Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar

Die mexikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Temporada de huracanes bei Penguin Random House in Mexiko-Stadt.

Esta publicación se realizó con el apoyo de la Secretaría de Cultura del Gobierno Mexicano a través del Fondo Nacional para la Cultura y las Artes con el estímulo del Programa de Apoyo a la Traducción (PROTRAD).

Diese Publikation wurde durch das Programm zur Übersetzungsförderung (PROTRAD) des mexikanischen Kulturministeriums unterstützt.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2019 Fernanda Melchor, published in arrangement with Literary Agency Michael Gaeb, Berlin

© 2019 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie aus der Serie »Underworlds« © Isabelle Hayeur.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142467

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2826 3

www.wagenbach.de

Für Eric

He, too, has resigned his part

In the casual comedy;

He, too, has been changed in his turn

Transformed utterly:

A terrible beauty is born.

W. B. Yeats, Easter, 1916

Einige der hier erzählten Begebenheiten sind real.

Alle Personen sind fiktiv.

Jorge Ibargüengoitia, Die toten Frauen

I

SIE KAMEN DURCH DIE BRESCHE vom Fluss her zum Kanal, die Schleudern bereit zum Kampf, die Augenlider im gleißenden Mittagslicht zusammengekniffen, fast vernäht. Sie waren zu fünft, nur ihr Anführer trug eine Badehose, die rot zwischen dem grünen durstigen Zuckerrohr leuchtete, das jetzt Anfang Mai noch niedrig stand. Der Rest der Truppe folgte ihm in Unterhosen und Gummistiefeln, abwechselnd trugen sie den Eimer mit den Steinen, die sie morgens aus dem Fluss geklaubt hatten; alle vier finster, grimmig und so wild entschlossen, aufs Ganze zu gehen, dass nicht einmal der kleinste von ihnen gewagt hätte, seine Furcht einzugestehen, während er seinen Gefährten vorsichtig folgte, die gespannte Gummischleuder in den Händen, den Stein gegen das Lederstück gedrückt, bereit, dem Erstbesten, der ihm in die Quere kam, den Schädel einzuschießen, sollte irgendetwas auf einen Hinterhalt hindeuten, das Zwitschern des Schwefeltyranns, der wie ein Wachposten in den Bäumen hinter ihnen saß, oder das Rascheln heftig zur Seite gedrückter Blätter oder das Sirren der Steine, wenn sie direkt vor ihren Gesichtern die Luft zerschnitten, die warme Brise, in der die Geier am fast weißen Himmel kreisten und die von einem Gestank erfüllt war, der schlimmer war als eine Handvoll Sand im Gesicht, einer Ausdünstung, die einen ausspucken ließ, um sie nicht zu schlucken, die einem jede Lust raubte, weiterzugehen. Aber der Anführer deutete auf den Rand des Schilfs, und zu fünft robbten sie über das trockene Gras, fünf Körper wie einer, von grünen Fliegen umschwärmt, und so sahen sie schließlich, was aus dem gelben Schaum des Wassers ragte: das halb verweste Gesicht eines Leichnams zwischen Schilfgras und Plastiktüten, die der Wind von der Straße herüberwehte, eine schwärzliche Maske, lächelnd in einem brodelnden Gewusel schwarzer Schlangen.

II

MAN NANNTE SIE DIE HEXE, wie ihre Mutter, Hexenmädchen, als die Alte ihr Geschäft mit dem Heilen und den Zaubersprüchen anfing, und einfach nur Hexe, als sie allein zurückblieb, damals, im Jahr des Erdrutschs. Sollte sie einmal einen anderen Namen gehabt haben, vielleicht festgehalten auf einem zerknitterten, wurmstichigen Zettel, von der Alten in einen der Schränke, zwischen Tüten, schmutzstarrende Lumpen, ausgerissene Haarbüschel, Knochen und Essensreste gestopft; sollte sie einmal Vor- und Nachnamen besessen haben wie die übrigen Dorfbewohner, so hat niemand jemals davon erfahren, nicht einmal die Frauen, die freitags ins Haus kamen, hatten je gehört, dass die Alte sie anders gerufen hätte.

