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Werner J. Egli

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.

Werner J. Egli

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Roman

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eISBN 978-3-03864-214-5

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin

Bildnachweis iStock: MarinaZg

Realisation: Brigitta Vasella

Copyright © 2018 by ARAVAIPA–Verlag,

Egg bei Zürich

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ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

„Für alle Jungs und Mädchen, die sich nicht
im Cyberspace verlieren wollen“
.

Außerhalb der Schule und abgesehen von dem gemeinsamen Stück unseres Schulwegs hatte ich Melanie nur einmal getroffen. Ohne Verabredung oder so was waren wir uns zufällig begegnet. Vor drei Wochen, an einem Montag, kurz nach den Sommerferien. Ich hatte keinen Bock, zu Hause in meinem Zimmer zu sitzen und meine Schularbeiten zu erledigen. Also ging ich in den Keller, holte mein Fahrrad heraus, nahm eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, machte mir ein Sandwich, umwickelte es mit Alufolie und verstaute es zusammen mit der Coladose, dem Zeichenblock und einem Buch von Kafka in meiner Gitarrentasche. So fuhr ich los, über die Brücke und auf der anderen Seite ein Stück das Flussufer entlang, dann über die Bundesstraße und hinaus durch die lichten Wälder zur Bahnstation, die seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wurde. Früher, im Krieg, hatten die Züge hier gehalten und in unserem Stadtmuseum hingen Fotos von damals, als von diesem Bahnhof aus Hunderte von Menschen in die Konzentrationslager deportiert wurden. Längst hält hier kein Zug mehr, die Züge vom Süden in den Norden und retour fahren mit Höchstgeschwindigkeit am halb zerfallenen Gebäude vorbei, und wer im Zug sitzt und schnell mal hinausblickt, sieht nicht viel mehr als ein Backsteingebäude und einen angebauten Holzschuppen inmitten einer Lichtung, die von Brombeergestrüpp überwuchert ist.

Die Bummelzüge rattern langsamer vorbei, weil sie entweder direkt zum Bahnhof in der Stadt weiterfahren und ihre Fahrt nur verlangsamen, da sie drei Kilometer weiter dort anhalten müssen.

Bei der alten Bahnstation, verliert sich kaum jemand, aber ich habe in der Schule munkeln gehört, dass man hier draußen ungestört mit seiner Freundin herummachen konnte, und das sogar bei Regen, weil eine der Türen nicht mehr versperrt war und man durch das Verschieben zweier Bretter Zugang zum kleinen Wartesaal hatte.

Ich wollte eigentlich nichts anders tun, als das Stück in Kafkas Buch lesen, das unser Deutschlehrer Konrad Dübel beim nächsten Test abfragen wollte, danach vom alten Gebäude ein paar Skizzen machen und schließlich in dieser herrlichen Stille etwas auf der Gitarre herumklimpern, aber daraus wurde nichts.

Schon als ich mich dem Stationsgebäude näherte, fiel mir das Fahrrad auf, welches jemand an die Mauer gelehnt hatte. Bei dem Fahrrad handelte es sich nicht um eines dieser modernen Bikes, sondern um ein älteres Damenrad mit geschwungenem Lenker, mit Schutzblechen, Kettenschutz, Lampe mit Vorderraddynamo, Gepäckträger und einem kleinen Drahtkorb, der am Lenker befestigt war.

Ich hielt etwa fünfzig Meter vom Gebäude entfernt an und lehnte mein Fahrrad an die Stange, an der das Schild mit der Aufschrift Zutritt auf eigene Gefahr befestigt war. Der rot-weiße Schlagbaum stand aufrecht, und im aufgeweichten Boden war eine frische Fahrradspur zu erkennen, die zwischen den vielen Pfützen hindurchführte.

Mit der Gitarre auf dem Rücken schlich ich mich auf einem schmalen Pfad über das, was einmal ein ungeteerter Vorplatz gewesen war, an das Gebäude heran.

Die Tür zum Wartesaal war mit Brettern zugenagelt worden, aber jemand hatte zwei Bretter so gelockert, dass sie nur noch an den oberen Nägeln hingen und zur Seite geschwenkt werden konnten.

Ich spähte durch eine Ritze zwischen den Brettern in den Wartesaal und wurde im selben Moment von einem Blitz geblendet, nur für eine Sekunde, allerdings nicht so stark, dass ich das Mädchen, das ein Foto von sich selbst machte, nicht gesehen hätte.

Es war Melanie.

