Ein Espresso für den Commissario

Über Dino Minardi

DINO MINARDI ist ein Sonntagskind aus dem vorigen Jahrhundert, fühlt sich aber viel jünger, als sich das anhört. Den Comer See hat er 2008 für sich entdeckt, und vielleicht ist es kein Zufall, dass er danach anfing, Romane zu schreiben. Da auch seine beruflichen Wege ihn immer wieder in die Lombardei führten, verbringt er seine Zeit inzwischen am liebsten dort. Entgegen des Klischees von Pizza und Wein machen die Lombarden leckere foccace und ausgezeichnetes Craft Beer. Außerdem ist die Stadt Mailand viel schöner als ihr Ruf und hat zudem einige der besten Eisdielen Italiens. Zu seinem Glück fehlt Minardi eigentich nur eine palazzina am Wasser, aber bis dahin tut es auch das Familiendomizil mit Hund im nordrhein-westfälischen Flachland.

ihren Schwager Pippo

Die Kaffeemühle übertönte kurz, aber ohrenbetäu- bend alle anderen Geräusche in der Bar della Funicolare. Marco Pellegrini schloss die Augen und inhalierte genießerisch das Aroma der frisch gemahlenen Bohnen. Er liebte es, wenn er den Tag so beginnen konnte, allein hinter der Theke des Familienbetriebs, die runden Tische und Stühle in der Bar noch leer. Nur er und Lucio Battisti im Radio, das neben den Aperol-Flaschen im Regal über der Spüle dudelte. Ein Relikt mit Kassettendeck aus den Neunzigern, von dem sich niemand so recht trennen wollte.

Der Lärm erstarb, und Lucio Battistis Stimme gewann wieder die Oberhand. Aus dem Lager rumpelte es, auf dem Hof hinter der Bar schlug jemand eine Autotür zu und startete den Motor.

Pellegrini stellte drei Untertassen auf die Theke und legte Löffel darauf. Während der caffè in zwei vorgewärmte Tassen gluckerte, räumte er mit einer Zange die soeben angelieferten cornetti in die Auslage, legte einen zusammen mit einer Papierserviette auf einen Teller und stellte ihn neben die Untertassen. Gerade als die Maschine mit einem sanften Zischen den letzten Tropfen ausspuckte, ging die Tür auf, und die beiden Carabinieri traten ein.

Emilio Folisi nahm seine Mütze ab. »Ciao, Marco! Wie geht’s?«

»Salve, Emilio, Salvatore. Setzt euch. Ich bin sofort so weit.«

Keiner der Männer sagte ein Wort, bis alle drei ihren caffè getrunken hatten.

Dann grinste Pellegrini breit. »Wie lange noch, Salvatore?«

»Vier Monate und achtzehn Tage.« Bianchi warf sich in die Brust und wischte mit dem Zeigefinger die Krümel aus seinem eisgrauen Schnurrbart.

»Ich kann es auch kaum erwarten, dich endlich loszuwerden.« Folisi schüttelte den Kopf, tat wie jedes Mal, als sei er dieses Rituals überdrüssig. Er hatte noch gut zwanzig Jahre bis zur Pensionierung.

Pellegrini lachte und hob fragend die Augenbrauen.

Folisi blätterte auf die letzte Seite. »Keine Katastrophen außer den üblichen. Alles wird immer schlimmer, die Politiker schwatzen klug daher und ändern doch nichts.«

Zufrieden nickte Pellegrini. Mit etwas Glück konnte er auf einen ruhigen Tag in der Questura hoffen. Dagegen hatte er nichts einzuwenden, im Gegenteil. Nicht mehr lange, bis die Hochsaison begann und die Touristenschwärme in die Stadt einfielen. Dann war es mit der Beschaulichkeit vorbei.

Er trocknete sich die Hände an einem Küchentuch, das er ordentlich über eine Stange ausbreitete. Dabei warf er einen prüfenden Blick auf die verspiegelte Rückwand der Bar und unterdrückte den Impuls, mit den Fingern seine dunklen Locken zu glätten. Es war ohnehin sinnlos, er sollte besser mal wieder zum Friseur. Anschließend krempelte er die Ärmel nach unten und schloss die Manschetten, bevor er zuletzt nach Schlüsselbund und telefonino griff und beides in den Innentaschen seines Jacketts verstaute. Franca hatte einmal behauptet, die Jacke wäre seine Handtasche. Ganz unrecht hatte sie damit nicht, obwohl er das ihr gegenüber niemals zugeben würde.

