukotzen. Das Thema war indes tabu zwischen den Freundinnen. Alisha wollte auf keinen Fall gefragt werden, ob sie lesbisch sei, schließlich wußte sie nicht, ob sie lesbisch war. Hätte man darüber geredet, egal auf welche Weise, wäre das gemeinsame Kuscheln belastet gewesen und hätte alle Unschuld verloren.

Caro hatte sich im letzten Sommer von ihren Wurzeln im Westfälischen losgesagt und dieses Schlaatzer Einzimmerapartment (30 Quadratmeter) im vierten Stock eines neunstöckigen Hochhauses bezogen, für 400 Euro Miete warm, ein Schnäppchen angesichts der Mietpreise im Berliner Umland. Alisha wäre diesem Beispiel gern gefolgt, doch ihre Eltern hätten, über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus, keinen Cent abgedrückt, jedenfalls behaupteten sie das.

Alisha übernachtete so oft es ging bei ihrer nun besten Freundin. Sie liebte die winzige, aber ganz gemütliche Wohnung, dieses schiere Gegenteil des finsteren Palastes, in dem sie aufgewachsen war. Gemeinsam betrank man sich und sah Netflix-Serien. Zur Begrüßung gab es ein Küßchen auf den Mund. Über Sex wurde immer nur geredet, wobei Alisha sehr viel Erfundenes und Angelesenes von sich gab. Einmal, ein einziges Mal, hatten die beiden doppelbedröhnt, also betrunken und zu sehr lauter Musik (Placebo – Infra-Red), gemeinsam an sich herumgespielt, gemeinsam wäre bereits geflunkert, eher zeitgleich, im Halbdunkel, Rücken an Rücken, jede für sich und ohne einander zu betrachten. Abgesehen davon war in erotischer Hinsicht nie etwas Erwähnenswertes vorgefallen.

Alisha grübelte darüber, ob sie in Caro verliebt sei; sie war noch nie in irgendwen verliebt gewesen und besaß keinen Vergleich. Fest stand nur, daß sie sich in Caros Gegenwart wohl fühlte wie mit niemandem sonst.

Unter Alkoholeinfluß entspannte sich Alisha enorm. Wenn sie hier war, konnte sie ihre verhaßten Eltern wegblenden. Das Kiffen allerdings fand sie gefährlich, davon bekam sie Hunger, und Hunger lockte Kalorien an, die sich in noch mehr Körperfett verwandeln würden.

Einen Orgasmus hatte Alisha noch nie gehabt, sie hatte einmal einen vorgetäuscht, bei eben jenem erwähnten Exzeß mit der besten Freundin am frühen Morgen einer durchsoffenen Nacht. Dabei bereitete es ihr durchaus Lust, sich zu berühren, und oft schien es, als sei es gleich soweit, sie fühlte etwas in sich, etwas kommen, näher kommen, das dann jedoch wie ein stutziges Tier stehenblieb, ein blödes, hinterfotziges Tier, ein schielendes, hinkendes Pferd, das sich auf den letzten Millimetern verweigerte. Manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn Caro ihre Vulva berühren würde, mit den Fingern oder gar mit den Lippen. Merkwürdig. Sie beschloß, daß das passendste Wort dafür merkwürdig wäre. Also irgendwas zwischen seltsam, bemerkenswert und rot im Kalender anstreichen. Wahrscheinlich wäre es etwas Gutes. Vielleicht aber auch nicht, und alles wäre danach zerstört.

 

Caro mochte an Alisha all das, was sie an sich selbst vermißte, diese unbedingte Selbstgewißheit (andere hätten von blanker Naivität gesprochen), die Welt verändern zu können, einfach indem man aufsteht und loslegt, irgendwie, irgendwo, mit irgendwas. Sie selbst war viel pragmatischer gestrickt und vor allem ziemlich faul, wenn man es profan in Worte fassen wollte. Faul und zu wenigen Opfern bereit.

 

Alisha hatte eine Flasche Weißwein aus dem Keller ihres Vaters mitgebracht, später würde es Coke Zero mit Bourbon geben. Sie suchten bei Netflix nach einer neuen Serie und entschieden sich für die zweite Staffel von Top of the Lake.

