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Der Tod seiner Frau konfrontiert Gene mit Gefühlen, die ihn zutiefst erschüttern. Hilflos steht er dem unerwarteten Alleinsein, dem Verlust von Zärtlichkeiten und dem Gefühl, ohne Maida schutzlos zu sein, gegenüber. Am meisten jedoch plagt ihn die Angst, sie hätte ihr gemeinsames Leben nicht als glücklich empfunden und sich nach einem anderen gesehnt. In Gesprächen mit seiner Tochter Dary und seinen langjährigen Freunden Gayle und Ed sucht er in seiner Erinnerung nach erfüllenden Momenten, die sie erlebt haben: als Paar, als Eltern, als Freunde. Doch Dary stellt nicht nur seine versöhnliche Darstellung der Vergangenheit infrage, sie lässt ihn auch an seinem Bild von Maida zweifeln. Während die seit langem bestehende Kluft zwischen ihm und seiner Tochter wächst, begreift Gene nach und nach, wie wenig er sein eigenes Kind kennt – und wie geheimnisvoll seine Ehefrau eigentlich war. Gene muss sich eingestehen, dass es auch Verletzung und Betrug in seiner Ehe gab, und in seiner Freundschaft zu Gayle und Ed. Woraufhin ein entsetzlicher Verdacht von ihm Besitz ergreift und alles hinwegzufegen droht, was er je zu wissen geglaubt hat.

Katharine Dion hat das berührende Porträt eines Mannes geschaffen, der angesichts seines Alters um die Gewissheiten in seinem Leben ringt.

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© Terri Loewenthal

Katharine Dion, geboren in Oakland, Kalifornien, hat einen Abschluss des Iowa Writers’ Workshop und erhielt dort das Iowa Arts Fellowship. Für ihre Arbeit ist sie mit mehreren literarischen Förderpreisen ausgezeichnet worden. ›Die Angehörigen‹ ist ihr erster Roman. Die Autorin lebt in Emeryville, Kalifornien.

Henning Ahrens, geboren 1964, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u. a. J. C. Powys, Jonathan Safran Foer, Jonathan Coe, Hugo Hamilton und Meg Wolitzer.

Katharine Dion

DIE ANGEHÖRIGEN

Roman

Aus dem Englischen
von Henning Ahrens

 

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Henning Ahrens
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Angelika Kudella, Köln
Gesetzt aus der Minion Pro
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8445-2

www.dumont-buchverlag.de

EINS

1

Seine Frau war im Juni gestorben. Im Spätsommer, genauer in zwei Wochen, sollte eine Gedenkfeier stattfinden, und Genes Tochter war mit seiner Enkelin aus Kalifornien angereist, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Er merkte, wie sehr ihn seine grundlegende Hilflosigkeit ärgerte, was nicht hieß, dass er die Hilfe seiner Tochter abgelehnt hätte, aber beide Gefühle hingen vermutlich zusammen. Heute früh hatte er seine Badehose nicht gefunden und trug deshalb eine Cordhose, die Dary über den Knien gekappt hatte. Sie hatte die Beine nicht auf gleicher Höhe abgeschnitten, und so war das linke Hosenbein länger und hatte einen fransigen, schiefen braunen Rand, der durchgeschwitzt an seinem schlaffen Oberschenkel klebte.

Er trug auch richtige Schuhe, sicher als Einziger am ganzen Strand. Klobige Kunststoffsneaker, die ältere Menschen wie zur Strafe und voller Demut tragen mussten, als hätten sie jedes Stilgefühl verloren. Dary war auf Dr. Forniers Rat zu dem weit entfernten, voll klimatisierten Einkaufszentrum, in dem man so fror, gefahren, dem mit den Topfpalmen, weil es leichter war, etwas für seine schwachen Knöchel zu tun als gegen seine Trauer. Er hatte sich nur kurz gegen die Schuhe gesträubt, denn als er begonnen hatte, sich mit Dary darüber zu streiten, hatte seine hinten im Auto sitzende zehnjährige Enkelin gerufen: »Wenn ihr euch zanken wollt, dann lasst mich zu Hause!«

Nun spielte Annie weiter den Strand hinunter mit einer Gruppe von Jungen und Mädchen, die sich der Tatsache, dass sie als Mädchen und Jungen miteinander spielten, noch nicht peinlich bewusst waren. Dary war gerade aufgebrochen, um sie zu holen, weil sie am Minigolfplatz mit den Donnellys verabredet waren. Minigolf interessierte ihn nicht, aber solange seine Tochter in der Stadt war, schien er ein Anhängsel zu sein, das sie überallhin begleiten musste, außer sie arrangierte etwas anderes für ihn. Er hatte versprochen, später zu Tochter und Enkelin zu stoßen, und sie hatten ihn mit einer Wasserkaraffe allein gelassen, deren Inhalt inzwischen sehr warm war, und mit ihren vom vielen Waschen fadenscheinigen Handtüchern.

Der volle Strand war ein Durcheinander aus rosiger Haut, zerkratztem Fußnagellack, Kühlboxen, zerknüllter Aluminiumfolie, silbrigen und halb mit Sand verklebten Getränkedosen, Schaufeln und Eimern in Primärfarben und gestreiften Sonnenschirmen, die in der nicht gerade kühlen Brise flatterten. In der Nähe hatten Teenager eine Kolonie gebildet. Sie lagen nebeneinander auf dem Bauch, umgeben von dem unglaublichen Berg an Kram, den sie aus ihren Taschen gezaubert hatten, Wasserflaschen, Energieriegeln, Sonnencreme, Frauenzeitschriften, Haarbürsten, aufblasbaren Kopfkissen, zuckerfreien Getränke, Schilfmatten und Radios. Ab und zu rollten sie sich wie Seehunde übereinander, um auf etwas in einer Zeitschrift hinzuweisen, und stießen dann ein kollektives Kreischen aus, vermutlich eine Art Lachen.

Ganz in ihrer Nähe half ein gut aussehender junger Mann mit braun gebrannten Unterarmen einem kleinen Mädchen beim Bau einer Sandburg mit vielen Türmen und Wehrgängen. Wenn er etwas tat, das dem kleinen Mädchen gefiel, rief es: »Mami, schau mal, was Roy gemacht hat!« Dann sah eine Frau, die mit einem Welpen im Schoß hinter den beiden saß, mit einem Ausdruck tiefster Zufriedenheit zu Roy auf und hob den pummeligen Welpen hoch, damit auch dieser den jungen Mann in dumpfer Seligkeit anglotzen konnte. Sie war älter als Roy, aber auf aggressive Art attraktiv; der Badeanzug quetschte ihre Brüste oberhalb des Ausschnitts zu kleinen Fleischbällchen zusammen. Schwer zu sagen, wie lange die beiden zusammen waren und ob Roy schon in die Vaterrolle eingeführt worden oder noch in der Probezeit war.