»Paolo, ich muss los. Bis morgen«, rief er in Richtung Lager.

Der Barista erschien im Durchgang, mehrere Lavazza-Pakete im Arm. Sein »Arrivederci, Marco!« ließ keinen Zweifel daran, dass er es nicht sonderlich schätzte, Pellegrini hinter der Theke anzutreffen. Wobei sogar Paolo sich inzwischen fast an das morgendliche Ritual gewöhnt hatte

Pellegrini legte sich das Jackett über den Arm, grüßte in Richtung der Carabinieri und verließ die Bar. Die beiden würden vermutlich noch eine Weile sitzen bleiben und einen zweiten oder gar dritten caffè trinken, bevor sie ihre Runde in Brunate begannen. Sie hatten es selten eilig. Der kleine Ort hoch über dem Comer See war nicht gerade ein krimineller Brennpunkt. Salvatore Bianchis Posten, so hieß es, würde vermutlich nicht neu besetzt werden, wenn er nach über vierzig Dienstjahren ausschied.

Pellegrini schlenderte pfeifend quer über die Straße zur Station der Standseilbahn, die Brunate mit Como verband. Der Tag war sonnig und windstill, nur ein paar Vögel zwitscherten in den Bäumen. Eine kurze Treppe führte von der Straße steil hinauf zum Bahnsteig. Die rote funicolare wartete bereits mit geöffneten Türen auf die Fahrgäste. Wie immer stieg Pellegrini vorne ein und schaute auf den See. Dunkelblau und spiegelglatt schimmerte das Wasser in der Morgensonne. Er lächelte versonnen. Was für ein Glück er doch hatte, hier zu leben und zu arbeiten.

 

Hätte er geahnt, dass er eine gute halbe Stunde später, kaum dass er die Questura betreten hatte, von einem aufgelösten Vice Ispettore Fabio Cunego empfangen werden würde, hätte er sich mehr Zeit gelassen.

»Mord?« Pellegrini massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Richtig, er war Commissario der Polizia di Stato von Como, der ab und zu in der Bar seines Vaters die Espressomaschine bediente, und kein Barista. Es gab diese Tage, an denen er sich wünschte, es wäre anders, und heute schien ein solcher zu werden.

Pellegrini sah es ihm nach. Der Ispettore war noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, erst vor einem halben Jahr befördert worden. Er machte sich recht gut, war trotz seines jungen Alters mit Routineaufgaben schnell unterfordert. Er sollte sich nach Mailand versetzen lassen, da war vermutlich mehr los.

»Ein Student, in seiner Wohnung. Im Schlaf erwürgt.«

Pellegrini seufzte. »Gut, schauen wir uns das mal an.«

»Da hätten wir auch zu Fuß gehen können.« Pellegrini schlug die Tür des hellblauen Alfa Romeo zu und legte den Kopf in den Nacken, um an dem Gebäude hinaufzusehen. Die Mehrfamilienhäuser in der Gegend um die Via Napoleona lagen kaum einen Kilometer südlich der Questura. Keine besonders noble Gegend, aber bestimmt nicht die schlechteste Wohnlage.

»Schon erstaunlich«, bemerkte er. »Zu meiner Zeit lagerten Studenten leere Weinflaschen, Pizzakartons oder ihre Fahrräder auf dem Balkon, aber bepflanzten sie ganz bestimmt nicht mit Geranien.«

Cunego nickte zustimmend. »Das ist keine Gegend, in der man Studentenbuden erwarten würde.«

Auf dem Parkplatz vor dem Haus standen ein weiterer Polizei-, ein Notarzt- und ein Krankenwagen, doch außer zwei neugierigen Kindern und einer alten Frau war niemand zu sehen. Pellegrini und Cunego gingen über den Hof zum Eingang des Hauses, der von der Straße abgewandt lag. Die Tür stand offen und war mit einem Keil blockiert. Pellegrini zählte dreißig Briefkästen.

»Wann kam die Meldung rein?«

»Höchstens fünf Minuten bevor du gekommen bist. Ich hätte dich sonst angerufen.«

»Das sollte kein Vorwurf sein. Welche Etage?«

»Zweite.«

Treppenhaus und Aufzug mündeten in eine offene Galerie, die einmal um das gesamte Gebäude herumführte und

Die Tür zur zweiten Wohnung stand offen. Eine Frau mit Sonnenbrille auf der Nase und tiefschwarzen Haaren, die sie zu einem Knoten am Hinterkopf hochgesteckt hatte, tippte auf ihrem Handy herum und rauchte. Neben ihr auf der Brüstung lag eine Rolle Flatterband.

