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Der Herausgeber

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Priv.-Doz. Dr. Christoph Paulus arbeitet am Lehrstuhl für Persönlichkeitsentwicklung im Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität des Saarlandes. Seit über 30 Jahren forscht er zu Themenbereichen extremer Gewalt wie Serienmörder, Amokläufer oder Jugendgewalt. Immer stehen dabei entwicklungspsychologische Fragestellungen im Vordergrund. Seine Arbeit zu Täterprofilen von erwachsenen und jugendlichen Amokläufern ist kürzlich erschienen und hat in der wissenschaftlichen und der Medienwelt für Aufsehen gesorgt. Als Gegengewicht dazu beschäftigt er sich auch mit Forschungsfragen zu Psychischer Gesundheit und Burnout, Empathie und Altruismus.

Christoph Paulus (Hrsg.)

Gewalt, Amok und Medien

Erkennen – Vorbeugen – Handeln

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034258-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034259-0

epub:   ISBN 978-3-17-034260-6

mobi:   ISBN 978-3-17-034261-3

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. 1 Editorial
  2. Christoph Paulus
  3. 2 Gewalt, Amok und die Medien
  4. Christoph Paulus
  5. 3 Mobbing und Amok: Eine Gegenüberstellung zweier Konzepte
  6. Christoph Paulus
  7. 3.1 Begriffsdefinitionen sind wichtig
  8. 3.2 Mobbing
  9. 3.3 Amok
  10. 3.4 Amok vs. Mobbing: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
  11. 3.5 Früherkennung
  12. 4 Bedrohungsmanagement Amok – Was kann die Polizei im Vorfeld tun?
  13. Michael Rupp
  14. 4.1 Vorbemerkung
  15. 4.2 Meine ersten dienstlichen Berührungspunkte mit dem Phänomen »Amok«
  16. 4.3 Amoklagen aus Sicht der Polizei
  17. 4.4 Maßnahmen zur Prävention von Amoktaten
  18. 4.5 Androhung von Amoktaten
  19. 4.6 Drei Praxisfälle aus der jüngeren Vergangenheit
  20. 4.7 Schlussbemerkung
  21. 5 Krisenprävention an Schulen mit dem Programm Networks Against School Shootings – NETWASS
  22. Nora Fiedler, Friederike Sommer, Vincenz Leuschner & Herbert Scheithauer
  23. 5.1 Theoretischer Hintergrund: Definition und Erkenntnisse aus der täterorientierten Grundlagenforschung
  24. 5.2 Hindernisse bei der Früherkennung von Taten
  25. 5.3 Ausgangslage zum Zeitpunkt der Programmentwicklung
  26. 5.4 Das NETWASS-Programm als evidenzbasierter Ansatz für die Krisenprävention in Schulen
  27. 5.5 Evaluationsergebnisse und Zusammenfassung
  28. 6 KomPass – Kompetenzportal zur Prävention von Krisen an Schulen
  29. Nadine Nagel & Günter Dörr
  30. 6.1 Das Portal KomPass
  31. 6.2 Evaluation
  32. 6.3 Fazit
  33. 6.4 Ausblick
  34. 7 Gewalt im schulischen Alltag – Erfahrungen aus der Praxis
  35. Uwe Henrichs
  36. 7.1 Ausgangspunkt Schule
  37. 7.2 Gesellschaft
  38. 7.3 Zusammenfassung und Folgerungen aus den Ausführungen über Schule und Gesellschaft
  39. 7.4 Maßnahmen
  40. 8 Wirkung von gewalthaltigen Medieninhalten auf Vorstellungen und Verhaltensweisen von Heranwachsenden
  41. Karin Bickelmann
  42. 8.1 Heranführung an Medien
  43. 8.2 Auswahl von Medieninhalten
  44. 8.3 Medienwirkungen
  45. 8.4 Gewalt-und-Medien-Spirale
  46. 8.5 Fazit und Hinweise
  47. 9 Jugendliche Gewalttäter und kollektives Medienhandeln
  48. Constanze Reder
  49. 9.1 Leaking als Teil von Gewalt
  50. 9.2 Leaking aus Perspektive der Medienaneignungsforschung
  51. 9.3 Leaking als Teil kollektiven Medienhandelns
  52. 9.4 Positionen der Medienkritik
  53. 9.5 Zusammenführung
  54. 9.6 Fazit und medienpädagogische Handlungsperspektiven
  55. Anhang
  56. Literatur
  57. Die Autorinnen und Autoren

 

 

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Editorial

Christoph Paulus

Betrachtet man die aktuelle soziale und politische Lage in Deutschland, so kann man zu dem Schluss kommen, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr unter Gewalt zu leiden hat. Über lange Jahre hinweg sind die akuten Gewaltvorfälle kontinuierlich zurückgegangen, was als Folge des verstärkten Einsatzes von Anti-Gewalt-Maßnahmen in Schulen zu sehen war. Fuchs et al. (2005) stellten im Vergleich der Jahre 1994, 1999 und 2004 fest, dass die Schulgewalt bei allen Verhaltensindizes (physische, verbale, psychische Gewalt sowie Gewalt gegen Sachen) rückläufig war. So haben sich im Jahr 2014 insgesamt ca. 1,02 Mio. meldepflichtige Schülerunfälle ereignet, wovon 7,87% gewaltbedingt waren. Gegenüber 2009 entspricht dies einem Rückgang von 2,36%. Allerdings ist hierbei schon ein leichter Anstieg in Höhe von 8,25% im Vergleich zum Jahr 2013 zu sehen.