Genes Interesse an anderen Menschen beschränkte sich vor allem auf die Frage, worin das Geheimnis ihres Glücks bestand. Glückliche Kinder oder glückliche Eltern, die sich um glückliche Kinder und kleine Tiere kümmerten – hatten sie von Anfang an die Freude gepredigt? Der Anblick eines glücklichen Paares löste inzwischen eine ganz eigene Bedrückung in ihm aus, weil man diese menschliche Konstellation nur zu dem Zweck erfunden zu haben schien, alle anderen in die Verzweiflung zu treiben.

Am Strand rannten Ball spielende Männer hin und her, verteilten sich auf einem großen Areal und drängten sich dann wieder zusammen. Gene witterte sie, bevor sie an ihm vorbeiliefen, und ihr Geruch lag auch hinterher noch in der Luft, eine warme Luftmasse, in die sich ein nach Kohl riechender Schweißdunst mischte. Sogar Männer, die sonst keinen Sport trieben, die mit schmaler, knochiger Brust, weiß wie das Innere einer Gurke – sogar sie spielten Ball am Strand. Wenn diese Horde über eine Decke trampelte, sprang ein Rettungsschwimmer auf und rügte sie über das Megafon.

Während Genes Collegezeit waren die Rettungsschwimmer an diesem Strand faule Partylöwen gewesen, die für die Regeln nur Verachtung übriggehabt hatten, zumal, wenn diese von den Behörden New Hampshires erlassen worden waren. Sie hatten während der Pausen geraucht und Bier aus Flaschen getrunken, die in Papiertüten steckten, aber das war offenbar Geschichte. Nun schien der Strand Bestandteil einer größeren öffentlichen Dienstleistung zu sein, die bierernst für Sicherheit und Gesundheit warb. Im letzten Sommer hatte eine mobile Klinik auf dem Parkplatz gestanden, und auf dem Weg zum Strand war man an fröhlichen Freiwilligen vorbeigelaufen, alle mit dem gleichen T-Shirt und Handzettel verteilend, die für diverse kostenlose Untersuchungen warben. Damals war einer der letzten heftigen Streits mit Maida entbrannt, ein Streit, der durch eine Freiwillige ausgelöst worden war, die gefragt hatte, ob sie ihnen einen Zettel geben dürfe. Er lehnte ab, aber Maida nahm den Zettel entgegen und las das Untersuchungsangebot laut vor, während sie über die Dünen marschierten. Gene ahnte, dass sie durch sein Nein in ihrem Ja bestärkt worden war, dass es auf einen Konflikt hinauslief. »Sie sind kostenlos«, sagte Maida. »Warum also nicht?« Doch es gab nichts umsonst, und das sagte er auch.

Hätten sie die Sache nach diesem halbherzigen Wortgefecht über Geld auf sich beruhen lassen, dann hätte er die Auseinandersetzung vermutlich längst vergessen. Stattdessen begannen sie, sich über die Frage zu streiten, was man wissen müsse und was nicht. Sie kapiere nicht, meinte Maida, warum sich jemand weigere, sich einer Untersuchung zu unterziehen, die etwas ans Licht bringen könnte. »Ahnungslosigkeit hat noch niemanden gerettet«, sagte sie, und das zu einem Zeitpunkt, als keiner von beiden ahnte, dass sie im nächsten Sommer sterben würde. Gene hatte ihre Logik damals durchaus lustvoll attackiert. Er wies darauf hin, dass es keine Untersuchung gebe, die den Zeitpunkt oder die Umstände des Todes exakt bestimmen könne. Die Untersuchungen würden seine Angst nur vermehren, und nach seiner Erfahrung sei das schlimmer als körperliche Schmerzen. »Für einen intelligenten Menschen«, erwiderte Maida, »bist du manchmal ziemlich dumm.«

Nun schlängelte er sich durch ein Labyrinth von Decken, weggeworfenen Bechern und Aasvögeln zum Wasser. Dunkler, von der Sonne ausgedörrter Seetang hatte sich in losen Haufen in den sandigen Mulden gesammelt, vermischt mit Müll, Gischt und Muscheln – überwiegend Trogmuscheln, aber auch einige Miesmuscheln. Im Todesjahr seines Vaters war der damals zehnjährige Gene mit der väterlichen Familie eine Woche am Meer gewesen – mit den französisch sprechenden Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, alle aus derselben kanadischen Kleinstadt stammend –, und seine Cousins und Cousinen hatten ihm offenbart, dass man das Meer rauschen hörte, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hielt. Er hatte die ganze Woche Miesmuscheln und Häuser von Purpur- und Mondschnecken gesammelt, jede einzelne abgespült und danach ausprobiert, weil er hoffte, nicht das Brausen des Ozeans, sondern die Stimme seines Vaters zu hören, wenn er nur das richtige kleine, glatte, hohle Behältnis fände. Zu seiner Verwunderung hatte er sogar jetzt, sechzig Jahre später, immer noch den Impuls, Muscheln aufzuheben, als könnte ihm eine den Vater zurückbringen.

Eine Frau mit Sonnenhut und weiter Hose schlenderte dicht am Wasser auf ihn zu. Irgendetwas an ihrem Gang löste plötzlich ein Gefühl der Vertrautheit aus, das ihn in Aufregung versetzte. Für einen flüchtigen Moment glaubte er, es wäre Maida, doch als sie näher kam, zerstob diese Illusion. Gesicht und Ausdruck stimmten nicht, und sie hatte dort Fettpolster, wo Maida schlank gewesen war. Aber er klammerte sich sogar nach der Zerstörung dieser Illusion weiter an die verzweifelte Hoffnung, dass seine Frau nicht die im Krankenhaus verstorbene Person, sondern noch am Leben war, dass die echte Maida irgendwie zu ihm zurückkehren würde.

Er hatte ihr manches verschwiegen. Zum Beispiel, dass er das mobile Gesundheitszentrum eine Woche nach dem Streit über die kostenlosen Untersuchungen doch aufgesucht hatte. Er hätte gern behauptet, dies für sie getan zu haben, beflügelt von einer Liebe, die eine radikale Offenheit gegenüber den Vorstellungen eines anderen Menschen bedeutete, aber der wahre Grund war eine Art Aberglaube gewesen. Nach all dem Gerede über mögliche gesundheitliche Probleme schlich sich ein fatalistisches Gefühl ein. Gene glaubte, das Universum würde ihn bestrafen, wenn er sich gegen eine Untersuchung sträubte. Also ließ er seinen Blutdruck messen und sich auf Diabetes untersuchen und bezahlte auf Anraten des Arztes, der ihn stirnrunzelnd abgehört hatte, auch noch für ein EKG, bei dem ein unregelmäßiger Herzrhythmus festgestellt wurde. Der Arzt konnte den Grund nicht nennen und empfahl ihm, seinen Hausarzt aufzusuchen. Kurz vor dem Termin bei Dr. Fornier bekam Gene jedoch Probleme mit den Fußknöcheln und war froh, dass diese Lappalie im Vordergrund stand.