Sie stand mitten im leeren Wartesaal. Die Sonne schien durch ein paar Ritzen in den Brettern, mit denen die Fenster auf den Bahnsteig hinaus dicht gemacht worden waren. Die Lichtstreifen lagen über der Backsteinmauer in Melanies Rücken, von der der feuchte Putz wie weiße Krusten herunterhing und die Backsteine freigegeben hatte.

Es war kalt in diesem düsteren Raum mit dem grünen Kachelofen und einer langen Holzbank an der Wand, auf der Melanies Jacke lag.

Melanie trug ein kariertes Männerhemd, das ihr über die Jeans herunterhing. Sie hatte die Ärmel lose hochgekrempelt. Über ihrer Brust stand es ziemlich weit offen, sodass ich ihre Brüste fast vollständig sehen konnte. Sie hatte ihr Handy in der linken Hand, strich sich mit der rechten ihr welliges Haar zurück und blitzte sich noch einmal, den Kopf leicht in den Nacken gelegt.

Ziemlich verwirrt schlich ich mich davon, ging auf dem gleichen Weg zurück zum Schlagbaum, setzte mich aufs Rad und fuhr pfeifend den Forstweg entlang, bis ich, so als hätte ich beim Schlagbaum nie angehalten, wieder das Stationsgebäude erreichte.

Melanie zeigte sich nicht, obwohl sie mich pfeifen gehört haben musste. Ich fuhr bis zum Schuppen, an dem sich eine schmale Betonrampe befand, hielt an und stieg ab. Das Fahrrad lehnte ich an die Bretterwand, hockte mich auf die Rampe und holte mein Zeug aus der Gitarrentasche. Den Zeichenblock und das Etui mit den Stiften legte ich auf die Rampe. Dann begann ich das Sandwich zu essen und von dem Cola zu trinken. Ich hatte einen guten Überblick über meine unmittelbare Umgebung und sah auch Melanies Fahrrad mit den verdreckten Reifen und den chromblitzenden Schutzblechen. Wenn ich mich recht erinnere, war das Fahrrad auch mit diesen Netzen ausgestattet, die einen Rock davon abhalten, sich in den Speichen des Hinterrads zu verfangen.

Ich hatte keine Ahnung, ob Melanie mich durch eine der Ritzen zwischen den Brettern oder durch ein Loch in der Mauer beobachtete, auf jeden Fall konnte sie mir unmöglich entkommen, ohne dass ich sie gesehen hätte.

Ich hätte sie natürlich auch rufen können, aber ich tat es nicht. Es gibt Dinge, die tut man, und es gibt solche, die tut man nicht. Egal wieso. Ich konnte warten. Geduld hatte ich genug. Zeit auch.

Außer uns beiden war niemand da. Wieso hätte sich auch jemand hier draußen aufhalten sollen. Hier draußen war nichts. Nur wer Fantasie hatte, konnte sie sehen, die Leute mit ihren Köfferchen auf dem Bahnsteig, die Frauen und Kinder und die alten Leute, aber auch die Soldaten und die Offiziere, von denen sie angeschrien wurden, sodass die kleinen Kinder sich ängstlich an den Mänteln ihrer Mütter festhielten. Auch hören konnte ich es, das schreckliche Gebell auf Menschen abgerichteter Schäferhunde.

Und auf dem Nebengleis, im leichten Schneegestöber, standen die Güterwagons, in denen die Menschen nach und nach verschwanden, bis am Ende niemand mehr da war, außer dem Stationsvorsteher und seinem Gehilfen, und der Güterzug langsam anfuhr und ratternd und quietschend ins Schneegestöber und ins graue Licht des Tages eintauchte und eine Ewigkeit später meinen Blicken entschwand, und nie mehr, nie mehr zurückkehrte.

Dafür rauschte jetzt der ICE vorbei, und ich schreibe mit Absicht rauschen, weil mir kein besseres Wort für dieses Geräusch einfällt, von dem ich plötzlich umgeben war, von dem ich regelrecht aufgesogen wurde wie von einem Trichter.

So dicht fuhr der Zug am Bahnhof vorbei, dass er mit all seinen Fenstern und der Verschalung zu einem einzigen Strich wurde, einem Strich, den ich später oft zu skizzieren versuchte, was mir aber nie richtig gelang.

Nur das Geräusch, das kann ich heute noch hören, so klar und durchdringend wie damals, scharf wie die frisch geschliffene Klinge eines Messers. Sekunden dauerte es nur, dann war der Zug vorbei. Was zurück blieb, war ein Vakuum. Eine Leere ohne ein wirkliches Geräusch außer dem, das in Wirklichkeit längst nicht mehr zu hören war.