Immer nur du dumme Gans oder du Drecksgöre oder verdammte Teufelsbrut, wenn die Alte wollte, dass das Mädchen zu ihr kommen oder den Mund halten oder einfach nur still unter dem Tisch sitzen sollte, damit sie den Klagen der Frauen lauschen konnte, dem Stöhnen, mit dem sie ihre Sorgen, Beschwerden und schlaflosen Nächte würzten, den Träumen von verstorbenen Angehörigen und dem Streit mit denen, die noch lebten, und fast immer ging es um Geld oder den Ehemann oder dieses Hurenpack von der Landstraße und ich weiß nicht, warum sie mich immer verlassen, wenn ich am glücklichsten bin, sie heulten, wozu das alles, sie schluchzten, lieber sterbe ich gleich, und mit dem Zipfel ihres Kopftuchs wischten sie sich das Gesicht ab, das sie verhüllten, sobald sie die Küche der Hexe verließen, man wusste ja nie, so wie die Leute im Dorf tratschten, sonst hieß es noch, dass man zur Hexe ging, weil man sich an jemandem rächen wollte, dass man das Flittchen, das einem den Mann abluchsen wollte, mit einem Fluch belegte, denn an Intrigantinnen fehlte es nie, wo man sich doch einfach nur ein Mittel gegen die Magenverstimmung seines idiotischen Sohns holte, der ganz allein ein Kilo Kartoffeln verdrückt hatte, oder einen Tee gegen die Müdigkeit oder eine Salbe für die Unpässlichkeiten des Unterleibs oder sich bloß eine Weile in der Küche etwas von der Seele reden, den Kummer loswerden wollte, den Schmerz, der ihnen hoffnungslos in der Kehle zappelte. Denn die Hexe hörte zu, und die Hexe konnte offenbar nichts erschüttern, ja, es hieß sogar, dass sie ihren Mann umgebracht hatte, keinen Geringeren als das Schlitzohr Manolo Conde, jaja, und zwar des Geldes wegen, um an seine Kohle, sein Haus und seine Ländereien zu kommen, an die hundert Hektar Feld- und Weideland, die ihm sein Vater vererbt hatte, also das, was noch davon übrig war, nachdem er fast alles stückchenweise an den Gewerkschaftsführer der Zuckerrohrfabrik verkauft hatte, um bloß nie arbeiten zu müssen, um von seinen Kapitalerträgen und seinen sogenannten Geschäften zu leben, die immer schiefgingen, aber das Anwesen war so groß, dass, als Don Manolo starb, immer noch ein guter Teil da war und auch noch einiges abwarf, weshalb seine Söhne, zwei erwachsene Kerle mit abgeschlossener Ausbildung, die Don Manolo mit seiner rechtmäßigen Ehefrau drüben in Montiel Sosa gezeugt hatte, im Dorf auftauchten, kaum dass sie vom Tod des Vaters erfahren hatten: Ein jäher Herzinfarkt, hatte der Arzt von Villa gesagt, als die beiden zu diesem Haus inmitten der Zuckerrohrfelder kamen, wo die Totenwache abgehalten wurde, und ebendort erklärten sie der Hexe vor aller Augen, dass sie sich bis zum nächsten Tag fortscheren sollte, aus dem Haus und aus dem Dorf, dass sie ja wohl nicht ganz richtig im Kopf war, wenn sie glaubte, als Söhne würden sie es zulassen, dass eine dahergelaufene Schlampe das Erbe ihres Vaters an sich riss, die Ländereien und das Haus – nach all den Jahren war es immer noch beinahe ein Rohbau, so grandios und missraten wie Don Manolos Träume, mit seiner geschwungenen Treppe, auf deren Geländer sich Gipsengel tummelten, und den mächtig hohen Decken, unter denen Fledermäuse nisteten, und dem Geld, das dort irgendwo versteckt sein musste, ein Haufen Centenario-Goldmünzen, die Don Manolo von seinem Vater geerbt und nie zur Bank gebracht hatte, und der Diamant, der Diamantring, den niemand je zu Gesicht bekommen hatte, nicht einmal die Söhne, dessen Stein aber, so erzählte man sich, so groß war, dass man ihn für eine Fälschung hielt, eine echte Reliquie, die Don Manolos Großmutter gehört hatte, Señora Chucita Villagarbosa de los Monteros de Conde, und der allen irdischen wie göttlichen Gesetzen nach der Mutter der jungen Männer zustand, Don Manolos rechtmäßiger Ehefrau vor Gott und den Menschen, und nicht dieser zugereisten Nutte, dieser kriecherischen Schlange, dieser Mörderin, dieser Hexe, die jetzt die feine Dame spielte, dabei hatte Don Manolo die kleine Hure aus irgendeiner Dreckshütte im Wald geholt, um in der Einsamkeit der Hochebenen jemanden zu haben, an dem er seine niedersten Instinkte befriedigen konnte.

Kurzum eine schlechte Frau, die irgendwie, vielleicht hatte es ihr der Teufel selbst eingeflüstert, glaubten manche, oben auf dem Berg ein Kraut gefunden hatte, zwischen den Ruinen, die, wie die von der Regierung sagten, Gräber der Vorfahren waren, die früher diese Gegenden bewohnt hatten, die zuerst hier gewesen waren, noch vor den Gachupines von Spaniern, aber die hatten das alles hier von ihren Schiffen aus gesehen, und im Handumdrehen gehörte das Land der Krone von Kastilien!, und die paar Vorfahren, die noch übrig waren, mussten in den Bergen Zuflucht suchen und alles hinter sich lassen, sogar die Steine ihrer Tempel, die beim Wirbelsturm achtundsiebzig schließlich vom Berg bedeckt wurden, als der Erdrutsch über hundert Einwohner von La Matosa im Schlamm begrub und auch die Ruinen, zwischen denen dieses Kraut wuchs, aus dem die Hexe, sagte man, ein Gift braute, das man weder sah noch schmeckte und das keinerlei Spuren hinterließ, denn sogar der Arzt von Villa erklärte, dass Don Manolo an einem Herzinfarkt gestorben sei, doch die beiden dämlichen Söhne beharrten darauf, dass man ihn vergiftet hatte, und die Leute gaben der Hexe später auch die Schuld am Tod von Don Manolos Söhnen, weil die noch am Tag der Beerdigung auf der Landstraße umkamen, als sie mit ihrem Auto den Leichenzug zum Friedhof von Villa anführten und sich von einem vor ihnen fahrenden Lastwagen eine Ladung Eisenstangen löste und beide erschlug; auf den Fotos in der Zeitung war nur blutverschmiertes Eisen zu sehen, eine schreckliche Sache, keiner vermochte sich je zu erklären, wie dieser Unfall passieren konnte, wie die Stangen sich lösen, die Windschutzscheibe zerschmettern und die Insassen durchbohren konnten, und mehr als einer nahm es zum Anlass, um die Hexe zu beschuldigen, die Hexe hat ihnen einen Fluch angehängt, um Haus und Ländereien zu behalten, das verdorbene Weib hat sich dem Teufel im Tausch gegen dunkle Mächte hingegeben, und etwa zu dieser Zeit sperrte sich die Hexe in ihrem Haus ein und kam nicht mehr heraus, weder tagsüber noch nachts, vielleicht aus Angst vor der Rache der Condes oder vielleicht, weil sie etwas zu verbergen hatte, ein Geheimnis, das sie hüten musste, irgendetwas in jenem Haus, das ihres Schutzes bedurfte, und sie wurde mager und blass, ihr Blick allein war angsteinflößend und verwirrt, und es waren die Frauen von La Matosa, die ihr Essen brachten und dafür ihre Hilfe in Anspruch nahmen, sich von ihr Mittelchen mischen, Tränke aus den Kräutern brauen ließen, die die Hexe selbst in ihrem Hinterhofgärtchen anpflanzte oder die auf dem Berg zu pflücken sie den Frauen auftrug, damals, als es den Berg noch gab.