Es kränkte Alisha, als Caro plötzlich ungefragt von Petes riesigem Schwanz erzählte, der angeblich auch noch gut aussah. Wie konnte ein Penis gut aussehen, und worin lag der Vorteil, wenn er tatsächlich riesig war? Das klang wie dummes Gerede aus einem Pornofilm. In solchen Momenten kam es Alisha vor, als habe sie sich bei einer Verräterin einquartiert, die trotz aller politischen Intelligenz nicht fähig war, im buchstäblich engsten Umfeld einfachste Zusammenhänge auszuleuchten.

»Kannst du bitte damit aufhören?«

»Womit?«

»Mit diesen Fickgeschichten. Interessiert mich nicht.«

Caro zuckte mit den Schultern, schnalzte bedauernd mit der Zunge. Pete hatte sie vor zwei Stunden gefragt, ob eine ihrer Freundinnen vielleicht mal Lust auf einen Dreier habe. Allem Anschein nach lohnte es nicht, die Frage weiterzugeben.

»Okay. Keine Fickgeschichten mehr. Außer sie sind sehr lustig?«

»Nicht mal dann.«

 

Alisha erblickte in Caro voller Sehnsucht all jenes, was ihr selbst nicht gegeben war: Eleganz und Coolness, Souveränität mit einem Schuß Sarkasmus. Auf Caros Schönheit war sie hingegen keine Spur neidisch, ganz im Gegenteil, sie war sogar froh darum, nicht superhübsch zu sein, denn Schönheit erschien ihr als ein sehr oberflächlicher Begriff, männlich tradiert, das oberste Kriterium, nach dem Frauen brutal taxiert und selektiert werden.

Beide jungen Frauen fanden sich durch die Freundin ergänzt und bereichert, wiewohl sie auf den ersten Blick kaum zueinander paßten. Doch gerade weil sie selten in Konkurrenzsituationen gerieten, kamen sie problemlos miteinander aus. Alisha, die ansonsten so gut wie nie irgendeiner Autorität Raum gab, fraß Caro praktisch aus der Hand, wurde in ihrem Beisein beinahe devot – und Caro war so klug, diesen Umstand nur sparsam für sich zu nutzen.

 

Neben der besten Freundin die Besinnung zu verlieren, dann zu schlafen, mit ihr in einem Bett, mit der Stirn an ihrem linken Schulterblatt, genügte vollauf, um Alisha ein Gefühl der Sicherheit, der geglückten Wahlverwandtschaft zu geben. Sie haßte es, wenn sie am Morgen zurück ins Wannseehaus mußte. Caro bestand aus irgendeinem Grund darauf, ihr Domizil nur nachts zu teilen, wollte anscheinend niemanden in der Wohnung haben, wenn sie selbst dort nicht zugegen war. Als müsse sie befürchten, ihre Schubladen könnten durchwühlt werden. Alisha dachte darüber nach. Ganz sicher lagen dort irgendwelche Schnappschüsse oder Videos von Petes mächtigem Fortpflanzungsorgan, entweder in gorillig monumentaler Pose oder feucht eingebettet in Caros Schlupfloch. Irgendwelche Ferkeleien, ganz bestimmt. Alisha hätte vielleicht nicht zielstrebig nach dergleichen gesucht, hätte es sich aber, sehr wahrscheinlich, angesehen. Halb, um ihre Neugier zu befriedigen, halb, um sich zu quälen.

