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Inhalt

Traumschwiegersohn ade

Wohnung mit Opa zu vermieten

Harte Schale – weicher Kern?

Die Frau mit dem goldenen Löffel im Mund

Focaccia mit Wein und schüchternem Mann

Einladung zum Fest

Ein Fest für Saskia

Frau-Federle-Tag

Es geschehen noch Zeichen und Wunder

Ein Mann der Überraschungen

Ein Geschenk für Saskia

Und noch ein Geschenk

Ein Poet auf der Couch

Ein Mann namens Simone

Theater, Theater

Eine Frau für alle Fälle

Damals

Spurensuche

Ehekrise

Komm ein bisschen mit nach Italien …

Erstes Etappenziel: Freiburg

Zebrahaus und Kreisverkehr

Eine italienische Nacht

Spätes Wiedersehen

Reise in die Vergangenheit

Schlechte Nachrichten

Familie auf Italienisch

Heimreise mit Jacuzzi-Wanne

Abschied

Prinzessin Lillifee die Zweite

Eine böse Überraschung

Italienisch für Anfänger

Kugelkäfer-Alarm

Tucholsky am Abend

Einbruch am Morgen

Männer

Das Testament

Fest im Hof

Ingrid Geiger, geboren 1952 in Reutlingen. Ihre Jugend- und Studienzeit verbrachte sie in Köln. Nach ihrer Heirat kehrte sie nach Baden-Württemberg zurück. Sie lebt heute in einer ländlichen Gemeinde am Fuße der Schwäbischen Alb. Ab 1988 veröffentlichte sie zunächst Kinderbücher, dann Gedichte in schwäbischer Mundart und mehrere heitere Familienromane.

Sollte dieses Werk Links auf Webseiten

1. Auflage 2018

© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,

ISBN 978-3-8425-2116-2
eISBN 978-3-8425-1806-3

Besuchen Sie uns im Internet

Manchmal meint es
der Himmel gut mit uns
und schickt uns einen
Lieblingsmenschen.
(Kartini Diapari-Öngider)

Für meine Lieblingsmenschen –
meine Mutter und meine drei Männer
Peter, Michael und Christian.
Wie schön, dass es Euch gibt!

Traumschwiegersohn ade

Ein guter Nachbar ist besser
als ein Bruder in der Ferne.
(Deutsches Sprichwort)

»Saskia, schön, dass du dich mal wieder sehen lässt«, sagt Franziska und nimmt mich herzlich in den Arm. »Such dir einen Platz aus, noch hast du die freie Wahl.«

Ich schaue mich um. Es hat sich nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier war. In dem langgestreckten Raum mit der Fensterfront zum Garten stehen verschiedene Sofas, Sessel und Tische und dazwischen Regale mit Büchern und einigen Dekoartikeln. Um sich ihren Traum von einem Buchcafé zu erfüllen, hat Franziska vor einigen Jahren ihr Wohnzimmer geräumt. Dass hier nichts wirklich zusammenpasst und die Möbel schon bei der Eröffnung nicht mehr neu waren, tut dem Charme von Franziskas Café keinen Abbruch, im Gegenteil, es sorgt für eine heimelige Atmosphäre. Eigentlich heißt es »Theas Café«, so steht es auch auf dem Schild über der Eingangstür. Denn Thea ist es gewesen, die mit Franziska diesen Traum geträumt und ihr das Haus vererbt hat. Genau genommen die Hälfte des Hauses, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich steuere den kleinen Tisch in der Ecke beim Fenster an und nehme in dem bequemen Ohrensessel Platz.

»Hatte deine Mutter keine Lust mitzukommen?«, will Franziska wissen.

»Sie ist beim Friseur«, erkläre ich, »und ehrlich gesagt … ich, na ja, …«

»Hattest Lust, mal ein bisschen Ruhe vor ihr zu haben«, vermutet Franziska.

»Klingt jetzt vielleicht nicht besonders nett, aber es trifft die Sache wohl«, gebe ich zu. »Sie hat dir ja sicher schon erzählt, warum ich wieder zu Hause eingezogen bin.«

»Du meinst deine Trennung von Eckart? Ja, davon hat sie mir erzählt.«

»Kann ich mir lebhaft vorstellen, vermutlich in allen Einzelheiten. Wie konnte ich ihr das auch antun, ihrem Traumschwiegersohn den Laufpass zu geben! Keine Aussicht mehr auf das sichere Einkommen des Herrn Studienrat und seine gute Pension im Alter. Und die Hoffnung auf baldige Enkelkinder ist auch dahin. Sie hat’s gerade nicht leicht mit mir«, bemerke ich ironisch.

»Und du vermutlich nicht mit ihr«, schmunzelt Franziska. »Das hört sich so an, als könntest du einen starken Kaffee und ein Stück Kuchen vertragen. Den Kaffee zum Aufmuntern und den Kuchen zum Beruhigen. Also, ich habe heute gedeckten Apfelkuchen, Kirschstreusel, Zitronenrolle …«, beginnt Franziska, ihre Kuchensorten aufzuzählen. Mir fällt die Wahl schwer. Franziskas Torten und Kuchen sind alle ausgesprochen lecker und inzwischen über Neubachs Grenzen hinaus bekannt.

»Einen Kirschkuchen«, bestelle ich nach kurzem Überlegen. Beim Getränk ist die Wahl einfacher, denn bei Franziska gibt es weder Latte macchiato noch Cappuccino, sondern nur Filterkaffee mit oder ohne Koffein, und der wird wie zu Hause aus der Thermoskanne serviert. Bei Franziska ist eben alles ein bisschen anders.

»Kommt sofort. Soll ich Karl Bescheid sagen, dass du da bist?«

»Wohnt er denn noch immer hier?«, frage ich verwundert. »Ich dachte, er wäre schon längst mit seiner Marga zusammengezogen.«

»I wo. Ich glaube, der würde seine Rentner-WG zu sehr vermissen. Er behauptet, dass er und Marga getrennte Wohnungen haben, erhalte ihre Liebe jung. Und so glücklich, wie die beiden aussehen, muss es wohl stimmen.«

Karl bewohnt mit seinen Freunden Ernst und Hugo die Wohnung im ersten Stock. Und er ist um ein paar Ecken herum sogar mit mir verwandt. Meine Großmutter und Karl sind Cousin und Cousine. Ich mag Karl. Wo er ist, gibt es immer was zu lachen.