Es scheint aber seit dem Jahr 2014 wieder einen Anstieg in den Fallzahlen zu geben. Dass dieser Eindruck nicht ganz von der Hand zu weisen ist bzw. durch vermehrte Aufmerksamkeit seitens der Medien zu erklären ist, belegen unter anderem die folgenden Zitate:

»Rund 2.000 Gewaltvorfälle haben Berliner Schulen im ersten Halbjahr gemeldet – in einigen Kategorien bereits mehr als im ganzen Vorjahr. Schulsenatorin Scheeres (SPD) nimmt auch die Erwachsenen in die Pflicht. Die Berliner Schulen haben im ersten Schulhalbjahr insgesamt rund 2.000 Fälle von Gewalt gemeldet. Das geht aus den Zahlen der Bildungsverwaltung hervor, die dem rbb vorliegen. Mehr als die Hälfte der Vorfälle sind Beleidigungen, Drohungen und Tätlichkeiten. 50 Mal brachten Schüler Waffen in die Schule mit, ein Dutzend Mal setzten sie sie ein. Rund 400 Mal gab es schwere körperliche Gewalt. Außerdem kam es unter anderem zu Mobbing, Drohungen und Beleidigungen, auch gegenüber Lehrern.«1

Die Zahl der gemeldeten Gewalttaten an Berliner Schulen ist laut einem Zeitungsbericht deutlich gestiegen. Die Senatsverwaltung für Bildung habe im vergangenen Schuljahr 3225 Fälle gezählt, berichtet die »Berliner Morgenpost« (Sonntagausgabe) unter Berufung auf eine Senatssprecherin. Das seien rund 30 Prozent mehr als im Schuljahr 2014/2015.2

»Die These, die Zahlen seien zwar rückläufig, im Gegenzug sei es aber zu einer ›neuen‹ Qualität gekommen, also zu einer zunehmenden Brutalisierung, stützt sich auf persönliche Eindrücke von sachbearbeitenden Beamten. Statistisch kann diese These weder durch Hellfeld- noch durch Dunkelfelddaten bestätigt werden. Dem Eindruck entspricht, dass auch aus Schulen von einer Zunahme von Gewalt berichtet wird. Die Daten der Unfallversicherer zeigen aber, dass in den vergangenen 20 Jahren sowohl die Raufunfälle als auch die schweren, mit Bruchverletzungen verbundenen Raufunfälle insgesamt deutlich abgenommen haben, und zwar in allen Schularten.«3

Das BKA stellt in einer Studie zu Gewalt an Schulen fest, dass »66 Prozent der Befragten in den vergangenen sechs Monaten zumindest einmal Mitschüler geschlagen hatten, 13 Prozent gaben ein Raub- oder Erpressungsdelikt zu, acht Prozent hatten bereits einmal mit Messer oder Pistole gedroht«.4

2015 wurden insgesamt 1.621 Kinder Opfer eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung. Der Anteil der Jungen überwiegt dabei mit 78,5 Prozent gegenüber 21,5 Prozent Mädchen. Bei den 4.756 jugendlichen Opfern stehen 3.971 männliche Opfer 785 weiblichen gegenüber.5 An gleicher Stelle gibt die Polizei an, dass die Zahl tatverdächtiger Jugendlicher (von 14 bis unter 18 Jahre) zwischen 2014 und 2015 um 14,5 Prozent gestiegen sei.

Nicht dabei berücksichtigt sind die Fälle extremer Gewalt wie z. B. Amokläufe oder sog. school-shootings. Obwohl diese im Vergleich mit anderen Taten recht selten sind (ca. 4–5 pro Jahr weltweit), stehen sie aufgrund ihrer großen Brutalität und Unvorhersehbarkeit immer im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Und gerade am Beispiel von Amokläufen zeigt sich der vermeintliche Zusammenhang zwischen Amok, Gewalt und den Medien.

In der Forsa-Umfrage nach dem Amoklauf von Emsdetten gaben 72% der befragten Personen an, dass sie sog. »Killerspiele« für die zunehmende Gewalt an Schulen mitverantwortlich machten (image Abb. 1.1). Ähnliche Ergebnisse gab es auf die Fragen, ob die Waffengesetze verschärft werden sollten (72% Zustimmung) und ob

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Abb. 1.1: Sind Killerspiele für die zunehmende Gewalt an Schulen verantwortlich?