Es waren bestimmt zwanzig Minuten vergangen, als Melanie schließlich aus dem Wartesaal kam, sich durch die Lücke zwängte und die Bretter hinter ihr in ihre ursprüngliche Lage zurückfielen, während sie sich aufrichtete.

Als sie in ihre Jacke schlüpfte und den Reißverschluss bis an den Hals zuzog, blickte sie zu mir herüber.

„Moritz“, rief sie, „was machst denn du hier draußen?“

Das ist es, was ich sie hätte fragen können, aber ich glaube nicht, dass sie mir eine ehrliche Antwort gegeben hätte.

„Ich bin oft hier“, log ich. „Zum Zeichnen. Ich mache Skizzen hier draußen. Heute wollte ich auch das Stück aus Kafkas Buch lesen, das Dübel abfragen will.“

Ohne ein weiteres Wort an mich zu richten, ging sie zu ihrem Fahrrad, stieg auf und fuhr davon.

Ich glaubte es nicht. Da ließ sie mich erzählen und sie selbst fuhr einfach davon, dabei hätte sie mir zum Beispiel verraten können, warum sie sich in dieser Pose, halb nackt, fotografiert hatte.

Ich schaute ihr nach. Sie schwankte auf der holprigen, zum Teil mit Schotter bedeckten Straße hin und her, fuhr ungelenk um Schlaglöcher herum, manchen aber konnte sie nicht ausweichen und so fuhr sie mitten durch eine der großen Pfützen, die vom letzten Gewitterregen übrig geblieben waren, und ein wenig später war sie im Wald verschwunden.

Ohne auch nur einmal zurückzuschauen.

Ich war allein. So wie hier draußen jeder immer allein ist, außer vielleicht Ruben. Aber von ihm erzähle ich später, wenn es besser passt.

Im Moment will ich überhaupt nichts erzählen. Außer, dass mich diese Begegnung mit Melanie ein paar Tage beschäftigte, weil ich nicht den Mut gehabt hatte, die Bretter zur Seite zu schieben und sie bei ihrem Tun zu überraschen.

Melanie war meine Banknachbarin, aber ich getraute mich nicht, sie an einem der nächsten Tage zu fragen, was sie dort draußen gemacht hatte. Es ist jedem erlaubt, Fotos von sich zu machen, denke ich mal.

Sie kam von selbst auch nie darauf zu sprechen, aber sie begegnete mir von diesem Tag an mit mehr Aufmerksamkeit. Einmal lag sogar ein Stück Schokolade auf dem Ablagebrett meines Pultes und ich war mir sicher, dass sie es dorthin gelegt hatte.

Das sagte ich ihr auch. In der Pause. „Danke, Meli, für die Schokolade.“

„Ach“, antwortete sie, „ich weiß doch, dass du die magst.“

Das stimmte. Ich mochte Zartbitter-Schokolade. Und ich mochte Melanie. Aber das verriet ich ihr nicht. Nicht jetzt. Als ich es dann einmal wirklich tun wollte, war es dafür schon fast zu spät. Also ließ ich es bleiben.

Auf jeden Fall dachte ich während der folgenden Tage oft an diese Begegnung, weil mir schien, Melanies Wesen hätte sich verändert. Genau kann ich das auch heute noch nicht erklären, obwohl ich heute natürlich weiß, was sie in diesen Tagen durchmachte und wie sehr sie an sich selbst zu zweifeln begonnen hatte.

Sie machte auf mich den Eindruck, als wäre sie gar nicht mehr richtig da, aber obwohl ich sie mochte, wollte ich mich nicht in ihr Leben einmischen.

Außerdem stand ich selbst unter Hochdruck, denn in der Schule begannen die Tests. Im Fußball wollten wir am Ende der Saison an der Spitze der Rangliste stehen. Wir trainierten wie die Besessenen.

Damit hatte ich kein Problem. Ich hatte überhaupt keine Probleme. Alles war okay.

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Tage später, an einem heißen Mittwoch nach dem Fußballtraining, zeigte mir Ruben ein Foto von Melanie. Da kam alles wieder zurück. Die Erinnerung an den Tag, als ich sie im alten Bahnhof dabei beobachtet hatte, wie sie sich selbst blitzte. Und wie ich darauf gewartet hatte, dass sie aus dem Wartesaal kommen würde, und sie dann einfach davongefahren war, als existierte ich überhaupt nicht.