Meine Trennung von Eckart ist wirklich ein mittlerer Weltuntergang für Mama. Er war ihr Traumschwiegersohn in spe. Nicht nur in Hinblick auf seine gesicherte Existenz. Eckart ist höflich und freundlich, er hörte Mama zu und brachte ihr manchmal Blumen mit. Er zog seine Schuhe aus, wenn er das Haus betrat, auch bei schönem Wetter. Und wenn Papa es mal wieder im Kreuz hatte, dann mähte er sogar klaglos den Rasen. Objektiv betrachtet ist gegen Eckart wirklich nichts einzuwenden. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man den perfekten Schwiegersohn sucht oder den perfekten Partner.

»Endlich amal a hübschs jungs Mädle in deim Café«, stellt Karl fest, als er wenig später die Tür öffnet, gerade als Franziska mit der Kaffeekanne aus der Küche kommt. »So wie du«, fügt er mit Blick auf Franziska schnell hinzu, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. »Komm, lass dich drücke, Mädle. Wie geht drs denn? Was macht dr Liebeskummer?«

»Sag mal, weiß eigentlich ganz Neubach von meiner Trennung?«

»Ganz Neubach vielleicht net, aber halb Neubach ganz bestimmt«, stellt Karl schmunzelnd fest, bestellt Kaffee und Kuchen bei Franziska und setzt sich mir gegenüber.

»Bin ich froh, dass ich inzwischen in Esslingen wohne, bis vor vier Wochen jedenfalls und hoffentlich bald wieder«, seufze ich. »Und von Liebeskummer kann keine Rede sein. Schließlich habe ich Eckart verlassen.«

»Hat r dich betroge, der Schuft?«

»Nein.«

»Oder etwa gschlage?«

»Eckart? Wo denkst du hin? Niemals!«

»Ja, was hat r denn na gmacht?«, will Karl wissen.

»Gar nichts. Das ist es ja.«

»Also, des isch mr jetzt z hoch. Des musch mr erkläre.«

»Na ja, er ist langweilig, todlangweilig. Den musst du zum Jagen tragen. Das wird auf die Dauer echt anstrengend.«

»Und des hasch erscht jetzt gmerkt? Wie lang wared r denn zamme?«, fragt Karl.

»Sechs Jahre.«

»Ach Mädle, woisch«, erklärt Karl, »des isch doch dr Lauf dr Welt. So prickelnd wie am Afang bleibt’s halt net. S Herzklopfe geht und dr Alldag kommt, oder umkehrt. I woiß scho, worum i mit dr Marga net zammezieh. Wenn mr net dauernd umanander rom isch, na nervt mr sich au net so. Also mit em Hugo und em Ernst han i viel öfters Streit wie mit dr Marga. Aber dass d Liebe mit dr Zeit a bissle Roscht asetzt, des isch doch normal.«

»Hör zu, Karl, ich weiß, du meinst es gut. Aber so was höre ich gerade den ganzen Tag von Mama. Eigentlich bin ich hergekommen, um mal was anderes zu hören. Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?«

Mein Handy brummt. Ich krame suchend in meiner Handtasche herum. Eigentlich sind meine Handtaschen immer zu klein, aber wenn ich etwas drin suche, scheinen sie gewachsen zu sein.

»Was war denn des?«, will Karl wissen.

»Mein Smartphone. Da ist gerade eine SMS gekommen.«

»Zeite sin des. Net mal in Ruh Kaffee trinke und sich unterhalte kann mr«, brummelt Karl verärgert.

Inzwischen habe ich mein Telefon gefunden. Ich drücke auf die Taste mit dem Kuvert, lese die Nachricht, hüpfe begeistert in meinem Sessel auf und ab und quietsche aufgeregt los.

»Was isch denn jetzt scho wieder los?«

»Lena schreibt, dass sie vielleicht eine Wohnung für mich hat.«

Lena ist meine beste Freundin.

Ich springe auf, falle Karl um den Hals und drücke ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

Karl strahlt. »Kannsch gern weitermache.«

»Ich muss sofort Lena anrufen.«

Ich wähle, horche auf das Tuten, wippe nervös mit dem Fuß und drücke schließlich genervt auf »abbrechen«, als sich der Anrufbeantworter einschaltet. »Mist. Lena meldet sich nicht.« Schnell tippe ich »Klar!!!« in mein Smartphone und schicke die Nachricht los.

»Was war denn jetzt des?«, will Karl wissen. Die neuen Zeiten scheinen ihn heillos zu überfordern.

»Ich glaube, ich muss dir mal ein Handy schenken, Karl. Du lebst ja total hinter dem Mond. Mit einem Handy kannst du deiner Marga Liebesgrüße schicken.«

»Soll des romantisch sei? Vielen Dank, aber i ruf se lieber a.«

»Also, um deine Frage zu beantworten: Lena wollte wissen, ob ich heute Abend Zeit habe. Und weil ich sie am Telefon nicht erreicht habe, hab ich ihr eine SMS geschickt.« Als ich Karls fragenden Blick sehe, füge ich erklärend hinzu: »Das ist eine schriftliche Nachricht aufs Handy.«

Karl lebt wirklich noch im letzten Jahrhundert. Selbst meine Oma weiß inzwischen, was eine SMS ist. Sie überlegt sich sogar, ob sie sich WhatsApp anschaffen soll, damit sie Fotos von ihren Enkeln empfangen kann.

»Oh Mann, das wäre so toll, wenn das mit der Wohnung klappen würde!« Ich verstaue das Smartphone wieder in meiner Tasche.

»Vielleicht bassed ihr zwoi wirklich net zamme, dei Eckart und du. Der isch vielleicht langweilig. Aber mit dir muss mrs au aushalte könne, so hibbelig wie du bisch«, stellt Karl fest.

Ich versuche, Karl zu erklären, dass ich schon viel zu lange wieder zu Hause wohne, weil in Esslingen schlichtweg keine Wohnung zu finden ist. Entweder es handelt sich um die letzten Bruchbuden, oder ich kann die Wohnung nicht bezahlen oder es sind außer mir noch dreißig andere Bewerber da, gegen die ich keine Chance habe.

»Kannsch doch in Neubach wohne bleibe«, schlägt Karl vor. »So weit isch’s doch gar net nach Esslinge. Deine Eltern freued sich bestimmt und billig und bequem isch’s au. Hotel Mama isch doch a feine Sach.«

»Wenn man mal ein paar Jahre von zu Hause weg ist, ist das nicht so einfach, wieder in seinem Kinderzimmer einzuziehen«, erkläre ich ihm.