Das war auch die Zeit, in der die Leute anfingen, das Flugtier zu sehen, das nachts die Männer verfolgte, wenn sie über die Feldwege zwischen den Dörfern nach Hause gingen, mit gespreizten Krallen, um sie zu zerkratzen oder vielleicht auch um sie zu packen und gleich ganz in die Hölle zu verschleppen, denn in den Augen des Getiers loderte ein fürchterliches Feuer; die Zeit, in der die Gerüchte um die Statue aufkamen, die die Hexe in einem Zimmer des Hauses versteckt haben sollte, vermutlich im oberen Stockwerk, das sie nie jemanden betreten ließ, nicht einmal die Frauen, die sie besuchten; dort, sagte man, schloss sie sich ein, um herumzuhuren, ja, mit dieser Statue, einem lebensgroßen Abbild des Satans mit einem Glied so lang und so dick wie ein Männerarm mit einer Machete in der Faust, einem überdimensionalen Schwanz, auf dem die Hexe Nacht für Nacht ritt, und deshalb behauptete sie auch, keinen Ehemann zu brauchen, denn tatsächlich hat man die Hexe nach Don Manolos Tod mit keinem Mann mehr gesehen, wie denn auch, wo sie doch die Männer lauthals mit Beleidigungen bedachte, dass sie Säufer und Weicheier waren, Drecksäcke und miese Schweine, dass irgendeiner dieser Hampelmänner nur über ihre Leiche in ihr Haus käme, dass sie alle, die Frauen aus dem Dorf, Närrinnen waren, weil sie diese Individuen freiwillig ertrugen, und wenn sie so etwas sagte, blitzten ihre Augen, und einen Wimpernschlag lang war sie fast wieder schön, mit ihrem zerzausten Haar und den erregt geröteten Wangen, und die Frauen aus dem Dorf bekreuzigten sich, weil sie sich gut vorstellen konnten, wie die Hexe sich nackt auf den grotesken Schwanz des Teufels setzte, ihn immer tiefer eindringen ließ, bis der Teufelssamen über ihre Schenkel troff, rot wie Lava oder grün und zähflüssig wie die Elixiere, die in ihrem Kessel über dem Feuer brodelten und die die Hexe ihnen löffelweise einflößte, um sie von ihren Beschwerden zu heilen, oder vielleicht doch schwarz wie Teer, schwarz wie die riesigen Pupillen und das verfilzte Haar des Kindes, das sie eines Tages unter dem Küchentisch entdeckten, an die Rockzipfel der Hexe geklammert, so stumm und mickrig, dass viele Frauen insgeheim beteten, es möge nicht lange am Leben bleiben, um nicht unnötig zu leiden; dasselbe Kind, das sie einige Zeit später am Fuß der Treppe überraschten, ein offenes Buch auf den übereinandergeschlagenen Beinen, mit den Lippen leise die Worte nachwispernd, die seine großen schwarzen Augen lasen, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, binnen weniger Stunden wusste man bis Villa, dass die Tochter der Hexe am Leben war, kaum zu glauben, wo doch sogar die Missgeburten, die Tiere manchmal zur Welt bringen, fünfbeinige Ziegen oder zweiköpfige Hühner, nach ein paar Tagen verendeten, aber die Tochter der Hexe, das Hexenmädchen, wie sie von da an genannt wurde, dieses heimlich und in Schande geborene Geschöpf, wurde jeden Tag größer und kräftiger, und bald war sie imstande, jede Aufgabe zu erledigen, die ihre Mutter ihr aufhalste: Holz hacken, Wasser vom Brunnen holen, zum Markt von Villa gehen, dreizehn Kilometer hin und dreizehn zurück, beladen mit Einkaufstaschen und gefülltem Tragkorb auf dem Rücken, ohne einmal anzuhalten oder gar vom Weg abzukommen oder mit den anderen Mädchen aus dem Dorf zu schwatzen, von denen es allerdings ohnehin keine wagte, sie anzusprechen, sie lachten nicht einmal über sie, über ihr krauses störrisches Haar, ihre zerlumpte Kleidung und ihre riesigen nackten Füße; sie war groß und linkisch, kräftig wie ein Junge und schlauer als sonstwer, denn bald kam heraus, dass es das Hexenmädchen war, das Buch über die Haushaltsausgaben führte, das die Pachtzinsen mit den Leuten von der Zuckerrohrfabrik aushandelte, die auf das Stück Land aus waren und nur auf die geringste Nachlässigkeit vonseiten der Hexe lauerten, um sich mit juristischen Winkelzügen ihr Eigentum unter den Nagel zu reißen, auszunutzen, dass es keine Grundstückspapiere gab und keinen Mann, der die beiden beschützt hätte, was auch gar nicht nötig war, weil das Hexenmädchen, weiß der Himmel wie, das Verhandeln gelernt hatte, und es war so gerissen, dass es eines Tages sogar in der Küche auftauchte und Preise für die Sitzungen mit der Alten festlegte – die damals gerade mal vierzig war, mit ihrem faltigen Gesicht und dem zotteligen grauen Haar aber aussah wie sechzig –, denn die war schon nicht mehr ganz richtig im Kopf und vergaß, sich die Beratungen bezahlen zu lassen, oder gab sich mit dem nutzlosen Kram zufrieden, den die Frauen ihr brachten: etwas Panela-Zucker, ein halbes Pfund getrocknete Kichererbsen, ein Tütchen halb verfaulter Zitronen oder ein Huhn voller Maden, bis das Hexenmädchen der Misswirtschaft einen Riegel vorschob; eines Tages erschien sie in der Küche und sagte mit ihrer rauen, ungeübten Stimme, dass die Mitbringsel der Frauen nicht mehr als Bezahlung für die Beratung genügten, dass es so nicht weiterging und dass es von jetzt an unterschiedliche Tarife gab, je nach Schwierigkeit des Auftrags, den Mitteln, die ihre Mutter einsetzen musste, und der Art der erforderlichen Magie, denn es war ja wohl kaum dasselbe, ein paar Hämorrhoiden zu heilen oder dafür zu sorgen, dass ein Unbekannter der Bittstellerin plötzlich vollkommen zu Füßen lag, oder den Kontakt mit der verstorbenen Mutter herzustellen, um herauszufinden, ob diese verziehen hatten, dass man sie zu Lebzeiten so allein gelassen hatte, nicht wahr?

