image

image

INHALT

Prolog

Freitag, 26. August 2016

Verheißungsvolles Kennenlernen

Tag 1: Samstag, 27. August 2016

Anekdotenreiche Manövergespräche

Tag 2: Sonntag, 28. August 2016

Grenzüberschreitender Törn

Tag 3: Montag, 29. August 2016

Mühevolle Teambildung

Tag 4: Dienstag, 30. August 2016

Schwankender Landgang

Tag 5: Mittwoch, 31. August 2016

Rosafarbene Galionsfigur

Tag 6: Donnerstag, 01. September 2016

Sonnige Flaute

Tag 7: Freitag, 02. September 2016

Traute Zweisamkeit

Tag 8: Samstag, 03. September 2016

Verspäteter Abschied

Tag 9: Sonntag, 04. September 2016

Epilog

Donnerstag, 13. Oktober 2016

Danksagung

Chillen in Flottillem

Faktencheck – praktische Tipps zum Flottillensegeln

img

 

Freitag, 26. August 2016

»Vielen Dank für Ihre Nachricht. Ich beantworte sie gern ab Montag, den 05. September 2016. Mit freundlichen Grüßen Clara Mare«. Die Einrichtung dieser automatischen Antwort auf meinem E-Mail-Account war die letzte Handlung im Büro, bevor ich meinen Computer herunterfuhr. Insgesamt zehn Tage würde ich ihn nicht wieder hochfahren. Was in zehn Tagen nicht alles passieren konnte! Vielleicht kam ja eine Kooperationsanfrage herein, die man unmöglich zehn Tage lang unbeantwortet lassen durfte. Oder einer unserer Auftraggeber meldete sich mit einem dringenden Anliegen. Vielleicht brauchten auch meine Kolleginnen meinen Rat oder suchten wichtige Unterlagen. Oder mein Chef.

Ich wusste schon jetzt: Es würde keine zehn Tage dauern, bis ich meinen E-Mail-Account wieder öffnen und die neu eingegangenen Nachrichten abfragen würde. Ich gab mir maximal 20 Minuten, bis ich zu Hause den Laptop aufklappen oder einen Blick auf mein iPhone werfen würde, wo mich die neuesten Nachrichten meiner verehrten Kolleginnen und Kollegen, Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Kooperationspartnerinnen oder meines Chefs erwarteten.

Und ich würde mich dadurch auch überhaupt nicht gestört fühlen. Denn ich gehörte nicht zu jenen, die Arbeit als Last empfanden und eine Viertelstunde vor Dienstschluss den Stift fallen ließen, den Rechner herunterfuhren und mit angezogener Jacke und gepackter Tasche auf den Dienstschluss warteten. Nein, ich gehörte zu den engagierten Arbeitnehmern, zu jenen, die auch sonntags oder spät in der Nacht arbeiteten, ihre E-Mails lasen und beantworteten. Und das keinesfalls, weil der Chef es verlangte – wobei er es natürlich durchaus begrüßte –, sondern weil es mir Spaß machte.

Ich las auch gern mal nach Feierabend in meiner Fachliteratur, recherchierte oder schrieb an einem Artikel für ein Fachmagazin. Ich musste mich nicht an Präsenzzeiten halten, sondern konnte mir meine Arbeitszeit an der Universität weitgehend frei einteilen. Das hieß, dass ich manchmal eben auch an einem Samstagabend mit meinen Kollegen über die Gliederung eines Textes oder die Präsentation für die nächste Woche konferierte. Und ich fand es durchaus angenehm, wenn die Kollegen meine drängenden Fragen schon am Sonntagabend beantworteten, sodass ich am Montagmorgen gleich mit der Arbeit loslegen konnte.

Ich ging also davon aus – es gehörte ja auch irgendwie zum guten Ton –, dass ich die Absender der in den nächsten Tagen eingehenden Nachrichten nicht wirklich zehn Tage lang auf eine Antwort würde warten lassen. Sie würden sich vielmehr über mein Engagement freuen, ihr Anliegen auch in meinen Urlaub mitzunehmen. Warum auch nicht? Ich konnte die Fragen, die mich tagtäglich umtrieben, ja ohnehin nicht ganz beiseiteschieben.

