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Birgit Hummler, Jahrgang 1953, ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt heute in Breisach am Rhein. Sie hat Sprach- und Literaturwissenschaften (Deutsch und Russisch) sowie Journalistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Ihre Laufbahn als Journalistin führte sie bald zu Themen aus der Arbeits- und Wirtschaftswelt, in der es manchmal mörderisch zugeht. Ihr Krimidebüt »Stahlbeton« wurde 2011 mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet. »Dieselschwaden« ist ihr vierter Krimi im Silberburg-Verlag.

BIRGIT HUMMLER

Dieselschwaden

Baden-Württemberg-Krimi

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1. Auflage 2018

© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Satz:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Africa Studio – Shutterstock.

Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Druck: CPI books, Leck.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-8425-2113-1

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Inhalt

Samstag, 9. April

Sonntag, 10. April

Montag, 11. April

Dienstag, 12. April

Mittwoch, 13. April

Donnerstag, 14. April

Freitag, 15. April

Wochenende, 16. und 17. April

Montag, 18. April

Dienstag, 19. April

Mittwoch und Donnerstag, 20. und 21. April

Freitag, 22. April

Wochenende, 23. und 24. April

Montag, 25. April

Dienstag, 26. April

Mittwoch, 27. April

Donnerstag und Freitag, 28. und 29. April

Samstag, 30. April

Sonntag, 1. Mai

Montag, 2. Mai

Dienstag, 3. Mai

Mittwoch, 4. Mai

Donnerstag, 5. Mai. Christi Himmelfahrt

Freitag, 6. Mai

Samstag, 7. Mai

Sonntag, 8. Mai

Montag, 9. Mai

Dienstag, 10. Mai

Mittwoch, 11. Mai

Donnerstag, 12. Mai

Freitag, 13. Mai

Samstag und Sonntag, 14. und 15. Mai

Dienstag, 17. Mai

Mittwoch, 18. Mai

Donnerstag, 19. Mai

Freitag, 20. Mai

Wochenende, 21. und 22. Mai

Sommer und Herbst

Alena

Sie wusste es sofort. Es war ihr beim ersten Blick klar. Ludmilla lag da, mit verrenkten Gliedern, die Augen geöffnet, leblos. Das Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld. Die wenigen Habseligkeiten, die Kleider, die Bücher, die Briefe – alles war herausgerissen und auf den Boden geworfen worden.

Einen Moment stand sie nur da, starr vor Entsetzen. Dann schaltete ihr Gehirn um, in einen Zustand dumpfer Besinnungslosigkeit.

Die Tür blieb weit geöffnet stehen. Sie wandte ihren Blick ab und kauerte sich auf dem Flur zusammen. Sie saß da, und wie hinter einem dichten Schleier zogen die Bilder an ihr vorbei: Frauen, die in die Küche gingen und etwas zu essen holten, andere, die im Badezimmer herumfuhrwerkten, um dann wie die anderen in ihren Zimmern zu verschwinden. Frauen, die einen kurzen Blick in das Zimmer warfen, um sich sofort wieder abzuwenden – das ging sie ja alles nichts an.

Nur Mirena berührte sie kurz an der Schulter und sah sie besorgt an. Kurz warf auch sie einen Blick in den verwüsteten Raum, jammerte etwas in ihrer Sprache und zog sich dann in ihr Zimmer zurück.

Wie im Tran bekam sie mit, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.

»Hey, ihr! Sind schon alle in ihren Fallen, oder wie?« Die hohe, unangenehme Stimme von Fabiola schallte durch den Flur. »Kundschaft. Da muss noch mal jemand ran! Und was ist mit dir?«, herrschte sie das Häufchen Elend an, das auf dem Flur zusammengekauert saß, die Arme um den Kopf geschlungen.

Die Frau mit der schrecklichen Stimme ging zu der offenen Tür und sah in das Zimmer.

»Was ist mit der los? Was ist denn hier passiert?« Fabiola machte einige Schritte in den Raum. Dann kreischte sie in noch schrilleren Frequenzen: »Oh Scheiße, ist die tot? Die ist ja tot!«

Sie stürzte aus dem Zimmer, fingerte ihr Handy aus der Manteltasche und versuchte hektisch, jemanden zu erreichen. »Oh Scheiße, warum geht der nicht ran? Was machen wir denn jetzt? Was soll ich denn jetzt machen? Lebt die noch? Was muss ich denn da wählen?« Sie hackte Zahlen in ihr Mobilgerät. »Ja, sie müssen sofort kommen. Da ist jemand … ich weiß nicht, tot oder krank oder … Sie müssen kommen … Fasanenhofstraße … Vierter Stock … Nein, ich sag Ihnen meinen Namen nicht.« Panisch beendete sie das Gespräch. »Oh Scheiße, was soll ich denn jetzt machen? Und du, was tust du da? Hast du irgendwas mitgekriegt?«, herrschte sie das menschliche Bündel auf dem Flurboden an.

Als keine Reaktion kam, meinte sie nur: »Ich bin hier dann mal weg«, verließ fluchtartig die Wohnung und schlug die Wohnungstür mit Schwung hinter sich zu.

Wie lange sie saß, konnte sie nicht sagen. Dass sie fröstelte, spürte sie nicht. Irgendwann klingelte es Sturm an der Haustür. Sie hatte nicht die Kraft aufzustehen. Eine der anderen Frauen öffnete schließlich fluchend die Wohnungstür.

Samstag, 9. April

1

»Luca!«

Der Chef war mega-mies drauf. Luca hatte gerade die Bürotür hinter sich geschlossen, als Bialas sie wieder aufriss.

»In fünf Minuten in meinem Büro«, polterte er im Befehlston, drehte sofort wieder ab und hätte Pia, die gerade eintrudelte, fast über den Haufen gerannt.

Bialas sah finster auf seine Uhr und schnauzte Pia an: »Jetzt kommen Sie daher! Es ist zehn nach acht. Sie kommen auch sofort zu mir.«

Mann, war der scheiße drauf. Es war zehn nach acht an einem Samstagmorgen, an dem sie zum dritten Mal Sonderschicht fuhren. Pia knallte ihr Rucksäckchen auf den Schreibtisch und fauchte: »Ich beantrage meine Versetzung.«

Luca verstand sie voll und ganz. Trotzdem sagte er nichts. Er wollte Bialas nicht in Schutz nehmen, aber auch nicht in die allgemeine Chef-Beschimpfung einsteigen. Er kannte den Leiter des Dezernats für Kaptaldelikte ja nun schon einige Jahre, und der war normalerweise voll in Ordnung. Aber Pia war gerade mal drei Monate im Dezernat. Und sie hatte Andreas Bialas gleich von seiner miesesten Seite kennengelernt. Er konnte ihren Frust nachvollziehen. Aber auch Pia war gewöhnungsbedürftig, und er war sich noch nicht sicher, ob er sich mit ihr solidarisieren wollte.

Missgelaunt packten sie beide etwas Schreibzeug zusammen und gingen rüber zu Bialas’ Dienstzimmer. Auch Hanna, mit der sich der Chef das Büro teilte, schob Samstagsdienst. Sie saß am Schreibtisch, studierte aufmerksam Akten und sah sehr müde aus.