»Das ist für beide Seiten nicht einfach«, bemerkt Franziska, die Karl gerade Kaffee und Kuchen serviert. »Man fällt automatisch in die alten Rollen zurück. Wenn Sarah in den Semesterferien zu Besuch ist, dann finde ich das wunderschön, aber nur für eine Weile. Und dann genieße ich erst mal meine gewohnte Ruhe und Ordnung, wenn sie wieder abgereist ist. Und freu mich trotzdem schon aufs nächste Mal«, fügt sie lachend hinzu.

Ich esse meinen Kuchen und verabschiede mich. Es ist höchste Zeit zu gehen, wenn ich heute Abend Lena in Esslingen besuchen will. Da sie mich nicht nur zum Abendessen, sondern auch zum Übernachten eingeladen hat, muss ich auch noch ein paar Sachen zusammenpacken.

Wohnung mit Opa zu vermieten

Ich kenne eine Menge Leute,
die hunderttausend Dollar hergeben würden,
um einen Großvater zu besitzen,
und noch viel mehr für ein Familiengespenst.
(Oscar Wilde)

Ich fahre auf der B 10 um diese Zeit glücklicherweise gegen den Strom des Feierabendverkehrs. Eigentlich würde ich gut vorankommen, wäre da nicht die blöde Geschwindigkeitsbegrenzung. Ich bin so gespannt, was Lena zu berichten hat. Sie hat sich zwar noch telefonisch bei mir gemeldet, war aber durch nichts dazu zu überreden gewesen, die Katze aus dem Sack zu lassen. Außer einem geheimnisvollen »Wart’s ab« war ihr nichts zu entlocken.

Lenas Wohnung liegt in einem alten, inzwischen verputzten Fachwerkhaus, nur wenige Gehminuten von der Altstadt entfernt. Wie immer ist es ein Problem, um diese Zeit einen Parkplatz vor dem Haus oder wenigstens in der Nähe zu finden. Als ich genervt die sechste Runde um den Block drehe, setzt endlich ein roter Kleinwagen seinen Blinker und macht eine Lücke für mich frei.

Falls es mit der Wohnung tatsächlich klappen sollte, werde ich vielleicht mein Auto verkaufen müssen. Meine finanzielle Lage ist nicht rosig, und die Mieten in Esslingen sind teuer. Nun, in der Stadt würde ich das Auto nicht unbedingt brauchen, dort würde ich mit S-Bahn und Fahrrad gut zurechtkommen. Ein Stück Freiheit würde ich damit natürlich aufgeben, aber alles im Leben kostet seinen Preis. Auch der Entschluss, sich von seinem gut verdienenden Freund zu trennen.

Ich trete durch den großen Torbogen in den Innenhof des Hauses. Er sieht ein bisschen aus der Zeit gefallen und … ja, irgendwie verwunschen aus. An drei Seiten ist er von anderen hohen Häusern umrahmt, deren Fassaden teilweise mit Kletterpflanzen bewachsen sind. Ganz hinten steht ein großer Kastanienbaum mit einer Holzbank darunter, und rechts breitet ein Mirabellenbaum seine Äste aus. Ein paar wilde Büsche vervollständigen das Bild des etwas ungepflegten, wohlwollend könnte man auch sagen: naturbelassenen Innenhofs. So recht scheint sich keiner für seine Pflege zuständig zu fühlen, anscheinend auch der Besitzer des Hauses nicht, aber vielleicht macht das ja gerade den Charme des Ganzen aus. Im Haus wohnen überwiegend junge Leute, die sich im Sommer gern dort treffen. Ich war auch schon zum Grillen eingeladen.

Ich steige die wenigen Stufen zu dem nach oben hin offenen Laubengang hinauf, der zu Lenas Wohnungstür führt. Als ich an ihrem Küchenfenster vorbeigehe, klopft es von innen an die Scheibe, und Lilis grinsendes Gesicht mit den lustigen Zahnlücken strahlt mich an, während ihre kleine Hand so heftig winkt wie mein Scheibenwischer bei Starkregen. Dann verschwindet ihr Kopf vom Fenster, und kurz darauf öffnet Lili die Haustür und läuft mir entgegen.

»Da bist du ja endlich! Wo warst du denn so lange? Ich warte schon ewig auf dich«, beschwert sie sich und umklammert meine Taille.

Lili ist Lenas Tochter und mein Patenkind. Unsere Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit.

»Ich hab mal wieder keinen Parkplatz gefunden«, erkläre ich, während ich zusammen mit Lili die Wohnung betrete. Lena steht in der Küche und rührt in einem Topf, in dem dunkelrote Soße blubbert. Es duftet verführerisch.

»Lass mich raten«, sage ich schmunzelnd zu Lili, »heute gibt’s dein Lieblingsessen: Spinat mit Salzkartoffeln.«

»Falsch geraten«, quietscht Lili lachend, »heute gibt’s Spaghetti Bolo…, Bolo…, mit Tomatensoße. Siehst du doch!«

»Stimmt. Spinat ist ja grün. Jetzt, wo du’s sagst. Hallo Lena.« Wir umarmen uns. »Also, jetzt aber endlich raus mit der Sprache. Du hast mich lange genug zappeln lassen. Was ist denn nun mit der Wohnung?«

»Später. Ihr könnt schon mal den Tisch decken. In der Küche. Für vier.«

»Wieso vier? Wer kommt denn noch?«, will ich wissen. Aus der Tatsache, dass der Tisch in der Küche gedeckt werden soll, schließe ich, dass es jemand aus Lenas engerem Umfeld sein muss.

»Geheimnis. Ist ein Überraschungsgast.«

»Also weißt du, langsam reicht es mir mit deinen Geheimnissen«, beschwere ich mich, während ich vier Teller und Besteck aus dem Schrank nehme und beginne, den Tisch zu decken.

»Ich weiß, wer kommt«, verkündet Lili triumphierend und hüpft grinsend von einem Bein aufs andere.

»Na, wer denn?«

»Sag ich nicht.«

»Wetten, dass?«, frage ich, strecke meine Hände nach Lili aus und zapple vor ihren Augen mit den Fingern. »Wer nicht redet, wird totgekitzelt.«

»Nein«, ruft Lili, dreht sich um und flitzt lachend davon. Als ich ihr nachrenne, mischt sich in Lilis Lachen hohes Kreischen, das »Achterbahngefühl« macht sich breit, diese seltsame Mischung aus Freude, Aufregung und auch ein bisschen Angst. Ich folge ihr ins Kinderzimmer. Dort wirft Lili sich auf ihr Bett und windet sich kichernd und japsend unter meinen kitzelnden Händen.