Ich hatte Architektur und Stadtplanung studiert und arbeitete nun schon seit geraumer Zeit an meiner Dissertation. Als Forscherin hatte ich den Anspruch, die Welt zu verstehen, als Stadtplanerin wollte ich sie zugleich verbessern. Ich wollte Zusammenhänge aufdecken, die bislang unentdeckt geblieben waren. Wahrheitsfindung war doch immerhin der Kern von Wissenschaft. Was ich tat, sollte aber auch etwas nützen, also unmittelbar anwendungsorientiert sein. Von der Bedeutung meiner Arbeit hatte ich nicht nur meine Geldgeber überzeugen müssen, sondern immer wieder auch meinen Chef und Doktorvater sowie mich selbst. Letzteres war besonders schwer.

Ganz praktisch sah das folgendermaßen aus: In einem Vortrag erläuterte ich gesellschaftliche Entwicklungen wie den Klimawandel, demografische Veränderungen, die Pluralisierung der Lebensstile oder die Auswirkungen der Globalisierung auf die Stadtgesellschaft. Daraus ergaben sich drängende Frage für die Stadtentwicklung, zum Beispiel nach Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen, nach neuen, flexibleren Wohnformen oder Trägermodellen für Infrastruktureinrichtungen und so weiter. All dies zu realisieren, oblag in unserer modernen Gesellschaft nicht allein den öffentlichen Akteuren, vielmehr trugen Politik, Verwaltungen, Wirtschaft und Bürgerschaft allesamt zur Entwicklung der Städte bei. Doch dies war ein so komplexes Thema, dass ich mich in meinem Forschungsprojekt exemplarisch auf bestimmte Aspekte fokussieren musste. Im Rahmen eines Vortrags konnte ich wiederum nur schlaglichtartig Auszüge aus meiner Arbeit darstellen. In jedem Fall griffen meine Erläuterungen zu kurz, als dass sie meinem Forschungsgegenstand und meiner Arbeit gerecht wurden. Man müsse sich dieser und jener Frage eigentlich genauer widmen, erläuterte ich dann. Wenn ich doch nur mehr Zeit und Geld hätte!

Kurzum: Ich machte einen auf dicke Hose und entschuldigte mich danach für all meine Unzulänglichkeiten. Dementsprechend reagierten meine Zuhörer und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen. Sie fragten gelangweilt, was an meinem Forschungsansatz denn nun neu sei, verwiesen auf eigene Veröffentlichungen zu einem verwandten Thema und zitierten sich selbst. Ich solle doch lieber noch einmal gründlich recherchieren, meine Forschungsfrage umformulieren, meine Methoden überdenken – oder anders gesagt: von vorn beginnen. Zugleich musste ich pragmatisch denken. Es gab einen Zeitplan einzuhalten, Netzwerke zu knüpfen, Veranstaltungen zu managen, die Publikationsrate zu erhöhen, neue Gelder zu akquirieren und so fort.

So befand ich mich in einer permanenten Zerreißprobe zwischen Selbstbeweihräucherung und Selbstzweifeln. Eine gewisse Schizophrenie war inzwischen symptomatisch für meine Arbeitswelt. Feste Arbeitszeiten gab es keine. Ich konnte ja auch unter der Dusche oder beim Dinner mit Freunden über mein Dissertationsthema nachdenken.

Durfte ich mir also wirklich eine einwöchige Urlaubspause leisten? Würde es womöglich bahnbrechende Entwicklungen geben, die ich verpasste? Nein, denn ich würde ja meine Mails regelmäßig abrufen und alles Wichtige mitbekommen. Aber vielleicht übersah ich ja eine wichtige Botschaft! Würde dann möglicherweise in den nächsten zehn Tagen die Welt untergehen?

Ich dachte über die letzten zehn Tage nach. Was hatte ich da vorzuweisen? Zwei oder drei Seiten meiner Dissertation hatte ich geschrieben und zehn in den Papierkorb verschoben. Der Papierkorb – der digitale wie der unter dem Schreibtisch – war der beste Freund eines jeden Forschers. Die letzten zehn Tage waren versandet, und ich konnte schon jetzt nicht mehr genau sagen, was ich eigentlich den ganzen Vormittag gemacht hatte. Aber es war ganz sicher alles extrem wichtig gewesen!