Dann gab es noch die Fragen, die er Maida nie gestellt hatte. Zum Beispiel, ob sie der Meinung war, unter dem Strich ein glückliches Leben gehabt zu haben. Damit meinte Gene nicht die Äußerlichkeiten, sondern den Kern des Lebens. Er meinte das geheime Leben, das einem selten bewusst war. War Maidas Leben halbwegs glücklich gewesen?

Eine aus dem Nichts kommende Welle schäumte gegen seine Füße. Das Wasser schwappte über seine Schuhe, seine Füße wurden nass. Er watete tiefer hinein und spürte, wie die Kälte seine Shorts durchdrang. Wie immer, wenn das Wasser seinen Bauchnabel erreichte, wurde sein Körper von einem sonderbar fließenden Zucken geschüttelt.

Manche Leute meinten, die Trauer würde irgendwann abflauen, aber er bezweifelte das. Die Tatsache, dass der Tod seines Vaters nach so langer Zeit immer noch in ihm nachhallte, hieß wohl, dass man einen Tod nicht abhaken konnte, sondern sich im Kreis bewegte. Und ein neuerlicher Verlust führte einem vor Augen, dass man immer noch auf den alten Pfaden unterwegs war. Nur, dass er inzwischen älter und gebrechlicher war und Schicksalsschläge nicht mehr so gut wegstecken konnte. Denn jeder Körper hatte nur eine begrenzte Kapazität für die vielen Tode, die man irgendwie verdauen musste, um weiterleben zu können.

Eine Welle schwappte gegen seine Brust, und Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Er schmeckte das schale Geschenk des Salzes, es biss in Mund und Nase. Dann flutete der Ozean zurück wie eine Membran, die in alle Richtungen gezogen und wie durch einen inneren Abfluss in die Tiefe und Breite gesogen wurde.

In seinem und Maidas Leben hatte kein Paar eine größere Rolle gespielt als Ed und Gayle Donnelly. Beide Paare hatten immer wieder gemeinsam Urlaub im White Pine Camp gemacht, dem Grundstück der Donnellys am Fisher Lake, und sich gegenseitig in die sommerlichen Rituale des Familienglücks eingeweiht – Baden, Bootfahren, Angeln, Vögel beobachten, Krocket, Kartenspiele, nächtliches Baden. Während dieser Urlaube hatten sie sich gemeinsam um kranke Kinder, von Mücken zerstochene Kinder und ganz normale quengelnde Kinder gekümmert. Babyausstattung und zu klein gewordene Kleider waren zwischen den Familien hin und her gewandert. Dary, ein Jahr nach Eds und Gayles ältestem Kind geboren, trug während ihres ersten Lebensjahres fast ausschließlich Brian Donnellys ausgemusterte Babykleidung. Und die zwei jüngeren Söhne der Donnellys, Michael und Colin, erbten später Darys bestes Spielzeug. In der oberen Schublade des Sekretärs der Donnellys lag ein Schlüssel für das Haus der Familie Ashe (neben Briefmarken mit einem Motiv von Charles Demuth und einem Brieföffner aus Perlmutt), und in der Garderobe der Familie Ashe steckten Schlüssel für die Häuser der Donnellys in der Tasche eines viel zu großen Herrenmantels, an dessen Kauf sich niemand mehr erinnern konnte. Außenstehende hatten manchmal den Eindruck, dass die Familie Ashe eine Erweiterung der Familie Donnelly war und umgekehrt, und im Krisenfall verließ man sich aufeinander, ohne groß zu fragen.

Während der ersten Wochen nach Maidas Tod waren Ed und Gayle stets erschienen, wenn Gene kompetente Hilfe brauchte. Gayle beendete in aller Stille Maidas Beziehungen zu weltlichen Institutionen. Sie brachte Bücher in die Bücherei, übertrug Mitgliedschaften auf Genes Namen, kündigte den Dauerauftrag für das Fitnessstudio, das er nie besucht hatte, und regelte alle möglichen Angelegenheiten, an die er von sich aus nie gedacht hätte, die aber eine Belastung gewesen wären, wenn man sie nicht abgeschlossen hätte.

Ed kümmerte sich derweil um die Infrastruktur rund um das Haus. Er brachte Genes Auto termingerecht zur Inspektion und holte Angebote für die Reparatur des Daches ein. Er besorgte sofort einen neuen Kühlschrank, als sich während einer Hitzewelle eine übel riechende Pfütze unter den Gefrierfächern des alten gebildet hatte. Nachmittags war der Boden wieder sauber und trocken, das neue Gerät mit allem gefüllt, was das alte enthalten hatte, und obendrein mit gutem Bier und Aufschnitt.

Der selbstlose Einsatz seiner Freunde hätte Gene eigentlich milder stimmen müssen, aber er war nicht dankbar, sondern eher gereizt, und das verwirrte ihn. Diese Gereiztheit löste vor allem Ed aus, obwohl dieser nur helfen wollte. Je stärker Genes Gereiztheit wurde, desto tiefer waren seine Schuldgefühle, mit der Folge, dass er sich wiederholt gegen Hilfeleistungen sträubte, die eigentlich in seinem Interesse gelegen hätten, oder zu spät zu Verabredungen kam, die seine Freunde für ihn arrangiert hatten. So wie jetzt, als er mit Verspätung am Minigolfplatz eintraf, weil er unvernünftigerweise zu lange im Wasser geblieben war.

Der Platz befand sich einen Block weiter auf der anderen Straßenseite, in der Nähe der Muschel, in der die kostenlosen Sommerkonzerte stattfanden. Er hatte erwartet, dass die Promenade während der Mittagshitze etwas leerer wäre, aber sie wimmelte wie der Strand von eingecremten Menschen, die joggten, schlenderten oder müßig am Geländer standen. Den Anblick von Frauen, die nur im Badeanzug herumliefen, fand er immer noch gewöhnungsbedürftig – was ihn schockierte, war allerdings nicht die großflächig gezeigte nackte Haut, sondern der Gedanke, dass die betreffende Person vergessen hatte, sich anzuziehen. Eine braun gebrannte junge Frau im weißen rüschenbesetzten Bikini, mit Stirnreif und Schärpe, vermutlich Zeichen für ihren Junggesellinnenstatus, posierte für ein Foto, flankiert von einer Truppe ebenso braun gebrannter Frauen im Bikini, die alle aussahen, als hätten sie keine weitere Minute in der Sonne nötig. Ein großer, muskulöser Typ, der ein T-Shirt mit dem Airbrushmotiv einer obszön vollbusigen Frau trug, wurde von einer Frau begleitet, die halb so groß war wie er und das gleiche T-Shirt trug.

