Lars Mytting

Die Glocke im See

Roman

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Insel Verlag

Für meine Mutter

»And this also«, said Marlow suddenly,

»has been one of the dark places of the Earth«.

Joseph Conrad

Die Handlung dieses Romans spielt zu großen Teilen im norwegischen Gudbrandsdal. Viele Namen sind von dort entlehnt, vor allem die alter Höfe im Gebiet von Fåvang.

Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Erster Teil

Die innerste Landschaft

Zwei Mädchen in einer Haut

Es war eine sehr schwere Geburt. Vielleicht die schwerste seit Menschengedenken, und das in einem Dorf, in dem ein Kindbett gefährlicher war als das andere. Der Bauch der werdenden Mutter war riesig, doch erst am dritten Tag der Wehen wurde allen klar, dass es Zwillinge sein mussten. Wie genau die eigentliche Geburt dann vonstattenging, wie lange die Schreie der Mutter in der Stube des Holzhauses gellten und wie die Frauensleute, die ihr halfen, die beiden Kinder am Ende herausbrachten – all das geriet in Vergessenheit. Es war so fürchterlich, dass niemand darüber reden mochte. Die Mutter zerriss es, sie starb am Blutverlust, und ihr Name versank in der Geschichte. Was aber für immer in Erinnerung bleiben sollte, das waren die Zwillinge selbst, und zwar wegen ihrer Eigenheit. Sie waren an der Hüfte zusammengewachsen.

Aber das war es auch schon, ansonsten waren sie gesund, sie atmeten, sie schrien, und im Kopf waren sie helle.

Die Eltern stammten von dem Hof Hekne, und so wurden die Mädchen auf die Namen Halfrid und Gunhild Hekne getauft. Sie wuchsen stetig heran und lachten viel. Sie waren niemandem zur Last, sondern gereichten einander, ihrem Vater und den Geschwistern zur Freude, ja, dem ganzen Dorf. Schon früh wurden die Hekne-Schwestern mit der Bildweberei vertraut gemacht. Von früh bis spät saßen sie auf der Bank des Webstuhls, ihre vier Arme flogen vereint über Kette und Schuss, so schnell, dass kaum zu verfolgen war, welche von beiden gerade das Garn einwirkte. Ihre Motive waren häufig rätselhaft, immer von berührender Schönheit, und ihre Arbeiten wurden gegen Silber oder Haustiere eingetauscht. In jener Zeit kam niemand auf die Idee, Handarbeiten irgendwie persönlich zu kennzeichnen, und später zahlte manch einer einen hohen Preis für eine Arbeit der Hekne-Schwestern, obwohl unklar war, ob sie wirklich von den Zwillingen stammte.

Der bekannteste Hekne-Wandteppich war eine Darstellung der Skråpånatta, der Kratzenacht, wie die lokale Version des Jüngsten Gerichtes im Dialekt hieß, lose an die altnordischen Prophezeiungen des Ragnarøk angelehnt. Demnach wird dereinst ein Flammenmeer die Nacht zum Tage machen, und wenn alles verbrannt und die Nacht wieder zur Dunkelheit geworden ist, wird die Oberfläche der Erde bis auf den blanken Fels hinunter abgekratzt, Lebende und Tote werden zum Gericht gen Sonnenaufgang geschoben. Diesen Wandteppich stiftete der Vater der Zwillinge der örtlichen Kirche, wo das Bild viele Generationen lang hing, bis es eines Nachts verschwand, obwohl alle Türen abgeschlossen waren.

Die Schwestern ließen sich selten außerhalb des Hofgeländes blicken, obwohl sie sich leichter fortbewegen konnten, als die Leute gedacht hätten. Sie schaukelten in einer Art Dreivierteltakt einher, als trügen sie einen randvollen Wassereimer vor sich. Das Einzige, was sie nicht bewältigten, waren die Abhänge unterhalb ihres Hauses. Der Hekne-Hof lag in steilem Gelände, und die winterliche Glätte war für die beiden lebensgefährlich. Allerdings lag das Haus selbst an einer nur schwach geneigten, sonnigen Stelle, wo es früh taute, oft schon im März, und die Zwillinge ließen sich mit der ersten Frühlingssonne draußen blicken.