Nach der für den Kopf und die Schultermuskulatur gleichermaßen anstrengenden Arbeit als Bürostuhlakrobatin führte mich mein Weg am Abend häufig ins Fitnessstudio. Hier konnte ich meinen verspannten Körper richtig auspowern. Mein Trainingsplan sah den systematischen Aufbau aller Muskeln vor. Auf einer Chipkarte waren alle Geräteeinstellungen und meine Fortschritte akribisch gespeichert, sodass ich die Erfolge meiner abendlichen Übungen kontrollieren konnte. Ich brauchte genau 17 Minuten für die erste Runde, dann folgten 1,5 Minuten Pause und noch einmal 17 Minuten für die zweite Runde. Um das Herz-Kreislauf-System richtig auf Touren zu bringen, folgte danach vielleicht noch eine Runde Zumba oder Jumping auf dem Trampolin. Natürlich ließ ich mich auf dem Trampolin nicht einfach nur vergnüglich in die Luft befördern. Nein, hier ging es um Fitness. Da hieß es: leicht in die Knie gehen, Gewicht auf die Fersen verlagern, Bauchmuskeln anspannen und alles geben. »Eine Pause gibt es nicht, wenn man eine will, sondern allenfalls, wenn man eine braucht!«, brüllte der Trainer gern.

Von Zeit zu Zeit verordnete ich mir als Ausgleich die totale Entspannung in der Sauna oder einen Ausflug mit Freunden. Das musste doch helfen, die Akkus für die nächste Arbeitswoche wieder aufzuladen. Leider reichte es nicht immer. Gerade erst hatte ich eine hartnäckige Erkältung hinter mir, die mich einige Tage aus der Bahn geworfen hatte. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gab es zwei Umgangsformen mit Krankheiten, die beide den Körper schwächten: Die einen schluckten Aspirin Complex und spülten es zur Not mit einem Glas Chardonnay herunter, die anderen schluckten alle paar Stunden eine Handvoll homöopathischer Globuli. Ins Bett legte sich niemand. Je nach Schwere der Erkältung und nach Dringlichkeit meiner Genesung wählte ich die eine oder die andere Variante – oder beide gleichzeitig. Nur in absoluten Ausnahmesituationen ging ich zum Arzt und ließ mich krankschreiben. So weit war es in der Woche vor meinem Urlaub gekommen, in der mich ein Virus erwischt hatte. Glücklicherweise triefte meine Nase inzwischen nicht mehr, und das Fieber war weg. Geblieben war mir ein Husten, der noch tief in den Bronchien festsaß und meine Stimme hatte verstummen lassen. Erst am Tag zuvor hatte ich versucht, mit meiner Mutter zu telefonieren, die mir immer wieder sagte, sie verstehe mich nicht, woraufhin ich ins Telefon flüsterte, dass ich nicht lauter reden könne, woraufhin sie erwiderte, sie verstehe mich nicht und so fort. Nach ein paar Minuten legte ich wortlos auf und schrieb ihr via WhatsApp, dass ich heiser sei.

Nun stand mir eine Woche Urlaub bevor, in der ich mich sowohl von der Erkältung als auch vom stressigen Alltagsleben erholen konnte. Nachdem ich die automatische E-Mail-Antwort eingerichtet hatte, war mein Urlaub sozusagen offiziell. Jetzt würde es mir jeder nachsehen, wenn meine Rückmeldung ein paar Stunden, vielleicht auch einen Tag, auf sich warten ließ. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zu erwähnen, wohin mich meine Reise führen würde, um den Absendern zu signalisieren, dass ausnahmsweise sogar zwei oder drei Tage bis zu meiner Antwort vergehen könnten. Ich hatte in diesem Jahr nämlich etwas Ungewöhnliches vor und war deswegen schon ganz aufgeregt. Never ever würde ich eine klassische Pauschalreise buchen, dafür war ich viel zu sehr Individualistin.

Das war auch wieder so eine Schizophrenie des Alltags: Kein Mensch will auf den ausgelatschten Pfaden des Massentourismus wandern, aber jeder die bedeutsamsten Orte der Welt gesehen haben. Ich natürlich auch. Ich war ja keine verrückte Aussteigerin, die sich irgendwo am Ende der Welt selbst finden musste. Also hatte ich für die nächsten sieben Tage schlussendlich doch eine Pauschalreise gebucht – und das gegenüber der Individualistin in mir damit gerechtfertigt, dass es sich um eine Segelreise handelte.