Deshalb würden die Dinge sich künftig ändern, was vielen gar nicht gefiel, und so kamen sie zunächst freitags nicht mehr, sondern gingen, wenn sie Beschwerden hatten, zu einem Heiler in Palogacho, der mehr zu können schien als die Hexe, denn zu ihm kamen sogar Leute aus der Hauptstadt, Prominente aus dem Fernsehen, Fußballer, Politiker im Wahlkampf, allerdings, naja, verlangte er auch Wucherpreise, und da die meisten Frauen nicht einmal die Busfahrkarte bis nach Palogacho bezahlen konnten, lenkten sie schließlich ein und sagten zu dem Mädchen, also gut, wie viel soll es denn sein, sie hätten nun mal nur dies und das dabei und wie könnte man sich nun einigen, und das Mädchen bleckte seine großen Zähne und antwortete, sie sollten sich keine Sorgen machen, wenn es nicht reichte, konnten sie ja ein Pfand dalassen, zum Beispiel die Ohrringe, die du neulich anhattest, oder die Halskette von deinem Töchterchen oder, schon ganz freimütig, vielleicht den Topf mit Lammfleisch-Tamales oder die Kaffeekanne, das Radio, das Fahrrad, alles akzeptierte sie, und wenn eine im Verzug war, musste sie Zinsen zahlen, denn von heute auf morgen fing das Mädchen außerdem an, Bargeld zu verleihen, zu fünfunddreißig Prozent Zinsen oder mehr, und alle im Dorf waren sich einig, dass das die List des Teufels war, denn wo hätte man je ein so gerissenes Ding gesehen, wer sonst hätte ihr das beibringen sollen, und natürlich fand sich in der Kneipe einer, der erklärte, dass das mit den Zinsen Diebstahl war, dass man dieser verfluchten Alten die Behörden auf den Hals jagen musste, die Polizei, damit die sie als Spekulantin und Betrügerin festnehmen konnte, für wen hielt sie sich eigentlich, die Leute von La Matosa und den umliegenden Weilern derart zu plündern, aber letzten Endes tat keiner irgendwas, denn wer sonst würde ihnen Geld leihen im Tausch gegen ihre elenden Habseligkeiten, und außerdem wollte sich keiner die Hexe zum Feind machen, offen gestanden hatten sie alle ziemliche Angst vor ihr. Selbst die Männer des Dorfes gingen nachts nicht an ihrem Haus vorbei; alle Welt wusste um die Geräusche, die Schreie und Wehklagen, die vom Weg aus zu hören waren und die, so stellten die Leute es sich vor, von den Hexen ausgestoßen wurden, wenn die beiden es mit dem Teufel trieben, obwohl andere eher der Meinung waren, dass die alte Hexe schlicht dabei war, verrückt zu werden, denn zu jener Zeit erkannte sie kaum noch jemanden und fiel ständig in eine Art Trance, und alle sagten, dass Gott sie für ihre Sünden und Schweinereien bestrafte und vor allem dafür, diese Satansbrut hervorgebracht zu haben, weil die Hexe damals schon triumphierend lachte, wenn die anderen Frauen sich zu fragen trauten, wer denn der Vater des Mädchens war, ein Rätsel, das sich niemand recht erklären konnte, weil niemand so genau wusste, wann das Mädchen zur Welt gekommen war; Don Manolo jedenfalls war damals schon seit Jahren tot, und sonst wusste man ja von keinem Mann, die Hexe ging nicht aus dem Haus und auch nicht zu den Tanzfesten, doch vor allem und in Wahrheit hätten die Frauen wirklich gern gewusst, ob nicht vielleicht ihre eigenen Männer diese grässliche Kreatur gezeugt hatten, und deshalb bekamen sie eine Gänsehaut, wenn die Hexe sie wild angrinste und sagte, das Kind sei des Teufels Tochter, und bei Gott, so sah es aus, man musste das Hexenmädchen nur anschauen und mit dem Bildnis des vom Erzengel Michael gestürzten Beelzebub vergleichen, das in der Kirche von Villa hing, vor allem den Blick und die dichten Augenbrauen, dann bekreuzigten sich die Frauen, und manchmal träumten sie nachts davon, dass der Teufel sie mit steifem Glied verfolgte, um ihnen ein Kind zu machen, und dann erwachten sie mit tränennassen Augen, feuchten Schenkeln und Bauchschmerzen und eilten nach Villa, um bei Pater Casto zu beichten, der sie für ihren Aberglauben schalt; denn genauso gab es Leute, die über all das Gerede lachten und sagten, dass die Alte einfach nur verrückt war und das Mädchen bestimmt in irgendeinem Kaff geklaut hatte, und wieder andere behaupteten, dass ihnen die Sarajuana im hohen Alter von einer Gruppe junger Kerle erzählt hatte, die eines Abends in ihrer Kneipe aufgekreuzt waren, weder aus La Matosa noch aus Villa kamen die, das hörte man ihnen an, und im Suff hatten die damit geprahlt, dass sie sich gerade eine Alte aus La Matosa vorgenommen hatten, die ihren Mann auf dem Gewissen hatte und sich als Hexe aufspielte, da war die Sarajuana hellhörig geworden, und die Kerle hatten weiter erzählt, wie sie in das Haus eingedrungen waren und das Miststück geprügelt hatten, bis sie schön stillgehalten hatte, und wie sie die Alte dann nacheinander gefickt hatten, denn Hexe oder nicht, lecker war die Fotze trotzdem, schön saftig, und gefallen hat’s ihr auch, so wie die sich gewunden und gekreischt hat, während sie sie durchnahmen, ja klar, sind doch alles Huren hier in diesem Drecksloch, sagten sie, und natürlich gab es irgendeinen Esel, denn so einen gibt es immer, der sich beleidigt fühlte, weil die Kerle La Matosa ein Drecksloch genannt hatten, und sich auf die Typen stürzte, und gemeinsam versetzten alle, die gerade in der Kneipe waren, den Jungs ein paar kräftige Stockhiebe, aber die Machete zückte letztlich keiner, vielleicht waren die anderen zu schnell zu Boden gegangen oder vielleicht war es zu heiß, um die Beleidigung ernst zu nehmen, außerdem gab es im Sarajuana keine Weiber, die man beeindrucken konnte, nicht einmal die dürren Vogelscheuchen, die aus ihren Hütten an der Küste rüberkamen, um sich für ein Bier herzugeben, nur die Sara, und die wurde schon damals von allen wie ein Kerl behandelt, wie einer von denen mit dunklem Gesicht und obligatorischem Schnauzbart, die mit einer Flasche schalem Bier in der Hand an der Theke lehnten, über ihnen der sirrende Ventilator, der schleifend die Ausdünstungen der Männerkörper verteilte, während das Radio vor sich hindudelte, für mein hübsches Häschen hier, schneid ich zartes Gras, neben der Kerze und dem Bild von Sankt Martin, und bring’s dem Häschen gleich, und der in Weihwasser und Zuckerrohrschnaps getauchten Aloe Vera, der verzweifelt langsam schon, ich weiß es ja, um die Neider fernzuhalten, erklärte die Hexe, und das Übel dem zurückzuschicken, der es beschworen und somit verdient hatte.