Ruben hatte das Foto zusammen mit einigen schweinischen Fotos auf seinem Handy gespeichert, nur, die anderen waren aus dem Internet, während das von Melanie eben Melanie zeigte und Melanie kein Mädchen war, das Fotos von sich veröffentlichte. Melanie war nicht mal auf Facebook oder Instagram. Melanie war überhaupt auf gar nichts. Genau gesagt, hatte ich sie überhaupt noch nie mit ihrem Smartphone herumfummeln sehen, was ja in unserer Zeit schon mal ziemlich merkwürdig uncool ist. Aber der Hammer an diesem Foto war – es zeigte sie nackt auf einem Stuhl sitzend, vor einem Spiegel, und sie hatte in einer Hand ihr Handy und fotografierte sich im Spiegel, das ganze Bild ein bisschen überbelichtet durch die Reflexion des Blitzes, und trotzdem konnte man alles deutlich sehen, ihre Brüste und ihre Beine und die Hand im Schoß.

Melanie lächelte, aber es war kein Lächeln, das mir gefiel. Ihr Mund erschien mir leicht verkniffen, das Lächeln berührte ihre Augen nicht. Es war ein aufgesetztes Lächeln, das Melanie verloren wirken ließ, so als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob sie überhaupt auf den Auslöser drücken sollte.

Das Zimmer musste ihr Zimmer sein, bei ihr zu Hause. Goldgelbe Vorhänge hinter ihr, ein Stück von einem Bett. Ein Regal, auf dem Bücher standen und lagen, ein schlaffer Teddybär, ein kleiner Korb mit Henkel und ein gerahmtes Bild, auf dem nichts zu erkennen war, weil sich der Blitz im Glas des Bildes spiegelte.

Ruben stieß mich mit dem Ellbogen an. Ja, er ist einer von denen. Verschafft sich die Aufmerksamkeit eines anderen mit einem Ellbogenstoß.

„Was sagst du nun, Mo?“

Wir waren eben aus der Dusche in die Umkleidekabine zurückgekommen, beide noch nass, mein Haar triefend. Ich nahm das Frottiertuch vom Haken und fing an, es zu trocknen. Er hatte das Handy längst wieder ausgeschaltet und auf sein Kleiderbündel gelegt.

„Geile Titten“, sagte er und griff nach seinem Tuch. „Ich dachte immer, die ist nicht so, wie sie sich gibt, Mo. Verstehst du, was ich meine? So wie gar nicht, verstehst du? Ich dachte immer, die Meli ist einfach nur die Meli, verstehst du?“

„Und was weißt du jetzt?“, fragte ich ihn unter dem Frottiertuch hervor.

„Mann, jetzt weiß ich, dass sie ganz anders ist.“

„Wie denn?“

„Anders eben. Voller Geheimnisse.“

Die anderen kamen aus der Dusche. Ich setzte mich auf die Bank und betrachtete meine Füße auf dem Kachelboden. Dabei dachte ich an Melanie. Sie saß im Deutsch- und im Französisch-Unterricht mit mir in der gleichen Bank. Stilles Mädchen. Hübsch und still. Rötliches Haar. Sommersprossen. Super in der Schule. Nie irgendwelche Probleme. Hätte ich sie nicht draußen im alten Bahnhof überrascht, als sie sich mit ihrem Handy blitzte, hätte mich das Foto nun wirklich überrascht.

Rubens Schatten fiel über mich.

„Versuch mal, ihr während des Unterrichts zwischen die Beine zu fassen, Mann“, raunte er. „Die kleine Schlampe will es, verstehst du.

Im ersten Moment wollte ich aufspringen und ihn von mir wegstoßen, aber ich sah ihn nur kurz an und er brachte seinen Mund noch näher an mein Ohr heran.

„Nur so wie zufällig, Mo, da merkst du gleich, was mit ihr los ist. Vielleicht steht sie auf dich und du weißt es nur nicht.“

Felix ging hinter ihm vorbei und klatschte ihm sein nasses Frottiertuch auf den Hintern.

„Herrgott, zieh was an, Ruben. Deine rosigen Arschbacken bringen mich in Versuchung.“

„Schwule Sau!“, zischte Ruben, doch Felix lachte nur, weil eh jeder wusste, dass er es nicht war. Gilbert kam von draußen herein. Angezogen. Er schaute sich um, als hätte er irgendetwas vergessen. „Zeig uns deinen Schwanz, Gil!“, rief ihm Ruben zu.

„Gil hat keinen“, behauptete Felix ernst.

Gilbert schlug die Tür wieder zu.