»Setzt euch«, brummte Bialas. Sie zogen sich die Besucherstühle zu seinem Schreibtisch. Er warf ihnen eine Mappe zu und meinte trocken: »Ne tote Nutte. Ihr beide übernehmt den Fall.«

Luca stellte fest, dass Hanna Bialas missbilligend ansah.

»Andreas«, meinte sie mahnend.

Hanna würde fehlen, wenn sie tatsächlich im kommenden Jahr in den Ruhestand ging, »la mamma« des Dezernats, die selbst bei dem grausamen Fall von Kindesmord, der sie alle so fertigmachte, die Nerven behielt. Die einzige, die sogar einem Andreas Bialas mal den Kopf waschen durfte.

»Na gut«, meinte Bialas. »Wahrscheinlich eine Prostituierte. Wurde heute in aller Herrgottsfrühe in einer Wohnung im Fasanenhof tot aufgefunden. Adresse steht da drin.« Er zeigte auf die Mappe mit den Anzeigeformularen.

»Der Kriminaldauerdienst ist schon dort. Die KTU auch. Ein Arzt ist unterwegs. Staatsanwaltschaft hab ich auch verständigt. Also los, fahrt da hoch.«

Das war’s dann auch schon. Bialas wedelte, als wollte er die Kollegen verscheuchen.

»Und was ist mit den Befragungen?«, wollte Luca wissen und stand auf.

Seit Tagen arbeiteten sie »Sachdienliches« aus der Bevölkerung ab. Ein Scheißjob, wie Luca fand. Der Fall des elfjährigen Jungen, der im Januar erdrosselt im Körschtal aufgefunden worden war, hatte die Bevölkerung aufgewühlt. Und je aufgewühlter, umso mehr blühte die Phantasie mancher Leute. Fast 500 Hinweise waren eingegangen, denen sie nachgehen mussten.

»Müssen wir umverteilen«, meinte Bialas mürrisch. »Ihr kümmert euch jetzt darum. Muss ja auch einer machen.«

Luca war es eigentlich ganz recht. Er hatte nach tagelangem Telefonieren manchmal das Gefühl, dass ihm gleich das Ohr abfiel. Die Anrufer regten ihn auf. Die Wortkargen, die nicht in der Lage waren, eine Beobachtung so in Worte zu fassen, dass man sich was drunter vorstellen konnte. Die Wichtigtuer, die genau zu wissen glaubten, dass sie den entscheidenden Hinweis gaben. Und die Laberer, die einen vollschwallten. Und dazwischen sollte man dann noch heraushören, ob irgendetwas von Bedeutung dabei war. Pia hielt sich ganz wacker. Aber der Job kotzte sie genauso an. Sie hatte sich die Arbeit bei den Kapitaldelikten wohl etwas anders vorgestellt. Auch sie ging lieber hinaus, wenn sie vor Ort Hinweisen folgen mussten, und sprach mit den Leuten.

Luca sah die Not der Kollegen, die enorm unter Erfolgsdruck standen und denen die Arbeit über den Kopf wuchs. Trotzdem war er froh über den neuen Fall. Er erledigte die Formalien für den Dienstwagen, bekam die Schlüssel für eine Daimler E-Klasse, eine schwerfällige Karre, mit der er und Pia sich die nächste Stunde durch den entnervenden Verkehr der Stadt quälten. Stuttgart war zu einem Hindernisparcours verkommen. Nur wegen diesem beknackten Bahnhof, den keiner brauchte.

Luca nahm von vornherein nicht den kürzeren Weg durch die Stadt, sondern fuhr über den Killesberg, vorbei an Botnang nach Vaihingen, und von dort aus rüber zum Fasanenhof. Doch diese Idee hatten auch noch andere, die sich nicht durch die Baustellen der Innenstadt hindurchzwängen wollten. Die Engpässe im Zentrum führten zu dichtem Verkehr auf den Umgehungsrouten.

»Kann ich eine rauchen?«, fragte Pia.

»Auf gar keinen Fall!«

»Ist doch nicht deine Karre.«

»Aber mein Body.«

»Ich mach’s Fenster auf.«

»Es ist auch mein Body, der dann friert.« Der April war recht kühl und wechselhaft dieses Jahr.

»Du bist echt gemein«, maulte sie.

Solche Dialoge führte man mit Pia Grampp. Luca fragte sich, wie dieses halbe Hemd mit dem schnoddrigen Mundwerk überhaupt in die Polizei aufgenommen werden konnte. Wahrscheinlich hatte sie sich beim Einstellungstest auf die Zehen gestellt. Auf die Polizeihochschule zu kommen, war mit etwas Grips und Entschlossenheit nicht das große Problem. Andreas hatte mal eine Bemerkung fallengelassen, dass sich Pias Abschlussnoten sehen lassen konnten. Aber warum man dieses aufmüpfige Wesen, das gerne Rap hörte und abgeschabte Jeans und Schlabberpullover trug, in ein Dezernat für Todesermittlungen gesteckt hatte, das konnte nur Quotengründe haben. Weiblich und jung mussten die neuen Kollegen sein, um die Statistik aufzuhübschen. Und es war ja auch kein Zustand, dass Hanna Stankowski, die die sechzig schon überschritten hatte, die einzige Frau in ihrer Abteilung war, und Luca selbst, der schnurstracks auf die vierzig zuging, immer noch als Youngster des Dezernats galt.

2

Die Dienstwagen der Kriminaltechnik und des Bereitschaftsdienstes standen vor einem langgezogenen Wohnhaustrakt mit mehreren Eingängen. Es handelte sich um ein rundumerneuertes Haus mit Betonfassade aus den sechziger Jahren, das einst als Grundstein der Siedlung Fasananenhof hochgezogen worden war. Der südlichste Trabantenstadtteil Stuttgarts galt nicht gerade als Traumwohngegend. Ursprünglich zur Zeit der Nachkriegs-Wohnungsnot für zehntausend Einwohner in Massenmenschenhaltung geplant, wohnten hier inzwischen gerade noch sechseinhalbtausend meist »sozial Benachteiligte«, vor allem Türken und Russlanddeutsche. Die modernen Hochhäuser und Wohnblocks, die erst in jüngerer Zeit hinzugekommen waren, machten den Ort nicht heimeliger. Die Monotonie der schlichten Reihenhäuser war durch die Monotonie der modernen Betonkästen abgerundet worden.

Vor dem betreffenden Hauseingang standen die obligatorischen Gaffer. Zwei Kollegen in Uniform hielten sie in Schach. Es gab Leute, die würden unbefangen in die Wohnung eines Toten stiefeln, nur um ihre Sensationssucht zu befriedigen, wenn sie nicht daran gehindert wurden.