»Na, verrätst du’s jetzt?«, frage ich sie, ein wenig außer Atem.

In dem Moment schellt die Türglocke. Lili nutzt den kurzen Moment der Unaufmerksamkeit. Sie entwischt mir und saust zur Tür. Ich folge ihr. Unter der offenen Haustür steht der Überraschungsgast, Lenas Nachbarin Andrea.

Andrea hat schon im Haus gewohnt, als Lena nach ihrer Scheidung dort eingezogen ist. Und als letztes Jahr die Wohnung über Lena frei wurde, hat Andrea ihren Großvater nachgeholt. Er ist nach dem Tod seiner Frau nicht mehr allein in seinem Haus zurechtgekommen.

»Ich hab alles für ihn organisiert, eine Frau, die putzt, eine Frau, die die Wäsche macht, eine, die mit ihm spazieren geht, aber er hat sie mit der Zeit alle vergrault.«

Das kann ich mir vorstellen. Ich habe Andreas Opa zwar erst zwei- oder dreimal gesehen, aber da ist er mir sehr missgelaunt und unfreundlich vorgekommen. Deshalb finde ich es erstaunlich, wie rührend Andrea sich um ihn kümmert. Aber seit Lena mir Andreas Geschichte erzählt hat, kann ich es besser verstehen. Als Andrea neun war, hat sie durch einen Autounfall ihre Eltern verloren und ist dann bei ihren Großeltern aufgewachsen.

»Früher waren meine Großeltern für mich da, als ich sie gebraucht habe. Jetzt bin eben ich an der Reihe«, hat Andrea erklärt. Das sei wie mit einem Familienkonto. In guten Zeiten zahle man Liebe darauf ein, Zuwendung, Unterstützung und Zeit, in schlechten Zeiten hebe man davon ab. »Als meine Eltern gestorben waren und ich bei Oma und Opa lebte, da haben sie kräftig auf das Konto eingezahlt. Jetzt muss Opa abheben und ich weiß, dass ihm das nicht leichtfällt«, meinte sie.

Wir begrüßen uns.

»Ich hab’s nicht verraten«, verkündet Lili stolz.

»Komm rein, Andrea, das Essen ist gleich fertig«, ruft Lena aus der Küche. »Wenn die zwei albernen Hühner endlich den Tisch gedeckt haben, kann’s losgehen«, fügt sie scherzhaft tadelnd hinzu.

Später sitzen wir gemeinsam um den Tisch, trinken Wein und essen Spaghetti. Lili hat ihren Teller schon vor einiger Zeit von sich geschoben und ist in ihrem Zimmer verschwunden, weil die Gespräche der Erwachsenen sie langweilen. Andrea erzählt mir, dass sie bald zu ihrem Freund nach Freiburg ziehen wird. Sie führen seit fünf Jahren eine Fernbeziehung. Jetzt hat Andrea die Zusage für eine Stelle in der Nähe von Freiburg bekommen.

»Schneller, als ich dachte«, seufzt Andrea.

»Freust du dich denn gar nicht, dass ihr endlich zusammenziehen könnt?«

»Schon, aber es geht plötzlich alles so schnell. Das Problem ist Opa. Er will nicht mitkommen. Zweimal lasse er sich in seinem Alter nicht verpflanzen. Er bereue schon, aus seinem Haus ausgezogen zu sein, hat er gesagt. Aber ihn hier ganz alleinlassen, das geht auch nicht. Ich bin drauf und dran, die Stelle nicht anzunehmen. Aber ich fürchte, das wäre das Ende meiner Beziehung. Markus hat das Pendeln gründlich satt und will endlich eine gemeinsame Wohnung.«

»Das kann ich verstehen. Und dein Opa würde nicht wollen, dass du für ihn dein eigenes Leben aufgibst«, wirft Lena zwischen zwei Gabeln Spaghetti ein. »Übrigens, Saskia, merkst du eigentlich nichts?«

»Was soll ich denn merken?«

»Hallo? Andrea erzählt gerade, dass ihre Wohnung frei wird.«

Ich halte verdutzt im Kauen inne.

»Du meinst, ich könnte …?«

»Genau. Aber mach erst mal deinen Mund leer, bevor du weitersprichst, sonst fällt womöglich noch was raus«, lacht Lena.

Ich schlucke.

»Mein Gott, das wäre mein Traum! Das Haus hat mir schon immer so gut gefallen. Aber auf die Wohnung sind doch bestimmt hundert Leute scharf. Und Vermieter lassen sich heute fast immer einen Einkommensnachweis vorlegen. Und ich mit meinem Job als freiberuflich arbeitende Lektorin bei einem kleinen Verlag und den paar Stadtführungen, mit denen ich mein Einkommen aufbessere – das reicht doch vorne und hinten nicht. Au Mann, es wäre so toll gewesen. Vielleicht hätte ich doch Lehrerin werden sollen, wie Mama es immer wollte.« Ich leere mein Weinglas in einem Zug.

»Du musst dich nicht gleich aus Verzweiflung betrinken. So schlecht sieht es gar nicht für dich aus. Das ist nämlich nicht nur ein besonderes Haus, es hat auch eine besondere Vermieterin«, erklärt Lena.

Sie erzählt, das Haus gehöre einer alten Dame. Die besitze noch zwei andere Mietshäuser, eins in Esslingen, in dem sie selbst eine Wohnung bewohne, das andere in Tübingen. Geld habe sie also genug, aber keine Kinder, denen sie es vererben könne. Es ginge ihr also nicht ums Geld, sie wolle eine nette, friedliche Mietergemeinschaft, die ihr keine Probleme bereite. Die Mieten seien sehr moderat und seit etlichen Jahren nicht mehr erhöht worden. Und bei einem Auszug würden der alten Dame meist Nachmieter vorgeschlagen. Ihre einzige Bedingung sei: Die Miete müsse pünktlich bezahlt, Haus und Wohnung in Ordnung gehalten werden und alle Hausbewohner müssten mit dem neuen Mieter einverstanden sein.

»Und was soll die Wohnung kosten?«, will ich wissen, bevor ich anfange, mich richtig zu freuen.

»Ich hab 490 Euro warm bezahlt. Und ich glaube nicht, dass Frau Bausch die Miete erhöhen wird. Außerdem …«, Andrea zögert und nimmt einen großen Schluck aus ihrem Glas. »Also, du könntest von mir einen Zuschuss zur Miete bekommen. Aber der ist sozusagen an eine Bedingung geknüpft.«

Also doch. Die Sache hat einen Haken. Zu früh gefreut, denke ich.