Hekne war als einer der ersten Höfe der Gegend errichtet worden und damit einer der besten. Zwei Sommeralmen gehörten dazu, und auf der Hekne-Großalm futterte eine stattliche Herde von Kühen sich am dunkelgrünen Gras dick und rund. Ein kurzer, leicht zu begehender Weg führte zu einem fischreichen See, dem Nedre Glupen, mit einem Bootshaus, das aus neun Zoll starken Blockbohlen bestand. Der wirkliche Maßstab für den Reichtum eines Bauern im Gudbrandsdal jedoch hing vom Silber ab, das er besaß. Silber war ein Sparbuch, eine mit der Hand zu greifende, benutzbare Reserve. Kein Hof war seinen Namen wert, solange er nicht Silberbesteck für mindestens achtzehn Kopf besaß, und dank des Verkaufs der Bildwirkereien hatten sie auf Hekne genug Silber für dreißig in den Truhen.

Die Hekne-Schwestern hatten es nicht mehr lange bis zur Volljährigkeit, da wurde die eine todkrank. Ihrem Vater, Eirik Hekne, war die Vorstellung, dass die Überlebende die Leiche ihrer Schwester würde mit sich herumtragen müssen, derart unerträglich, dass er sich in die Kirche begab und darum betete, dass sie gemeinsam starben.

Der Pfarrer belauschte sein Gebet, und offenbar wurde es von Gott erhört. Vater und Geschwister hatten sich vor der Tür zur Schlafstube der Schwestern versammelt, von drinnen hörten sie, wie die Mädchen über etwas Wichtiges sprachen, das noch geregelt werden müsse. Es ging um ebenden Bildteppich über die Kratzenacht, den sie gemeinsam begonnen hatten, jetzt sollte Gunhild ihn fertigstellen, wenn Halfrid gestorben war und ihre Hände nicht mehr mithelfen konnten. Der Vater ließ Gunhild in Ruhe arbeiten, denn die Schwestern hatten seit jeher etwas Größeres an sich gehabt, etwas, das er und die anderen, deren Witz nicht weit über Steine und die Fläche des Sees hinausreichte, nie hatten begreifen können. Spät am Abend war ein Husten zu vernehmen, dann hörten sie, wie der Anschlagkamm zu Boden fiel.

Die Hekne-Leute gingen hinein und sahen, dass Gunhild sich zum Sterben hingelegt hatte. Sie schien die anderen nicht wahrzunehmen, sie lag da, das Gesicht dem ihrer toten Schwester zugewandt, und sagte im breiten Dialekt der Gegend:

»Solls du treittn weit und soll ich treittn kort, und wann das Stück is fertich, solln wir beide wiederkehrn.«

Sie ergriff Halfrids Hände, rückte sich zurecht, und so lagen sie beide da, die Hände ineinandergefaltet wie zu einem zweistimmigen Gebet.

Spätere Generationen waren sich nicht recht einig, was Gunhild gemeint hatte, denn im Dialekt war der Satz doppeldeutig. Treittn konnte sowohl bedeuten, die Tritte eines Webstuhls zu bedienen, als auch, sich schnell fortzubewegen. Als Eirik Hekne den Wandbehang der Kirche stiftete, schrieb der Pfarrer Gunhilds letzte Worte auf die Rückseite der Holzplatte, mit der der Teppich befestigt wurde. Doch die Hochsprache konnte die Fülle des Dialekts nicht wiedergeben, der Spruch wirkte nun etwas ärmlich: Du wirst weit gehen und ich werde kurz gehen, und wenn das Stück gewebt ist, werden wir beide wiederkehren.

Die Zwillinge wurden unter dem Boden des Kirchenraums bestattet, und zum Dank dafür, dass sie hatten gemeinsam sterben können, ließ Eirik zwei Glocken gießen. Sie wurden die Schwesterglocken genannt, ihr makelloser Ton klang voll und tief aus der Stabkirche hinaus, er füllte das ganze Tal, rollte weiter hinauf zu den Bergen und hallte von ihren Hängen wider. Wenn blankes Eis das Løsnesvatn bedeckte, den See unterhalb der Kirche, waren die Glocken drei Nachbardörfer weit zu hören, wie eine ferne Harmonie zu deren eigenen Kirchenglocken, und manche behaupteten sogar, wenn der Wind in der richtigen Richtung stand, könnten sie sie noch oben auf den Almen vernehmen.