Luca und Pia machten sich den Weg frei, indem sie ihre Ausweise zeigten. Die Kollegen schickten sie in den vierten Stock des achtstöckigen Gebäudes. Obwohl es Aufzüge gab, gingen sie in dem relativ geräumigen Treppenhaus zu Fuß nach oben. Im vierten Stock stand ein Zinksarg, daneben zwei Männer mit dem Aufdruck »RBK – Gerichtsmedizin« auf der Berufsbekleidung. Links und rechts des Treppenflurs waren schwere Durchgangstüren. Einer der beiden wies ihnen den Weg nach links. Hinter der Tür war ein langer Gang, offen zur Straße hin und nur durch eine Brüstung gesichert, sodass der Lärm der B 27 als ständiges Rauschen zu hören war. In regelmäßigen Abständen gingen davon die Wohnungstüren ab. Eine davon war geöffnet, Stimmengewirr klang heraus.

In der Wohnung ging es eng zu. In den sechziger Jahren war man nicht großzügig mit Wohnraum gewesen, als es noch darum ging, die ganzen Vertriebenen und Gastarbeiterfamilien unterzubringen. Luca erinnerte sich vage an die Altbauwohnung am Stuttgarter Nordbahnhof, in der seine Großeltern mit den jüngeren Geschwistern seines Vaters auf engem Raum gelebt hatten.

Zwei Zimmertüren standen offen. In der Küche waren drei Kollegen in weißen Overalls zugange. In einem Zimmer drängten sich die »Weißen« von der Kriminaltechnik so, dass Luca zunächst nur sah, dass es sich um einen kleinen Wohnraum mit zwei Betten und Schränken handelte. Alle anderen Türen, die von dem schmalen Gang abgingen, waren geschlossen.

Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst waren sichtlich froh, dass die Todesermittler nun übernahmen. Für sie endete damit die Nachtschicht.

»Eine Frauenleiche und jede Menge lebendige Mädels«, informierte sie einer der beiden. »Zwölf Frauen haben hier in der engen Bude gewohnt. Jetzt sind’s noch elf. Die sprechen alle so gut wie kein Deutsch. Die meisten haben bulgarische Pässe. Drei sind Rumäninnen und zwei haben keine Papiere, behaupten, die hätte der Chef, wer immer das ist.«

»Und wo sind die?«, wollte Pia wissen.

»Haben wir in ihre Zimmer gescheucht. Die waren vollkommen hysterisch und sind uns zwischen die Füße gelaufen.«

»Es sollen Prosituierte sein?«, fragte Luca.

Der Kollege nickte. »Könnt ihr mal davon ausgehen. Ein paar haben was vom Serail drüben in Echterdingen erzählt. Und die Kriegsbemalung von einigen würde dazu passen. Die kamen wohl so circa um fünf heute Morgen von der Arbeit zurück und haben die Tote gefunden.«

»Wer hat die Polizei gerufen?«

»Von denen will es keine gewesen sein. Irgendwie haben sie Schiss.«

Luca betrat das Zimmer, in das er zuvor nur einen kurzen Blick geworfen hatte. Hier herrschte ein wildes Durcheinander. Der Kleiderschrank stand weit offen. Klamotten waren herausgerissen worden und lagen verstreut auf dem Boden. Aus der Schublade eines kleinen Nachtkästchens waren Fotos, Briefe und Schriftstücke herausgeleert und zerfetzt worden. Decken und Kissen der beiden Betten lagen wild durcheinander, halb auf der Erde. Sogar die Matratzen waren weggezerrt worden. Ganz offensichtlich hatte hier jemand etwas gesucht.

Zwischen all dem turnten die Kriminaltechniker herum. Die Truppe stand unter der Leitung einer Frau, die Luca nicht leiden konnte. Sie war pedantisch bis zum Abwinken und überblickte nie das Große und Ganze. Man hatte eben nur die zweite Garnitur geschickt, weil auch die gesamte KTU mit ihren besten Leuten in den Fall des ermordeten Jungen eingebunden war. Die leitende Kriminaltechnikerin wies ihre Kollegen wie Schulkinder an, in jedem Eckchen ihre Pinsel zu schwingen und Fingerabdrücke zu nehmen, während in der Mitte des Raums, fast wie unberührt, die Leiche einer sehr jungen Frau lag.

Sie trug Jeans und einen modischen Billig-Pullover. Dunkle Flecken auf der Hose zwischen den Beinen zeigten, dass sie sich eingenässt hatte. Sie lag da, mit leicht angewinkelten Beinen und weggestreckten Armen, wie ein Mensch, der im Stehen das Bewusstsein verloren und zusammengebrochen war. Luca konnte auch so erkennen, dass sie wohlgestaltete weibliche Körperrundungen gehabt hatte. Langes und wallendes braunes Haar waren ein weiteres feminines Attribut. Ob sie einmal hübsch gewesen war, ließ sich nicht erkennen. Ihr Gesicht war blutverschmiert und zugeschwollen.

Pia, die ihm gefolgt war, trat nun neben ihn und betrachtete die Tote ebenfalls. Luca sah sie von der Seite her an und stellte fest, dass die junge Kollegin erstaunlich cool blieb. Nur ihre ohnehin schmalen Lippen hatten sich zu einem herben Strich zusammengepresst. Viele Novizen in der Todesermittlung taten sich anfangs schwer mit einem solchen Anblick.

»Warum sind um die Leiche eigentlich keine Nummerntafeln aufgestellt?«, fragte er die unangenehme KTU-Frau. »Habt ihr das noch nicht fotografiert?«

»Wir arbeiten systematisch«, zickte sie ihn an.

Als nach einem Klingeln an der Wohnungstür der Arzt eingelassen wurde und ins Zimmer trat, stand der erst einmal verblüfft da und konnte seine Arbeit nicht beginnen. Solange die Lage und die unmittelbare Umgebung der Toten nicht dokumentiert waren, konnte er den Körper nicht bewegen. Wortlos sahen Luca, Pia und der Arzt zu, wie nun hektisch versucht wurde, das Versäumte nachzuholen.

Der Arzt wenigstens war ein Glücksfall. Luca kannte Dr. Schwalbe schon von seinem ersten Fall, dem Toten am Feuerbacher Eisenbahntunnel. Er hatte danach immer wieder mal mit ihm zu tun gehabt, wenn die Rechtsmedizin komplett überlastet gewesen und Schwalbe eingesprungen war. Er war einer der wenigen Allgemeinmediziner, die sich mit Todesursachen wirklich auskannten. Jetzt stand er da und taxierte schon aus der Distanz den leblosen Körper am Boden.

Luca hatte immerhin Muße, sich im Zimmer etwas genauer umzusehen. Der kleine Raum war spartanisch eingerichtet. Zwei einfache Betten, ein Kleiderschrank, ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Auf dem Boden kein Teppich, nur billiges rotbraunes Linoleum. Trotz des Chaos konnte man erkennen, dass es sich um ein Mädchenzimmer handelte. Ein Tischtuch war mit roten, rauten- und zickzackförmigen Mustern bestickt, sicher irgendeine traditionelle Handwerkskunst aus Osteuropa. Die Blumenvase auf dem Tisch mit ein paar ersten Wildblumen hatte die Wüterei heil überstanden. Offenbar hatten die Bewohnerinnen versucht, sich ein bisschen heimelig einzurichten. An den Wänden hingen Poster von Shakira und einer Boygroup, die Luca nicht kannte, mit kyrillischer Schrift.