»Claudia! Seit wann bist du von deinem Lehrgang zurück?«, rief Pellegrini überrascht.

»Ich bin gestern Abend mit dem letzten Zug angekommen. Habe nicht sehr viel geschlafen.« Sie steckte ihr telefonino in die hintere Tasche ihrer Jeans, zog noch einmal an der Zigarette und schnippte den Stummel über die Brüstung. Pellegrini warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

»Tut mir leid, Commissario.«

Er winkte ab und schaute sie stattdessen fragend an.

»Alle Prüfungen bestanden. Du darfst mich ab sofort Ispettrice nennen.« Sie lächelte stolz und schob sich die Sonnenbrille in die Haare.

Beim Anblick ihrer Augenringe lächelte er mitleidlos. »Herzlich willkommen zurück, Ispettrice Spagnoli. Du kannst gleich beweisen, was du gelernt hast. Wer feiern kann, muss auch arbeiten können.«

Sie nickte tapfer, ohne zu widersprechen.

Pellegrini wies sie auffordernd in Richtung Tür. Insgeheim entschied er, heute etwas nachsichtiger mit seiner Mitarbeiterin zu sein. Sie hatte ihm noch nie Grund zur Klage geliefert. Cunegos neidischer Blick entging ihm ebenfalls nicht. Claudia Spagnoli hatte ihn im Dienstgrad wieder überholt.

Er schob den Gedanken beiseite und folgte Spagnoli in die Wohnung: schmaler Flur, eine Regenjacke und ein Sweatshirt an der Garderobe, darunter Chucks und Wanderschuhe. Das sah schon eher nach einem Studenten aus.

»Wie war es sonst so?«, hörte er Cunego fragen.

Fahrradhelm, Umhängetasche in einer Ecke, daneben ein größerer Rucksack.

»Großartig. Allerdings hatten wir Temperaturen von dreißig Grad und mehr. Die Prüfungsräume natürlich nicht klimatisiert. Gehirngrillen statt Gehirnwäsche.«

Ein schlecht geputzter Spiegel, darunter ein Regal mit Schlüsseln, einigen zerknüllten Kassenbons, einem abgegriffenen Portemonnaie und zwei Briefumschlägen.

»Ich war Lehrgangsbeste im Schießen.«

»Alle Achtung.«

Pellegrini juckte es in den Fingern, das Portemonnaie an sich zu nehmen, wollte es sich aber nicht mit der Spurensicherung verscherzen.

»Was soll dieser Unterton, Fabio? Traust du mir das nicht zu?«

Gereizt drehte Pellegrini sich zu den beiden um. »Könnt ihr eure Sticheleien bitte in die Freizeit verlegen?« Er bedachte vor allem Spagnoli mit einem bitterbösen Blick, dem sie rasch auswich, indem sie so tat, als grübelte sie über die Position der Regenjacke.

Kopfschüttelnd trat Pellegrini durch die erste Tür und

»Ein Kampf?«

»Sieht ganz danach aus. Buongiorno, Signor Commissario. Kommen Sie rüber, aber passen Sie auf, wo Sie hintreten.« Er wies auf den hinteren Teil der Wohnung. »Der Dottore ist im Schlafzimmer bei der Leiche.« Der Mann reichte ihnen Gummihandschuhe und Plastiküberzieher, die Pellegrini und seine Mitarbeiter über ihre Schuhe streiften.

Auf Zehenspitzen umrundeten sie einen zerstörten LCD-Fernseher, stiegen über einen Toaster und gelangten in einen weiteren Flur. Glas knirschte unter ihren Sohlen. Pellegrini blieb mit dem Fuß in einem Ladekabel hängen. Er legte es zur Seite.

»Schon irre.« Cunego hatte seine Stimme gesenkt. »Dem Anruf nach war ich davon ausgegangen, dass das Opfer im Schlaf getötet wurde.«

»Spricht etwas dagegen?«, widersprach Spagnoli. »Es kann ein Raubmörder gewesen sein, der sich an der Einrichtung ausgelassen hat, weil er nichts von Wert gefunden hat. Ich habe von einem Fall gelesen, da haben Einbrecher mitten in den Raum geschissen und …«

»Es reicht, Ispettrice Spagnoli!«, fuhr Pellegrini sie an. Er hoffte inständig, dass die aufgekratzte Stimmung seiner sonst so besonnenen Kollegin nur der Feier am Vorabend geschuldet und nicht von Dauer war.