Der erste Glöckner war nach drei Gottesdiensten taub. Also ließ der Pfarrer unten im Turm ein Podest aufstellen, auf dem der neue stehen konnte, der sich überdies Pfropfen aus Bienenwachs in die Ohren stopfte und sich einen ledernen Riemen um den Kopf wand.

Die Schwesterglocken klangen weder schwermütig, noch lärmten sie scheppernd. Jeder Ton hatte einen lebendigen Kern, er enthielt etwas wie die Verheißung eines besseren Frühlings, ihr lang anhaltender Nachhall vibrierte farbig und schön. Der Klang war ergreifend, er rief schillernde Bilder in den Gedanken hervor und erreichte die Herzen verhärteter Männer. Ein Glöckner, der sich auf seine Kunst verstand, konnte mit ihnen Zweifler zu Kirchgängern verwandeln. Die Erklärung für den machtvollen Ton der Schwesterglocken bestand daran, dass sie erzreich waren. Mit diesem Begriff wurde seinerzeit der teure Brauch bezeichnet, beim Guss der Glocke Silber in die Glockenspeise zu werfen. Je mehr Silber, desto schöner der Klang.

Die reich verzierten Gussformen und all die Bronze hatten Eirik Hekne bereits ein Vermögen gekostet, viel mehr, als sämtliche Wandteppiche seiner Töchter eingebracht hatten. In der Gedankenverlorenheit der Trauer trat er an den weiten Kessel, in dem die Glockenspeise geschmolzen wurde, und warf das gesamte Silberbesteck hinein. Dann griff er außerdem noch in die Taschen und zog zwei große Bauernhände voller Silbertaler heraus, die seltsam lange auf der brodelnden Legierung trieben, bis sie endlich schmolzen und blubbernd versanken.

Zur Warnung vor Gefahr erhoben die Schwesterglocken erst viele Jahre später erstmals ihre Stimme, und zwar bei einem schweren Hochwasser. Die Schneeschmelze hatte plötzlich und heftig eingesetzt, unter dem wolkenschwarzen Sommerhimmel gingen die Leute mit Kopfweh einher, und in der Nacht, als der Fluss über die Ufer trat, erwachten die Dorfbewohner vom Läuten ihrer Kirchenglocken. Wuchtige Blockhäuser wurden vom Wasser über den Haufen geworfen, wie Reisig schossen die Stämme durch das schmale, tiefe neue Bett, das der Fluss sich durch die Landschaft schnitt. Unten im Løsnesvatn trieben große weiße Bündel, das waren die Schafe. Erst, als hinterher alle im Regen zusammenstanden und beim Durchzählen feststellten, dass auch die Familie des Glöckners vollzählig war, erwies sich, dass der Glöckner gar nicht in der Kirche gewesen war und geläutet hatte, und als der Pfarrer nachschauen ging, war er überrascht, denn das Portal war fest abgeschlossen.

Als das geschah, war Eirik schon seit vielen Jahren tot, und es ist nichts darüber bekannt, ob er es jemals bereut hatte, sein gesamtes Silber in die Glocken eingeschmolzen zu haben. In der Folge hatte der Hof jedenfalls mehrmals kurz vor der Zwangsversteigerung gestanden. Wäre es möglich gewesen, Hekne in einen Oberhof und einen Unterhof aufzuteilen, so hätte man es gemacht, aber der Besitz war zu schmal und zu steil. In den folgenden Jahren holte der Gerichtsvollzieher den zum Hof gehörigen See, zwei Häuslerstellen und die Großalm, und die nachkommenden Generationen hatten schwer unter dem Preis, den Eirik Hekne gezahlt hatte, zu leiden. Immerhin gelang es ihnen, den Rest des Hofes in der Familie zu halten, auf Erben folgten neue Erben, und alle Nachgeborenen hatten so ihre Ansichten zum Handeln des Vorfahren. Nur wenige von ihnen fanden, Silber sei für Kirchenglocken besser verwendet als für Äcker und Ställe, doch nahmen sie es als Mahnung hin, dass Not offenbar leichter zu tragen war als Trauer. Allsonntäglich gelangte ein tröstlicher Klang zum Hof herauf, das waren die Glocken, die Eirik die Tochterglocken genannt hatte, doch sollten dieser Sprachgebrauch und dies Vorrecht mit ihm sterben.