Als Gene die Straße überqueren wollte, wäre er auf dem Radweg beinahe von einem Inlineskater überfahren worden, der ihm zurief: »Nicht sterben, Alter!«

Vor den Spielsalons schien alle Welt zu futtern: drei Eiskugeln in der Waffel, Fried Dough oder dampfende Pizzastücke, auf zwei Papptellern gereicht. Der sieben Meter lange blaue Marlin sprang immer noch aus dem Dach des Fischrestaurants, das einen neuen Namen trug, aber die alten Gerichte im Angebot hatte. Ein Jugendlicher mit einer Reklametafel in Gestalt eines Klaviers vor Brust und Rücken gab ihm einen Flyer, der für eine Bar mit privaten Karaokeräumen warb.

Außerdem gab es mehrere Minigolfplätze, aber nur einen mit Piratenthema. Gene wurde am Eingang von einem Skelett begrüßt, dem eine Hand fehlte, und lehnte den Pappsonnenschutz mit Schädel und gekreuzten Knochen ab, der ihm von einem Angestellten angeboten wurde. Da es keine gute Abkürzung über den Platz gab, musste er sämtliche Bahnen ablaufen, vorbei an Gruppen von Leuten, die allesamt den Sonnenschutz mit Schädel und gekreuzten Knochen trugen. Eine Bahn hatte ein Hindernis in Gestalt eines Schiffswracks; bei einer anderen musste man den Ball durch einen riesigen Schädel schlagen; eine dritte warf die Tentakel eines Monsterkraken aus. Er ging über eine schmale Holzbrücke und entdeckte schließlich seine Familie vor einem künstlichen Wasserfall, der über beigefarbige Plastikfelsen plätscherte.

»Aha«, sagte Ed. »Da nahet der Strandräuber. Wir haben ohne dich angefangen, ich hoffe, das ist okay.«

Seine Enkelin reichte ihm einen knallorangefarbenen Ball. Er gab Gayle einen Begrüßungskuss auf die Wange und fragte, ob er etwas verpasst hatte.

»Ed droht damit, White Pine Camp zu verkaufen«, erzählte Dary.

»Mensch, das kannst du nicht machen«, sagte Gene. »Du darfst es erst nach meinem Tod verkaufen.«

»Erst, wenn wir alle tot sind«, meinte Gayle.

»Ich habe nachgerechnet«, sagte Ed. »Im letzten Sommer waren wir schlappe zehn Tage dort. Und dich …« – er zeigte auf Gene – »… haben wir nur für einen Tag dorthin locken können, und das mit viel Mühe.«

»Das liegt an den Kindern«, sagte Gene.

»Na, besten Dank«, entgegnete Dary.

»Doch. Sie sind jetzt groß, das ist das Problem. Als sie kleiner waren, waren wir öfter dort.«

»Einspruch«, sagte Ed. »Ich widerspreche der Ansicht, wir hätten nur für die Kinder gelebt.«

»Nicht nur«, sagte Gayle.

»Bloß überwiegend«, sagte Ed mit einem trockenen, spöttischen Lächeln.

»Du würdest den Verkauf bereuen«, erklärte Gene.

»Bestimmt nicht«, erwiderte Ed, »denn ich habe in meinem bisherigen Leben niemals etwas bereut.«

»Du würdest ja nicht nur die Hütte aufgeben«, sagte Gene, »sondern das ganze Erlebnis. Die Luft und alles, was darin enthalten ist.«

»Ich habe jede Menge frische Luft. Die Bäume produzieren sie täglich für mich.«

»Es ist der herrliche Geruch des Sees, oder?«, sagte Gayle wehmütig. »Wenn man ihn riecht, ist alles wieder gut.« Sie ging zum Abschlagfeld und spielte den Ball, ein solider, wenn auch nicht besonders bemerkenswerter Schlag. Ed behauptete, sie hätte es vielleicht besser gemacht, wenn sie nicht geplappert hätte (die Familie Ashe beteiligte sich nicht an der Diskussion), und kurz darauf schlug Gene den orangefarbenen Ball eine Rampe hinauf und über ein Wasserhindernis. Er hatte geglaubt, kräftig genug geschlagen zu haben, aber der Ball plumpste ins Wasser.

»Dein Kopf«, sagte Ed.

»Was?«

»Du hast im letzten Moment den Kopf bewegt.«

Ed trat vor, um abschlagen. Er war über einen Meter achtzig groß, und der Schläger wirkte zu klein für ihn. Während der letzten zehn Jahre waren seine Muskeln etwas geschwunden, aber er wirkte immer noch kerngesund, ein Resultat lebenslangen täglichen Trainings. Er hatte jahrelang vergeblich versucht, Gene zu überreden, auch um fünf Uhr aufzustehen und am Fluss zu joggen, eine Route, die vor einem Coffee Shop endete, wo er von diversen Rentnern, alle in ihren Siebzigern, ehrfürchtig begrüßt wurde. Er schlug zackig und präzise. Der Ball überwand das Wasserhindernis und blieb dreißig Zentimeter vor dem Loch liegen. »Mal schauen, ob du es besser machst«, neckte er Dary.

Sie beförderte den Ball problemlos über das Wasser, und nach dem Ausrollen blieb er zwischen Eds Ball und dem Loch liegen.

»Nicht übel«, gab Ed zu.

»Demütige Worte des Mannes, der mich gelehrt hat, wie man spielt«, sagte Dary. »Und der behauptet, im Leben sei es wichtig, in ein oder zwei sinnlosen Spielen zur Meisterschaft zu gelangen.«

»Hättest du nicht auf mich gehört«, erwiderte Ed, »dann hättest du kein Einhorn gesehen.«

»Welches Einhorn?«, fragte Gene.

»Meinst du das Pony, das Mom mal gesehen hat?«, wollte Annie wissen.

»Ganz genau, Schätzchen.«

»Sie kennt die Geschichte?«, sagte Gene.

Schließlich erzählte Ed. Die Sache hatte sich zugetragen, als Dary elf oder zwölf gewesen war, Michael und Colin noch kleine Jungs. Eines Tages war Ed mit den Kindern aufs Land zu einem Minigolfplatz gefahren, von dem er gehört hatte. Wie sich herausstellte, war es eine heruntergekommene Farm, die die Eigentümer in eine Touristenattraktion hatten umwandeln wollen. Es war ein bizarrer, nur im Sommer geöffneter Ort mit einem Heuballenlabyrinth, einem schlichten Minigolfplatz mit neun Löchern und einem kleinen vernachlässigten Streichelzoo jener Art, bei der man, so Ed, auf die Werbetafeln mehr Sorgfalt verwendet hatte als auf die Gehege. Unter den Tieren war auch ein sehr elend wirkendes Pony. Sein Fell war von wabbeligen, grau glänzenden Stellen durchsetzt, als würde sich die Haut darunter zersetzen, und mitten auf seiner Stirn saß ein Horn, das sich halb abgelöst hatte. Das Pony stampfte, warf den Kopf hin und her und verrenkte sich wie wild, um das Horn abzuschütteln, was Michael und Colin große Angst machte. Ed wollte ihre Aufmerksamkeit gerade auf etwas anderes lenken, als Dary unvermittelt über den Zaun griff und das Horn mitsamt einem Hautfetzen abriss. Das Pony bleckte die Zähne und wieherte böse, und dort, wo das Horn auf der Stirn befestigt gewesen war, quoll gelber Eiter aus einer Wunde. Ed scheuchte alle ins Auto.