»Na komm, nun sag’s schon.«

»Also, die Sache ist so …«

»Die Wohnung gibt’s nur zusammen mit Andreas Opa«, macht Lena dem Gestotter ein Ende.

»Was?«

»Also, so kannst du das nicht sagen«, mischt sich jetzt Andrea ein. »Es ist so: Wenn du dich ein bisschen um Opa kümmern könntest, einmal am Tag nach ihm gucken, ihn mal zum Arzt begleiten oder mal für ihn einkaufen gehen, dann würde ich dir hundert Euro im Monat zahlen. Fürs Putzen und die Wäsche kommt eine Frau, und mittags bekommt er Essen auf Rädern. Es wäre also wahrscheinlich nicht allzu viel Aufwand für dich. Es müsste halt jemand ein Auge auf ihn haben. Im Kopf ist er noch topfit.«

»Sag mal, spinnst du?«

»Sind dir hundert Euro zu wenig? Oder willst du’s gar nicht machen?«

»Natürlich mach ich das. Aber doch nicht gegen Geld oder um Miete zu sparen. Das ist Nachbarschaftshilfe, dafür nehm ich doch kein Geld!«, schimpfe ich.

»Du kennst Andreas Opa nicht. Die Sache ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Das ist hart verdientes Geld. Das kannst du ruhig nehmen«, wirft Lena ein.

»Sei nicht so gemein«, empört sich Andrea. »Du hättest Opa mal erleben sollen, bevor Oma gestorben ist. Da war er der netteste Mann der Welt.«

»Das kann ja schon sein. Aber davon hat Saskia nichts. Sie soll sich ja jetzt um ihn kümmern, und jetzt ist er leider …«, Lena zögert, als sie Andreas warnenden Blick auffängt, »ein bisschen schwierig. Aber Opa hin oder her, ich finde, du solltest es machen«, sagt sie dann zu mir. »So eine Wohnung findest du so schnell nicht wieder. Ist ein echter Glücksfall. Und wenn du nicht klarkommst, hast du schon mal ein Dach überm Kopf und kannst dich in Ruhe nach etwas anderem umschauen. Und was deine Finanzen angeht – vielleicht kannst du unten in der Kneipe ab und zu kellnern und dir was dazuverdienen. Die suchen immer Aushilfen. Und ist doch besser für den Familienfrieden, wenn du dich über den Opa aufregst als über deine Mutter.«

»Willst du dir die Wohnung nachher mal anschauen?«, fragt Andrea.

Was für eine Frage!

Andrea schließt die Wohnungstür auf, und ich folge ihr neugierig.

»Die Wohnung ist ein wenig anders geschnitten als die von Lena. Jede Wohnung hier im Haus ist ganz individuell. Meine ist auch kleiner und hat nur ein Schlafzimmer.«

Von einem kleinen Flur kommt man in einen großen Raum. Die rechte Hälfte ist der Wohnzimmerbereich, links führen zwei Stufen über die ganze Breite des Raums in einen erhöhten offenen Küchen- und Essbereich. Licht bekommt das Zimmer nur über die Fensterfront in der Küche, denn an die rechte Wand schließt Lenas Wohnung an.

»Darf ich?«, frage ich und deute auf die Essküche.

»Klar, schau dir nur alles genau an, deshalb sind wir ja hier. Die Küche würde ich dir drinlassen, wenn du willst.«

Wollen schon. Die Küche ist weiß, in offensichtlich gutem Zustand und praktisch an die Räumlichkeit angepasst. Eine Küche würde ich ohnehin brauchen. Und neue Küchen sind teuer. Vor meinen Augen blinken schon wieder die Eurozeichen, so wie die Dollarzeichen bei Dagobert Duck, nur dass ich nicht wie er ans Sparen denke, sondern ans Ausgeben.

»Was möchtest du denn dafür haben?«

»Darüber hab ich ehrlich gesagt noch gar nicht nachgedacht«, gesteht Andrea, »aber da werden wir uns schon einig werden. Ich kann dir auch die Vorhänge dalassen, wenn du willst, das Unterschränkchen im Bad und vielleicht noch ein paar andere Sachen. Markus und ich werden uns für die gemeinsame Wohnung das meiste neu kaufen. Ich werd’s einmal auflisten und meine Preisvorstellung dazu. Dann kannst du’s dir ja überlegen.« Andrea deutet auf eine raumhohe Glastür an der Außenwand. »Die Tür hier führt über eine Metalltreppe nach unten in einen kleinen Garten. Na ja, Garten ist fast zu viel gesagt, er ist winzig klein und ziemlich verwildert. Ich bin nicht so der Gärtnertyp, weißt du. Aber für einen Liegestuhl oder einen kleinen Gartentisch samt Stuhl reicht der Platz. Und du bist da ganz für dich. Die anderen sitzen in der Regel im Innenhof oder auf dem Laubengang.«

Ich schaue hinaus. Es wird bereits dämmrig und ich kann nicht allzu viel erkennen. Aber was Andrea gesagt hat, das hört sich wunderbar an. Hier würde ich im Sommer ungestört an meinen Korrekturen arbeiten oder in Ruhe ein Buch lesen können.

»Die andere Tür führt ins Bad«, erklärt Andrea und deutet auf die Holztür an der Rückwand der Küche. »Ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, das Bad neben der Küche, aber mich hat’s eigentlich nie gestört. Ein extra Gäste-WC gibt’s leider nicht, und die Kacheln … na ja, siehst du ja selbst. Wohlwollend könnte man es Retrolook nennen«, lacht Andrea. »Ist halt schon lange nichts mehr renoviert worden im Haus, aber dafür ist es günstig.«

Wir steigen die Stufen wieder hinunter.

»Ins Schlafzimmer kommt man nur durchs Wohnzimmer«, erklärt Andrea. »Es ist ein bisschen dunkel, weil die Hauswand vom Nachbarhaus nur drei Meter entfernt ist. Da kommt auch im Sommer nicht viel Licht rein. Aber wenn man nur drin schläft, ist das ja eigentlich egal. Für einen Schreibtisch ist sowieso kein Platz.«

Gut, dass Andrea nicht Maklerin geworden ist. Ich habe das Gefühl, als wollte sie sich für alle Unzulänglichkeiten der kleinen Wohnung entschuldigen. Dabei habe ich mich bereits bis über beide Ohren in sie verliebt. Sie hat Charme, sie ist gemütlich, hat einen Sitzplatz im Freien, liegt günstig zur Altstadt und zu meiner besten Freundin sowieso – sie ist wie für mich gemacht. Was stören mich da die grau-braunen Kacheln im Bad, das fehlende Gäste-WC, die schiefen Böden oder das dunkle Schlafzimmer? Wenn man sich in einen Mann verliebt, dann stört es einen schließlich auch nicht, wenn er eine große Nase hat oder einen Bauchansatz. Wenn man sich verliebt, dann zählt nur noch das Gesamtpaket.