gewaltverherrlichende Spiele verboten werden müssten (69% Zustimmung).6 In der »naiven« Öffentlichkeit (und auch in der Politik) wird also ein sehr starker Zusammenhang zwischen Medien und Gewalt gesehen. In der Wissenschaft wird die Beziehung zwischen diesen beiden Komponenten allerdings weitaus differenzierter betrachtet. Es gibt nicht den direkten, universellen und unmittelbaren Einfluss von Mediengewalt auf Amokläufe oder andere Gewalttaten, vielmehr muss es bestimmte Umstände geben, die zusammentreffen müssen, um relevant zu werden. Genau diese Zusammenhänge werden im Beitrag »Gewalt, Amok und die Medien« näher beleuchtet. Dort wird ausgeführt, dass Gewaltmedien, insbesondere Gewaltspiele, eine katalytische Wirkung auf bereits vorhandene aggressive Persönlichkeiten haben können, wobei das auch stark von der Dauer und Intensität des Medienkonsums abhängt. Hierbei ist auch relevant, wie gut Medienkompetenz in der Erziehung vermittelt wird. Schon seit längerem bemerken Lehrer, dass Defizite, die in der familiären Erziehung zu finden sind, in der Schule aufgearbeitet und ausgeglichen werden müssten. In einer Umfrage des Instituts Allensbach von 2017 glaubten 65% der Befragten ab 16 Jahren, dass die Familie nicht mehr genügend Einfluss auf die Kinder hat. Wer also soll den Einfluss haben? Die Schule besitzt nach dieser Umfrage nur noch 5% Einfluss, so dass eine große Rolle den Medien (56%) bzw. der Peergroup (44%) zukommt.

Wir möchten uns deshalb in diesem Band mit genau diesen Themen und Personengruppen etwas näher befassen.

In einem ersten Themenblock geht es um Fragen der Entstehung von Gewalt und deren Präventionsmöglichkeiten im Rahmen der Schule. Hierzu beschreibt Christoph Paulus zunächst das sog. »General Aggression Model«, in dem die mögliche Wirkung des dauerhaften Medienkonsums auf die Persönlichkeit eines Menschen theoretisch erläutert wird und die Zusammenhänge zu Amokläufen aufgeführt werden. Danach befasst sich der gleiche Autor im darauffolgenden Kapitel konkret mit den Phänomenen Mobbing und Amok und deren vermeintlichem Zusammenhang. Anhand von empirischen Daten wird gezeigt werden, dass es keinen direkten Einfluss von Mobbing auf Amok gibt und woher diese Fehlannahme kommt. Dabei werden die beiden Phänomene Mobbing und Amok kurz beschrieben und dabei die Unterschiede herausgearbeitet. Es werden kurz Interventionsmöglichkeiten angedeutet werden, um damit auf die folgenden Beiträge überzuleiten.

Wenn schwere Krisen wie z. B. Amokdrohungen in Schulen entstehen, kommt immer auch die Polizei ins Spiel. Aus deren Sicht beschreibt Michael Rupp die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Schule und wie funktionierende Netzwerke aufgebaut werden können. Dabei werden u. a. die Aufgaben der Polizei nach der PDV 100 beschrieben, Aufbau und Pflege von Netzwerken (Schule, Schoolworker, schulpsychologischer Dienst, Jugendamt, Polizei) geschildert, die Problematik Informations- und Datenschutz konkretisiert sowie die Mitwirkung an der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften (z. B. Teilnahme an pädagogischen Tagen zum Thema Amok oder Mobbing) aus eigener Erfahrung erläutert.

In Abgrenzung zu anderen Präventionsprogrammen wird im Beitrag von Nora Fiedler, Friederike Sommer, Vincenz Leuschner und Herbert Scheithauer über das Programm NETWASS (Network against school-shootings) keine direkte Beurteilung der Gefährlichkeit einer Person mittels einfacher Risikoeinschätzungen vorgenommen. Vielmehr werden betroffene Personen, wie das pädagogische Schulpersonal, befähigt, im Rahmen des installierten Krisenpräventionsteams einen systematischen und interaktiven Prozess zu gestalten, in dem Kinder und Jugendliche in Krisensituationen frühzeitig identifiziert und breit gefächerte Informationen zu ihnen eingeholt werden. Im Vordergrund steht somit ein Ansatz, bei dem das soziale Netzwerksystem befähigt wird, möglichst frühzeitig erste Anzeichen bei Schülern zu erkennen, die auf psychosoziale Notlagen hindeuten können. Auf diese Weise sollen langfristig Schüler und Schulpersonal vor schwerer zielgerichteter Schulgewalt geschützt werden. Durch die indizierte Verbesserung des Umgangs mit ersten Hinweisen auf fehlangepasste Entwicklungstendenzen und Bedrohungen soll zudem die objektive und subjektive Sicherheitslage an deutschen Schulen verbessert werden, so dass Schule als sicherer Ort erlebt und gelebt werden kann.

Eine weitere Möglichkeit für Schule und Lehrer, sich den genannten Herausforderungen zu stellen, ist die Ausbildung von Krisenteams, wie sie im Beitrag von Nadine Nagel und Günter Dörr beschrieben wird. Zur Prävention und Bewältigung von Krisensituationen wird in den Notfallplänen für saarländische Schulen die Etablierung schuleigener Krisenteams empfohlen. Diese Empfehlung knüpft an entsprechende Fortbildungsangebote für das pädagogische Personal an: Benötigt wird mehr Handlungssicherheit im Erkennen und Bewältigen von krisenhaften Situationen oder im Umgang mit bedrohlichen Verhaltensweisen. Ziele dieser Qualifizierung sind die Etablierung des Krisenteams in die schuleigenen Strukturen, die Förderung der Handlungskompetenz im Umgang mit schulischen Krisen sowie die Bündelung psychologischer, pädagogischer und polizeilicher Kompetenzen in einem Netzwerkansatz.