Deshalb stand mitten auf ihrem Küchentisch auch immer ein Teller mit grobem Salz und darauf ein roter Apfel, in dem ein Fleischermesser steckte, sowie eine weiße Nelke, die die Frauen, die freitags in aller Frühe zu ihr kamen, welk und fast schon faulig vorfanden, vergilbt von den schlechten Energien, die sie selbst in dieses Haus hineinschleppten, den negativen Schwingungen, die sie in Zeiten von Kummer und Missgeschicken in ihrem Inneren zu horten glaubten und von denen die Hexe sie mit ihren Mitteln zu reinigen wusste, es war ein ebenso unsichtbarer wie zäher Dunst, der in dem Mief des ungelüfteten Hauses hing; niemand wusste so recht, seit wann der Alten so vor Fenstern graute, doch zu jener Zeit, als das Mädchen durch das Halbdunkel des Wohnzimmers neben der Küche tollte, das niemand je zu betreten wagte, hatte die Alte bereits eigenhändig alle Öffnungen des Hauses mit Ziegelsteinen und Zement und Stöcken und Draht verbarrikadiert, sogar die Haustür aus dunkelbrauner Eiche, durch die Don Manolos Sarg zur Beerdigung in Villa hinausgetragen worden war, sogar diese Tür hatte sie mit Ziegelsteinen und Holzkeilen und allem Möglichen vermauert, damit niemand sie je wieder öffnete, und seither konnte man das Haus nur noch vom Hof aus durch die schmale Küchentür betreten, denn irgendwie musste das Hexenmädchen ja nach draußen gelangen, um Wasser zu holen, sich um den Gemüsegarten zu kümmern und die Besorgungen zu machen, und da die Hexe diese Tür also nicht verrammeln konnte, ließ sie ein Gitter anbringen, dessen Stäbe dicker waren als die in den Zellen des Gefängnisses von Villa, zumindest behauptete das der Schmied, den sie beauftragt hatte, und an dieses Gitter hängte sie ein faustgroßes Schloss, dessen Schlüssel die Alte von nun an stets im Büstenhalter trug, über der linken Brust; die Gittertür fanden die Frauen aus dem Dorf immer öfter verschlossen vor, keine jedoch traute sich zu klopfen, sie warteten draußen, bis manchmal die Schreie und Verwünschungen und das Geheul zu ihnen drangen, das die Alte ausstieß, wenn sie Möbelstücke gegen Wände oder zu Boden schleuderte, so zumindest hörte es sich vom Hof aus an, und währenddessen versteckte sich das Mädchen – wie es Jahre später den Dirnen der Landstraße erzählen sollte – unter dem Küchentisch, das Messer in der Hand und zusammengekauert wie als kleines Kind, als das ganze Dorf noch glaubte und hoffte und sogar betete, es möge bald sterben und sich viel Leid ersparen, weil sich der Teufel die Kleine früher oder später ganz bestimmt holen würde, ein Schlund würde sich in der Erde auftun, und beide Hexen würden hineinstürzen, geradewegs in den Feuersee der Hölle, die eine, weil sie vom Teufel besessen war, die andere wegen all der Verbrechen, die sie mit ihren Hexereien begangen hatte; weil sie Don Manolo vergiftet und seine Söhne mit einem Fluch hatte verunglücken lassen; weil sie die Männer aus dem Dorf mit ihren Sprüchen und ihrer schwarzen Magie kastriert und geschwächt hatte und vor allem, weil sie dem Bauch der sündhaften Weiber den dort zu Recht keimenden Samen entrissen hatte, ihn stattdessen in dem Gift auflöste, das sie mischte, wann immer man sie darum bat, und dessen Rezeptur sie vor ihrem Tod an das Hexenmädchen weitergab, in den Tagen vor dem Erdrutsch im Jahr achtundsiebzig, die sie eingesperrt im Haus verbrachten, als der Wirbelsturm gegen die Küste peitschte und das Wasser unter Blitz und Donner tagelang aus dem Himmel brach, die Felder überschwemmte und alles verdarb, die von Wind und Donnergrollen benommen in ihren Koppeln verharrenden Tiere ertränkte und sogar die Kinder, die keiner mehr auf den Arm nehmen konnte, als der Berghang niederging und Felsen und entwurzelte Steineichen mit mächtigem Tosen in die Tiefe sackten und schwarzer Schlamm bis zur Küste alles mit sich riss und drei Viertel des Dorfes in einen Friedhof verwandelte, vor den vom Weinen geröteten Augen derer, die nur überlebt hatten, weil es ihnen gelungen war, sich an den Ästen der Mangobäume festzuklammern, als das Wasser sie überspülte, und die tagelang in den Baumkronen ausgeharrt hatten, bis Soldaten in Booten kamen und sie herunterholten, als das Unwetter weiter in die Berge gezogen war, die Sonne wieder zwischen bleiernen Wolken hervorschien, die Erde allmählich wieder verkrustete und ein Trupp bis auf die Knochen durchnässter Menschen, deren Haut von winzigen korallenähnlichen Algen überzogen war, mit ihrem Vieh und den noch lebenden Kindern auf dem Rücken in Villagarbosa Zuflucht suchte, wo immer die Regierung sie hinschickte: im Erdgeschoss des Rathauses, im Vorraum der Kirche, in der Schule, die den Unterricht einstellte und sie wochenlang aufnahm, mit ihren Habseligkeiten, ihren Klagen und ihren Listen von Toten und Verschwundenen, zu denen auch die Hexe und ihre besessene Tochter gehörten, denn seit dem Unwetter hatte sie niemand mehr gesehen.