Die Kriminaltechniker machten ihre letzten Aufnahmen, als die Wohnungsklingel wieder betätigt wurde. Zu ihnen stieß der Staatsanwalt, ein kleiner untersetzter Mann. Er wirkte fröhlich. Wie immer. »Hallo Herr Mazzaro! Hab ich die Ehre, mal wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Sehr schön.«

Er machte einen Bückling vor Pia, als wäre sie die Königin von Saba. »Friedebald Frenzel, mein werter Name. Wir hatten noch nicht das Vergnügen. Nicht wahr?«

Die starrte nur auf seine pinkfarbene Krawatte und sagte gar nichts.

»Ach, das Corpus delicti ist noch da«, meinte Frenzel betrübt und wackelte mit dem runden Kopf. »Wäre Ihnen nicht böse gewesen, wenn mir der Anblick erspart geblieben wäre.« Mit Leichen hatte er’s nicht so, der Staatsanwalt. Luca erinnerte sich an die eine oder andere Obduktion, bei der sich Frenzel in die letzte Ecke des Sektionssaals verdrückt hatte.

Anders dagegen Dr. Schwalbe. Der Arzt beugte sich nun über die Tote und untersuchte sie routiniert. Luca hielt sich nahe bei ihm. Die ersten Befunde zu einem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen konnten wichtige Informationen liefern.

»Erste Totenflecke«, meinte Dr. Schwalbe und deutete auf den angehobenen Unterarm der jungen Frau. Er bewegte den Unterkiefer und die Hände des Leichnams. »Leichenstarre hat eingesetzt, ist aber noch nicht vollständig ausgebildet. Ich werde gleich mal ihre Temperatur messen. Aber Sie sagen, die ist um fünf Uhr morgens gefunden worden? Dann ist sie mit großer Sicherheit nicht viel früher gestorben. Nimmt hier jemand mal die Umgebungstemperatur?«, forderte er die Kriminaltechniker auf, die ihre Ausrüstung einpackten, als ginge sie das alles nichts mehr an.

»Haben wir doch schon«, meinte die bescheuerte KTU- Tante.

»Dann nehmen Sie sie jetzt noch mal, porca miseria«, fluchte Luca. Konnte es wirklich sein, dass die Alte nicht wusste, dass man eine zeitgleiche Mastdarm- und Umgebungstemperatur brauchte, um den genauen Todeszeitpunkt festzustellen? Einer der Leute in den weißen Overalls packte ein paar Geräte wieder aus.

Dr. Schwalbe hatte die Tote unterdessen entkleidet, teilweise indem er ihre Kleidung aufgeschnitten hatte.

»Schauen Sie«, wandte er sich an Luca. »Das Gesicht des Mädchens. Das habe ich mir schon gedacht. Aber am Körper hat sie auch schon Hämatome. Ich könnte wetten, wäre sie noch am Leben, dann wäre ihr Körper morgen grün und blau. Sie wurde brutal zusammengeschlagen. Ihre Nase ist gebrochen. Daher kommt wahrscheinlich das meiste Blut. Und die Lippen sind aufgeplatzt. Aber …« Er drückte ihr Kinn etwas nach oben, sodass man den Hals besser sehen konnte. »Ich will ja der Obduktion nicht vorgreifen. Aber gestorben ist sie nicht durch die Misshandlungen. Ich denke, sie wurde erdrosselt. Sehen Sie hier?«

Er deutete auf quer über den Hals verlaufende rotbraune Striemen etwa auf der Höhe des Kehlkopfes hin, die Luca nicht unbedingt als Strangulationsmarken interpretiert hätte. Sie waren nicht allzu tief, nicht klar abgegrenzt und verliefen in mehreren, nicht durchgehenden Spuren um den Hals herum. Nur für ein geübtes Auge war das als Drosselmerkmal erkennbar.

»Schauen Sie«, erklärte der Arzt. »Die Dunsung im Gesicht stammt nicht alleine von den Schlägen, die sie einstecken musste. Wir haben die typischen punktförmigen Einblutungen oberhalb der Drosselmarken.«

Es folgte das obligatorische Umdrehen der Augenlider mittels einer Pinzette, das selbst Luca nur ertrug, wenn er flach atmete. Er sah sich kurz um. Friedebald Frenzel, der Staatsanwalt, lehnte an der Türzarge, und zwar exakt so, dass er bestimmt nicht sah, was der Doc gerade machte.

Pia hatte sich offenbar ganz verkrümelt. Also doch keine Heldin. Luca wandte sich wieder der Toten und dem Arzt zu, der auf die punktförmigen Einblutungen deutete. » Sie wurde erdrosselt. Ich schätze aber mal, nicht schnell und mit einem Ruck, sondern eher langsam. Es ist zwar paradox, aber je moderater gedrosselt wird, desto eher bilden sich solche Punktblutungen aus.« Dr. Schwalbe richtete sich auf und sah Luca an. »Es ist nur eine Vermutung. Aber ich gehe davon aus, dass sie mehrfach gedrosselt wurde. Wahrscheinlich hat sie ein paar Mal das Bewusstsein verloren, bevor sie schließlich gestorben ist. Und hier …« Er hob ihre Hände an. Blut, Hautabschürfungen und abgebrochene Fingernägel zeigten es. »Sie hat sich gewehrt.«

Luca wurde es plötzlich traurig ums Herz. Er sah auf den leblosen Körper nieder. Trotz der Verunstaltung ihres Gesichts und obwohl sie schon recht weibliche Körperformen gehabt hatte, sah man, dass es sich um ein sehr junges Mädchen gehandelt hatte. Und – so ging es ihm durch den Kopf – man hatte sie quasi gefoltert.

Plötzlich stand Pia wieder neben ihm.

»Hab mich mal umgesehen bei den Mädels«, meinte sie trocken. »In einem Zimmer ist eine zu viel. Ich schätze, die gehört eigentlich hier herein.«

Ihr Blick fiel jetzt auf die entkleidete Leiche und die umgestülpten Augenlider. Sie verzog angewidert das Gesicht und meinte sarkastisch: »Ach, wie lecker.« Und dann wieder ernst: »War sicher ne begehrte Ware in dem Puff, drüben in Echterdingen. Mit der Figur, und noch ganz unverbraucht …« So ganz verstand Luca nicht, was sie damit sagen wollte.

Dr. Schwalbe war nun fertig. »Soweit fürs Erste. Die Obduktion wird Ihnen sicher noch Genaueres liefern.« Er packte seine Sachen zusammen. Auch die Kriminaltechniker hatten die letzten Geräte verstaut und trugen die großen Koffer nach unten. Das kleine Zimmer mit der Leiche war wieder in seinem ursprünglichen verwüsteten Zustand.

Luca gab den beiden Männern von der Gerichtsmedizin Bescheid, die mit ihrem Zinksarg gelangweilt im Treppenhaus gewartet hatten. Er sah zu, wie sie routiniert und geschäftsmäßig die Tote anhoben, in den schmalen Sarg betteten, den Deckel schlossen und die Leiche abtransportierten. Er ließ den Blick noch mal über das Chaos gleiten. Dann sah er den Zettel.