Zum Abschluss des ersten Themenblockes stellt Uwe Henrichs in seinem Beitrag dar, wie der Alltag in Erweiterten Realschulen im Saarland aus der Sicht eines schoolworkers aussieht. Probleme schulischer, persönlicher oder familiärer Art, psychosoziale Probleme, Schulverweigerung, Inklusion, der Übergang Schule–Beruf sowie Gewalt. In unterschiedlicher Gewichtung tendieren diese dazu, einen Schultag zu dominieren, wenn konsequente Reaktionen darauf ausbleiben. Für die Schulsozialarbeit nimmt der »Klassiker« Gewalt einen besonders hohen Stellenwert ein, da er ca. 50% ihrer Arbeit ausfüllt, und welch ein Lehrer bekommt die beruflichen Belastungen durch dieses Thema nicht zu spüren? Gefragt sind Methoden/Möglichkeiten, was man gegen Gewalt in Schulen unternehmen und wer etwas tun kann. Die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen im sozialen, technologischen und politischen Bereich erfasst nach wie vor besonders den schulischen Alltag. In der Alltagspraxis sind Lehrer und Schulsozialarbeiter betroffen, den Herausforderungen adäquat und nachhaltig zu begegnen. Im Beitrag werden abschließend niederschwellig in der Schule umsetzbare Sozialtrainings zur Gewaltprävention vorgestellt.

Wie bereits gezeigt, haben die Medien einen sehr starken Anteil an der Entwicklung der Jugendlichen, weshalb wir uns im zweiten Themenblock dem Aspekt der Medienwirkung verstärkt widmen möchten. Wie genau gewalthaltige Medieninhalte auf Jugendliche wirken, beschreibt Karin Bickelmann in ihrem Beitrag. Die Auswahl von Medieninhalten hat immer etwas mit der eigenen Sozialisation und dem individuellen Umfeld zu tun. Wenn mir Gewalt aus meinem nahen Umfeld vertraut ist und/oder sie nicht reglementiert wird, wähle ich entsprechende Medieninhalte aus, die mit meinem Umfeld korrespondieren. Diese vermeintliche Realitätsübertragung führt zur Bestätigung einer »gewaltzentrierten« Selbst- und Umfeldeinschätzung. Gewalthaltige Medieninhalte führen zusätzlich neue Muster vor, die insbesondere von entsprechend prädisponierten/sozialisierten Heranwachsenden adaptiert und nachgeahmt werden. Die mit Ausübung von Gewalt oft einhergehende oder daraus folgende Isolation führt wiederum zur gesteigerten Zuwendung zu Medien – natürlich mit gewalthaltigen Inhalten. Es entsteht eine »Spirale«, die aber an vielen Stellen von außen (eher nicht von innen) z. B. von päd. Fachkräften auf unterschiedliche Art durchbrochen werden kann.

Den Abschluss dieses Bandes bildet der Beitrag von Constanze Reder, sie beleuchtet die Frage »Was tun Nutzer mit Medien, wie funktionieren Handlungspraktiken? Gibt es ein kollektives Medienhandeln?« Viele Gewalttäter setzen ihre Vorhaben gezielt selbst medial in Szene, z. B. in Form von privaten Handyvideos und -fotos und deren Verbreitung im Internet. Dadurch werden also nicht nur Medien an sich, sondern auch das Medienhandeln des »Kollektivs« (Stichpunkt Dark Net, aber auch Chats, Foren etc.) von den Tätern manipuliert, gesteuert und teilweise sogar genau einkalkuliert. Anhand aktueller Beispiele wird in diesem Beitrag das sog. Leaking angesprochen und nach (medien-)pädgogischen Aufgaben in diesem Zusammenhang gefragt. Als mündige und kritische Medienrezipienten müssen Jugendliche Instrumente an die Hand bekommen, Videos, Fotos und (Live-)Aufzeichnungen richtig zu bewerten, Unterhaltung von ernstzunehmenden Straftat-Aufzeichnungen zu unterscheiden sowie Rechtsverstöße zu identifizieren und dementsprechend zu (be-)handeln. Nur so ist eine souveräne Reaktion als Selbstschutz- und Selbstverteidigungsmaßnahme gegen solche Erfahrungen im Netz möglich und nur so kann dem wachsenden Eindruck, das Internet biete rechtsfreie Zonen, Einhalt geboten werden. Es werden sowohl konzeptionelle wie auch praxisorientierte Maßnahmen vorgestellt und diskutiert, wobei der Schwerpunkt auf Erläuterungen der Bedeutung von Medienkritik als Teil von Medienkompetenz und der Darstellung von Möglichkeiten zur Förderung von Medienkritik gelegt werden.

1     https://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2017/05/gewalt-an-berliner-schulen-nimmt-seit-jahren-zu.html

2     http://www.berliner-zeitung.de/25129376

3     http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gangsterlaeufer/203562/zahlen-und-fakten?p=all

4     https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/AggressionDelinquenzJugendliche/aggression-Jugendliche.html

5     http://www.polizei-beratung.de/themen-und-tipps/jugendkriminalitaet/opfer-von-eigentumsdelikten/ fakten.html

6     https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4869/umfrage/konsequenzen-aus-amoklauf-von-winnenden/

 

 