»Wie schrecklich«, sagte Gayle.

»Nein, war es nicht, das ist es ja gerade«, sagte Dary. »Jedenfalls rückblickend.« Während der Heimfahrt, erzählte sie, habe Ed darüber gesprochen, dass gute Taten manchmal unvorhersehbare Folgen hätten. Er versicherte ihr, sie trage keine Schuld daran.

»Hm«, sagte Ed mit zufriedener Miene. »Ich scheine nicht alles zu verbocken.«

Irgendjemand wechselte das Thema, und das Spiel wurde fortgesetzt. Ed und Gayle wollten am Wochenende mit Annie und ihren Enkelinnen, den Töchtern ihres Sohns Colin, zelten, und die Erwachsenen diskutierten, was man noch bedenken müsse und ob die Moskitos in diesem Jahr eine große Plage seien. Gene hörte nicht mehr zu. Seine Gedanken schweiften ab, denn er fand es rätselhaft, dass die anderen Eds Geschichte von dem armen Pony schon seit Jahren kannten. Maida auch? Höchstwahrscheinlich. Aber wenn es so war, warum hatte sie ihm nie davon erzählt?

Auf der Heimfahrt hielten die Ashes in Wheeler, einem Ort am Meer mit unprätentiösen Läden und Restaurants. Genau diese Vorzüge hatten Gene und Maida ein halbes Leben zuvor veranlasst, ihre Flitterwochen hier zu verbringen. Annie wünschte sich von Dary ein Souvenir, ein T-Shirt mit Spruch oder einen springenden Keramikdelfin. Als sie in einen Laden gingen, um sich Anhänger anzuschauen, meinte Gene, er wolle sich weiter oben in der Straße kurz etwas ansehen.

»Nicht vergessen!«, rief Dary ihm nach.

»Ich weiß, wo das Auto steht«, antwortete er.

»Zurückzukommen, meine ich.«

Er ging an einer Reihe von Geschäften mit sonnenvergilbten Schildern vorbei, hinter deren Türen lässige Unordnung herrschte, an Einzelhändlern, deren Regale mit knallbunter Bademode und Sarongs für den Strand gefüllt waren, und manchmal gab es eine Wand mit dem, was heutzutage »aktives« Schuhwerk hieß. Die Angebote der kleinen Läden schienen Variationen der immer gleichen Palette zu sein, was womöglich auf paradoxe Art erklärte, warum sie noch nicht dichtgemacht hatten. Sollte man die Stadt einmal umgestalten, dann würde es keine fünf Versionen desselben Ladens mehr geben, dann würde vermutlich nicht einmal einer der jetzigen Konkurrenten überleben. Andererseits war es sehr charmant, ja beruhigend, vor dem Beach Stop oder der Seagull Alley oder dem Wave Haven zu stehen und vor dem Eintreten zu wissen, dass es irgendwo im Laden ein Badetuch gab, bedruckt mit einem rosa-orangefarbenen Sonnenuntergang, und ein verbilligtes Bodyboard aus weichem blauem Schaumstoff. Gene hoffte, die Läden würden sich bis in alle Ewigkeit halten, nicht zuletzt, weil seine Erinnerung an den Ort darauf beruhte.

Er ging weiter, kam an einer Bar vorbei, in der die Happy Hour an jedem Sommertag schon um elf Uhr vormittags begann und um achtzehn Uhr endete. Zwei Teenagerinnen verkauften an einer Straßenecke Melonen von der Ladefläche eines staubigen Pick-ups, den sie, jung wie sie waren, sicher noch nicht fahren durften. Ein Minisupermarkt warb für »eiskaltes Eis«. Nach drei Blocks kleckerten die Geschäfte aus und wichen Büschen und Sträuchern, die Grundstücksgrenzen markierten. Der Bürgersteig verschwand, und Gene ging parallel zur Straße in einer Rinne, übersät von Kies und Fetzen von Gummireifen.

Nun war es nicht mehr weit.

Er bog in eine kiesbedeckte Einfahrt ein. Dort kam ihm ein Junge in graubrauner Uniform entgegen, der ein Fahrrad auf der Schulter trug. Es wirkte federleicht, und als er nach dem Erreichen der Straße aufstieg, übertrug sich diese Leichtigkeit auf seinen Körper. Er schien nicht auf das Fahrrad zu steigen, sondern seine natürliche Gestalt anzunehmen. Vor dem Hintergrund des Buschwerks wirkte er klein, und es war schön anzusehen, wie seine Beine mit dem Fahrrad verschmolzen und ihn davontrieben, ein Junge, der die Räder, zugleich seine Beine, regelmäßig kreisen ließ, bis er nur noch ein Strich am Horizont war. Ein silbriger Fleck, ein dunkler Punkt – dann war der Junge frei, befand sich auf der anderen Seite der sichtbaren Welt. Gene wusste nicht genau, warum ihn dieser Anblick so berührte, aber da war es, dieses Gefühl, das ihm die Brust zuschnürte.

Auch dies war eine Form der Trauer, und dass die Erfahrung der Trauer in gewisser Weise ein Wahnsinn war, lag nicht so sehr an dem Leid, das sie bereitete, sondern eher an flüchtigen Empfindungen dieser Art. Warum war er so empfänglich für banale Begebenheiten, die einem Valentinsgruß der Welt an sich selbst glichen, für eine Schönheit, die sich ganz nebenbei zu offenbaren schien und ihm das Gefühl gab, als würde die wahre Macht des Universums in dieser ebenso zufälligen wie willkürlichen Pracht bestehen? Warum dieser flatterhafte Aufruhr in seiner Brust? Das ließ sich nicht nur mit seinen gemarterten Sinnen erklären. Er fand es unbegreiflich, dass der Anblick eines radelnden Jungen, der an einem späten Nachmittag die Luft zersplittern ließ, pure Freude in ihm auslöste, obwohl er eigentlich lieber tot gewesen wäre. Jedes Mal, wenn er glaubte, seine Trauer und ihre Ursachen definieren zu können, kam es zu diesem Aufruhr in seiner Brust.