Die Stabkirche

Seit Ewigkeiten läuteten die Schwesterglocken über dem Dorf, für die Lebenden, die Sterbenden und die Toten, zu Hochzeit und Weihnachtsgottesdienst, zu Taufe und Konfirmation und manchmal auch als Alarm bei Waldbränden, Überschwemmungen und Erdrutschen. Kaum jemals zog einer der Dorfbewohner fort oder gab es Zugezogene, wer verreiste, kam nie wieder zurück, und die meisten Kinder glaubten, alle Glocken dieser Erde klängen wie die Schwesterglocken, so, wie Leute, die mit einer prachtvollen Aussicht vor Augen leben, das für ganz normal und gewöhnlich halten.

Hekne gehörte zum Kirchspiel Butangen, einem Seitental zwischen Fåvang und Tretten. Seinerzeit zählte der Ort rund 1000 Seelen, verteilt auf einige vierzig Höfe mit den dazugehörigen Häuslerstellen. Für den Ortsnamen selbst gab es eine weit in die Vergangenheit reichende, verwickelte Erklärung, die nur selten zur Sprache kam, weil kaum jemand sich für dergleichen interessierte. Der See, das Løsnesvatn, trennte den Ort von dem weiter hinaufführenden Karrenweg, er war lang und schmal und tief, umgeben von steilem Wald und Felskuppen, und Butangen, das »Hüttenufer«, trug seinen Namen, weil diese Uferstelle als einzige am ganzen See flach genug war, um dort ein paar Hütten hinzustellen. Niemand wohnte da drunten fest, aber da sich hier sowohl ein Bootshaus als auch Anlegestellen befanden und der winterliche Transport über das Eis hier abging, übernahm der ganze Ort den Namen. Die Kirche selbst lag weiter oben am Hang, teils um der Aussicht willen, aber auch, weil die Leute aus Fåvang wussten, was ein Hochwasser mit einem Friedhof anzustellen vermochte.

An den Hängen klammerten sich die Höfe an den Stellen fest, die einst von den Vorfahren erobert worden waren. Manche hatten ein derartiges Gefälle und waren so steinig, dass drei Generationen nicht mehr als drei kleine Äcker hatten gewinnen können. Andererseits wurden die Steinmauern dadurch so hoch, dass in Butangen nie ein Schaf vom Wolf geholt wurde.

Wenn es hier Veränderungen gab, dann kamen sie langsam. Der Ort hing zwanzig Jahre hinter den Nachbargemeinden her, diese dreißig Jahre hinter den norwegischen Städten und die wiederum fünfzig hinter dem kontinentalen Europa. Einer der Gründe dafür war die Unzugänglichkeit. Falls es einmal einen Neugierigen gab, musste er zunächst dem großen Fluss, dem Lågen, auf der richtigen Seite nach Norden folgen und bei der Kirche von Fåvang abbiegen, falls er sie denn entdeckte und immer noch nach Butangen wollte, dann das Tal hinauf und bei einem Hof namens Okshol zwischen zwei Gipfeln hindurch einen Hohlweg entlang. Etwas weiter lief der Hohlweg auf eine Geröllhalde aus und verlor sich. Hier bogen die meisten nach links ab und landeten im unbewohnten Oksholdal. Nur wenn man an der richtigen Stelle nach rechts ging, bot sich irgendwann die schöne Aussicht auf Butangen mit der Kirche am Hang und den Höfen ringsum. Zuerst aber blickten die Wanderer auf das steil unten liegende Løsnesvatn und die tückischen Løsnesmoore ringsum. Spätestens dann kehrten so gut wie alle um, wenn sie den Steig durch die Moore verfehlten und bei Einbruch der Nacht bis zu den Knien im Matsch standen, derart von den Mücken belagert, dass ihre Haut aussah wie mit Pelz bedeckt.