4

»Ist sie raus?«

Nora nickte. Sie strich die Gardinen zur Seite, sah vom ersten Stock aus ihrer Tochter hinterher, wie diese mit nähmaschinenengen Schritten durch den Garten lief, in roten Springerstiefeln, den Rucksack auf dem Rücken. Wo ihre Tochter die Nacht verbringen würde, wußten die Reitlingers nicht. Anfangs hatten sie sich Sorgen gemacht, aber Alisha war, wenn auch nicht erwachsen, so doch Neunzehn, und sie war jedesmal am Morgen heil zurückgekehrt. Man konnte ihr nichts vorschreiben, mußte froh sein um jeden Tag, den sie noch unter dem gemeinsamen Dach verbrachte. Natürlich machten sich ihre Eltern Gedanken darüber, daß es noch keinen ersten Freund gegeben hatte oder, es wäre ihnen beinahe egal gewesen, eine erste Freundin. Aber wenn sie – bei aller elterlichen Liebe – ehrlich zu sich waren, hatte sich das Kind seit einigen Monaten zur Nervenfolter entwickelt. Wahrscheinlich war sie auf dem Campus den falschen Leuten begegnet und hatte sich, statt erste fremde Körpersäfte, deren Radikalparolen reingezogen. Was die Reitlingers so schlimm allerdings gar nicht fanden, sie teilten die verbreitete Ansicht, daß man mit zwanzig Kommunist sein dürfe, es bliebe noch ausreichend Zeit, um zu Verstand zu kommen. Allerdings, so kam es dem Professor vor, und so teilte er es seiner Gattin wieder einmal mit, seien die Maoisten und Trotzkisten der Siebziger harmlos und vernünftig gewesen gegen das, was da heute an verschrobenen Sektierern unterwegs sei, er redete meist, etwas vereinfachend, von Gesocks*innen, und den Stern im Wort interpretierte er als kurzes Röcheln, manchmal auch Rülpsen.

 

Frederick war erleichtert gewesen, daß seine Tochter sich für die Potsdamer Universität entschieden hatte, nicht für die Humboldt-Uni Berlin, an der er selbst lehrte. So wurde möglichen Versuchungen, der Tochter Vorteile zu verschaffen, von Anfang an eine Grenze gesetzt. Er wollte kein Helikopter-Vater sein.

»Die meisten überleben«, sagte er seiner Frau ins Ohr und küßte ihre Wange.

»Ja, alle Statistiken bestätigen das. Wollen wir noch was machen aus der Nacht?«

»Worauf hast du Lust?«

Nora entschied sich für Musik. Schließlich war Alisha außer Haus, konnte sich also diesmal nicht über den Krach beschweren.

Seit neunundzwanzig Jahren waren die Reitlingers verheiratet. Nun stiegen sie händchenhaltend, fast feierlich, die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo neben Alishas Zimmer das Musikzimmer lag, etwa fünfunddreißig Quadratmeter groß. Darin standen, ineinandergeschoben, zwei wertvolle alte Bechstein-Flügel. Die Pianisten saßen sich gegenüber, konnten einander also ansehen. Das spärliche Mobiliar im Raum bestand hauptsächlich aus einer Bambus-Regalwand voller Notenmaterial. Früher hatten die Reitlingers hier etlichen jungen Virtuosen eine Art Aufenthaltsstipendium ermöglicht. Heute gab es hin und wieder noch Hauskonzerte.

 

Nora und Frederick öffneten eine Flasche roten Krimsekt, prosteten sich zu, dann spielten sie eine Stunde lang Klavierstücke zu vier Händen, von Mozart, Mahler und Debussy, einigermaßen fehlerfrei. Wobei sich ab und an ihre Blicke trafen. Im Lächeln dieser beiden Menschen lag viel Liebe und Dankbarkeit für glückliche Jahre, zugleich aber auch das besorgte Wissen darum, daß für ein rundum gelungenes Leben längst noch nicht alles getan war. Oder, wie Fred es auszudrücken pflegte: »Man kann den Tag als solchen loben, aber noch liegt nichts getrocknet im Sarg.«

5

Gerry und Leopold entschieden sich für die plüschige Volcano-Joy-Bar im südlichen Moabit, ein relativ neues Lokal, das von der Touristenmeute bisher übersehen worden war, vielleicht auch, weil man es im ersten Moment für einen Animationsschuppen halten konnte. Alles war ein wenig im Stil der 70er gehalten, mit flirrenden Stroboskoplichtern, gelben und roten Lavalampen und trashiger Retromusik aus einer Wurlitzer Jukebox. Kurz vor Mitternacht trafen Sonja und Iris ein, kurz nacheinander.