Er überquerte eine Insel aus struppigem Gras, die Autos auf die halbmondförmige Auffahrt vor dem Sandpiper Inn lenkte, ein dreistöckiges weißes Schindelgebäude, das keinen übertrieben gepflegten Eindruck machte. Schiefe Fensterläden, eingesunkene Veranda, und die einst bunten Sitzkissen der Schaukelstühle waren so stark ausgeblichen, dass sie einen ländlich rauen Charme vermittelten. Im Erdgeschoss gab es ein Restaurant, und während ihrer Flitterwochen hatte der Gestank des Bratfetts morgens den Meeresgeruch überlagert und sich in der Bettwäsche festgesetzt. Die Cottages mit altmodischen Namen wie Eagle’s Lookout, Plover’s Perch und Crane’s Cranny verteilten sich hinter dem Inn an einem gewundenen Spazierweg. Gene erinnerte sich an den Pfad, der zu einem kleinen grauen, von zerklüfteten Felsen übersäten Strand führte.

Er konnte sich auch noch an den Angestellten erinnern, der sie nach der Hochzeit eingecheckt hatte. Die Feier hatte auf dem Hinterhof des Hauses von Maidas Onkel stattgefunden. Von ein paar Freunden abgesehen, waren die meisten Gäste Familienangehörige, und die Party hatte die steife Atmosphäre einer Familienfeier gehabt. Als Ed »Earth Angel« auflegte, einen Song, den Gene für diesen Moment ausgewählt hatte, war es ihm zu peinlich gewesen, mit seiner Braut vor den Augen beider Familien zu tanzen, und sie hatten nur Händchen gehalten, einander angeschaut und dümmlich gelächelt, bis die Penguins ihren letzten Ton gegurrt hatten. Sie waren der Party so früh wie möglich entflohen und kichernd und atemlos im Inn angelangt, und der Junge an der Rezeption – genau genommen ein junger Mann, gut aussehend und jovial – hatte sie mit einem leisen, wissenden Lächeln empfangen. Gene war so nervös, dass er nicht mehr wusste, ob er das Zimmer sofort oder danach bezahlen musste, und der Junge fragte grinsend: »Nach was?« Während Gene fahrig mit Scheckbuch und Stift hantierte, sprach Maida den Jungen auf dessen Tätowierung an. Auf seinem Arm prangte eine halb nackte, vollbusige Meerjungfrau mit einem grünen Fischschwanz, und im Laufe des Gesprächs entstand eine neckische Vertrautheit. Als Gene aufblickte, zog der Angestellte gerade sein Hemd hoch, um Maida zu zeigen, dass sich die Tätowierung auf seinem Oberkörper fortsetzte. Die Schwanzflosse der Meerjungfrau verschwand unter seiner Hose, und Gene fragte sich kurz, ob er auch diese ausziehen würde. Plötzlich schwirrte ihm der Kopf, und es brannte in seiner Kehle, doch als er glaubte, sich setzen zu müssen, ergriff Maida seine Hand und drückte sie. Da verstand er, dass sie auf dem Umweg über den jungen Mann mit ihm flirtete. Sie wollte seine Vorfreude auf das schüren, was sich später im Cottage zwischen ihnen abspielen würde.

Im feuchtwarmen Büro des Inn, durch dessen Jalousien der Sonnenschein des späten Nachmittags drang, versuchte Gene, der Frau an der Rezeption zu erklären, was ihn mit Cottage Nummer fünf, dem Pelican’s Nest, verband. Er bat darum, einen Blick hineinwerfen zu dürfen. Sie meinte, dort würde man gerade Klempnerarbeiten erledigen, aber wenn ihn das nicht störe, könne er sich das Häuschen gern anschauen, es sei nicht abgeschlossen.

Auf dem Fußboden des unbewohnten Cottages lagen ein paar mit Matsch beschmierte Handtücher, aber davon abgesehen war es so schlicht, wie er es in Erinnerung hatte. Die Fenster hatten keine Scheiben, sondern nur Fliegengitter, und wenn man sie schließen wollte, musste man draußen die Haken lösen, die verhindern sollten, dass die Fensterläden bei Wind zuknallten. Es gab nur ein Zimmer und ein winziges Bad ohne Wanne, und Wände und Fußboden waren in einem wässerigen Weiß gestrichen, unter dem das knorrige Kiefernholz zu sehen war. Als er sich auf das breite Bett setzte, sank die Matratze so tief ein, dass er die Sprungfedern unter dem Steißbein spürte.

Wie bizarr die ersten Stunden der Ehe gewesen waren! Sie hatten eilig möglichst viel Abstand zwischen sich und die Hochzeitsgäste in Colton gebracht. Als sie allein im Cottage waren, war die fast irrsinnige Dringlichkeit, die ihn während der Autofahrt erfüllt hatte, schlagartig von ihm abgefallen. Die Tatsache, dass das, was er begehrte, in greifbare Nähe gerückt war – und Sex obendrein erwartet wurde –, schien sein Begehren zu dämpfen.

Sie saßen mehrere Minuten stumm auf dem Bett und hielten Händchen. Maida trug ein weißes Seidentop mit Spitzenbesatz, und ihre Mutter hatte dazu passende weiße Bänder in ihr Haar geflochten. Sie schien ihre Gefühle hinter dem feierlichen Weiß zu verbergen, und ihm dämmerte, dass er die Sache in die Hand nehmen musste.

Er war mit ihren Lippen, ihren Brüsten, ihrem Bauch und der Innenseite ihrer Oberschenkel vertraut, und zwei Tage vor der Hochzeit war er mit den Fingern in sie eingedrungen. Im Gegenzug hatte sie sich entgegenkommend gewunden und außerdem versucht, ihn mit der Hand zum Orgasmus zu bringen, fast mit Erfolg. Am Ende hatte er nachhelfen müssen, weil sie nicht mehr im Gleichtakt gewesen waren.

Als er sie im Cottage berührte, schloss sie die Augen, und das war eine Erleichterung, weil sich das Risiko von Peinlichkeiten minimierte, wenn man nichts sah, sondern nur spürte. Um sein Gefühl der Absurdität zu überwinden – und er fand es absurd, dass die lange Phase des Werbens und all der Feierlichkeiten am Ende auf dies hinauslief –, konzentrierte er sich in erster Linie darauf, sie zu befriedigen. Sie war still und ergeben, und ihr Schweigen trieb ihn zu noch hektischerer Aktivität. Er stellte sich vor, Motoren unter den Händen zu haben, kleine Motoren unter der Zunge, und er glaubte, erst dann aufhören zu dürfen, wenn sie vor Lust schrie. Doch sie gab keinen Ton von sich, und ihr Schweigen absorbierte nicht nur jeden Laut, den sie hätte von sich geben können, sondern auch sein Stöhnen und Wimmern. Er hätte nie gedacht, dass er sich so einsam fühlen würde.