Etliche Wochen später erst tauchte das Mädchen eines Morgens in den Straßen von Villa auf, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, schwarz ihre Strümpfe und schwarz die Haare auf ihren Beinen, schwarz die langärmelige Bluse und der Rock und die hochhackigen Schuhe und der Schleier, den sie mit Stecknadeln an dem hoch aufragenden Knoten befestigt hatte, zu dem ihr langes dunkles Haar gewunden war, und alle starrten sie verdutzt an, ob vor Schreck oder wegen des lächerlichen Anblicks, den sie bot, bei der brütenden Hitze ganz in Schwarz gekleidet, die dumme Gans, man musste ja verrückt sein, lächerlich, sich so als Vogelscheuche zu verkleiden wie die Transvestiten, die jedes Jahr beim Karneval von Villa herumzogen, trotzdem wagte niemand, ihr ins Gesicht zu lachen, denn viele hatten in jenen Tagen Angehörige verloren, und als sie das Mädchen in ihrem Totenkostüm mit merkwürdig gesetztem und zugleich erschöpftem Schritt zum Markt staksen sahen, ahnten sie, dass ihre Mutter, die alte Hexe, umgekommen, vom Antlitz der Welt verschwunden war, womöglich unter demselben Schlamm begraben, der das halbe Dorf verschluckt hatte; ein scheußlicher Tod, der den Leuten im Grunde aber noch zu milde für das sündhaft-frevlerische Leben erschien, das die Hexe geführt hatte, und niemand, nicht einmal die Frauen, hatte den Mut, die Trauernde zu fragen, was mit dem Geschäft geschehen, wer das Heilen und Hexen übernehmen würde, und es vergingen Jahre, bis die Leute zu dem Haus in den Zuckerrohrfeldern zurückkehrten, viele Jahre, in denen La Matosa sich langsam wieder bevölkerte und neue Hütten und Läden auf den sterblichen Überresten derer erbaut wurden, die unter dem Berg begraben lagen, vor allem von Leuten von außerhalb, angezogen vom Bau der durch Villa führenden neuen Landstraße, durch die Hafen und Hauptstadt mit den kürzlich im Norden bei Palogacho entdeckten Ölvorkommen verbunden werden sollten; Barracken und Lokale wurden errichtet und etwas später Kneipen, Pensionen, Bordelle und Stripclubs, wo die Lastwagenfahrer, Arbeiter, durchreisenden Händler und Tagelöhner einkehrten, um für eine Weile der Eintönigkeit der zuckerrohrgesäumten Landstraße zu entkommen, den Kilometern und Kilometern von Zuckerrohr, Weideland und borstigem Binsengras, vom Straßenrand bis zu den Berghängen im Westen und der steil zu dem an dieser Stelle stets aufgewühlten Meer abfallenden Küste im Osten; wo man hinsah, Sträucher und niedriges Gestrüpp, auf dem sich in der Regenzeit Kletterpflanzen so rasend schnell ausbreiteten, dass sie Häuser und Felder zu überwuchern drohten; die Männer hielten sie mit der Machete im Zaum, hieben mit gekrümmtem Rücken am Rand der Landstraße auf sie ein, an den Flussufern, in den Ackerfurchen, die Füße im warmen Erdreich, viel zu beschäftigt und manche zu stolz, um den melancholischen Blicken Beachtung zu schenken, die ihnen vom Weg aus das schwarzgekleidete Gespenst zuwarf, das durch die einsamen Gegenden rings ums Dorf streifte, wo die Truppen von Neuankömmlingen auf den Feldern arbeiteten, die für einen Hungerlohn frisch angeheuerten jungen Kerle mit ihren glatten Gesichtern und biegsamen Körpern, die Muskeln an Armen, Beinen und Bauch gestählt von harter Arbeit und brennender Sonne, vom Gerangel mit dem aus Lumpen zusammengenähten Ball abends auf dem Fußballplatz des Dorfs und den wilden Wettläufen darum, wer als Erster an der Wasserpumpe war, wer als Erster in den Fluss sprang, wer am schnellsten die vom Ufer hineingeworfene Münze fand, wer am weitesten spuckte, wenn sie in der Dämmerung auf dem Amate-Stamm saßen, der über das laue Wasser ragte, brüllend und johlend, die muskulösen Beine im Gleichtakt wippend, Schulter an Schulter, die Rücken schimmernd wie poliertes Leder; dunkel glänzend wie Tamarindenkerne oder hellbraun wie Karamellcreme oder wie das zarte Fruchtfleisch des Sapote.