Dort, wo zuvor das tote Mädchen gelegen hatte, lag ein zusammengeknülltes, plattgedrücktes und blutverschmiertes Stück Papier.

»Moment! Pia, du passt auf, dass hier keiner reinkommt«, wies er die Kollegin an. Dann rannte er aus der Wohnung. Er nahm das Treppenhaus und war happy über seine Kondition und seine schnellen Beine. Draußen, vor dem Haus, fuhren gerade die Kastenwagen der Kriminaltechnik los. Er konnte dem letzten gerade noch kräftig auf die hintere Wagentür schlagen. Und tatsächlich hielten die Kollegen an.

»Ihr müsst noch mal hoch«, meinte er außer Atem. Die vier waren nicht begeistert, dass sie das ganze Geraffel noch mal auspacken mussten. Doch sie machten sich noch einmal auf den Weg nach oben, stellten ihre Nummerntafeln rund um den blutigen Zettel auf und fotografierten ihn von allen Seiten, um ihn schließlich mit einer Pinzette aufzunehmen und einzutüten. Luca sah bereits, dass das Stück Papier beschrieben war, mit lateinischen und kyrillischen Zeichen. Als die Kriminaltechniker abgezogen waren, merkte Luca plötzlich, wie still es in der Wohnung geworden war. Der Flur war leer, die Zimmertüren waren geschlossen. Nur die zur Küche stand einen Spalt offen. Er ging hinein und fand Pia und den Staatsanwalt am Küchentisch sitzend, die beide besorgt die junge Frau anschauten, der Dr. Schwalbe gerade den Puls fühlte. Sie wirkte völlig verstört und starrte auf einen imaginären Punkt.

Das Mädchen war bildhübsch. Langes naturblondes Haar, ein schönes Gesicht mit perfekten Proportionen, volle weiche Lippen, ein graziler Körper, der kindlich und weiblich zugleich wirkte. Sie erinnerte Luca stark an das Plakat im Zimmer der Toten. Es war Shakira, nur nicht mit braunen, sondern stahlblauen Augen. Wäre sie nicht so verdammt jung und im falschen Beruf – sie hätte gut in sein Beuteschema gepasst.

»Ist das die Zimmergenossin der Toten?«, fragte er.

»Sieht so aus«, meinte Pia. »Aber ne Befragung kannst du vergessen. Die ist voll daneben.«

Auch Dr. Schwalbe schüttelte den Kopf. »Ich hab ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie müsste erst einmal schlafen. So wie es aussieht, ist sie heute Nacht nicht ins Bett gekommen.«

»Aber wollen wir die in dieses Zimmer zurückschicken? In das Chaos? Wo ihre Kollegin grad noch gelegen ist?« Pia schien schon der Gedanke zu empören.

»Können wir das Zimmer denn überhaupt schon freigeben?«, fragte Friedebald Frenzel. Seine braunen runden Augen ruhten nach wie vor besorgt auf dem Gesicht der jungen Frau. Luca überlegte laut: »Das Zimmer ist komplett zerlegt worden. Da hat jemand was gesucht. Vielleicht hat er’s gefunden, vielleicht aber auch nicht. Kann schon sein, dass derjenige noch mal kommt und rumwühlen will.«

»Wir versiegeln«, entschied Frenzel und erhob sich. »Dann haben Sie auf jeden Fall die Option, noch mal alles gründlich zu durchsuchen.«

Pia sprang auf. »Wir nehmen die Matratze raus und versiegeln dann«, meinte sie störrisch.

»Meinetwegen. Aber Sie vermerken das im Protokoll«, erwiderte Frenzel streng.

Gemeinsam mit Pia ging Luca nun von Zimmer zu Zimmer. »Haben die Leute vom Kriminaldauerdienst die alle aufgenommen und befragt?«

Pia nickte. »Ich hab mir die Protokolle mal angeschaut. Die liegen noch drüben in der Küche. Aber außer den Namen und der Staatsbürgerschaft haben die nicht viel erfahren. Und ich hab auch versucht, mit der einen oder anderen zu reden. Ganz schwierig. Da spricht kaum eine halbwegs Deutsch.«

In einem der Zimmer schliefen schon alle. Als Luca fragte, ob hier noch Platz wäre, wurde er aus einem der Betten heraus wüst beschimpft, in einer Sprache, die wahrscheinlich rumänisch war. Auch im nächsten Raum wiesen ihn die vier Damen rüde ab. Im nächsten schluchzte eine der drei Frauen in ihr Kissen. Obwohl hier am wenigsten Platz war, stimmten die drei Bewohnerinnen widerwillig zu, das arme Geschöpf aufzunehmen. Kollegialität war wohl nicht angesagt in diesem Gewerbe.

Zu dritt bugsierten Luca, Pia und der Staatsanwalt die Matratze und das Bettzeug vom Tatort in das andere Zimmer. Dr. Schwalbe brachte das Häufchen Elend zu seiner provisorischen Schlafstätte, wo die junge Frau erschöpft in sich zusammensackte. In der Wohnung wurde es wieder sehr still. Der Verkehrslärm von der Bundestraße 27 und der Autobahn drang nun umso mehr ins Bewusstsein.

Frenzel bat die beiden Kommissare, nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte, noch einmal in die Küche. Sie setzten sich an den schlichten Küchentisch und schwiegen eine Weile, jeder mit seinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt.

»Also, was haben wir? Zunächst einmal zum Opfer«, wollte Frenzel wissen.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit eine Prostituierte«, stellte Luca fest. »Nationalität ungeklärt. Einen Pass hat man, soweit ich weiß, nicht gefunden. Die anderen Frauen sind Rumäninnen oder Bulgarinnen. Oder geben das an. Weil ja wohl manche Pässe beim ›Boss‹ sind.«

»Und wer der Boss ist, darauf haben wir keine Hinweise?«, fragte Frenzel ernst.

»Wer hat die Wohnung gemietet?«, warf Pia ein. »Wenn wir den Mieter haben, haben wir den Boss. Von denen«, sie deutete auf den Flur, von dem die Zimmer der Frauen abgingen, »hat sicher keine einen Mietvertrag unterschrieben.«

Frenzel machte sich Notizen und nickte mit dem runden Kopf. »Also: Sie müssen sich um den Mieter oder Besitzer der Wohnung kümmern. Was sind Ihre ersten Erkenntnisse über die Tat und den Tathergang?«

»Die Frau wurde zusammengeschlagen«, gab Luca wieder, was er vom Arzt erfahren hatte. »Hatte schon sichtbare Hämatome, wohl noch nicht ganz ausgebildet. Abwehrspuren an den Händen. Und die Nase hat man ihr gebrochen.«

»Sozusagen eine klingonische Hochzeit, ha, ha.« Frenzel lachte nicht wirklich bei der Äußerung und wurde gleich wieder ernst. Und das war gut so. Der Staatsanwalt war berühmtberüchtigt für seinen Humor. Zu allem und jedem fiel ihm ein dummer Spruch oder Witz ein. Und meistens entspannte das die Situation. Für Luca, der es auch nicht abkonnte, wenn die Kollegen in Trübsinn verfielen, war das in der Regel sehr willkommen. Es half, Abstand zu dem zu finden, was man alles ertragen musste. Aber jetzt ging ihm der Spaß zu weit.