Nur sehr selten einmal fand jemand den Weg um das Løsnesvatn herum oder genoss den glücklichen Zufall, von einem wortkargen Ortsbewohner, der gerade seine Netze setzte, mit dem Boot hinübergebracht zu werden. Einmal am Ziel angelangt, wurde er entweder eingeheiratet oder kam bei einer Messerstecherei ums Leben. Nein, eigentlich lebte es sich gut in Butangen. Der Fluss des Tales, die Breia, erhielt von zahlreichen kleinen Bächen Nahrung, die die Höfe mit Wasser versorgten. Die Landschaft strahlte eine Art stille Anmut aus, weil der Fluss und all die Bäche mit ihren vielen kleinen Bögen eine stetige Abwechslung zwischen fruchtbaren sonnigen Stellen und rätselhaften Schattenseiten schufen, bis der Fluss mit einer jähen Biegung in das Løsnesvatn hinabschäumte. Trotz der steilen Hanglage war das kleine Tal mild und sonnig, und wer weiter vordrang, konnte gelegentlich auf Menschen aus Brekkom und Imsdal treffen, auf Brekkominger und Imsdøler, wobei der Kontakt meist in einem Nicken oder einem Gruß aus gebührendem Abstand bestand.

Zudem gab es im Winter leichte und geschwinde Transportmöglichkeiten. Wenn Eis das Løsnesvatn bedeckte, fuhr man rasch geradewegs über den See und die Moore, bis zur Stelle, wo es steil nach Fåvang hinunterging. Darum bewegte sich das Leben der Leute im Halbjahrestakt. Der Winter war die Zeit für Besuche, um Ehen anzubahnen, um Pflugscharen und Schießpulver zu kaufen. Manchmal bekam jemand Sehnsucht nach anderswo, aber wer in diesem Anderswo gewesen war, berichtete, dass die Leute dort dasselbe trieben wie hier, vielleicht ein klein wenig anders, aber nicht so, dass es unbedingt mehr taugte. Auch im Anderswo gab es keine Aussichten auf anderes als harte Arbeit, und mit harter Arbeit konnte man sich auch zu Hause und umgeben von Verwandten und Bekannten abplagen.

So war es überall, keine Fremden mischten ihre fröhlichen Gene in den eigenbrötlerischen Charakter der Gudbrandsdølinger, ganz anders als an der Küste, wo das bedächtige Temperament von schiffbrüchigen Seeleuten aus dem Mittelmeerraum aufgefrischt wurde, die, wenn sie sich aus ihrem Nothafen verabschiedeten, kleine Geschenke in den Bäuchen der jungen Mädchen zurückließen, Geschenke, die später in Form lebhafter Kinder mit rabenschwarzem Haar durch die Gassen sprangen. Nein, die Talbewohner führten ihre Leben innerhalb ihrer Umzäunungen, in einem einträchtigen, sachten Tanz im Takt der Jahreszeiten. Jeder Hof war ein autonomes Reich für sich, und die Talseiten bildeten hoch aufragende Wände gegen die Außenwelt. Diese schutzspendenden Barrieren aus uralten Fichten bestärkten die Leute in dem Glauben, es sei besser, auf die Art der Alten Moos zu sammeln, bis sie tot umfielen, als irgendetwas an ihrem Leben zu ändern. Sie gingen gern in die Berge und mühten sich durch Schneematsch und Regen, Schnee schippten sie gern, es war ja so viel einfacher, als die Beete umzugraben, und es gab keinerlei Vermischung zwischen Großbauern und Kleinbauern: Generation um Generation blieben alle auf ihren eigenen Höfen. Zeit war unwichtig, sie führten die Arbeit der Verstorbenen fort, die, so wussten sie, von noch Ungeborenen weitergemacht würde, mit denselben Handgriffen und oft auch noch demselben Karren wuchsen uralte Steinhaufen höher und höher. All das verbunden mit einem eigenen Zungenschlag, einer eigenen Art und Weise, sich zu verhalten, ja sogar wahrzunehmen und zu fühlen.