Einer nach dem anderen verließ den Umkleideraum. Dominik und ich waren die Letzten. Er kämmte vor dem Spiegel sein lockiges Haar. Ich tat meine Sachen in die Sporttasche und nahm mir vor, sie zu Hause herauszunehmen und nicht wieder drin liegen zu lassen, bis sie zu stinken anfingen.

Im Flur begegneten wir unserem Sportwart. Er hatte einen Eimer in der einen Hand und einen Schrubber in der anderen.

„Habt ihr euren Scheiß mitgenommen?“

Er humpelte an uns vorbei und verschwand im Umkleideraum.

Draußen schien die Sonne. Ein wolkenloser Himmel. Spätsommer. Bald begannen die Herbstferien. Ich hatte Melanies Foto im Kopf, während wir durchs Stadiontor gingen. Auf der anderen Straßenseite saßen sie alle auf der Mauer. Wie die Geier hockten sie dort. Felix, von Ruben und Gilbert flankiert, Gilbert mit seiner Sporttasche auf den Knien. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen, als wären nicht nur seine stinkenden Fußballschuhe und sein anderes Fußballzeug drin, sondern ein ganz besonders wertvoller Schatz. Während Ruben noch ein paar nasse Haarsträhnen in der Stirn klebten, sah Gilbert aus, als wäre er im Training überhaupt nicht ins Schwitzen gekommen und hätte deshalb danach gar nicht geduscht. Hatte er auch nicht. Tut er nie. Er hasst alles, was nackt ist, auch seinen eigenen Körper. Und sogar Marzipanschweinchen.

Ruben war ganz das Gegenteil. Redete am liebsten über Sex. War schon im Puff gewesen. Behauptete er wenigstens. War mir egal. Nicht egal war, dass er dieses Foto von Melanie auf seinem Handy gespeichert hatte und es womöglich in der Schule herumzeigte.

Ich überlegte mir, ob er es Felix und Gilbert auch schon gezeigt hatte. Gilbert bestimmt nicht. Vielleicht Felix.

Und ich, Moritz Panzer, was ist los mit mir?

Vielleicht sollten wir Felix fragen. Felix hatte immer und auf alles eine Antwort. Fragten wir ihn, warum ich im Spiel vom vergangenen Samstag den Elfmeter verschossen hatte, hätte er wohl gewusst, dass wahrscheinlich bei meiner Geburt etwas schiefgelaufen war. Woher er das wusste? Meine jetzige Mutter konnte es ihm nicht gesagt haben, die war nämlich nicht meine richtige Mutter. Also, mein Vater konnte ihm über meine Geburt auch nicht viel erzählt haben, denn er war damals geschäftlich in Afrika. Gabun.

Schief war also für mich an jenem 13. Februar überhaupt nichts gelaufen, außer vielleicht, dass der 13. Februar auf einen Freitag fiel. In die Familie, in die ich hineingeboren wurde, war jedoch, außer meiner Schwester Sonja, niemand abergläubisch, und Sonja auch nur, weil sie einen Hang hatte, sich uns gegenüber immer etwas abzugrenzen.

Glücklich und so voller Lebensfreude war meine Mutter bei meiner Geburt gewesen, wie nie zuvor in ihrem Leben, und mein Vater soll es auch gewesen sein, und stolz wie ein Pfau obendrein, und wir dachten wohl alle, dass das für immer so sein würde, nur, was wusste ich damals überhaupt, und was wusste meine Mutter über das, was unserer kleinen Familie bevorstand, oder mein Vater, der mich, als er aus Gabun zurückkehrte, in seine Hände nahm als fürchtete er, ich könnte bei der leisesten Berührung zerbrechen?

Seither waren etwas mehr als vierzehn Jahre vergangen und ich fühlte mich meistens ziemlich gut, hatte ein paar Freunde, drei von ihnen von zweifelhaftem Ruf. Ich kam auch mit Mädchen gut zurecht, war aber keiner, der zur Pflege seines Selbstbewusstseins eine feste Freundin brauchte.

Meine Mutter war fünf Jahre nach meiner Geburt an Krebs gestorben. Ich kann mich ziemlich gut an sie erinnern, eine zierliche schöne Frau mit blondem, welligen Haar. Manchmal fragte ich mich, ob ich später einmal so eine finden würde wie sie, oder vielleicht doch eine ganz andere.

Die Einzige an unserer Schule, die ich richtig mochte, war Melanie. Sie gehörte nicht zu den Zicken, die sich überall zur Schau stellen mussten. Melanie war ein Mädchen, das problemlos seinen eigenen Weg ging, gut in der Schule war, freundlich und mitfühlend. Hätte ich mich nicht darauf versteift, dass jede Freundschaft mit einem Mädchen unweigerlich in einer Katastrophe enden würde, hätte ich sie bestimmt mal gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, meine Freundin zu sein.