Frenzel kannte sich ganz gut aus im Star-Trek-Universum. Die Science-Fiction-Serie war lange Zeit Lucas Passion. Das ganze Dezernat kannte seine Vergleiche von menschlichen Typen mit den Star-Trek-Völkern. Er wusste sehr wohl, dass es bei den martialischen Klingonen in der Hochzeitsnacht zu Blutergüssen, Prellungen und Quetschungen kam und ein gebrochenes Schlüsselbein als Glücksbringer galt. Doch hier in dieser Küche, bei diesen Frauen, war das völlig daneben.

Er ging nicht darauf ein und fuhr fort: »Gestorben ist sie aber, weil sie erdrosselt wurde. Und der Arzt meint, dass sie mehrmals bis zur Bewusstlosigkeit stranguliert worden ist.«

»Die Obduktion«, nickte Frenzel. »Warten wir ab. Wie sieht es aus mit dem Motiv? Haben Sie da schon eine Vorstellung?«

»Eine erste These.« Luca nickte. »Das Zimmer ist ja komplett auseinandergenommen worden. Da hat jemand etwas gesucht. Und zuerst mal nicht gefunden. Es sieht so aus, als ob jemand aus der Frau eine Info hätte herauspressen wollen.«

»Wir müssen versiegeln«, nickte Frenzel.

»Dann müssen wir die KTU aber ziemlich schnell nochmal rankarren«, meinte Pia und wollte sich doch tatsächlich eine Zigarette anzünden.

Frenzel beugte sich zu ihr. »Ach bitte, warten Sie doch mit dem Rauchen bis zu Ihrer Feuerbestattung«, meinte er freundlich und grinste sie an wie ein Smiley. Sein Humor war heute wirklich rabenschwarz.

Pia deutete auf einen vollen Aschenbecher, der neben ungespültem Geschirr auf der Küchenzeile stand. »Da kommt’s doch auf eine mehr oder weniger nicht mehr an.«

»Ich hab zwar einige Speckröllchen, aber Räucherschinken will ich nicht werden.« Frenzel wurde ernst. »Nein, mal im Ernst, das ist eines der wenigen Dinge, bei denen ich sehr ungemütlich werden kann.«

Pia schmollte, packte das Feuerzeug jedoch wieder weg und steckte sich die Kippe kalt in den Mund.

»Also …« Luca lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Ermittlungen. »… die KTU noch mal rankarren. Und wir müssen mit den Frauen reden. Vor allem mit der Zimmergenossin, sobald die vernehmungsfähig ist. Sagen wir am Montag? Wird das noch reichen?«, wandte er sich an Frenzel und dachte an die Überstunden, die sie in den letzten Wochen angehäuft hatten.

»Besteht die Gefahr«, erwiderte der, »dass sie sich verdrückt? Ich wäre mir nicht sicher, dass die Dame legal hier im Lande ist. Ich hatte den Eindruck, dass die andern sich mit ihr gar nicht richtig verständigen können.«

»Die haut nicht ab«, meinte Pia und legte die Kippe vor sich auf den Tisch. »Wohin denn auch – ohne Pass? Und Geld hat die KTU da drin ja auch nicht gefunden. Könnte höchstens sein, dass der Zuhälter sie beiseiteschafft.«

»Arbeiten die im Serail nicht alle freiberuflich?«, überlegte Luca laut. »Ich meine, das ist dort das Konzept: Dass die Frauen Eintritt bezahlen und die Männer auch. Und den Rest machen sie untereinander aus.«

»Du glaubst wohl noch an den Klapperstorch«, blaffte Pia ihn an. »Ich könnte wetten, dass die hier alle einen Stallbesitzer haben.«

»Hatte die Frau einen Zuhälter? Auch das müssen wir klären«, meinte Frenzel und machte sich weitere Notizen. »Gibt es irgendetwas, das Sie beide heute noch erledigen könnten? Oder etwas, das keinen Aufschub duldet?«

In Luca sträubte sich alles gegen diesen Gedanken. Auch Pias Gesicht verdüsterte sich. »Beim Einwohnermeldeamt erreichen wir erst am Montag wieder jemanden. Und Einsicht ins Grundbuch gibt’s auch erst dann wieder.«

Luca überlegte laut: »Also, alles, was wir jetzt gesagt haben – KTU, den Mieter oder Eigentümer der Wohnung ermitteln, die Obduktion – da läuft jetzt am Wochenende nichts mehr. Und die Mädels befragen – ohne Dolmetscher geht das auch nicht. Und die kriegen wir auch so kurzfristig kaum her.« Er war fast froh, dass ihm dieses Argument noch eingefallen war. Er hatte absolut keinen Bock mehr auf Wochenendarbeit. Und er wollte unbedingt mal wieder ins Training. Das war jetzt ohnehin viel zu oft ausgefallen.

Frenzel betrachtete nachdenklich seine Notizen und fuhr sich mit der Hand über die Glatze, die seinen kugeligen Kopf zierte, obwohl er kaum älter war als Luca. »Ich weiß nicht«, meinte er skeptisch. »Die Frauen müssen so schnell wie möglich vernommen werden. Am liebsten noch heute. Sie wissen ja: Verdunklungsgefahr, Absprachen, oder eine verkrümelt sich. Die Frauen könnten sich abstimmen. Oder werden eingeschüchtert. Schauen Sie, was sich da machen lässt, Herr Mazzaro.«

Er klappte das Notizbuch zu und zog sich sein zerknittertes Anzugsjackett über. Zusammen verließen sie die stille Wohnung, nachdem sie das Zimmer der Toten versiegelt hatten. Vor dem Hauseingang verabschiedete sich Frenzel mit einem Bückling von Luca und Pia. Jeder ging seiner Wege.

3

Die Fahrt zurück zum Präsidium war wieder genauso nervig wie der Hinweg. Der Verkehr hatte eher zugenommen. Es war schon nach zwei Uhr am frühen Nachmittag, als sie endlich am Pragsattel ankamen, der Anhöhe, auf der das alte, kastige Gebäude der städtischen Polizei mit seinen modernen Anbauten thronte.

Pia verdrückte sich sofort und murmelte irgendetwas von einem Stall, in den sie müsse. Ihr hatte Frenzel ja keine Aufgabe aufs Auge gedrückt. Luca aber musste dem Chef noch Bericht erstatten und die Vernehmung der Frauen in Angriff nehmen. Er ging rüber zu Bialas’ Büro. Hannas Schreibtisch war verwaist und aufgeräumt. Sie hatte für heute also auch Schluss gemacht. Bialas war genauso grantig drauf wie schon am Morgen.