Zimtfarbene oder mahagoni- bis palisanderfarbene Haut, nass und lebendig, die man sich von Weitem, von dem ein paar Meter entfernten Baumstamm, hinter dem die junge Hexe stand und sie ausspionierte, so glatt, hart und fest vorstellen konnte wie grünes Obst, das sie am liebsten mochte, nach dem sie sich stumm verzehrte, auf das sie ihren begierigen schwarzen Blick konzentrierte, verborgen im Dickicht oder vor Verlangen gelähmt an den Feldrainen, in den Händen wie immer die Einkaufstaschen, die Augen feucht beim Anblick all dieses schönen kraftvollen Fleisches, den Schleier über dem Kopf gelüftet, um sie besser sehen, besser riechen, in ihrer Fantasie das salzige Aroma schmecken zu können, das die jungen Kerle in der Luft der Ebene hinterließen, in der Brise, die gegen Jahresende zu einem hartnäckigen Wind wurde, der die Blätter des Zuckerrohrs und die losen Bänder der Strohhüte und die Zipfel der bunten Tücher flattern und die Flammen erzittern ließ, die durch die Zuckerrohrfelder sausten und das welke Dezembergestrüpp zu Asche zerstäubten; ein hartnäckiger Wind, der am Tag der Unschuldigen Kinder bereits nach verbrutzeltem Karamell roch, nach Verkohltem, und der das schwere Hin und Her der mit mächtigen geschwärzten Zuckerrohren beladenen Lastwagen begleitete, die unter den tiefhängenden Wolken zur Fabrik fuhren, wenn die Burschen endlich ihre Macheten einsteckten, ohne sie auch nur abzuwaschen, und zur Landstraße rannten, um das im Schweiß ihrer erschöpften Körper verdiente Geld zu verschleudern, mit hinuntergestürztem Bier und noch mehr Bier, das gerade mal lauwarm aus dem alten Kühlschrank der Sarajuana kam, dessen Rattern das Stampfen der Cumbia untermalte, und schon ist passiert, was wir gleich ahnten, rund um einen Plastiktisch, ja, meine hübsche Kleine, es ist schon passiert, an dem sie sich noch einmal erzählten, was in den letzten Wochen so geschehen war, und manchmal waren sich alle einig, dass sie sie gesehen hatten, oder einer war ihr auf irgendeinem Weg sogar begegnet, auch wenn sie sie nicht das Hexenmädchen, sondern einfach nur die Hexe nannten; und in ihrer jugendlichen Einfalt verwechselten sie sie mit der Alten und den Schauermärchen, die ihnen die Frauen in den Dörfern ihrer Kindheit erzählt hatten: mit der Geschichte von der Llorona, der weinenden Frau, die aus Liebeskummer ihre Kinder ertränkte, weshalb sie für alle Ewigkeit dazu verdammt ist, auf Erden zu wandeln und ihre Sünden zu beklagen, als schauerliche Erscheinung mit dem Gesicht eines bockigen Maultiers und den Beinen einer haarigen Spinne; oder der Geschichte vom Weißen Mädchen, das einem erscheint, wenn man der Großmutter nicht gehorcht und sich nachts aus dem Haus stiehlt, um Dummheiten zu machen, aber das Weiße Mädchen folgt einem, und wenn man am wenigsten darauf gefasst ist, ruft sie einen beim Namen, und dreht man sich um, stirbt man vor Schreck beim Anblick ihres Totenkopfgesichts; die Hexe war für sie ein ähnliches Schreckgespenst, nur viel interessanter, weil sie echt war, ein Mensch aus Fleisch und Blut, der auf dem Markt von Villa zwischen den Ständen herumging und die Marktfrauen grüßte, das war etwas anderes als die dämlichen Gruselgeschichten, die Mütter und Großmütter und Tanten erzählten, dieser Haufen alter Klatschweiber, die nur nicht wollen, dass man sich draußen herumtreibt, oder nicht?, aber was gibt es schon Lustigeres, als nachts abzuhauen und Scheiße zu bauen, Besoffene zu erschrecken und kleinen Flittchen nachzustellen.