Nach der Christianisierung des Landes errichteten die Leute von Butangen eine reich verzierte Stabkirche, ein Meisterwerk aus dem Holz von Erzkiefern mit fein verschnörkeltem Schnitzwerk, Drachenköpfen und hoch aufragenden Spitzen. Da es genug zu essen gab und niemand einen Begriff von Zeit hatte, konnten sie sich monate-, ja jahrelang langwierigen Holz- und Steinarbeiten widmen. Unter König Magnus V. war die Kirche fertig, auf der Eingangsschwelle wurde die Jahreszahl 1170 eingraviert. Die tragenden Stämme und das übrige Ständerwerk wurde aus den gewaltigen Kiefern hergestellt, die seinerzeit im Gudbrandsdal wuchsen, und gemäß damaligem norwegischem Brauch wurde auch die Kirche von Butangen reich mit Dekorationen aus dem alten Heidenglauben verziert. Sie wirkte wie eine Art christlich übertünchter Häuptlingsthron aus der Wikingerzeit. Die Schnitzer verwandten ganze Sommer darauf, sie mit Seeungeheuern und anderen wohlbekannten Motiven aus altnordischer Zeit auszuschmücken. Die Außenseite der Vorhalle, der Waffenkammer, wurde in ganzer Höhe mit langhalsigen Löwenfiguren verziert, und ein fetter Drache schlängelte sich um das Portal. An den Holzsäulen zu beiden Seiten des Altaraufsatzes prangten bärtige, maskenartige Gesichter, alte Götter mit weit aufgerissenen, pupillenlosen Augen. All dies diente als Schutz vor den finsteren Mächten, mit denen die Menschen im Norden jahrhundertelang zu kämpfen gehabt hatten. Für den Fall, dass Odin und Thor doch noch etwas zu sagen hatten, gaben sich die Schnitzer alle Mühe, sämtliche Götter zufriedenzustellen.

In den folgenden Jahrhunderten wurde die Kirche weder umgebaut noch geplündert. So, wie sich nie etwas Fremdes unter die Dörfler mischte, entging auch dieses verborgene Mittelalterschloss sämtlichen neumodischen Anfechtungen. Das Dekor wurde nicht bei der Entseelung der Gotteshäuser während der Reformation entfernt, der Pietismus hinterließ nie die Spuren seiner Klauen am Inventar. Nach wie vor sperrten die acht Drachenköpfe ihre Mäuler gen Himmel auf, der umlaufende, überdachte Gang und die Außenwände dufteten von jahrhundertelanger Pflege mit Teer.

Die Geschichte der Schwesterglocken und der beiden Zwillingsmädchen war außerhalb des Ortes weitgehend unbekannt. Einmal früh im neunzehnten Jahrhundert kam ein Künstler vorbei und zeichnete die Kirche, aber er war eher unauffällig. Kurz darauf hatte ein anderer Mann, der nicht zu den Reisebegleitern des Künstlers gehörte und wirkte, als verfolge er verborgene Absichten, sich zu der Geschichte um die Schwesterglocken durchgefragt, doch auch von ihm war hernach nie wieder etwas zu hören, und bald geriet er mehr oder weniger in Vergessenheit.

Zu der Zeit gab es schon lange kein Geld mehr von außen für die Pflege der Gotteshäuser, sie mussten mit den Mitteln unterhalten werden, die das Kirchspiel selbst zur Verfügung hatte, und so wurden sie zu einem Spiegel sowohl guter wie auch schlechter Zeiten. Im neunzehnten Jahrhundert verarmte das Gudbrandsdal durch Überbevölkerung, Hochwasser, Trockenfäule, Alkoholismus und erfrorene Kornernten. Etliche der kleinen Glasscheiben, die immer noch ein schönes Licht auf die Kirchenbänke warfen, lösten sich und ließen den Nordwind direkt auf die Liturgie blasen. Die Holzschindeln des Daches verbogen sich, der Regen sickerte durch Spalten, die sich immer schwerer auffinden ließen. Das Einzige, was dem Wetter unverändert standhielt, waren die beiden Glocken, um sie herum herrschte Verfall. Immer neue Wege suchte sich das Wasser durch das komplizierte Ständerwerk, auf das sich niemand recht verstand, der Frost biss sich derart durch die Wände, dass der trockene Schnee hereingeweht wurde. Und mit den Jahren rissen Windstöße und Sturzregen die Drachenköpfe vom Dach, einer nach dem anderen fielen sie zu Boden und sperrten dort zwischen den Gräbern stumm ihre Mäuler auf, die Kirche schien ohne sie ein wenig in sich zusammenzusinken, als blickte sie finster auf die Zeiten, die ihr bevorstanden.