Segler, das waren echte Abenteurer, die jeder Gefahr ins Auge sahen, sagte ich mir. Segler erkundeten fremde Kulturen. Sie waren überall und nirgends zu Hause, eben echte Weltenbummler. Segler brauchten nur sich und ihr Schiff, um glücklich zu sein. Sie jammerten nicht über das Wetter, sie trotzten ihm. Und gleichzeitig war Segeln natürlich todschick. Braun gebrannt fuhren Segler auf strahlend weißen Yachten in die schönsten Häfen und Buchten der Welt ein. Segler, das mussten sehr glückliche und entspannte Menschen sein. Und all das wollte ich auch! Natürlich nicht so richtig, ich war ja – wie gesagt – keine Aussteigerin. Ich wollte nur eine Teilzeitabenteurerin sein – entspannt, aber bitte nicht weltfremd. Und deshalb wollte ich eine Urlaubs-Mitseglerin werden.

img

VERHEIßUNGSVOLLES KENNENLERNEN

Tag 1: Samstag, 27. August 2016

»Wenn du Zeit und Lust auf einen Kaffee/Tee hast, ich sitze am Düsseldorfer Flughafen gegenüber von Gate A63 auf der grauen Bank, lange blonde Haare, dunkle Brille. Grüße Clara.« Die Nachricht, die ich in mein Handy tippte, erinnerte mich irgendwie an eine Kontaktanzeige. Während ich auf Senden tippte, schaute ich mich aufmerksam um, ob jemand in Sichtweite just in diesem Moment zum Telefon griff, um meine Nachricht zu lesen. Es gab hier am Flughafen ziemlich viele Leute, die auf ihr Smartphone starrten oder es zärtlich streichelten, aber niemand schien sich von meinen Worten angesprochen zu fühlen. Doch dann kündigte mein Handy eine eingehende Nachricht von Andreas an. Er habe Zeit und Lust auf einen gemeinsamen Kaffee, sitze aber am Stuttgarter Flughafen. Das war jetzt irgendwie ungünstig!

Aber noch musste ich die Hoffnung nicht aufgeben, meinen lauwarmen Beuteltee in Gesellschaft zu trinken. Während ich an einem überteuerten Focaccia-Brötchen mit welkem Salat knabberte, blieb plötzlich jemand vor mir stehen. Unsere Blicke trafen sich, und wir wussten sofort, dass wir einander gesucht und gefunden hatten. Ich setzte ein freudiges Lächeln auf und wollte mein Gegenüber mit einem lässigen »Hallo« begrüßen. Doch aus meinem Mund kam nur ein schauriges Krächzen, gefolgt von einem Hustenanfall, der mir die Tränen in die Augen trieb. Das hatte ich nun davon, dass ich meine Erkältung in der letzten Woche nicht ordentlich auskuriert hatte. Ein Schluck lauwarmer Tee und ein Hustenbonbon halfen, meine Atemwege zu beruhigen und mich meiner neuen Bekanntschaft vorzustellen.

Was nach amourösem Blind Date klingt, war der Anfang meiner Ü-30-Single-Reise. Gesucht und gefunden hatte ich Annika, eine von 21 Mitreisenden, die zumindest vordergründig allesamt das Gleiche wollten wie ich: mitsegeln. Aus ganz Deutschland reisten 22 Menschen nach Sardinien – darunter auch Andreas aus Stuttgart sowie Annika und ich aus Düsseldorf –, um dort, verteilt auf drei Booten, eine Woche gemeinsam zu segeln. Annika und Andreas waren also nur zwei von vielen neuen Namen, die ich mir im Lauf des Tages würde merken müssen. Noch besser wäre es, wenn ich mir am Ende des Tages nicht nur ihre Namen, sondern auch die passenden Gesichter gemerkt haben würde.