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Gewalt, Amok und die Medien

Christoph Paulus

Insbesondere die Medien als Einflussfaktor im Kontext Gewalt stehen immer wieder im Fokus der Aufmerksamkeit, gerade dann, wenn ein besonderes Ereignis wie z. B. ein Amoklauf stattgefunden hat. Gebetsmühlenartig wird dann sofort nach einer Verschärfung des Waffengesetzes und einem Verbot von Gewaltspielen verlangt. Warum eigentlich? Man geht naiverweise davon aus, dass Verbote von Waffenbesitz bzw. von Gewaltspielen Amokläufe verhindern können bzw. dass zumindest Gewaltspiele als Hauptursache für aggressive Handlungen gesehen werden. Beides ist aber falsch. Natürlich muss man feststellen, dass der Zugang zu gewalthaltigen Inhalten insbesondere im Internet gerade für Jugendliche immer leichter wird und dass das aus erziehungswissenschaftlicher Sicht keine wünschenswerte Entwicklung darstellt. Bedenkt man, dass Webseiten wie z. B. 4chan.org lediglich eine »formelle« Altersprüfung verlangen (man muss einfach bestätigen, dass man alt genug ist, den Inhalt – u. a. Videos mit expliziten Tötungs- und Verletzungsinhalten, pornografische Kurzvideos etc. – anzuschauen), dann bedeutet das nicht wirklich einen Jugendschutz, wie er vom Gesetz her vorgesehen ist. Natürlich ergibt sich daraus folgend die Frage, ob es nicht andererseits Sache der Eltern ist, den Medienkonsum ihrer Kinder zu kontrollieren oder den Kindern selbst sog. Medienkompetenz zu vermitteln? Aber gerade in problematischen familiären Kontexten findet man beides kaum, wie dies auch z. B. Uwe Henrichs in seinem Beitrag erwähnt. Die Unterscheidung zwischen Spiel und Realität ist dabei ein sehr wichtiges Argument im Sinne einer Jugendgefährdung.

Dass es einen Zusammenhang (statistisch gesprochen eine »Korrelation«) zwischen häufigem Anschauen oder Spielen von Gewaltmedien gibt, ist unbestritten. Eine Korrelation beschreibt aber nur einen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen, jedoch nicht eine Wirkrichtung im Sinne von: »Weil jemand Gewaltspiele spielt, wird er aggressiv« (s. dazu Paulus, 2006). Die in vielen Studien nachgewiesenen Effekte zwischen Gewaltspielen und Aggression sind zwar vorhanden, aber nicht sehr hoch; sie liegen im Allgemeinen zwischen 0,14 bis 0,30 (Anderson et al., 2010; Witthöft et al., 2012). Es gibt aber auch Studien, die versuchen, genau diese Wirkungsrichtung experimentell aufzuzeigen. Dazu werden üblicherweise Probanden dazu angehalten, eine kurze Zeit lang gewalthaltige und gewaltfreie Videospiele zu spielen, wobei während des Spiels und/oder anschließend Indikatoren für Aggression (z. B. physiologische Erregung oder Aggressionsbereitschaft) gemessen werden (z. B. Kirsh & Mounts, 2007; Anderson & Dill, 2000; Baldaro et al., 2004; Carnagey, Anderson & Bushman, 2007; Funk, Buchman, Jenks & Bechtoldt, 2003; Giumetti & Markey, 2007). Die hierbei beobachteten Effekte zeigen mehr oder weniger deutliche Anstiege in allen Bereichen: Im sogenannten Wolfenstein-Experiment von Anderson & Dill (2000) spielten 210 College-Studenten (104 Frauen, 106 Männer) entweder das gewalthaltige Spiel Wolfenstein 3D oder das gewaltfreie Rätsel-Abenteuer-Spiel Myst. Nach 15 Minuten Spieldauer wurde die Erregung der Testpersonen mittels eines Fragebogens geprüft. Weitere 15 Minuten später absolvierten die Probanden einen kognitiven Reaktionstest, in dem sie 192 aggressionsgeladene und neutrale Wörter so schnell wie möglich vom Bildschirm ablesen mussten. Die Wörter mit aggressiver Bedeutung wurden von den Wolfenstein-Spielern signifikant schneller erkannt und gelesen; die Wolfenstein-Spieler schlugen im Schnitt 17% heftiger zurück als ihre Myst-Kollegen, und sie ließen sich auch leichter provozieren. Man fand als Fazit heraus, dass Gewaltspiele die kurzfristige Aggressivität im Denken und Verhalten der Testpersonen erhöhen. Fast nie wurden in diesen Studien längerfristige Effekte untersucht. So konnten Frindte & Obwexer (2003) zeigen, dass das kurzfristige Spielen gewalthaltiger Computerspiele nicht linear-kausal zu höheren aggressiven Neigungen führte.

Allen Argumenten, die für einen gefährlichen Einfluss von Gewaltspielen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen genannt werden, liegt i. d. R. das General Aggression Model (GAM) von Anderson & Bushman (2002) zugrunde, das beschreibt, welchen steigernden Einfluss das wiederholte, andauernde Spielen von Gewaltspielen auf die Persönlichkeit von Menschen haben kann (image Abb. 2.1).