Sonja war eine große, schlanke Frau mit weichen, etwas madonnenhaften Gesichtszügen und armlangem, glattem schwarzen Haar. Die strohblonde propere Iris wirkte daneben viel kleiner, obgleich sie einen Meter siebzig maß. Die Buddy-Holly-Brille verlieh ihr einen Anschein von Intellektualität. Tatsächlich war sie ein eher schlicht gestricktes Gemüt, arbeitete im Vertrieb eines Schulbuchverlags. Sonja hingegen verfügte über einen scharfen, sezierenden Intellekt, studierte Psychologie im 15. Semester, und noch war kein Ende abzusehen. Immer wieder war ihre Karriere durch tragisch verlaufende Beziehungen unterbrochen worden, jetzt aber, seit sie mit Gerry zusammen war, schien sie endlich den richtigen Mann für sich gefunden zu haben, und zwar einen, der es wagte zu widersprechen, der ihr rhetorisch ebenbürtig war, der sie auf Distanz hielt und ihr nicht zu Füßen lag. Der nicht klammerte und ihr genügend Freiraum ließ. Sonja hatte etwas von Rilkes Panther an sich, einer ruhelosen Wildkatze, die sich schnell umstellt und eingesperrt glaubte, sogar da, wo sich andere noch behaglich gefühlt hätten. Damit waren die Männer vor Gerry schwer zurechtgekommen, hatten allesamt nicht begriffen, daß man eine solche Frau öfter mal einfach in Ruhe lassen, praktisch ignorieren mußte.

Leo und Iris kannten sich erst ein paar Monate, und hätte man ihn zur Wahrheit gezwungen, dann waren ihre Brüste das, was er am attraktivsten an ihr fand. Brüste waren ihm, er hätte es natürlich nie zugegeben, überproportional wichtig. Und er merkte, daß Gerry oft ein wenig neidisch dreinsah, weil Sonja in dieser Hinsicht deutlich weniger zu bieten hatte.

Der Barkeeper stellte die gezuckerten Margheritas auf den Tresen. Cocktails mit Faltschirmchen. Aus der Jukebox nudelten die Les Humphries Singers Mexicoooo, Mexicoooo-o-o. Eine halbe Stunde lang fand man den Laden witzig, bevor er einem auf die Nerven zu gehen begann.

Sonja spielte mit ein paar ihrer Haarsträhnen und wollte wieder einmal nicht glauben, daß Gerry sie nicht hätte mitnehmen können zu den Reitlingers. Leo aber bestätigte, daß die übliche Einladung ins Wannseehaus ausdrücklich – aus Platzgründen – nur für eine Person ohne Begleitung ausgesprochen wird. Wer dagegen verstoße, auch das habe es schon gegeben, der werde mitleidlos abgewiesen. Reitlinger sei in dieser Hinsicht eigen.

»Was heißt eigen?« meinte Gerry. »Er möchte keine ihm fremden Personen im Haus haben, und das ist nicht eigen, das ist ganz natürlich. Er entscheidet konsequent, wie in allem.«

»Aber«, warf Iris ein, »das ist doch superpeinlich, jemandem die Tür zu weisen, nur weil er noch jemanden mitgebracht hat. Das ist eine Kränkung, von der erholt man sich nicht leicht. Ich brächte so was nicht übers Herz.«

»Regeln sind Regeln. Ich finde, wenn er vorher klar und deutlich die Regeln verkündet hat, dann muß es niemandem peinlich sein, wenn auf deren Einhaltung bestanden wird.«

»Und wie war der Wein?«

»Der schweineteure Wein?« Leo grinste. »Naja, ganz gut, schätze ich. Ich möchte nicht vortäuschen, viel davon zu verstehen. Keiner von uns versteht was von Wein. Die Margheritas hier sind leckerer. Auch wenn das banausig klingt.«

Das Gespräch wendete sich tagespolitischen Dingen zu. Die Jungs achteten darauf, jeglichen Fachsprech auszuklammern. Nach dem ersten Drink stiegen sie auf Bier um, wollten möglichst lange nüchtern bleiben. Beiden war das letzte Vierertreffen in unangenehmer Erinnerung, als die Frauen mehr vertragen hatten als sie selbst.

 

Gegen halb zwei verließ man zusammen das Lokal. Die Kälte schien nicht mehr so schlimm mit Alkohol im Blut.

»In drei Monaten«, sagte Iris, »werden wir diese fünf Grad als warm empfinden.«