Der Flur war abgesehen von einem Schrank mit Schiebetüren leer. Weitere Türen führten in ein Bad und in ein Arbeitszimmer mit einer Couch, Bücherregalen und einem

Am Ende des Flures war das Schlafzimmer. Das Rollo war runtergezogen, und die Deckenlampe brannte. Der Raum war so, wie Pellegrini es bei einem Studenten erwarten würde: ein riesiger Kleiderschrank von Ikea, getragene sowie saubere Kleidung über den Raum verteilt, eine halb ausgeräumte Sporttasche, eine verstaubte Kommode mit einem kleineren Fernseher.

Dottor Giovanni El Gato stand über das Opfer gebeugt und murmelte vor sich hin. Pellegrini mochte den großväterlich wirkenden Mann mit der blank rasierten Glatze. Bei ihm konnte man sich darauf verlassen, dass er weder Informationen zurückhielt noch wild herumspekulierte.

Er trat an das Bett heran und war erleichtert, dass sich seine Begleiter mit weiteren Kommentaren zurückhielten. Der Tote machte einen friedlichen Eindruck. Wären da nicht die tiefdunklen Male am Hals und die rosafarbenen Schaumbläschen in den Mundwinkeln, hätte man meinen können, er schliefe. Ein junger Bursche, Anfang zwanzig vielleicht, dunkelblonder Haarschopf und Dreitagebart.

El Gato richtete sich auf und ließ die Schultern mit einem hässlichen Knacken kreisen. Dann zog er seinen Handschuh aus und gab Pellegrini die Hand.

»Salve, Signor Commissario. Ich kann Ihnen noch nicht viel sagen.«

Pellegrini lächelte. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

»Der Tote wurde von seinem besten Freund Giulio Mori als Ivan Pescatori identifiziert. Student der Mathematik im dritten Semester und Mieter dieser Wohnung.«

Cunego nickte zur Bestätigung. »Giulio Mori ist auch der, der uns angerufen hat.«

»Wir haben ihn zur Beobachtung ins Ospedale Sant’Anna gefahren«, erklärte El Gato. »Der Anblick seines toten Freundes hat ihn wortwörtlich umgehauen. So was habe ich schon lange nicht mehr erlebt.«

»Hoffen wir, dass er so etwas nicht noch mal erlebt. Weiter, bitte.«

»Todeszeitpunkt, den Leichenflecken nach zu urteilen, vor zehn bis maximal zwölf Stunden. Sie haben das Wohnzimmer gesehen. Der Bursche hat Kampfspuren am gesamten Körper. Er hat sich mit mindestens einem Gegner geprügelt, vielleicht war ein zweiter im Spiel, das werden wir anhand der Hautpartikel und Haarspuren feststellen. Am Ende hat ihn jedenfalls jemand zu Tode gewürgt. Den Würgemalen nach waren beide ungefähr gleich groß.«

»Mann oder Frau?«

»Schwer zu sagen. Jedenfalls niemand mit Riesenpranken, normale Größe. Es kann genauso gut eine etwas kräftigere Frau gewesen sein.« El Gato warf Spagnoli einen prüfenden Blick zu, als schätzte er ab, ob sie in der Lage wäre, jemanden zu erwürgen.

Wäre sie, zweifellos, dachte Pellegrini bei sich, aber natürlich über jeden Verdacht erhaben. Sollte Cunego eines Tages tot aufgefunden werden, sähe das anders aus.

El Gato räusperte sich. »Der Kampf fand im Wohnzimmer statt, aber der Tote liegt hier im Bett, und zwar ordentlich zugedeckt.«

»Könnte er selbstständig ins Bett gegangen und dann erst verstorben sein?«

»Sehr unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen.«

Pellegrini nickte. »Was können Sie uns noch sagen? Gibt es Einbruchsspuren?«

»Also kannte er seinen Mörder«, schlussfolgerte Cunego.

»Wenn du bei einem Pizzaboten von Bekanntschaft sprichst, ja«, widersprach Spagnoli. »Sagen wir, dass es jemand war, von dem seiner Meinung nach keine Gefahr ausging.«

Cunego stimmte widerwillig zu.

Pellegrini verkniff sich ein Lächeln. Cunego war häufig vorschnell, ließ sich aber belehren, manchmal sogar von seiner Konkurrentin.