Vielleicht wäre es gerade jetzt für meine Entwicklung zum jungen Mann notwendig gewesen, wenigstens mal eine Freundin auszuprobieren, eben Melanie Gubser. Alles, was ich nicht tun wollte, war Rubens Rat zu befolgen, den er mir im Umkleideraum ins Ohr geflüstert hatte.

Ich hätte sie einfach nur fragen können. Vielleicht hätte sie sogar „ja“ gesagt. Vielleicht auch nicht. Aber damit hätte ich leben können.

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Felix, Ruben, Gilbert und ich waren in derselben Klasse und spielten im selben Verein Fußball.

An besagtem Abend überquerten Dominik und ich also die Straße und gingen direkt auf sie zu. Das herablassende Grinsen im Gesicht von Felix galt Dominik, nicht mir. Seit ich ihn einmal nach Hause eingeladen und ihm meine Skizzen gezeigt hatte, hielt er mich für seinen besten Freund und einen besonders talentierten Künstler. Gilbert hingegen klebte mit seinen Augen am Handy und textete irgendjemandem irgendeinen Scheiss. Ruben näselte, dass er, falls er die Gelegenheit dazu bekäme, dem Wagner beim nächsten Training entweder mit einem Ellbogencheck das verdammte Nasenbein brechen oder ihm bei einem Eckball von hinten in die Achillessehne treten würde, und zwar so, dass der Wagner ein paar Wochen lang an Krücken gehen musste.

Während Dominik, unser Torhüter, von dem bekannt war, dass er meine drei Freunde nicht ausstehen konnte, weiterging, blieb ich stehen und öffnete den Drehverschluss der Cola-Flasche, die ich im Automaten unter der Stadiontribüne gekauft hatte und trank. Noch bevor ich die Flasche vom Mund nahm, streckte Ruben schon die Hand aus.

„Krieg ich einen Schluck?“

Ich gab ihm die Flasche, während ich kurz seinen frisch geschwollenen linken Fußknöchel studierte.

„Der Trainer lässt dich keinen Elfer mehr schießen, egal, wie viel du trainierst?“, stichelte Felix.

„Wer soll ihn dann schießen?“, sagte Ruben und gab die Cola-Flasche, ohne mich zu fragen, an Gilbert weiter, der zuerst sein Hand zwischen die Knie stecken musste, um nach der Falsche greifen zu können. „Du vielleicht?“

„Mir egal, aber ich bin mir sicher, dass er Mo von seiner Liste gestrichen hat“, behauptete Felix gelassen, während er Dominik hinterher blickte. „Der hat wohl das Gefühl, er stinkt nicht beim Scheißen.“

Gilbert reichte mir die Flasche. Sie war nur noch halb voll. Oder schon halb leer? Kommt alles drauf man, wie man es sehen will, positiv oder negativ. Hätte ich Ruben im Umkleideraum von mir weggestoßen, wäre das vielleicht gut ausgegangen, vielleicht aber auch schlecht.

„Hättest du ihn am Samstag rein gemacht, wären wir vielleicht als Sieger vom Platz gegangen“, behauptete Gil.

„Stimmt“, sagte Ruben. „Es braucht Mumm, einen Elfer reinzumachen. Wenn du keinen Mumm hast, denkst du vielleicht, der kann danebengehen, und schon geht er daneben, ist doch klar.“

„Willst du damit etwa sagen, dass Mo keinen Mumm hat?“, fragte Felix.

Ruben ging nicht darauf ein. „Ich hätte ihn reingemacht, Mo.“

„Na klar.“ Ich trank von der Cola.

Rubens Handy klingelte. Er klaubte es aus der Hosentasche, warf einen Blick auf die Nummer und steckte es wieder ein. Das Handy klingelte ein paar Mal in seiner Hose weiter, bevor es stumm blieb.

Ich stellte meine Tasche auf den Boden und schwang mich auf die Mauer.

Da saßen wir nun alle vier in einer Reihe auf der Mauer im Schatten einer Baumkrone und keiner sagte etwas. Unser Trainer, der in seinem alten Astra vorbeifuhr, hielt an, kurbelte das Beifahrerfenster herunter und fragte, ob wir Lust auf Bananen hätten. Er hatte immer und überall welche dabei. Schwört auf Bananen. Zur Regeneration der Muskulatur.