»Ich nehme die Wohnung«, sage ich entschlossen.

»Mit Opa?«

»Mit Opa.«

»Super. Aber vielleicht solltest du sie dir nochmal bei Tageslicht anschauen und den Opa auch. Ich mach bis dahin auch die Liste fertig. Passt dir übermorgen Nachmittag? Da hab ich frei.«

»Ja, prima. Das passt mir gut.«

»Hallo«, meldet sich da ein helles Stimmchen hinter meinem Rücken. Ich drehe mich erstaunt um. Da steht Lili mitten im Zimmer, barfuß und in einem kurzen, pinkfarbenen Nachthemdchen mit Lillifee-Aufdruck. Wir haben wohl die Wohnungstür nicht richtig geschlossen, als wir hereingekommen sind.

»Was machst du denn hier?«

»Du hast versprochen, mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Ich warte schon ewig auf dich. Ich bin fast eingeschlafen«, beschwert sich Lili.

»Na, das ist doch prima. Du sollst ja schlafen«, lache ich.

»Aber nicht ohne Geschichte. Du hast’s versprochen.«

»Mama kann dir doch eine Geschichte vorlesen.«

»Aber du hast’s versprochen. Und was man verspricht, muss man halten. Sagst du immer.«

»Geh ruhig. Der kleine Quälgeist gibt sonst doch keine Ruhe. Und wir sind ja eigentlich auch fertig«, mischt Andrea sich ein. »Wir sehen uns dann übermorgen.«

»Weiß Mama eigentlich, wo du bist?«

Lili schüttelt den Kopf.

»Na, dann aber los, bevor Mama eine Vermisstenanzeige aufgibt.«

»Was ist eine Vermisstanzeige?«, will Lili wissen.

»Erklär ich dir ein anderes Mal«, vertröste ich sie und gehe vor ihr in die Hocke. »Los, aufsteigen, das Pferdchen ist bereit. Sonst frieren deine Füße noch am Boden fest.«

Kichernd klettert Lili auf meinen Rücken und schlingt ihre Beine um meinen Bauch. Ich nehme ihre kleinen Füße in meine Hände.

»Puhh, die sind ja wirklich eiskalt. Wie aus der Kühltruhe. Gute Nacht, Andrea.«

»Bis übermorgen.«

»Ich mag Andrea«, sagt Lili, nachdem die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist. »Aber dich mag ich noch lieber. Wenn du hier wohnst, dann kann ich dich immer besuchen. Und du kannst mir jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorlesen.«

»Mal sehen, ob ich das kann.«

»Klar kannst du«, stellt Lili im Brustton der Überzeugung fest. »Und mit Mama abends ganz viel Wein trinken kannst du dann auch, weil du nicht mehr Auto fahren musst.«

Wenn das keine herrlichen Aussichten sind!

Harte Schale – weicher Kern?

Nicht die Vollkommenen,
sondern die Unvollkommenen brauchen Liebe.
(Oscar Wilde)

Andrea und ich beugen unsere Köpfe über die Liste, die Andrea zusammengestellt hat.

»Und du willst wirklich alles übernehmen?«, stellt Andrea überrascht fest. »Auch das Bett und die Couch? Hast du gar nichts aus eurer Wohnung mitgenommen?«

»Es war ja Eckarts Wohnung. Ich bin aus dem möblierten Studentenzimmer bei ihm eingezogen. Ich hab nur Kleinkram beigesteuert, ein bisschen Geschirr und Gläser, CDs und Bücher und so. Das hab ich auch wieder mitgenommen. Aber damit kann man sich keine Wohnung einrichten.«

»Hat Eckart sich nie mehr bei dir gemeldet? Versucht, dich zurückzuholen?«

Ich schüttle den Kopf. »Er ist eingeschnappt. Ein bisschen kränkt’s mich schon. Ich meine, wenn er mich wirklich lieben würde, dann würde er mich doch nicht einfach so gehen lassen.«

»Sei doch froh. Was hast du schon davon außer endlosen Diskussionen und Ärger. Vorbei ist vorbei. Platz für Neues.«

»Du meinst wohl für einen Neuen? Nein, vielen Dank. Ich heiße schließlich nicht Lena. Ich brauche jetzt erst mal ne Beziehungspause.«

Seit Lena geschieden ist, ist sie ständig auf der Suche nach einem neuen Partner, angeblich weil Lili einen neuen Vater braucht. Aber ich halte das für ein vorgeschobenes Argument. Lili hat schließlich einen Papa, auch wenn der inzwischen eine neue Familie hat.

»Du willst also alles übernehmen, was auf der Liste steht?«

»Fast. Alles außer der Stehlampe, dem Bücherregal und dem Rollo im Bad. Ich hab da einen hübschen Stoff, da näh ich mir Vorhänge draus.«

Andrea beginnt, die einzelnen Posten zusammenzuzählen, und kommt auf einen Betrag von 2270 Euro.

»Sagen wir 2000«, sagt sie.

»Hör mal, Andrea, ich will keine Almosen. Ich hab ein Sparbuch, das ist kein Problem«, protestiere ich.

»Ich bin doch froh, wenn du die Sachen übernimmst. Ich fang doch nichts mehr damit an.«

»Aber du könntest sie im Internet verkaufen.«

»Ach, vergiss es. Ist mir viel zu aufwändig. Betrachte es als Mengenrabatt. Außerdem kann ich dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du dich um Opa kümmerst. Apropos Opa, sollen wir mal zu ihm raufgehen?«

»Dr. Robert Deppert« steht auf dem Namensschild neben der Tür. Ich muss lachen.

»Heißt dein Opa wirklich so?«

»Ja«, bestätigt Andrea. »Blöd, nicht? Ich hab mich inzwischen dran gewöhnt. Aber ich bin schon froh, dass er der Vater von Mama und nicht von Papa ist, sonst würde ich auch so heißen. Stell dir mal vor, wie die mich in der Schule gehänselt hätten.«

Bestimmt ist auch Andreas Opa gehänselt worden. Kein Wunder, dass ein alter Griesgram aus ihm geworden ist.