Andreas Bialas – das wusste Luca – war nie ein Lächler gewesen. Zu Beginn seiner Tätigkeit im Dezernat hatte Luca Schwierigkeiten gehabt, die Stimmungen des Chefs richtig einzuordnen. Doch es war schnell klar geworden, dass die finstere Miene eher darauf schließen ließ, dass Bialas Gedanken wälzte, als dass er einem Mitarbeiter gram gewesen wäre. Und ganz nach schwäbischer Manier war es ein hohes Lob, wenn man von ihm nicht gerügt wurde und er einem einfach nur die Hand auf die Schulter legte. Luca hatte Hochachtung vor dem kriminalistischen Spürsinn des Dezernatsleiters. Der hatte die Fähigkeit, verschiedene Fäden im Detail zu verfolgen, gleichzeitig den Überblick zu behalten und dabei noch querzudenken. Und Bialas führte seine Mannschaft normalerweise fair und kollegial.

»Du schreibst mir heute noch den Bericht«, meinte Bialas griesgrämig, nachdem Luca im die wesentlichen Umstände des Todes der jungen Frau auf dem Fasanenhof geschildert hatte.

Luca regte sich auf. Er fuhr sich mit der Hand durchs dichte schwarze Haar und fuchtelte mit den Armen herum, ein körpersprachliches Erbe seiner sizilianischen Vorfahren.

»Andreas, hör mal, seit Wochen machen wir Überstunden.«

»Am Montagmorgen will ich den Bericht.«

Das sagte ausgerechnet der, der im ganzen Präsidium dafür verschrien war, dass er den Schreibkram vor sich herschob, bis es nicht mehr ging, und Berichte und Dokumentationen immer auf den letzten Drücker ablieferte.

Luca hatte keine Lust auf die Auseinandersetzung. Er konnte mit einer solchen Härte schlecht umgehen. Er neigte dazu, in diesen Situationen nachzugeben oder stur zu werden. »Okay. Montag früh. Ich komm morgen noch mal her und schreib ihn. Aber nicht mehr heute, Andreas. Ich muss jetzt erst mal organisieren, dass wir die Zeuginnen so schnell wie möglich vernehmen können.«

Der wandte sich wortlos wieder seinem Bildschirm zu und hackte etwas in die Tasten.

»Und ich brauche ein paar Leute, Andreas. Das sind mindestens ein Dutzend Vernehmungen. Und da kommen sicher noch welche dazu, wenn wir erst mal den Mieter und die Arbeitsverhältnisse der Frauen unter die Lupe nehmen.«

»Keine Chance«, sagte Bialas nur. »Ihr müsst allein klarkommen.«

Es war sinnlos, jetzt mit ihm zu streiten – das wusste Luca genau. Aber wie er jetzt allein und auf die Schnelle die Befragung von elf Frauen bewerkstelligen sollte, die der deutschen Sprache kaum mächtig waren, das war ihm ein Rätsel. Er seufzte und verließ das Chefbüro, ohne dass einer von beiden gegrüßt hätte. So eine Scheiß-Stimmung. Sie schlug ihm aufs Gemüt.

4

Pflichtbewusst versuchte er, Dolmetscher zu beschaffen. Er wählte sich die Finger wund, ohne Erfolg. Nicht einmal für den Sonntag waren Übersetzer zu bekommen. Und ohne die hatte es keinen Sinn, die Frauen holen zu lassen. Er hoffte inständig, dass dieses Versäumnis keine Auswirkungen auf die Klärung des Falles hatte. Hilflos und trotzig beschloss er, doch noch ins Training zu gehen.

Hätte er gewusst, dass ihm nicht einmal mehr Zeit blieb, zu Mittag zu essen, dann hätte er den Jiu-Jitsu-Gi und den Kulturbeutel gleich mitgenommen. So musste er zuerst nach Uhlbach und dann quasi drei Viertel des Wegs wieder zurück an den Schnarrenberg fahren.

Der Verkehr hatte weiter zugenommen. Um die Wilhelma und auf der B 10 war es dick. Die Baustellen für den Rosensteintunnel und S21 bremsten den Verkehrsfluss aus. Er brauchte fast eine Stunde nach Hause. Dort packte er kurz die Sportsachen zusammen und machte sich sofort wieder auf den Weg. Sein Magen knurrte, und er befürchtete, zu spät zu kommen und wieder mal einen Anschiss abzukriegen. Um nicht wieder in den Verkehrsschlick der B 10 zu geraten, der stadteinwärts auch nicht besser war, nahm er den Weg über die nördlichen Stadtteile von Stuttgart, brauchte dennoch doppelt so lange wie normal und schaffte es gerade noch, rechtzeitig im Dojo zu stehen.

Natürlich war er nach dem Verlauf des bisherigen Tages nicht zentriert und in sich ruhend, was ihm entsprechend kritische Blicke seines Trainers einbrachte. Sie hatten samstagnachmittags Sondertraining. Luca, sein Kumpel Çelik Erkan und drei weitere bereiteten sich auf den ersten Dan, den Schwarzgürtel, vor. Willi nahm sie ordentlich ran und betonte viel zu oft, dass vom Träger eines schwarzen Gürtels viel mehr verlangt werde als von den Schülern der Kuy-Grade. Nicht nur, dass sämtliche Techniken wie Würfe, Hebel oder Nervendruck automatisiert und frei verfügbar abgespult werden müssten. Der Dan-Träger sei nun auch Lehrer und Vorbild und müsse sich entsprechend verhalten.

Es half aber nichts. Luca fühlte sich steif und schwerfällig. Die Würfe gelangen nicht, und die Schläge saßen nicht, und Willi runzelte die Stirn.

Obwohl er merkte, wie gut ihm das körperliche Training tat, war Luca froh, als es schließlich zu Ende war. Er hatte Hunger wie ein Wolf. Und er musste Çelik nicht lange überzeugen, mit ihm in den Neuen Pfefferer zu gehen. Dessen Freundin hatte einen Mädels-Abend, weil Stuttgart mal wieder eine lange Einkaufsnacht veranstaltete, und Çelik hatte null Bock, nur für sich selbst zu kochen. Eigentlich war es das Vereinslokal, direkt neben ihren Trainingsräumen. Aber mit dem neuen Pächter war eine gemütliche Moderne mit dunklem Holz und Farbe an den Wänden eingezogen. Zum gutbürgerlichen deutschen Essen waren zu Lucas Freude ein paar Gerichte mit italienischem Einschlag hinzugekommen. Und es schmeckte dort immer gut. Schließlich war der Blick über Stuttgart – ins Neckartal und bis zur Schwäbischen Alb – von hier aus gigantisch. Vor allem, wenn man im Sommer auf der Terrasse sitzen konnte.

Heute war es dafür eindeutig zu kalt. Aber immerhin ergatterten sie einen Platz nahe der großen Fenster. Das Lokal füllte sich am Samstagabend in Windeseile.

»Was ist los? Wieso bist du so scheiße drauf?«, fragte Çelik ihn unverblümt.

Luca Mazzaro und Çelik Erkan hatten sich in der Grundausbildung der Polizei kennengelernt. Da Luca nur grinste, als Çelik ihn einmal einen schnitzelfressenden Mafioso genannt hatte, und Çelik nicht das Messer gezückt hatte, als Luca ihn als eingedeutschten Kümmeltürken bezeichnet hatte, waren sie Freunde geworden. Und sie waren beide dem Jiu-Jitsu treu geblieben, das im Einsatztraining in der Ausbildung Pflichtübung gewesen war.