„Wir trinken Cola, Coach!“, rief ihm Felix zu, wohl wissend, dass der Trainer es erstens nicht mochte, wenn ihn jemand Coach nannte, und zweitens Cola nicht ausstehen konnte. Er legte den ersten Gang ein und fuhr mit offenem Seitenfenster weiter. Es dauerte eine Weile, bis sich der Rauch aus dem Auspuff verzogen hatte.

Wir saßen einfach nur da und schauten umher. Dann nahm auch Felix sein Handy aus der Hosentasche, und Ruben auch. So saßen wir schließlich alle auf der Mauer und schauten umher und suchten in den Handys herum, als wäre die virtuelle Welt die einzige, mit der wir wirklich was anfangen konnten. Keine Ahnung, was die anderen sahen wenn sie zwischendurch umher blickten, aber ich sah, wie der Sportwart einen prall gefüllten Müllsack zum Müllcontainer trug und ihn darin verschwinden ließ. Dann humpelte er zurück ins Stadion. Vor drei Monaten hatte er in der chirurgischen Abteilung unseres Spitals die zweite Knieprothese implantiert bekommen. Von Gilberts Vater. Der war Leiter der Chirurgie und eine Kapazität für Kniegelenke. Unser Sportwart hieß Peller. Keiner schießt schneller als Peller, hatte die Regionalzeitung einmal über ihn geschrieben. Mehrfacher Torschützenkönig in unserer Liga. Das war knapp dreißig Jahre her. Seine Knie waren bald mal futsch gewesen. Seine linke Schulter auch. Sein Nasenbein ist mehrfach gebrochen. Die großen Vereine hatten ihn gewollt. Schalke. Milan. Er aber blieb bei uns. Untere Liga. Frau und vier Kinder. Sportwart. Wohnung über der Klubkneipe. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, ertränkte er sie mit Korn aus der Pulle.

Es gab sonst wirklich nicht viel zu sehen. Ein Maisfeld, wo einmal der Hartplatz entstehen sollte, falls die Herren Stadträte sich endlich mit dem Bauern einigen konnten, dem das Stück Land gehörte. Ein paar Vögel im Gestrüpp auf der anderen Straßenseite. Eine Reihe von Plakaten für leichte Sommermode. Jemand hatte einem der Fotomodelle einen Schnurrbart ins Gesicht gemalt.

Origineller Kacker. Wahrscheinlich einer von der Unterstufe.

Felix blickte von seinem Handy auf und räusperte sich. „Wenn ich ehrlich sein soll, ich denke mal, dass Dominik eine Macke weg hat, seit sein Vater im Knast sitzt. Würde mich nicht wundern, wenn er mit einer Knarre in die Schule kommt und wie ein Irrer herumzuballern anfängt und sich schließlich selbst eine Kugel in den Schädel knallt.“

Ah, was habe ich gesagt? Akku fast leer. Ich schaltete mein Handy aus. Felix ist ein Klugscheißer, das habe ich gesagt. Geht mir damit höllisch auf den Geist, weil ich mir über solche Sachen oft Gedanken mache. Wie ein menschliches Hirn funktioniert und warum sich unser Hirn und unsere Emotionen dauernd in die Quere zu geraten scheinen. Wahrscheinlich werde ich wegen Felix mal ein Psychologiestudium absolvieren, und wenn ich es geschafft habe, werde ich mich daranmachen, das Phänomen der Klugscheißerei und der verheerenden Abhängigkeit vom Smartphone und ihre verheerenden Nebenwirkungen fürs menschliche Gehirn zu erforschen.

Keiner antwortete Felix. Keiner hatte zugehört.

Für mich ist Dominik okay. Spielt Schlagzeug. Manchmal spielten wir zusammen bei ihm im Keller. Manchmal auch noch mit Alexander am E-Bass und mit Kiko an seiner Gibson und mit Olivia an der Geige. Olivia ist eine Wucht. Mattschwarze E-Geige. Immer im schwarzen Mini. Dünne Beine, schneeweiß. Aschblondes Haar, halblang und Mittelscheitel. Ein Mund zum Küssen. Und gescheit ist sie auch. Hat mal einen Vortrag über Kant gehalten und uns damit gefesselt.

Ruben hatte ihr ein paar Wochen nachgestellt, bis ihre Mutter ihn einmal mitten auf der Straße zur Rede stellte. Was er von Olivia wolle, soll sie ihn ohne Umschweife gefragt haben.