»Ich klingle immer zweimal lang, dreimal kurz, bevor ich aufschließe. Dann weiß Opa, dass ich es bin und er nicht extra zur Tür gehen muss.«

Die Wohnung kommt mir ziemlich düster vor. Es kann am trüben Wetter liegen, an der matten Glühbirne im Flur, den dunklen Möbeln oder an allem zusammen, auf alle Fälle erscheint mir die Umgebung nicht besonders einladend.

Andrea öffnet die Wohnzimmertür. In einem Sessel am Fenster sitzt Andreas Opa und schaut uns entgegen. Andrea geht auf ihn zu und küsst ihn auf die Wange.

»Hallo Opa. Ich hab dir Besuch mitgebracht. Das ist Saskia. Ich hab dir doch von ihr erzählt.«

»Ah, meine neue Aufpasserin«, sagt Saskias Opa, schiebt seine Lesebrille auf die Nasenspitze und mustert mich mit durchdringenden graublauen Augen über den Brillenrand. »Hat die junge Dame auch einen Nachnamen?«

»Ich heiße Liebe, Saskia Liebe, Herr Dr. …« Oh Gott, jetzt bloß keinen Fehler machen. Sein Name beginnt mit D, daran kann ich mich erinnern. Und es war so etwas Ähnliches wie »doof«. Dussel vielleicht? Oder Depp?

»Deppert«, flüstert Andrea mir leise zu.

»Dr. Deppert«, wiederhole ich und beiße mir von innen in die Lippe, weil ich spüre, wie mir der Reiz zu lachen von der Brust die Kehle hinaufkriecht. Das ist mir schon als Kind so gegangen, wenn ich aufgeregt war, und das hat mich manchmal in peinliche Situationen gebracht.

»So, so, Liebe heißen Sie also. Ein vielversprechender Name. Obwohl, man soll nicht zu viel auf Namen geben. Nicht immer stimmt der Spruch: ›Nomen est omen.‹ Das sieht man ja an mir.«

Sollte Andreas Opa tatsächlich Humor haben? Aber wie soll ich auf seine Bemerkung reagieren? Wäre er verärgert, wenn ich lache? Oder erwartet er es im Gegenteil und hält mich für eine unhöfliche Spaßbremse, wenn ich es nicht tue?

Zum Glück schaltet sich Andrea ein und sagt: »Ich hab Kuchen mitgebracht, Opa. Ich mach uns mal Kaffee.«

»Kann ich dir helfen?«, frage ich, in der Hoffnung, vor dem strengen Blick des Dr. Deppert in die Küche entfliehen zu können.

»Nein, nein, leiste du Opa ein bisschen Gesellschaft. Ich mach das schon.«

Na toll, vielen Dank, Andrea!

»Warum stehen Sie denn so ungemütlich in der Gegend herum?«, fragt Dr. Deppert. »Sitzen kostet bei mir das gleiche Geld.«

Angespannt nehme ich auf der Kante des Sofas Platz. Ich weiß, dass Andreas Opa früher Richter war. Und unter seinem strengen Blick fühle ich mich tatsächlich wie eine Angeklagte. Ich weiß nur nicht, welches Vergehen mir zur Last gelegt wird.

»Sie müssen wirklich knapp bei Kasse sein«, stellt mein Gegenüber fest, »dass Sie sich Ihr Geld damit verdienen müssen, einem alten Kerl wie mir Gesellschaft zu leisten.«

»Oh, ich mache das nicht wegen dem Geld.«

»Wegen des Geldes«, fällt mir Dr. Deppert streng ins Wort. »Ich dachte, Andrea hätte davon gesprochen, dass Sie als Lektorin arbeiten. Da sollten Sie der deutschen Sprache doch eigentlich mächtig sein.«

»Ja, das stimmt. Aber im Gespräch schauen einen die Leute immer ein bisschen schräg an, wenn man den Genitiv gebraucht«, verteidige ich mich. »So, als sei man abgehoben und affektiert. In der Schriftsprache ist das etwas anderes.«

»Also, das ist keine Einstellung, junge Dame. Wenn jeder so denken würde wie Sie, dann würde unsere Sprache langsam, aber sicher noch ganz vor die Hunde gehen. Aber das tut sie ja schon. Wenn ich nur an dieses schreckliche ›Hallo‹ denke. Warum können die Leute nicht einfach ›Guten Morgen‹ sagen oder ›Guten Tag‹ oder von mir aus auch ›Grüß Gott‹?«

Am liebsten würde ich sagen, er solle doch froh sein, dass ein alter Bruddler wie er überhaupt gegrüßt werde, aber ich halte es für angebracht, lieber den Mund zu halten.

Offensichtlich erwartet Andreas Opa auch gar keine Antwort, denn er fährt fort: »Na ja, in einem Haus voller junger Leute muss man sich an so manches gewöhnen, an schreckliche Musik und Löcher in den Hosen und lautes Gelächter. Aber ich bleibe ja ohnehin meistens in meinen eigenen vier Wänden und gehe den Leuten aus dem Weg.«

Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Gespräch mich traurig oder wütend macht. Es macht mir jedenfalls keine Freude. Ich verstehe jetzt, was Lena damit gemeint hat, als sie sagte, dass mein Nebenverdienst nicht vergnügungssteuerpflichtig sei.

Zum Glück kommt Andrea mit einem Tablett aus der Küche und stellt Kuchen, Kaffee, Zucker und Milch auf den Tisch. Erstaunlicherweise lobt Dr. Deppert den Kuchen. Er sei zwar nicht so gut wie der, den seine Frau früher gebacken habe, aber für einen gekauften Kuchen recht passabel. Auf alle Fälle um Längen besser als das, was er mittags von Essen auf Rädern serviert bekomme.

»Opa, das ist jetzt unser dritter Versuch. Wir wechseln nicht noch einmal den Anbieter. Außerdem schmeckt das Essen gut, ich hab’s probiert.«

»Na ja, Leuten, die sich sonst von Pizza und Hamburgern ernähren, schmeckt es vielleicht«, brummt Dr. Deppert.

Ich schaue peinlich berührt auf meinen Teller. Der Apfelkuchen ist wirklich gut, aber mir ist der Appetit vergangen. Ich bin erleichtert, als ich mich endlich verabschieden darf. Aber das ist ja erst der Anfang. Solche Gespräche würden mir nun jeden Tag die Laune verderben, wenn ich erst einmal eingezogen wäre.