»Da ist noch etwas.« El Gato ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Die ganze Wohnung ist voll mit Fingerabdrücken.« Er stockte und schien darüber nachzudenken. Die Verwirrung des Gerichtsmediziners spiegelte sich in den Gesichtern der Kollegen wider.

»Und?«, wagte endlich Spagnoli zu fragen. »Ist das nicht normal?«

»Wie? … Aber nein, keineswegs.« El Gato lachte und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. »Besser gesagt: Natürlich ist das normal, wenn es eine überschaubare Zahl wäre. Was denken Sie, wie viele Personen gehen in einer solchen Wohnung ein und aus?«

»Eltern, Geschwister, Freunde, ein paar Nachbarn«, überlegte Spagnoli laut.

»Vielleicht dreißig oder vierzig, wenn er mal feiert. Dann wird es aber selbst in diesem Wohnzimmer eng«, fügte Cunego hinzu.

Pellegrini nickte dem Dottore zu. Der seufzte laut und fuhr sich mit der Hand über die Glatze, bevor er den Handschuh wieder überstreifte.

»Dann hat er entweder sehr viel gefeiert, oder es gibt einen anderen Grund, warum hier so viele Leute waren.

»Schön.« Pellegrini lächelte säuerlich. »Ein toter Student mit außerordentlich großem Bekanntenkreis. Dann gibt es wenigstens für alle etwas zu tun.«

 

Pellegrini schickte alle Anwesenden aus dem Schlafzimmer und betrachtete den Toten eingehend. Es war eine Angewohnheit, die er seit seinem ersten Mordopfer, eine von ihrem gewalttätigen Ehemann zu Tode geprügelte Frau, angenommen hatte: eine kurze persönliche Respektsbekundung für einen Menschen, der sein Leben nicht lange genug hatte leben dürfen. In den allermeisten Fällen brachte es ihm keine Hinweise für die Ermittlungen. Stattdessen eilte ihm der Ruf voraus, er versuche, mit den toten Seelen Kontakt aufzunehmen. Natürlich war das völliger Unsinn. Vielmehr war es für Pellegrini selbst ein wichtiger Augenblick. Der Moment, die Herausforderung anzunehmen und alles daranzusetzen, den Schuldigen zu finden. Und manchmal gab es ein auf den ersten Blick unwichtiges Detail, das er unbewusst erfasste und das ihm später half, den Fall zu lösen.

Ordentlich zugedeckt sei der Tote gewesen, hatte El Gato gesagt. Wer hatte das getan und warum? Hatte der Täter gehofft, die Entdeckung so zu verzögern?

Der Dottore hatte die Decke zurückgeschlagen. Pescatori trug ein blaues T-Shirt, abgeschnittene Jeans – war das wieder modern? –, keine Socken und Schuhe. Besonders auffällig war ein faustgroßer blauer Fleck am Schienbein, vermutlich von einem Tritt. Rasierte, sehr kräftige Waden, vielleicht Läufer oder Radfahrer. Pellegrini hatte lange Zeit regelmäßig gerudert und sich auch an Triathlon versucht, nach beidem sah der junge Mann nicht aus.

Keine Chance, der Tote sprach nicht zu ihm. Die Szene gab keinen Aufschluss darüber, was, außer dem Offensichtlichen, geschehen war. Pellegrini lächelte über diesen Gedanken und verließ den Raum. Sprechende Tote … falls es so weit kommen sollte, würde es für ihn ganz sicher Zeit für den Streifendienst in Brunate.

 

Er trat hinaus auf die Galerie, wo seine beiden Ispettori auf ihn warteten und sich anschwiegen. Spagnoli rauchte. Er reichte ihr Portemonnaie und Smartphone des Toten, die er von der Spurensicherung bekommen hatte.

»Claudia, nimm sein Leben auseinander, Freundeskreis, Studium, alles. Fühlst du dich fit genug, die Eltern zu benachrichtigen? Fabio, du schnappst dir ein, zwei Leute und klapperst die Nachbarn ab. Ich will wissen, wer in dieser Wohnung ein und aus gegangen ist. Ob jemand gestern Abend etwas gehört hat, das Übliche. Ich fahre ins Krankenhaus und rede mit diesem Mori. Wir treffen uns um zwei und tragen zusammen, was wir herausgefunden haben.«

Cunego wollte gerade antworten, als Pellegrinis Handy vibrierte.