»Die wiederholte langfristige Nutzung gewalthaltiger Bildschirmspiele kann nach dem GAM zur Entwicklung, Festigung und Automatisierung von aggressionsbegünstigenden Wissensstrukturen (Skripten und Schemata) und zu Habitualisierungseffekten führen, die eine Veränderungen in Richtung einer aggressiven Persönlichkeit zur Folge haben. Regelmäßige Nutzer gewalthaltiger Bildschirmspiele können demnach in ihren Einstellungen, Erwartungen und in ihren Verhaltensweisen aggressiver werden.« (Witthöft et al., 2012)

Das GAM stellt also ein Modell dar, in dem beschrieben wird, welche Folgen das wiederholte Nutzen gewalthaltiger Bildschirmspiele auf Überzeugungen, Wahrnehmungs- und Erwartungsschemata sowie aggressive Verhaltensskripte und die Desensibilisierung bzgl. aggressiver Hinweisreize haben kann. Diese Faktoren zusammengenommen

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Abb. 2.1: Das General Aggression Model (GAM): Kurz- und Langzeiteffekte von Bildschirmspielen mit hohem Gewaltgehalt (modifiziert nach Anderson & Bushman, 2002)

können nach dem GAM zu einer Zunahme aggressiver Persönlichkeitsmerkmale führen. Hierbei wird oft vergessen, dass das GAM keine unbedingte und zwingende Wirkrichtung vorhersagt, sondern nur von einer Möglichkeit spricht. Dazu wird in den Beschreibungen auch immer nur von einer möglichen Beeinflussung der Persönlichkeit gesprochen (die negativen Folgen »können« auftreten, müssen aber nicht unbedingt), denn wenn dem so wäre, würden ja alle jugendlichen Spieler von Gewaltspielen automatisch und unbedingt zu aggressiven Persönlichkeiten heranwachsen, was aber natürlich nicht der Fall ist. Es muss also Kriterien und Bedingungen geben, die zutreffen müssen, damit eine schädigende Wirkung überhaupt erst zu erwarten ist.

Das GAM geht von andauerndem Gewaltkonsum aus, kurzfristige Erregungssteigerungen beim Spielen sind nicht bedeutsam, diese gibt es auch bei Autorennen oder Fußballspielen (FIFA), wie wir bereits oben beschrieben haben. Es wäre auch naiv anzunehmen, dass eine Änderung der Persönlichkeit allein durch das gelegentliche Spielen eines Spiels, sei es gewalthaltig oder nicht, zustande käme. Dafür ist die menschliche Persönlichkeit viel zu änderungsresistent und normalerweise darauf bedacht, eigene Vorstellungen und Sichtweisen beizubehalten (Konsonanz vs. Dissonanz). Die Autoren des GAM benutzen deshalb auch explizit dem Terminus »repeated violent game playing«. Gentile & Gentile (2008) haben zeigen können, dass nur eine fast tägliche Nutzung von Gewaltspielen im Umfang von mehreren Stunden zu einer Erhöhung der Feindseligkeit führen und insofern körperliche Aggression begünstigen kann. Eine kürze oder seltenere Spieldauer hat dagegen keinen schädlichen Einfluss.

Die Grundlage des GAM liegt in der Theorie von Albert Bandura (1973), nach der beobachtetes Verhalten unter bestimmten Bedingungen durch Imitation, also Nachmachen oder Übernehmen, erlernt werden kann. Dies geschieht nicht automatisch, sondern nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: So muss das Modell oder Vorbild, dessen Verhalten übernommen werden soll, für den Zuschauer attraktiv sein und im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, es muss Ähnlichkeit zum Zuschauer besitzen und muss mit seinem Verhalten auch erfolgreich sein. Zudem muss der Zuschauer theoretisch in der Lage sein, das Verhalten auch selbst ausführen zu können. Unter diesen Bedingungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, beobachtetes Verhalten, wie z. B. Konflikte mit Gewalt zu lösen, zu übernehmen. Hat man dann mit dieser Handlung ebenfalls Erfolg, so wird diese Handlungsstrategie verfestigt und beim nächsten Mal wieder angewandt.

Obwohl viele dieser Bedingungen beim Spielen von Gewaltspielen zutreffen, bedeutet das aber nicht, dass jeder jugendliche Spieler sofort durch das Spielen dauerhaft aggressiver wird, wie eben fälschlicherweise häufig angenommen. Insbesondere der Punkt der Aufmerksamkeit unterscheidet hierbei, ob Gewaltspiele einen schädlichen Einfluss haben können oder nicht. Aggressives Verhalten ist nicht nur als gelerntes Verhalten zu betrachten, sondern die Lerneffekte, die unzweifelhaft bestehen, dürfen nicht ohne angeborene Aspekte der Persönlichkeit betrachtet werden. Eine Sicht auf die reine Lernebene würde eine zu unidirektionale Wirkweise implizieren. Insbesondere die Studien von Albert Bandura beruhen u. a. darauf, dass das Modell, von dem Verhalten durch Beobachtung gelernt wird, als attraktiv im Sinne der Aufmerksamkeit angesehen wird und dass dessen aggressives Verhalten belohnt wird. Ein Modell, das wirklich aggressives Verhalten (Töten, Verletzen oder Verstümmeln) zeigt, ist aber nur für schon von der Veranlagung her aggressivere Persönlichkeiten interessant. Zudem muss man feststellen, dass eine Verstärkung von Eigenschaften nur dann auftreten kann, wenn diese Eigenschaften bereits vorliegen.

Es gibt zu dieser Thematik aber auch einige frühe Studien (z. B. Grusec et al., 1979; Hicks, 1968), die gezeigt haben, dass Erwachsene durch ihre Kritik am dargestellten aggressiven Verhalten die Imitationswahrscheinlichkeit bei ihren Kindern reduzieren können.