Von wegen Hexe, da waren sie sich einig, was die Alte braucht, ist ein Schwanz im Mund, sagte ein besonders Mutiger, wenn die Hexe mir einen blasen will, kann sie gleich hier am Stiel anfangen, sagte ein anderer und griff sich an die Hoden, und zwischen derben Witzen, Gelächter, Gerülpse, Gejohle und Schlägen auf die Tischplatte meldete sich auch der Schlauberger zu Wort, der laut überlegte, dass die Hexe, wenn sie schon so viele Ländereien und so viel Geld besaß, in Truhen und Säcken voller Goldmünzen versteckt, wie es hieß, dass diese stinkreiche Hexe aus dem Zuckerrohrfeld es sich dann doch gut und gern leisten könnte, für das zu bezahlen, was sie den Mädchen aus dem Dorf und dem einen oder anderen verirrten Lamm gratis zukommen ließen, oder nicht? Allerdings konnte nachher niemand mehr so recht sagen, wer tatsächlich als Erster den Mut bewiesen und sich mitten in der Nacht auf den Weg zum Haus der Hexe gemacht hatte, darauf bedacht, nicht vor dem Gittertor gesehen zu werden, und nicht vor der Küchentür, die plötzlich aufging und den Blick auf eine große, magere Frau freigab, einen rasselnden Schlüsselbund in den Händen, die blass wie Mondkrebse einen Augenblick lang aus den schwarzen Ärmeln ihres in der Dunkelheit schwebenden Gewands hervorlugten. Denn die Glut unter dem Kessel spendete kaum Licht, erfüllte die Küche dafür mit Dämpfen und einem Geruch nach Kampfer, der noch tagelang im Haar der jungen Männer hing, die sich trauten, aus Ehrgeiz oder um des Adrenalins willen, aus makabrer Lust oder reinem Trieb, mit dem Schatten ins Geschäft zu kommen, der sie Nacht für Nacht bebend erwartete, und es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um danach über den Feldweg bis zur Landstraße zu rennen, Zuflucht bei der Sarajuana zu suchen, wo das Geld, das der Schatten einem in die Tasche steckte, wenn er endlich von einem abließ, in schales Bier umgesetzt wurde. Und ich musst ihr dabei nicht mal ins Gesicht schauen, brüsteten sich die auserwählten Tölpel, solange ihnen einer zuhörte; sie hatten nur ihre Hände ertragen und sich den Schwanz von einem Mund lutschen lassen müssen, auch der wie ein Schatten, der hinter dem rauen, dreckigen Stoff auftauchte und wieder verschwand, der ihren Kopf bedeckte und nur dann ein wenig zur Seite geschoben wurde, wenn es nötig war, der aber nie alles offenbarte, wofür sie ihr fast dankbar waren, wie sie ihr auch die beinahe völlige Stille dankten, in der sich alles abspielte, ohne Stöhnen oder Seufzer oder Ablenkungen oder Worte, nur Körper an Körper und ein wenig Speichel im dunstigen Dunkel der Küche oder in den Hausfluren, an denen Zeitschriftenbilder nackter Frauen mit ausgekratzten Augen klebten. Und als es sich bis nach Villa und in die anderen Weiler auf dieser Seite des Flusses herumsprach, dass die Hexe bezahlte, begann eine regelrechte Prozession, Burschen und gestandene Männer pilgerten in Scharen zum Haus und prügelten sich, wer als Erster hineindurfte, manchmal hingen sie auch einfach nur herum, kamen mit aufgedrehtem Radio in ihren Pick-ups angefahren, trugen Bierkästen durch die Küchentür und sperrten sich drinnen ein, man hörte Musik und Radau wie auf einer Party, zum Schrecken der Nachbarinnen und vor allem der wenigen anständigen Frauen, die es im Dorf noch gab, das inzwischen von Huren aller Art bevölkert war, die weiß Gott woher kamen, angezogen von der Spur aus Geldscheinen, die die Öltransporter auf ihrer Route über die Landstraße hinterließen, leichte Mädchen mit dicker Schminke, die sich für ein Bier beim Tanzen betatschen oder befingern ließen; pummelige Mädchen, die unter den kaputten Ventilatoren glänzten wie mit Schweineschmalz eingerieben und nach sechs Stunden Party nicht mehr wussten, was ermüdender war: eine Stunde lang den Schwanz des Manns zu lutschen, der sie auserkoren hatte, oder so zu tun, als würden sie seinem Gelaber wirklich zuhören; routinierte Mädchen, die, besoffen von Schnaps und Cumbia, verloren im erinnerungslos-dumpfen Rhythmus des Tumpa Tumpa, alleine in der Mitte der Tanzfläche aus glattgestampfter Erde vor sich hintanzten,