»Pronto

»Agente Laura Rosso hier, Signor Commissario. Soeben ging ein Anruf in der Questura ein. Vermutlich haben sich

»Ja?« Pellegrini zog fragend die Augenbrauen hoch. Cunego und Spagnoli nickten einvernehmlich. Sie wussten beide, was sie zu tun hatten. Er wandte sich ab und lief in Richtung Treppenhaus.

»Das Mädchen meldete einen Überfall in der Via dei Mille 11

»Wie bitte?«

Pescatoris Freundin? Eine Nachbarin?

Pellegrini nahm die Treppen, damit die Verbindung nicht abbrach.

»Ja. Sie habe gestern die Wohnung ihres Vermieters – so sagte sie – verwüstet aufgefunden und sei in Panik abgehauen. Jetzt mache sie sich Sorgen und will, dass wir nachsehen.«

»Ihre Sorge ist berechtigt, wir sind schon vor Ort.« Er erreichte die Haustür und trat hinaus. Obwohl es noch früh am Morgen war, stach die Sonne bereits. Es würde ein heißer Tag werden. Pellegrinis Blick fiel auf die Hausnummer: Es war die 9. »Wie sagtest du, ist die Adresse?«

»Via dei Mille 11

Pellegrini sah zu dem Haus auf der anderen Seite des Parkplatzes. Beide Gebäude waren baugleich. Entweder hatte sich die Anruferin in der Hausnummer geirrt oder …

»Hast du den Namen des Opfers? Wie kann ich die Anruferin erreichen?«

»Das ist es ja. Die Verbindung brach ab. Vielleicht unabsichtlich, oder es war doch ein Kinderstreich.«

Entweder hatte sie sich in der Hausnummer geirrt, oder hier war ein Serientäter unterwegs.

Pellegrini fluchte laut und legte den Kopf in den Nacken.

»Cunego!«

Der Kopf des Ispettore erschien über der Brüstung. »Commissario?«

»Komm runter. Es gibt noch mehr zu tun.«

Missmutig schaute Pellegrini zwei Stunden später auf die Uhr. Inzwischen standen vier Polizeiwagen auf dem Parkplatz, darunter ein Kleintransporter, der als mobile Einsatzzentrale diente. Die Zahl der Zuschauer war auf ungefähr zwei Dutzend angewachsen. El Gato und sein Team waren mit der Leiche abgerückt und hatten einiges Aufsehen erregt. Auch danach harrten die Schaulustigen aus, reckten die Hälse über die Absperrung und hofften auf weitere Sensationen. Bisher vergeblich. Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie fotografierten oder sich mit Anwohnern unterhielten, die aufgeregt erzählten, man habe bei ihnen ebenfalls nach einer Leiche gesucht. Unter den Wartenden waren auch zwei Journalisten. Den Älteren, Alfredo di Pietro, ein grauhaariger Mann mit Schnauzer, kannte Pellegrini seit Jahren, er war das lokale Zugpferd der La Provincia. Im Grunde war er erträglich, versuchte, nicht allzu aufdringlich zu sein, konnte aber eine unerschütterliche Geduld an den Tag legen, wenn er an Informationen herankommen wollte. Der zweite Journalist musste demnach vom Corriere di Como sein. Zum Glück hatte der Questore direkt den Pressesprecher mitgeschickt, der allen Fragen mit Gleichmut begegnete, sodass der Commissario und seine Leute ihre Ruhe hatten.

Pellegrini tigerte vor der offenen Tür des Kleintransporters hin und her. So viel Aufwand für einen anonymen Anruf. Aber natürlich mussten sie so reagieren. Es gab einen Toten, und solange sie nicht ausschließen konnten, dass es

Cunego kam auf ihn zu. »Nichts, Commissario.« Er wischte sich über die Stirn. »Wir haben noch fünf Wohnungen, in denen wir niemanden angetroffen haben. Eine Bewohnerin ist gerade auf dem Weg nach Hause.«

»Womit ihr sie ebenfalls von der Liste streichen könnt, sofern ihr niemand heute Vormittag eine Leiche ins Bett gelegt hat«, brummte Pellegrini.

Er zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich fahre jetzt zu diesem Mori ins Krankenhaus. Bringt das hier vernünftig zu Ende, brecht notfalls die verbleibenden Wohnungen auf, die Beschlüsse sind da. Lieber wäre mir aber, es ginge ohne Sachschaden.«

»Und ohne ein zweites Opfer.« Cunego nickte eifrig.