Es war eigentlich nicht Lucas Art, aber heute hatte er Bock sich auszukotzen. Über eine Zeugin, die eine halbe Stunde ganz aufgeregt behauptet hatte, sie hätte im Körschtal einen arabisch aussehenden Mann mit blutverschmierten Händen gesehen, obwohl der tote Junge erwürgt worden und gar kein Blut geflossen war. Über eine neue Kollegin, die er einarbeiten sollte, die aber fast alles, was er sagte, in ihrer schnoddrigen Art in Frage stellte. Vor allem aber über einen Chef, der derzeit absolut ungenießbar war mit der ultra-miesen Laune, die er an den Tag legte.

»Du bist doch mit Bialas immer ganz gut zurechtgekommen«, wunderte sich Çelik.

»Ich glaub, der hat gerade ne echte Lebenskrise. Das verstehe ich sogar. Der Körschtal-Mord an dem Kind und die ständige Kritik an der Arbeit der Polizei von allen möglichen Seiten. Und wir stecken echt in einer Sackgasse. Und dann hat er jetzt natürlich einen neuen Chef. Der dicke Kallinger ist in Rente, und der Neue ist ein ganz Genauer und lässt ihm kaum noch freie Hand. Das macht Andreas fertig, sag ich dir. Und er hat – wenn ich nicht voll danebenliege – mal wieder eine fette Ehekrise an der Backe. Ist alles nicht schön. Aber dass er es voll an uns auslässt, ist nicht in Ordnung!«

Çelik wiegte nur den Kopf, während er seine Maultaschen verdrückte, und enthielt sich eines Kommentars.

»Wir machen Überstunden ohne Ende …« Luca kam nun in Fahrt. »…und er pfeift einen an, wenn man mal fünf Minuten zu spät kommt. Oder am Samstagnachmittag lieber ins Training geht, anstatt einen Bericht zu schreiben, den er ohnehin vor Montagnachmittag nicht liest. Man reißt sich den Arsch auf und wird dafür niedergemacht. Echt du – manchmal überlege ich, ob ich mich nicht nach so nem Sesselpupser-Job umschauen soll, wie du einen hast.«

»Sesselpupser-Job!« Çelik legte die Gabel weg und funkelte Luca aus den schwarzen Augen erbost an. »Schau dir mal die Kriminalstatistik an, Sizilianer. Mord und Totschlag nimmt ab. Computerkriminalität nimmt zu. So sieht es aus. Was glaubst du, was wir gerade an Überstunden schieben?«

Çelik Ercan war Computerspezialist bei der Abteilung »Cyberkriminalität/Digitale Spuren« am Landeskriminalamt. Er war ein IT-Genie und hatte sich das Computerwissen während der Ausbildung zum mittleren Dienst so nebenher beigebracht. Wahrscheinlich wäre er in irgendeiner innovativen Software-Bude gelandet, wenn sein Alter ihm erlaubt hätte zu studieren. Aber der hatte wohl Angst, dass sein Sohn dann was Besseres darstellt als der Vater. Was nun aber auch der Fall war.

Und auch Celik konnte schimpfen: »Und bescheuerte Vorgesetzte hast nicht nur du. Die neue Inspektionsleiterin in der Wirtschaftskriminalität Württemberg weiß nicht, was sie will. Du bekommst einen Auftrag, du erledigst ihn, und dann will sie angeblich etwas komplett Anderes angefordert haben.«

Doch sie hatten beide keine Lust, mit den Gedanken weiter im Arbeitsalltag zu versumpfen. Çelik schlug vor, noch ins Kino zu gehen. Doch Luca merkte, dass er ganz schön ausgepowert war. Dio mio – er wurde langsam alt. Alleine wollte sich Çelik aber auch nicht Filme anschauen. Und so verabschiedeten sie sich voneinander.

5

Luca zappte zuhause noch etwas in den Programmen herum, fand aber nichts, an dem er hängen blieb. Und auf Star Trek hatte er keinen Bock mehr. Er hatte das Gefühl, langsam zu erwachsen dafür zu sein.

Er war mit den Star-Trek-Serien aufgewachsen. Die dritte Staffel der Enterprise hatte ihn praktisch in die Pubertät begleitet. Und je mehr sein Vater das Ganze als imbecillità, als »Schwachsinn« bezeichnete, umso gieriger wurde er nach den Serien. Da papà Schicht arbeitete und la mamma ihm sowieso alles durchgehen ließ, kam er ausreichend in den Genuss. Er war auf jeden Fall so angefixt, dass er auch nach seinem Auszug von Zuhause Mitte der neunziger Jahre, als der Star-Trek-Hype voll losging, den Vulkaniern, Klingonen, Kardassianern und Borg treu blieb

Intuitiv begriff Luca, dass hier auch eine Lebensphilosophie mitschwang. Erst später, als er sich mal mit der Entstehungsgeschichte der Kult-Serie beschäftigt hatte, war ihm bewusst geworden, dass Star-Trek-Schöpfer Gene Roddenberry in einer Zeit, die stark vom Kalten Krieg und von Rassendiskriminierung in den USA geprägt war, die Vision einer Gesellschaft der Gleichberechtigung und der friedlichen Koexistenz verschiedener Nationalitäten entworfen hatte. Dass eine schwarze Frau auf der Kommandobrücke der Enterprise ordentlich mitzureden hatte, war neu in amerikanischen TV-Serien. Ebenso, dass mit dem Navigationsoffizier Pavel Chekov ein Russe mitfliegen durfte. Was Luca schon in jungen Jahren klar kapierte, waren die Parallelen zwischen den diversen Völkern und menschlichen Charaktertypen: Die Klingonen, die Konflikte martialisch mit Kampf und Gewalt lösten; die Vulkanier, die ihre Gefühle unterdrückten und alles nur mit Logik und Verstand regelten; die Ferengi, bei denen Kohle und Profit alles andere dominierte. Die brodelnde Phantasie, die einfache Unterteilung in Gut und Böse, die vielen Ungereimtheiten und kuriosen technischen Errungenschaften und nicht zuletzt das sichere Happy End, das alles macht den Reiz der Filme und Episoden aus. Es war die richtige Mischung zwischen Schwachsinn und Tiefsinn, die ihn über viele Jahre hinweg faszinierte.

Doch das Flair verflog. Es war einfach Zeit, die Pubertät endgültig hinter sich zu lassen. Vielleicht trug auch Willi dazu bei, dass er so eine Art Reifeprozess durchmachte. Sein Jiu-Jitsu-Trainer hatte die Angewohnheit, alle paar Wochen eine halbe Trainingseinheit dafür zu opfern, ihnen Vorträge zu halten. Das ganze Üben von Techniken bringe nichts, wenn man den Geist des Jiu-Jitsu nicht begreife, meinte er dann immer. Leider war er ein verdammt schlechter Redner. Er las holprig Texte vor, die fernöstliche Weisheiten enthielten. Wie die zu deuten waren, überließ er der Phantasie seiner Schüler. Trotzdem blieb komischerweise bei Luca immer etwas hängen, worüber er sich den Kopf zerbrechen konnte. Schon allein das »nachgeben, um zu siegen« beschäftigte ihn lange.