Sie hat geile Titten, soll ihr Ruben geantwortet haben. Da keiner von uns dabei gewesen ist, wussten wir natürlich nicht, was er tatsächlich gesagt hatte. Auf jeden Fall soll Olivias Mutter versucht haben, ihm eine zu scheuern, aber Ruben ist wieselflink und duckte sich nach eigener Aussage unter dem Schlag hindurch und rannte davon.

Ich dachte über diese Dinge nach, während wir auf der Mauer saßen und in unsere Handys starrten und in der Gegend herumschauten. Was ich nicht verstehen konnte, war, warum Gilbert überhaupt noch dahockte. Der ist ein X-Box-Junkie. Nach der Schule oder nach dem Training geht er meistens sofort nach Hause, verschanzt sich in seinem Bunker unterm Dach des elterlichen Hauses und knallt mit irgendwelchen Typen im Chatroom Zombies ab, ohne auch nur einmal daran zu denken, wieviel Trainingszeit er damit verschwendet.

„Sag mir mal was, Mo: Da du ja jetzt in Deutsch mit Melanie die Bank teilst, frage ich mich, ob du nicht vielleicht doch heimlich mit ihr herummachst.“

Ruben schaffte es immer, auch bei harmlosen Gesprächen auf Umwegen zu seinem Lieblingsthema zu kommen. Er hatte sein Handy ausgeschaltet, fingerte aber nervös daran herum. Ich wollte meines auch gleich wieder zur Hand nehmen. Merkwürdig, wie ansteckend das ist, wenn man zusammenhockt und jeder an seinem Handy herumfummelt.

Gilbert, mit seiner Tasche in den Armen, sprang als erster von der Mauer. Er schien es plötzlich eilig zu haben.

„Hast du nun oder hast du nicht?“, hakte Ruben nach.

Ich sah ihn an. Wollte ihn mit meinen Blicken warnen, den anderen ja nicht Melanies Foto zu zeigen, falls er das beabsichtigen sollte. Er wich mir nicht aus. Grinste nur.

„Denkst du etwa nie an solche Sachen, Mo?“

„Glaubst du, er würde es dir sagen, wenn er es täte?“, warf Felix ein. „Wenn einer in unserer Schule kein Arschloch ist, dann ist es Mo. Und Melanie sowieso. Die macht solche Sachen nicht, Ruben.“

„Okay, wenn ich dich richtig verstanden habe, heißt das, dass in unserer Schule nur Arschlöcher sind“, stellte Ruben trocken fest. „Außer Mo und Melanie, unsere M & M’s.“

„Unsere Schule ist eine perfekte Welt, in der sich Arschlöcher besonders wohlfühlen“, präzisierte Felix.

„Du also auch.“ Ruben tat das Handy in seine Hosentasche zurück, was ihn sofort wieder so nervös werden ließ, dass sein linkes Bein heftig zu zittern anfing.

„Klar. Wenn du Grips hättest, wäre dir aufgefallen, dass ich mich nicht ausgeschlossen habe. Mo ist anders als wir. Spürst du das nicht, du Klotz?“

Ruben nahm das Handy wieder hervor, starrte zwei, drei Sekunden lang drauf und steckte es in die Hosentasche zurück. Grinste mich an, dann Felix.

„Ich geh jetzt“, sagte Gil.

Felix nickte.

„Dann geh doch. Geh einfach. Du brauchst uns nicht zu sagen du gehst und dann gehst du doch nicht und stehst nur weiter herum und trittst von einem Fuß auf den anderen.“

„Dann erzähl ihm doch mal von dem Mädchen, dem du im Buchladen begegnet bist“, forderte Ruben Felix auf.

„Ja, erzähl ihm doch mal von dem Mädchen“, pflichtete ihm Gilbert bei, während er mit Daumen und Zeigefinger einen Pickel am Kinn bearbeitete.

„Dazu ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt“, meinte Felix.

„Wann dann?“ Ruben stieß Felix an. „Du hast doch ein Supergirl entdeckt, und zwar in einem Buchladen.“

„In einem Buchladen“, kicherte Gilbert. Herrgott, wenn er so weitermachte, würde er in der Schule irgendwann mal ganz unten durch sein.

„Erzähl schon, Mann! Erzähl ihnen, was du mir gestern erzählt hast.“ Der Spott in Rubens Stimme war nicht zu überhören, aber Felix blieb ruhig. Hob schließlich die Schultern und fing an zu erzählen, wie er am Montag nach der Schule in den Buchladen an der Goethestraße gegangen sei, um sich ein Buch von Paweł Huelle zu kaufen. Und da sei dieses Mädchen gewesen, in Begleitung der Mutter.