»Wenn irgendetwas ist, ruf mich sofort an. Ansonsten treffen wir uns heute Mittag, wie abgemacht.«

»Commissario, glaubst du, dass wir etwas finden?«

Pellegrini konnte seinem Ispettore ansehen, dass er sich das insgeheim wünschte, damit er zeigen konnte, wie gut er seine Arbeit machte. Natürlich versuchte er es zu verbergen, aber es gelang ihm eher schlecht.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Ich bin sicher, dass die Anruferin unser Opfer meinte und sich in der Hausnummer geirrt hat. Und deshalb fahre ich jetzt auch zu Giulio Mori. Vielleicht kann er mir ein paar Hinweise geben, die uns zu der Anruferin führen. Aber im Fall der Fälle verlasse ich mich auf dich, Fabio.«

»Kein Problem, Commissario.«

 

Wenig später ging Pellegrini so schnell wie möglich die Flure des Ospedale Sant’Anna entlang. Er hasste Krankenhäuser, und für seinen Geschmack führte seine Arbeit ihn

Seit er zum ersten Mal von selbstfahrenden Autos gehört hatte, konnte er es kaum erwarten, dass sie sich endlich auf den Straßen durchsetzten. Entgegen der landläufigen Meinung, die computergesteuerten Fahrzeuge seien gefährlich, wusste Pellegrini, wer die größte Fehlerquelle war: der Mensch, ganz gleich, ob abgelenkte Autofahrer, sich selbst überschätzende Motorradfahrer oder sorglose Radfahrer. Nicht zu vergessen diejenigen, die der Meinung waren, dass Verkehrsregeln für sie nicht galten, die es in allen drei Gruppen und auch unter den Fußgängern gab. Pellegrini hatte überhaupt kein Problem damit, wenn jemand hin und wieder über eine rote Ampel ging, aber er hatte zu oft erlebt, wie sorgloses Verhalten andere gefährdete. Und am Ende landeten die dann in der Unfallambulanz von Sant’Anna, um von den Ärzten wieder zusammengeflickt zu werden.

Er fand das richtige Zimmer, klopfte und trat sofort ein. Ein junger Mann war allein im Raum. Er lag mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Bett neben dem Fenster, die Decke über den Beinen. Seine Tasche stand auf einem Stuhl, seine Jeans hing über der Lehne.

»Giulio Mori?«

»Ja.«

»Commissario Pellegrini. Können wir uns kurz unterhalten?«

Giulio winkte ihm, auf dem Stuhl neben dem Bett Platz zu nehmen. Sein Gesicht war aufgequollen, an seinem Arm hing ein Tropf.

Pellegrini zog sein Jackett aus und setzte sich. Er glaubte, eine Alkoholfahne zu riechen, aber der Eindruck war nur flüchtig. Unauffällig musterte er den jungen Mann: dunkle kurze Haare mit Undercut, Dreitagebart, durchschnittliche Figur. Seine Statur passte zu den Angaben, die El Gato gemacht hatte.

Pellegrini schwieg, sah den jungen Mann zurückhaltend an, die Augenbrauen aufmerksam erhoben, um die Lippen die vage Andeutung eines Lächelns. Die meisten Menschen würden sagen, dass es keine Gemeinsamkeiten zwischen einem Barista und einem Commissario gibt. Pellegrini war da anderer Meinung. Beide mussten gut zuhören können, in den Leuten das Bedürfnis wecken, reden zu wollen, ohne dass diese sich dessen bewusst wurden. Die Unterschiede kamen erst zum Tragen, wenn alles gesagt war. Während der Barista die kleinen schmutzigen Geheimnisse gleich einem Beichtvater für sich behielt, war es die Aufgabe des Commissario, sich alle Informationen für die Ermittlungen zunutze zu machen.

Giulio senkte den Kopf und wich seinem Blick aus. »Er war mein bester Freund.«

»Es tut mir aufrichtig leid, Signor Mori. Mein Beileid.« Pellegrini bekam eine Gänsehaut. Eine hohle Phrase, mehr konnte er nicht bieten. Einst war er in derselben Situation gewesen. Wie oft hatte man solche und ähnliche Floskeln zu ihm gesagt? Ihn hatte damals niemand trösten können, daher versuchte er es in den meisten Fällen gar nicht erst.

Der junge Mann riss sich zusammen. »Wir sind aus Sondrio, kennen uns seit der Schule, sind zum Studieren

Pellegrini suchte auf dem harten Besucherstuhl nach einer bequemeren Position und entschied sich, weiterhin nichts zu fragen, sondern den Jungen reden zu lassen.