Nachdem ich meine Stimme wiedergefunden und Annika den Schock verdaut hatte, den mein Gekrächze und der anschließende Hustenanfall hervorgerufen hatten, beschnupperten wir uns vorsichtig. Annika trug Jeans und ein weißes T-Shirt mit einem Aufdruck der US-amerikanischen Flagge. Ob das ein politisches Statement war, vermochte ich nicht zu sagen. Immerhin hatte Europa mit Barack Obama als Präsident seinen Glauben an die USA wiedergefunden. Doch auf Annikas T-Shirt war die Flagge wohl eher als modischer Aufdruck zu verstehen, der ihrem Outfit etwas Lässiges gab. Ich konnte ihre sportliche Figur erahnen, doch sie schien es nicht für nötig zu befinden, diese durch ein großes Dekolleté oder einen engen Schnitt zu betonen. Sie strahlte vielmehr eine sympathische Natürlichkeit aus. Mit ihren dunklen, kinnlangen Haaren und ihren großen, braunen Augen wirkte sie jugendlich, ohne dabei allzu süß auszusehen. In einem angenehm ruhigen Tonfall erzählte sie, dass sie die wohl kürzeste Anreise habe, da sie direkt in Düsseldorf wohne und mit der S-Bahn gekommen sei. Heiser belehrte ich sie eines Besseren. Zwar lebte ich in Aachen, doch hatte ich die letzte Nacht bei einer Freundin verbracht, die direkt neben dem Flughafen wohnte. Ich war von dort zu Fuß zum Gate gekommen. Damit war das Eis gebrochen. Wir lachten herzhaft – wobei mein heiseres Röcheln recht furchteinflößend klang – und diskutierten über die Vorzüge Düsseldorfs als lebenswerte Stadt. Ganz nebenbei erfuhr ich, dass Annika Mitte 30 war, Geschwister hatte, einen Segelschein besaß, aber dennoch glaubte, nicht segeln zu können.

Als wir gerade warm miteinander geworden waren, trennten sich unsere Wege vorerst schon wieder, als wir den Flieger bestiegen, der uns nach Italien bringen sollte. Annika nahm weit vorn Platz, während ich mich nach hinten durchkämpfen musste. Die Stewardess begrüßte jeden Reisenden mit einem gebleachten Lächeln und schien gar nicht zu merken, dass manche ihrer Gäste kurz davor waren, sich die Köpfe einzuschlagen, um in der Gepäckablage ein Plätzchen für ihr deutlich überdimensioniertes Handgepäck zu ergattern. Geflissentlich lächelte sie über jede Aggression hinweg.

Als ich meinen Platz im hinteren Teil des Flugzeugs schließlich gefunden hatte, scheuchte ich die beiden in meiner Reihe sitzenden Frauen hoch, um meinen Fensterplatz zu erreichen. Wie sich herausstellte, kannten die beiden Damen einander nicht. Es schien vielmehr so, als hätte man hier im hinteren Teil des Flugzeuges alle Single-Reisenden – bis auf Annika – versammelt. Die Dame in der Mitte berichtete mir ungefragt, sie habe ein spezielles Single-Angebot in einem Sportclub gebucht, woraufhin ihre Nachbarin am Gang ihr erklärte, sie habe eine Single-Segelreise gebucht. Ich wurde hellhörig und hakte nach. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der Dame am Gang um meine Mitseglerin Katharina. Da wir unsere Reise über denselben Reiseveranstalter gebucht hatten, waren wir im Flieger offenbar auch in derselben Reihe platziert worden. Da meine unmittelbare Nachbarin, die Sportclub-Single-Dame, ihre Flugangst totzureden versuchte, mussten Katharina und ich unser Kennenlernen auf später verschieben. Mir machte das in diesem Moment wenig aus, denn angesichts des Fluglärms verstand sowieso niemand mein krächzendes Flüstern. Katharina und ich ließen die Dame in unserer Mitte brabbeln und lehnten uns in unseren Sitzen zurück.