Später jedoch, in einem seligen Halbschlaf liegend, fragte er sich, welchen Rausch sie gerade erlebt hatten. Was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, kannte diverse Namen, aber keiner war zufriedenstellend. Keiner erklärte, warum sich die tiefe Zärtlichkeit, die er für sie empfand, noch weiter vertieft hatte, oder wie es kam, dass er sich der Frau, die neben ihm schlief, in seinem innersten Wesen noch verbundener fühlte als jemals zuvor.

2

Sie hatten sich durch Ed kennengelernt.

Im Frühjahr seines dritten Jahres an der Universität von New Hampshire war ihm Ed von einer Studentenorganisation, die akademische Lernhilfe anbot, als Tutor zugewiesen worden. Gene studierte Wirtschaftskommunikation, und die Anforderungen für den Abschluss erlaubten es ihm, ein paar Literaturkurse zu belegen, eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen wollte. Er hatte irgendwie die Vorstellung gewonnen – nicht durch seine Eltern, die, soweit er sich erinnerte, niemals ein Buch gelesen hatten –, dass ein Leser jemand war, den andere Menschen reizvoll fanden. Dieser Reiz hatte einerseits mit Einsamkeit und andererseits mit Intimität zu tun – mit der plötzlichen Verbundenheit zweier Menschen, die das gleiche Buch gelesen hatten. (Ihm war nicht entgangen, dass die hübschesten Mädchen am College Literatur studierten.) Bücher übten eine geheimnisvolle Macht aus, und diese hatte eine fast erotische Dimension, weil man sich Texte nur durch hartnäckige Hingabe erschließen konnte, wenn überhaupt.

Im Jahr zuvor hatte er recht erfolgreich ein Seminar zum Roman des neunzehnten Jahrhunderts besucht, und in einem Shakespeareseminar, in dem Verfilmungen der Stücke gezeigt worden waren, hatte er sogar noch besser abgeschnitten. Aber all das hatte ihn weder auf das anspruchsvolle Lyrikseminar noch auf den runzeligen, krummen älteren Professor vorbereitet, dessen bissige, unverblümte Kommentare in einem krassen Gegensatz zu seinem Äußeren standen. Wenn Gene einen mit Anmerkungen übersäten Aufsatz zurückerhielt, war er jedes Mal geknickt, weil er die Tragweite der Gedichte offenbar nicht entsprechend tiefsinnig zu interpretieren verstand. Es war ihm peinlich, dass er Zeit vergeudete – die des Professors, aber auch seine eigene –, und selbst die Tatsache, dass Lyrik im Grunde genommen ziemlich bedeutungslos war, konnte seine Zerknirschung nicht mindern. Also suchte er sich einen Tutor und verbrachte jeden Donnerstagnachmittag in Eds Wohnung, um sich mit Fußknöcheln in den Gedichten Emily Dickinsons, mit Äpfeln in der Lyrik Rilkes und mit Vögeln in der von Wallace Stevens zu befassen und zu ergründen, was diese Fußknöchel, Äpfel und Vögel zu bedeuten hatten.

Die Wohnung bestand aus einer Reihe verlotterter Zimmer, die Ed und Braxton, sein Mitbewohner, ironisch »Old Glory« nannten, dies nach der zerknitterten amerikanischen Flagge, die der Vormieter an der Wand über dem Kamin hatte hängen lassen. Gene kannte kaum einen Studenten mit eigener Wohnung – die meisten lebten wie er im Wohnheim oder bei ihren Eltern. Eds Wohnung hatte einen speziellen Geruch, eine raffinierte Mischung aus dem Rauch der Zigaretten, die Braxton fast ununterbrochen qualmte, den Donuts, die jeden Morgen unten in der Bäckerei gebacken wurden, dem nassen Kaffeesatz, der den ganzen Tag in der Küchenspüle lag, einem süßlichen chemischen Geruch, den die Mausefallen in der Küche verbreiteten, wie Ed meinte, und den feuchten, erdigen Ausdünstungen der Topfpflanzen, die Ed in der Wohnung verteilt hatte, weil sie den Mief absorbieren sollten. In der Wohnung fehlten immer wieder genau jene Möbel, die für ein Studentendasein eigentlich unverzichtbar waren – manchmal der Schreibtisch, oft die Stühle –, und wenn man sich nach einem Möbelstück erkundigte, erhielt man stets die Antwort, es sei von den Nachbarn weiter hinten auf dem Flur ausgeliehen worden oder während einer der zahlreichen Partys von Ed und Braxton zu Bruch gegangen. Es gab nicht genug Stühle, aber ein Teil des Wohnzimmers war mit weichen Kissen ausgelegt. Wenn Gene wieder einmal automatisch eines aufhob und auf einen Stuhl legte, sagte Ed mit milder Stimme: »Liegen lassen, Ashe. Es gehört auf den Fußboden.«

Wie sich herausstellte, studierte Ed nicht Literatur, sondern Molekularbiologie, aber da er die Literaturseminare erfolgreich absolviert hatte (ebenso jene in Kunstgeschichte, Politikwissenschaft, Philosophie, Ökonomie und außerdem die Pflichtseminare seines Hauptfachs), hatte ihn die studentische Organisation als Tutor für all diese Fächer auf die Liste gesetzt. Gene hatte zunächst geglaubt, Ed wäre älter und außerdem in einer Großstadt aufgewachsen, weil er nicht auf dem Campus wohnte und mit Collegeakademikern blendend zurechtkam, aber beides traf nicht zu. Ed war wie er im dritten Studienjahr und in einer Kleinstadt aufgewachsen, auf der anderen Seite des Flusses, direkt gegenüber von Colton.

Ed war der Organisation eher spontan beigetreten, weil ihn die Leiterinnen, zwei junge, attraktive Frauen, dazu aufgefordert hatten. Er hatte die Ausbildungseinheit übersprungen, denn er hatte beschlossen, den Job auf seine Art zu machen. Er unterrichtete eher indirekt – so indirekt, dass Gene manchmal befürchtete, nichts zu lernen. Ihre Gespräche schweiften mit schöner Regelmäßigkeit von dem Text ab, über den sie sich beugten, und wandten sich allen möglichen anderen Themen zu: ob das Bewusstsein, dass man irgendwann sterbe, von Bedeutung sei; ob man selbst seines Glückes Schmied sei oder ob Glück in erster Linie von guten Beziehungen zu anderen Menschen abhänge; ob romantische Liebe die Mühe lohne und, wenn ja, ob sie das interessant oder langweilig mache. Wenn sie sich schließlich wieder dem Text zuwandten, hatte Gene die Fußknöchel, Äpfel und Vögel ganz vergessen, dann musste er Ed drängen, darüber nachzudenken, ob ein bestimmter Vers ein Trochäus war oder nicht.