»Wir waren heute Morgen zum Lernen verabredet. Als er die Tür nicht aufgemacht hat, habe ich ihn angerufen. Ich konnte hören, wie sein Handy in der Wohnung klingelte. Also musste er da sein, er geht nie ohne telefonino aus dem Haus. Ich habe mehrmals gerufen und gegen die Tür gedonnert. Ivan ist nicht der Typ, der so tief schläft, dass er nichts mehr mitkriegt. Außerdem dachte ich, Danbi wäre noch da. Die hätte mich auch hören müssen.«

Pellegrini hob fragend die Augenbrauen. »Seine Freundin?«

»N…« Giulio wurde rot.

Da war es also, das erste kleine Detail, das nicht jeden etwas anging.

Der junge Mann atmete abermals tief durch. »Ivan hat keine Freundin. Er hat das Arbeitszimmer vermietet. Bei Airbnb, kennen Sie das? An Touristen, meistens Asiatinnen oder Amerikanerinnen. Danbi ist aus Südkorea, hatte für ein paar Nächte gebucht. Mehr weiß ich nicht.«

Pellegrini schlug die Beine übereinander. Er hielt diese privaten Übernachtungsangebote für ein unglaubliches Ärgernis. Sie blockierten dringend benötigten Wohnraum und nahmen den Hotels die Gäste weg. Als Sohn eines Hoteliers fiel es ihm schwer, seine Empörung zurückzuhalten.

»Das ist nicht illegal«, ermunterte er Giulio dennoch weiterzusprechen.

»Sollte ich?«

»Ivan hatte mehr oder weniger die gesamte Saison Gäste.«

Klang da eine Spur Neid durch? Pellegrini rieb sich die Stirn. Damit war das Rätsel der unzähligen Fingerabdrücke gelöst. Nicht, dass die Ermittlungsarbeit dadurch weniger aufwendig wurde.

»Wie viele waren es seit Anfang des Jahres?«

»Weiß nicht, vielleicht ein oder zwei pro Woche?«

»Wenn Sie mir damit sagen wollen, dass er mit der Vermietung eine regelmäßige Einnahmequelle hatte, ist das ein Fall für die Guardia di Finanza.«

Da Pescatori tot war, würde die das kaum noch interessieren, aber vielleicht kam Pellegrini auf diese Weise ganz unkompliziert an die Nutzerdaten bei Airbnb heran.

»Und der letzte Gast? Die Koreanerin? Wissen Sie etwas über sie?«

»Nein.«

Die Antwort kam für Pellegrinis Geschmack zu schnell.

Giulio legte den Zeigefinger an die Unterlippe. »Sie hatte bis Donnerstag gebucht. Vielleicht war sie heute Morgen schon früh unterwegs und kommt noch einmal wieder.«

»Das würde uns die Arbeit erleichtern.« Pellegrini hielt es für unwahrscheinlich. Die Spurensicherung hatte in der Wohnung keine Hinweise auf eine zweite Person gefunden, weder Kleidung noch eine Zahnbürste.

»Können Sie sie beschreiben? Wissen Sie ihren Nachnamen? Alter?«

»Ich habe sie nur einmal getroffen. Höchstens fünfundzwanzig, kurze schwarze Haare, einen Kopf kleiner als

»Gut. Lassen Sie sich bitte einen Stift und Papier geben und machen Sie mir eine Liste mit Ivans Freunden. Sie dürften die Leute alle kennen, oder?«

»Wir hängen mehr oder weniger mit denselben Leuten ab.«

»Dann wissen Sie, was Sie zu tun haben. Falls Danbi sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihr bitte, dass wir ihre Aussage benötigen.« Pellegrini erhob sich. »Ich bitte Sie außerdem, in der Questura Ihre Fingerabdrücke abzugeben, damit wir sie mit denen in der Wohnung abgleichen können. Wenn Sie sein bester Freund waren, haben Sie sicher die Adresse seiner Eltern? Wo waren Sie eigentlich gestern Abend?«

Der junge Mann wurde wieder rot. »Ich habe mich mit ein paar Kumpels hinter dem Tempio Voltiano getroffen.«

Pellegrini nickte. Das kleine Museum über das Leben Alessandro Voltas, dem berühmtesten Sohn der Stadt, lag direkt am Seeufer, in einer Grünanlage, die bei Touristen wie Einheimischen als Treffpunkt beliebt war.