Als der Flieger endlich abhob, wandte ich meinen Mitreisenden für einen Augenblick meine Kehrseite zu und blickte aus dem Fenster. Ich liebe den Blick von oben auf die Welt. Auch wenn diese Perspektive durch Google Earth inzwischen schon vertraut erschien, fand ich ihn wahnsinnig aufregend. Zunächst zogen noch einzelne Autos vorbei, dann irgendwann erkannte ich nur noch die Straßen, auf denen sich Bindfäden hin und her zu schieben schienen. Einzelne Gebäude wurden zu Flächen, entlang von Straßen reihten sich Dörfer auf, dann wieder konzentrierten sich die konzentrisch organisierten Städte an den großen, meist schon jahrhundertealten Handelsrouten, und im Hinterland erstreckten sich die Satellitenstädte. Ein Stadtforscher hatte dafür den Begriff »Zwischen-Stadt« erfunden. Von hier oben sah man die raum- und landschaftsverändernde Wirkung der menschlichen Eingriffe am besten. Ich erkannte nicht nur unterschiedliche Siedlungsstrukturen, sondern die Stadtplanerin in mir konnte sogar unterschiedliche Planungskulturen erahnen. Die Baustrukturen ließen erkennen, ob die Wirtschaft florierte und wie hier steuernd in die Bautätigkeiten eingegriffen wurde. Ich sah unterschiedlich dicht bevölkerte Landstriche und konnte die Einsamkeit in den ländlichen Räumen und das Gedränge in den Großstädten fast fühlen. Je höher das Flugzeug stieg, desto unbedeutender wurden die vom Menschen geschaffenen Landschaftsstrukturen. Die natürliche Topografie trat zutage, Flüsse, Seen und Gebirge schoben sich langsam am Fenster vorbei. Der Blick von oben auf die Welt berührte das Herz eines jeden Stadtplaners. Von hier oben sah alles friedlich aus.

Irgendwann hatte das Flugzeug seine endgültige Flughöhe erreicht und eine Schönwetterwolkendecke durchbrochen. Ich hätte mich am liebsten in die weißen Wolken hineingeworfen und musste meinen Kopf daran erinnern, dass sie mich nicht mit flauschig weicher Wärme umhüllen würden, sondern dass ich durch feuchtkalte Luft fallen und irgendwo auf dem Boden aufschlagen würde. Träge geworden, suchte ich nach Wolkenbildern und entdeckte wilde Kreaturen am Horizont. Aus einem Pferd mit Reiter wurde schnell ein geflügelter Drache, der sich schließlich in einen Kampfjet verwandelte. Ich schreckte hoch, als mein Kopf nach vorn sackte. Ich musste wohl kurz eingeschlafen sein.

An ein gepflegtes Nickerchen war jedoch nicht mehr zu denken, denn neben mir brabbelte noch immer die Sportclub-Single-Dame. Nachdem der Kapitän die Passagiere mit einer gelangweilten Durchsage begrüßt hatte, ließ ihr Adrenalinschub jedoch nach, und damit auch ihr Redefluss. Endlich hatte ich die Gelegenheit, Katharina ein wenig näher kennenzulernen, mit der mir ja immerhin ein gemeinsamer Urlaub bevorstand. Ich erfuhr, dass sie aus Hamburg kam und besonders früh hatte aufstehen müssen, um rechtzeitig am Düsseldorfer Flughafen zu sein. Hamburg, das immer wieder zu den lebenswertesten Städten gekürt wurde, hatte keine Direktverbindung nach Sardinien. Das sollte bei den Rankings zukünftig unbedingt berücksichtigt werden. Dieses Manko war Katharina in den 15 Jahren, die sie schon in Hamburg lebte, zugegebenermaßen noch nie aufgefallen. Sie erzählte mir, dass sie über 40 sei, was mich staunen ließ. Sie war ein so kleines, zierliches blondes Persönchen, das locker zehn oder mehr Jahre jünger hätte sein können. Neben ihr kam ich mir mit meinen etwas über 1,60 Metern vor wie ein Riese. Katharina trug eine dünne, blau-weiß gestreifte Bluse, weiße Hosen und flache Sandalen, deren Riemchen mit kleinen Glitzersteinchen besetzt waren. Die Art, wie sie ihre schulterlangen blonden Haare trug, ließ darauf schließen, dass sie ihre Frisur morgens nicht nur trocken, sondern auch ordentlich in Form geföhnt hatte. Mit wachem Blick und perfekt getuschten Wimpern blickte sie mich an.

Eine meiner ersten Fragen an sie – wie an alle, die ich im Lauf des Tages noch treffen würde – war: »Kannst du eigentlich segeln?« Wie schon bei Annika lautete die Antwort: »Nein, eigentlich nicht.« Das konnte ja ein lustiger Törn werden, dachte ich mir, wenn niemand der Teilnehmenden fähig war, ein Boot zu steuern. Auch ich war nicht gerade ein Segelprofi und hatte mich auf dem Wasser nie besonders sicher gefühlt.