Allgemein geht man, wie oben beschrieben, in der Forschung davon aus, dass der Konsum von Gewaltmedien (Filme, Spiele etc.) als Einflussfaktor oder auch Katalysator für die individuelle Aggressionsentwicklung angesehen werden sollte. Aber es gibt neuerdings auch einen anderen Gesichtspunkt, den man betrachten sollte, nämlich den, dass bestimmte Gewalttaten stattfinden, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erreichen. Fast alle Amokläufer der neueren Zeit streben nach größtmöglicher Aufmerksamkeit und Beachtung ihrer Person und das geschieht im Idealfall über eine umfangreiche Medienberichterstattung über ihre Taten. So gibt es die Aussage eines Amokläufers, der über einen anderen Täter gesagt hat, »seine Taten als solche seien gut gewesen, nur seine Pressearbeit war schlecht«. Oder man denke an Marcel H., der sich 2017 während seiner Morde selbst fotografiert hat und Fotos mit der Tatwaffe in seinen blutverschmierten Händen auf einer öffentlichen Chatplattform gepostet hat, um kurzfristige Aufmerksamkeit zu erzielen. Medien können also nicht nur eine mögliche Ursache für aggressives Handeln sein, sie können auch das mittelbare Ziel für Gewalttaten sein.

Amokläufer aus neuer Zeit spielen nachweislich Gewaltspiele und konsumieren schon im Alter von 13–14 Jahren Filme und Spiele »ab 18«. Bei Robert Steinhäuser wurden eine Vielzahl von Computerspielen aufgefunden, z. B. »Return to Castle Wolfenstein«, »Unreal 2«, »Hidden«, »Half-Life«, »Undying«, »Die Hard«, »Gothic«, »Hitman«, »Quake III Arena« und »Quake III Team Arena«, »Medal of Honour« und »Soldier of Fortune«. (…) Counterstrike hat Robert Steinhäuser nach den Angaben seines zuletzt Freundes B deshalb nicht gespielt, weil es brutalere Spiele, wie z. B. ›Soldier of Fortune‹ gegeben habe.«7 Das tun aber die meisten jungen Erwachsenen in dieser Altersgruppe auch. Deshalb darf die Ursache für Amokläufe nicht in den Gewaltspielen alleine gesucht werden, sondern man muss auf dahinterstehende Zusammenhänge schauen. Beim Großteil der Spieler steht aber, trotz aller Faszination für das »Ballern« mit fiktiven Waffen in »Ballerspielen«, letztlich der Problemlösecharakter des Spieles im Vordergrund. Diese Spiele funktionieren immer nach dem gleichen Schema: Der Spieler startet an Punkt A und muss Punkt B (danach die Punkte C, D usw.) erreichen. Dazwischen gibt es viele Hindernisse in Form geografischer Besonderheiten (Täler, Flüsse oder Berge, die nicht direkt überwunden werden können) und menschliche oder auch nicht-menschliche Gegner, die den Spieler an der Erreichung des Zwischenziels hindern wollen. Dazu besitzt er eine Zahl von meistens endlichen Ressourcen (u. a. Waffen und auch »Gesundheit«), die geschickt eingesetzt werden müssen, damit das Ziel erreicht werden kann. Die meisten Computerspieler versuchen jetzt, ohne dies tatsächlich genau zu wissen, diese Ziele A, B, C usw. durch einen sparsamen Einsatz der Ressourcen zu erreichen, wobei das Schießen und »Töten« von Gegnern lediglich den Unterhaltungs- und Spannungseffekt erhöht. Die zentrale Aufmerksamkeit ist allerdings auf die Problemlösung gerichtet. Amokläufer dagegen besitzen ein verstärktes Interesse an Gewalt und Waffen, das über das »normale« hinausgeht. Dadurch erhalten die Gewaltaspekte in Computerspielen ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit und werden zum zentralen Inhalt des Spielens. Das Ausleben von Gewalt in Spielen generell (PC, Airsoft usw.) stärkt das Selbstwertgefühl der späteren Täter, die sich im realen Leben von der Umwelt gedemütigt und nicht anerkannt fühlen und häufige Misserfolgs- und Frustrationserlebnisse erfahren. In seiner Fantasie wird der schwache Junge damit zum heldenhaften Rächer. Auffallend ist die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Männlichkeit, Macht und Überlegenheit bei gleichzeitiger Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen und Anstrengungen.

Spätere Amokläufer kannten sich alle gut mit Waffen, Kalibern und Munition aus, denn Waffen waren häufig im Elternhaus vorhanden, der Umgang damit war ihnen vertraut. Die hohe Treffsicherheit und bevorzugte Zielregion (Kopf, Oberkörper) stammt entweder aus Training oder aus Erfahrungen mit Egoshootern. Hier zeigen sich dann tatsächlich Effekte des dauerhaften Spielens von Gewaltspielen; diese sind im weiteren Umfeld der Täter auch in der Hinsicht sichtbar. Täter trugen meist schwarze Kleidung oder Uniformen und besaßen häufig Gewalt- und Rachefantasien und Interesse an Rächerfiguren in Filmen. Es gibt mehrere selbstgedrehte Videos der Täter über sich selbst mit Kämpferoutfit und Waffen, allgemein besaßen sie eine Vorliebe für schwarze Farbe als Sinnbild für Tod, Gewalt oder Revolution.