Ich muss dreimal läuten, bevor Lena mir endlich die Tür öffnet.

»Hast du schon öfter geklingelt?«, fragt sie. »Tut mir leid, ich hatte den Staubsauger an.«

»Hast du was Starkes im Haus?«, will ich wissen.

»Was Starkes?«

»Na, Schnaps, Cognac, Grappa … irgend so was.«

»Was ist denn passiert?«

Ich erzähle, wie meine Kaffeestunde mit Dr. Deppert verlaufen ist.

»Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe.« Lena holt eine Flasche Grappa aus dem Schrank und füllt zwei Gläser. »Du wirst ein Alkoholproblem bekommen, wenn du jedes Mal einen Schnaps brauchst, wenn du bei Andreas Opa warst. Du musst dir ein dickeres Fell anschaffen. Du weißt schon: hier rein, da raus«, sagt sie und deutet mit dem ausgestreckten Zeigefinger erst auf ihr rechtes und dann auf ihr linkes Ohr.

»Das ist leichter gesagt als getan. Aber ich werde mich schon an ihn gewöhnen.« Ich kippe den Grappa in einem Zug hinunter. »Glaubst du Andrea, dass der wirklich mal nett war?«

»Schwer vorstellbar, oder? Wusstest du, dass er Verkehrsrichter war? Verkehrsrichter ohne Führerschein.«

»Ist nicht dein Ernst.«

»Doch, wirklich. Er sagt, man müsse schließlich auch niemanden umgebracht haben, um in einem Mordfall zu richten. Er kenne die Gesetze und die habe er angewandt.«

»Entbehrt nicht einer gewissen Logik. Mir nicht mehr, danke«, sage ich dann und halte die ausgestreckte Hand über mein Glas. »Ich muss ja noch fahren.«

»Du kannst gern auch hier übernachten, wenn du Schiffsuntergang spielen willst. Eine Zahnbürste für Notfälle hab ich da und einen Schlafanzug kannst du von mir bekommen. Lili würde sich freuen.«

Ich denke an die schmale, unbequeme Couch und an mein Programm für morgen.

»Nett von dir. Aber ich kann mir morgen keinen dicken Kopf leisten. Ich hab einen Termin bei Frau Bausch wegen … des Mietvertrags.«

»Ist was?«, fragt Lena, die mein Zögern bemerkt hat.

»Ach, ich hab bloß gerade bemerkt, dass die strengen Augen von Dr. Deppert mich durch Wände hindurch bis hierher verfolgen.«

»Mit dir wird’s noch ein schlimmes Ende nehmen, wenn du nicht aufpasst«, sagt Lena und lacht.

Das glaube ich auch.

Die Frau mit dem goldenen Löffel im Mund

Eine Bekanntschaft,
die mit einem Kompliment beginnt,
hat alle Aussicht,
sich zu einer echten Freundschaft zu entwickeln.
Sie beginnt auf die rechte Art.
(Oscar Wilde)

»Was meinst du, Mama, soll ich Frau Bausch Blumen oder eine Schachtel Pralinen mitbringen? Ich will nicht, dass es nach einem Bestechungsversuch aussieht, oder so, als wollte ich mich bei ihr einschleimen.«

»Ach, ich finde, Blumen sind nie verkehrt. Und Blumen sind sicher besser als Pralinen. Bei denen kann man danebengreifen. Alte Leute sind manchmal auch zuckerkrank und dürfen gar nichts Süßes essen. Aber ich würde nur ein kleines Sträußchen nehmen.«

Mama scheint sich zu freuen, dass ich sie um Rat frage. Seit feststeht, dass ich wohl bald wieder von zu Hause ausziehen werde, hat sich das Verhältnis zwischen uns beiden wieder zu alter Harmonie eingependelt. Mama hat meine Entscheidung im Hinblick auf Eckart wohl auch endlich akzeptiert, seit Papa eines Tages beim Mittagessen ein Machtwort gesprochen hat.

»Bei uns gibt es keine arrangierten Ehen wie in anderen Ländern, Marlene. Da entscheiden die Frauen ganz allein, wen sie heiraten wollen. Und Versorgungsehen sind auch aus der Mode gekommen. Es geht hier nicht um deinen Traumschwiegersohn, sondern um den passenden Partner für Saskia. Und dafür habe ich Eckart nie gehalten.«

»Was?« Mama und mir blieb bei dieser Aussage gleichermaßen der Mund offen stehen.

»Aber warum hast du das nie gesagt?«, wollte ich wissen.

»Wozu denn? Es hätte an deiner Meinung doch nichts geändert. Im Zweifelsfall hättest du mir nur beweisen wollen, dass er der Richtige für dich ist. Ich hab mich auf deine Intelligenz verlassen. Und wie man sieht, hab ich damit richtig gelegen«, sagte Papa und tätschelte meine Hand.

»Und mit deinem Schweigen sechs kostbare Jahre vergeudet«, warf Mama ein.

»Nun hör endlich mit dem Unsinn auf, Marlene! Die Zeiten, wo eine Frau mit dreißig als alte Jungfer und auf dem Heiratsmarkt als unvermittelbar galt, sind Gott sei Dank vorbei. Saskia wird schon noch den Richtigen finden und dich zur Großmutter machen. Da sei mal ganz unbesorgt. Und jetzt will ich von dem Thema nichts mehr hören«, sprach’s und schob sich eine Gabel mit Kartoffelsalat in den Mund.

Die Botschaft ist bei Mama offensichtlich angekommen. Vielleicht will sie »die letzten gemeinsamen Tage« auch nicht mit Streitereien zubringen, nachdem nun so gut wie feststeht, dass ich bald wieder nach Esslingen ziehen werde. Aber ganz sicher bin ich mir meiner Sache noch nicht, deshalb treibt mich auch der Gedanke um, bei meinem Besuch bei Frau Bausch etwas falsch zu machen. Ich stehe ratlos vor meinem Kleiderschrank.

»Findest du eine Jeans zu leger?«, will ich von Mama wissen. »Ich will nicht schlampig rüberkommen, aber auch nicht aufgetakelt.«

»Na, also für ›aufgetakelt‹ sehe ich ehrlich gesagt sowieso nicht viel in deinem Kleiderschrank«, lacht Mama. »Ich finde, eine gepflegte Jeans mit einem hübschen Pullover dazu ganz in Ordnung. Du gehst ja nicht zu einem Vorstellungsgespräch.«