Als Kind verbrachte ich die Osterferien mit meiner Familie und Freunden alljährlich in Holland, wo wir stets ein kleines Häuschen und eine Jolle mieteten, mit der wir kleine Ausflüge auf dem Heeger Meer machten. Auch wenn der Name mehr vermuten ließ, handelte es sich doch eher um einen überschaubaren See als um ein Meer. Ich entpuppte mich dennoch als Angsthase, der lieber zu Hause blieb und im Warmen Karten spielte. Aber schließlich zeigte die frühkindliche Segelerziehung doch noch Wirkung. Mit 13 Jahren meldeten meine Eltern mich in den Sommerferien zu einem einwöchigen Schnupperkurs auf dem Aasee in meiner Heimatstadt Münster an. Mein Interesse galt jedoch weniger dem Knotenlernen und Segelsetzen als vielmehr meinem Segellehrer, den ich anhimmelte wie ein verrücktes Huhn. Nach diesem Kurs erachtete mein Vater die Familie als ausreichend qualifiziert für weitere Segelreisen, und in den darauffolgenden Jahren charterten wir Boote auf Elba, Sardinien und in Griechenland.

Doch die auf diesen Reisen gesammelten Erfahrungen lagen nun in weiter Vergangenheit und waren irgendwo tief in meinem Hinterkopf vergraben. Ich fürchtete, die Kommandos an Bord würden mir wie eine Fremdsprache erscheinen und jegliche Theorie des Segelns wie ein unverständlicher Algorithmus. Ich fühlte mich absolut unqualifiziert, auch wenn Segelerfahrungen laut Veranstalter keine Bedingung für einen Reiseantritt waren.

Nun stellte ich mit einer Mischung aus Beruhigung und Entsetzen fest, dass es meinen Mitreisenden nicht anders ging. Es war zwar gut zu wissen, dass sie ebenso aufgeregt und unsicher waren wie ich, doch war es zugleich ungut zu hören, dass sie ebenso wenig in der Lage sein würden, das Boot zu steuern. Ich konnte also nur auf einen erfahrenen Skipper hoffen, der uns Amateuren erklären würde, wohin die Reise ging – und wie man dorthin kam.

Die erste Etappe unserer Reise hatten wir ohne Skipper zu bewältigen. Am Flughafen wartete ein Taxi, das wir auf Anraten des Reiseveranstalters bereits im Vorfeld bestellt hatten. Wir waren inzwischen eine ansehnliche Gruppe von drei Frauen – Annika, Katharina und ich –, der sich hier auch Andreas anschließen wollte, der zwischenzeitlich aus Stuttgart eingetroffen war. Bei unserem ersten Kontakt heute Morgen via WhatsApp hatten wir bereits die Profilbilder des jeweils anderen gesehen. Während Annika, Katharina und ich noch am Gepäckband standen und auf unsere Koffer warteten, schrieb Andreas, dass er vor dem Flughafengebäude in einem roten T-Shirt auf uns warte. Doch aus dem Flughafengebäude tretend, sah ich zahllose Menschen in roten T-Shirts, aber niemanden, den ich mit dem Profilfoto in Verbindung hätte bringen können. Ich erblickte sowohl an Frauen wie an Männern orangerote, feuerwehrrote, terrakottarote und bordeauxrote T-Shirts, rot gestreifte, gepunktete, karierte und bedruckte T-Shirts, langärmlige, kurzärmlige und ärmellose T-Shirts. Zum Glück hielt ein Taxifahrer ein Schild hoch, auf dem etwas stand, das meinem Namen sehr ähnelte. Daneben entdeckte ich einen Mann in Rot. Das musste er wohl sein, der Andreas. Wie sich herausstellte, war er Ende 40, doch sah man ihm seine Lebensjahre nicht an. Unter dem roten T-Shirt zeichneten sich deutlich seine trainierten Brustmuskeln ab, und er hatte dunkelblondes, sehr volles Haar. Wenn er lachte, und das tat er sehr herzlich, erkannte ich in ihm den Sonnyboy. Man konnte Andreas mit Fug und Recht als gutaussehenden Mann bezeichnen. Ob er uns im Lauf des Urlaubs sein Geheimnis verraten würde?