Ed hatte gemeint, sie könnten sich auch in der Bibliothek treffen, aber Gene wollte nicht auf das campusexterne Leben von Ed verzichten, weil ihn dieses insgeheim faszinierte. Die Bücher in der Wohnung hätten ausgereicht, um eine Person über Jahre zu beschäftigen. Bücher über Religion und Medizin und Philosophie, über Gärtnerei, Theater und politische Ökonomie. Während der Stunden haftete Genes Blick stets auf bestimmten Bänden, etwa auf einer schmalen cremefarbigen Ausgabe von Siddhartha oder auf dem schwarzen Buchrücken mit dem Titel Unzeitgemäße Betrachtungen in weißen Blockbuchstaben. Ein Regal enthielt nur Bücher über Fotografie, und in einer Ecke des Wohnzimmers stand eine Großformatkamera mit Blitzlicht und Reflexschirm. Wie Gene zuerst um ein paar Ecken und dann von Ed selbst erfahren hatte, lud dieser Passanten, die er auf der Straße sah, in die Wohnung ein, um Porträtfotos von ihnen zu machen. Gene hoffte insgeheim, Ed würde auch ihn bitten, sich fotografieren zu lassen.

In der Wohnung hingen oder standen allerdings keine Fotos, sondern nur Gemälde, deren Auswahl keinem klaren Prinzip zu folgen schien: Teils waren es langweilige Stillleben mit Steingutkaraffen und einem Durcheinander von schillerndem Obst wie man sie aus Lehrbüchern kannte, teils abstrakte Gemälde in grauenhaft unharmonischen Farben, Hellgrün und Karminrot, Bronze und Vogelkacke. Manchmal ertappte sich Gene dabei, Ed zu dessen Geschmack zu beglückwünschen, obwohl er eigentlich ganz anders dachte.

»Gefällt’s dir, ja?«, fragte Ed. »Mir auch.«

Wie sich herausstellte, stammte alles aus Trödelläden. Das meiste würde wieder dorthin zurückkehren, sobald Ed die Nase voll davon hatte.

Gene erinnerte sich manchmal daran, dass Ed genau wie er aus einer Kleinstadt in New Hampshire stammte, eine Tatsache, die ihn immer wieder verblüffte. Undenkbar, dass Ed eine Kindheit wie er gehabt hatte, in der man hungrigen Kindern manchmal einen Waschlappen zum Lutschen gab, in der Hosen mit Fetzen von Mehlsäcken geflickt wurden und in der sich die Kinder abends im Park vergnügten, indem sie die Schwammspinner zählten, die in Lichtfallen gefangen worden waren, aufgestellt von Männern, die erforschen wollten, warum alle Bäume kahl waren. Wenn man 1931 in Colton geboren wurde, bedeutete das, in einer sterbenden Stadt aufzuwachsen. In einem Jahr schloss die Amoskeag-Spinnerei über Weihnachten und nahm den Betrieb danach nie wieder auf, und drei Jahre später machte die letzte Baumwollspinnerei in Colton dicht. Nicht mehr lange, sagte Genes Mutter, dann würden auch all jene, die wie sein Vater in der Gerberei arbeiteten, gemeinsam mit den anderen abgehalfterten Männern am Straßenrand Stachelbeersträucher beschneiden. Der kleine Gene hatte die Zusammenhänge damals nicht verstanden, doch er konnte sich noch an die Stimmung erinnern, die geherrscht hatte, wenn sich die Erwachsenen versammelten und leise unterhielten, eine ängstliche und verwirrte Stimmung, die dafür sorgte, dass sie herumwirbelten und ein Kind schalten, das wissen wollte, warum es vor dem Schlafengehen keine heiße Schokolade mehr bekam. Colton, das waren arbeitslose Männer und Frauen, die sich um ihre Kinder kümmerten, das waren Kirchen und Wasserstraßen und die eingegangene Textilindustrie, und die Kultur, mit der Ed sich umgab, war weder dort noch in vergleichbaren Kleinstädten zu finden. Deshalb stellte sich Gene gern vor, Ed wäre eine Art Wechselbalg, eine Person, deren Interessen und Vorlieben nicht seiner Herkunft entsprachen, und dieser Widerspruch gefiel ihm und steigerte seine Bewunderung noch weiter. Wenn Ed erzählte, als Kind Ausflüge in die White Mountains unternommen oder in Spielhallen Skee-Ball gespielt zu haben, war Gene enttäuscht, weil das hieß, dass sie doch nicht in unterschiedlichen Universen aufgewachsen waren.

Einmal, sie hatten Yeats’ Gedicht »Die wilden Schwäne auf Coole« analysieren wollen, dann aber darüber diskutiert, ob man im Leben etwas – irgendetwas – erreichen könne, wollte Gene von Ed wissen, warum er Biologie studiere, obwohl ihn die Lyrik so fasziniere.

»Man kann nicht ständig über Gedichten brüten und gleichzeitig erwarten, von einer guten ärztlichen Hochschule akzeptiert zu werden«, antwortete Ed.

Gene hätte nicht verblüffter sein können, wenn Ed verkündet hätte, in eine Höhle ziehen zu wollen, um Karriere zu machen. In einer Höhle zu hausen, fand Gene, passte besser zu Ed als der Arztberuf, der feste Arbeitszeiten, konkrete Abläufe, ständige Weiterbildung und regelmäßige Kontrollen mit sich brachte. Eds Vater war Urologe, und Gene kam der Gedanke, dass die Berufswahl damit zusammenhing, aber Ed wies das von sich.

»Wünscht du dir nicht insgeheim«, fragte Gene, »Schriftsteller zu werden? Oder irgendein anderer Künstler?«

»Die Welt braucht nicht noch mehr Schriftsteller«, erwiderte Ed. »Haben Schriftsteller je eines der Probleme gelöst, die uns auf den Nägeln brennen? Ich will etwas aus meinem Leben machen, und deshalb werde ich Arzt. Wir haben vermutlich weniger Zeit, als wir meinen, und ich will in dem Bewusstsein abtreten, in dieser irdischen Freakshow etwas bewirkt zu haben. Als Arzt wäre das möglich. Man hat Macht über Leben und Tod. Verglichen damit können Gedichte und Gemälde wenig ausrichten. Ich studiere den menschlichen Körper, bis ich ihm sagen kann, wie er seinen Job zu machen hat.«

»Aber Kunst ist doch irgendwie edel, oder?«, fragte Gene.

»Diese Frage solltest du dir verkneifen, Ashe. Du kannst sie mir stellen, ja, aber wenn du sie an den Falschen richtest, wird man dir die Eier schneller in die Kehle stopfen, als du dir die »Mona Lisa« vorstellen kannst. Ein guter Rat: Wenn dir jemand erzählt, Kunst sei edel – oder, noch schlimmer, seine Kunst sei edel –, dann nimm die Beine in die Hand.«

»Ich halte Künstler nicht für besonders gefährlich.«

»Genau darum musst du abhauen«, erwiderte Ed. »Leute, die von der edlen Kunst labern, fürchten sich vor dem Gestank ihrer eigenen Scheiße. Und so ein Typ bist du nicht, oder?«