In der Studie von Paulus (2017) spielten mit 62,5% der jugendlichen Amokläufer nur knapp 2/3 der Täter Gewaltspiele, und es gab bereits Amokläufe, als es noch gar keine Gewaltspiele gab. Gemäß dem General Aggression Model treten diese Veränderungen der bereits latent vorhandenen aggressiven Persönlichkeit der Täter durch den dauerhaften und vor allem unreflektierten Umgang mit Gewaltspielen zu Tage. Es geht also ganz klar nicht um monokausale Wirkung von Gewaltspielen (behauptet in der Wissenschaft niemand ernsthaft!); relevant ist die Frage, welche Charaktere gezielt Gewaltmedien aufsuchen und sich damit befassen. Mediale Gewalt ist damit ein Risikofaktor, der (nur) unter bestimmten Umständen als Verstärker der eigenen Aggressivität wirken kann.

7     Aus dem Bericht der Kommission »Gutenberg-Gymnasium« des Freistaates Thüringen vom 19.4.04

 

 

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Mobbing und Amok: Eine Gegenüberstellung zweier Konzepte

Christoph Paulus

3.1        Begriffsdefinitionen sind wichtig

Wenn man über Mobbing bzw. Amok spricht, so empfiehlt es sich dringend, zunächst die beiden Begriffe zu definieren, denn beides wird in der Öffentlichkeit und den Medien durchaus inflationär gebraucht. Sehr schnell wird bei Streitereien von »Mobbing« und bei Gewalttaten eines Einzelnen, die sich gegen Unbeteiligte richten, von »Amoklauf« gesprochen mit der Konsequenz, dass Annahmen und Verallgemeinerungen entstehen, denen die tatsächliche theoretische Basis fehlt.

Für die Beschreibung von Mobbing werden in der Literatur vier grundlegende Bedingungen formuliert, die anlehnend an die Arbeiten von Dan Olweus (1994) immer und gleichzeitig vorliegen müssen (vgl. Jannan, 2014, S. 22):

•  Es muss ein Kräfteungleichwicht zwischen dem Opfer und dem oder den Tätern vorliegen. Das kann sich auf die Zahl der Beteiligten beziehen oder auf physische oder psychische Überlegenheit. Mobbing wird deshalb auch häufig als Missbrauch sozialer Macht bezeichnet.

•  Die Übergriffe müssen regelmäßig stattfinden, d. h. mindestens ein- bis dreimal pro Woche.

•  Sie müssen andauernd stattfinden, mindestens mehrere Wochen lang. »Ein Konflikt, der erst seit einer Woche besteht, kann kein Mobbing sein« (ebd.).

•  Das Opfer ist nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft aus der Situation zu befreien; egal, was die Person tut, es führt zu keinem Erfolg und evtl. sogar zu Verschlimmerung der Situation.

Aus meiner Erfahrung möchte ich noch eine 5. Kategorie hinzufügen, nämlich dass es überhaupt ein Opfer gibt. Das ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es kann Situationen geben, in denen alle vier oben genannten Kriterien auftreten, die »schikanierte« Person dieses aber nicht als »Schikane« empfindet. Bei Mobbing entscheidet also letztlich das Opfer selbst darüber, ob Mobbing vorliegt (unter der Bedingung, dass alle anderen Bedingungen auch vorhanden sind). Hierbei ist allerdings Vorsicht geboten, denn oftmals wird nur dieses letzte Kriterium gesehen oder gehört, wenn jemand davon spricht, »gemobbt zu werden«, ohne die anderen vier zu überprüfen.

Ein ähnliches Missverständnis durch vorschnellen Gebrauch bei fehlender theoretischer Fundierung kann beim Begriff »Amok« vorkommen. Amok stammt aus dem Malaysischen und bedeutet so viel wie »Wut« oder »in blinder Wut angreifen«. Diese eigentlich recht einfache Definition besagt, dass die Motivation des Täters für seine Tat eine vorhandene Wut auf irgendetwas oder jemanden sein muss. Hierbei besteht die Gefahr, dass nach außen ähnlich aussehende Taten wie z. B. Terror oder Massenmorde (ein Täter mit vielen unspezifischen Opfern) in einen Topf geworfen werden und deshalb die Sachlage unklar wird. Insbesondere Terrorakte, die in der Regel religiös oder politisch motiviert sind, werden sehr schnell in der Presse als »Amoklauf« dargestellt, obwohl das Hauptmotiv »Wut« nicht vorhanden ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tat von Anders Breivik8, der am 22.7.2011 in Oslo und später auf der Insel Utøya auf Teilnehmer am Zeltlager der Jugendorganisation »AUF« der sozialdemokratischen Arbeiterpartei schoss und dabei insgesamt 77 Menschen umbrachte. Sehr schnell wurde hier von Amoklauf gesprochen, obwohl später klar wurde, dass seine Taten einen ideologisch-politischen Hintergrund hatten und insofern als Massenmord klassifiziert werden müssen (was inzwischen im zitierten Wikipedia-Artikel auch der Fall ist). Für polizeiliche Einsätze ist dies natürlich zunächst nur zweitrangig, weil sich die akute Sachlage als gleichwertig darstellt und deshalb in Polizeikreisen auch von »Amok/TE«(rror)-Einsätzen gesprochen wird.

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