Über William Boyd

Foto: © Trevor Leighton

 

WILLIAM BOYD1952 in Ghana als Sohn schottischer Eltern geboren, gilt als »Großbritanniens größter lebender Romancier« (The Daily Telegraph, London). Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise. Romane wie Eines Menschen Herz, Ruhelos und Die Fotografin wurden zu internationalen Bestsellern. Zuletzt erschienen in der Reihe Der kleine Gatsby im Kampa Verlag die Erzählung All die Wege, die wir nicht gegangen sind sowie als Kampa­Paperbacks die Romane Ruhelos, Brazzaville Beach und Die neuen Bekenntnisse. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Südfrankreich.

 

Olga Knipper-Tschechowa, Die letzten Jahre

 

Sich zu verlieben ist das einzige unlogische Abenteuer, das einzige Phänomen in unserer banalen und vernünftigen Welt, das wir für übernatürlich zu halten versucht sind. Die Wirkung steht in keinem Verhältnis zur Ursache.

Robert Louis Stevenson, Virginibus Puerisque – Vom Sich Verlieben

Port Blair

Andamanen

Kaiserreich Indien

 

11. März 1906

 

Liebe Amelia,

 

gestern Nacht gab es einen Gefängnisausbruch zu beklagen, und es kam zu einem kleineren Aufruhr. Äußerst ungewöhnlich. Drei der Sträflinge wurden getötet, einigen aber ist es gelungen, zu entkommen. Infolgedessen ist über die Stadt eine vierundzwanzigstündige Ausgangssperre verhängt worden, und so sitze ich nun hier in meinem Haus beim Mittagessen und schreibe diesen überfälligen Brief.

 

Alles ist bestens, meinem Bein geht es viel besser (Dr. Klein sagt, er sei sehr zufrieden, obwohl ich noch am Stock gehe – hochelegant), und der neue Stamm, den wir gefunden haben, wird langsam zutraulich. Colonel Ticknell, der britische Superintendent hier, ist überaus entgegenkommend. »Was immer Sie benötigen, Miss Arbogast, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Zögern Sie bitte nicht, auch bei geringfügigen Kleinigkeiten, usw. usf.« Und ich zögere nicht (Du kennst mich ja). Transport, Träger, Nutzung der Diplomatenpost – sogar eine Schusswaffe ist mir zur Verfügung gestellt worden. Colonel Ticknell hat, glaube ich, eine Schwäche für mich, und er denkt wohl, dass fleißige Fürsorge mein

 

Und, kaum zu glauben, die Anzeige, die ich in die hiesige Zeitung gesetzt und die ich eigenhändig im Postamt an die Wand geheftet habe, ist beantwortet worden. Ich habe einen neuen Assistenten – endlich!

 

Ein Polizist klopft an die Tür. Die Ausgangssperre dürfte wohl aufgehoben worden sein. Ich schreibe Dir später noch einmal.

 

Bis dahin, Deine Dich immer liebende Schwester

 

Page

 

PS.: Mein neuer Assistent ist übrigens ein groß gewachsener junger Schotte, etwa Mitte dreißig, namens Brodie Moncur.

Edinburgh 1894

Brodie Moncur stand im Hauptfenster von Channon & Co. und blickte auf die dahineilenden Passanten, die Droschken, Kutschen und die sich abplagenden Brauereipferde draußen auf der George Street. Es regnete. Ein stetiger, sachter Regen, der hin und wieder von einer heftigen Windbö schräg gepeitscht wurde, und durch die Nässe wirkten die verrußten Fassaden der Gebäude gegenüber in dem trüben Licht fast schwarz. Wie Samt, dachte Brodie, oder Maulwurfsfell. Er nahm seine Brille ab und wischte die Gläser mit seinem Taschentuch sauber. Bei einem weiteren, brillenlosen Blick aus dem Fenster schien ihm das verregnete Edinburgh nun gänzlich von Wasser durchdrungen zu sein – die Gebäude gegenüber eine Klippe aus schwarzem Wildleder.

Er setzte die Brille wieder auf, hakte sich die Drahtbügel hinter die Ohren, und die Welt kehrte in den Normalzustand zurück. Er nahm seine Taschenuhr aus der Weste. Fast neun Uhr: Zeit anzufangen. Er klappte den glänzenden neuen Flügel auf dem Schaupodest auf und fixierte den geschwungenen Deckel, der an der Unterseite mit einem Spiegel versehen war (nur zu Schauzwecken – seine Idee), mit dem Stützhalter, um die komplizierte Maschinerie – die Mechanik – des Channon-Flügels besser zur Geltung zu bringen. Dann entfernte er den Tastendeckel und schraubte die Mechanikbacken auf. Er überzeugte sich, dass kein Hammer hochstand und zog dann die gesamte Mechanik auf der Vignolschiene unter der Vorderseite nach vorn. Da das Instrument neu war, ließ sie sich mühelos bewegen. Draußen war bereits ein Passant stehen geblieben und spähte ins Fenster. Das Herausziehen

Er öffnete seine Werkzeugrolle aus Leder, nahm den Stimmschlüssel heraus und tat so, als würde er den Flügel stimmen: zog ein paar Saiten hier und da an, prüfte sie und stellte sie neu ein. Alles war tadellos. Dafür hatte er selbst gesorgt, als das Instrument zwei Wochen zuvor nagelneu aus der Fabrik gekommen war. Er stimmte das eingestrichene F eine Spur schärfer als normal und berichtigte es danach wieder, wobei er einige Male kräftig die Taste anschlug. Er hob einen Hammerkopf an und stach vorsichtig mit der dreispitzigen Intoniernadel in den Filz, ehe er den Hammer wieder an seinen Platz zurücksinken ließ. Dieses pantomimische Klavierstimmen sollte Kunden anlocken. Bei einer der seltenen Belegschaftsversammlungen hatte er angeregt, einen versierten Pianisten zu engagieren und im Laden Klavier spielen zu lassen, wie es in den Ausstellungsräumen in Deutschland üblich war; so wie es die Hersteller Pleyel und Érard in den 1830ern in Paris eingeführt und damit große Menschenmengen angelockt hatten. Schwerlich eine bahnbrechende Neuerung also, aber ein spontanes Konzert in einem Schaufenster wäre sicherlich attraktiver als die manierierten Tonwiederholungen auf einem Klavier, das gerade gestimmt wurde. Donk! Ding! Donk! Donk! Donk! Ding! Er

Er schlug also einige Male das eingestrichene A an und lauschte dabei mit schräg gelegtem Kopf, wie um den Ton richtig zu erfassen. Dann spielte er ein paar Oktaven. Er stand auf, schob einige Filzstreifen zwischen die Saiten, zückte seinen Stimmschlüssel, setzte ihn wahllos an einen Stimmwirbel an und drehte ihn ein winziges bisschen, um etwas Spannung zu erzeugen, dann lockerte er den Wirbel wieder leicht und schlug den Ton energisch an, um die Saite, deren Schwingungen er durch den Schlüssel hindurch in der Hand spüren konnte, endgültig zu stimmen. Danach setzte er sich wieder, spielte einige Akkorde und lauschte dem ganz eigenen Ton des Channon. Voluminös und mit starkem Nachklang: Der präzis gearbeitete dünne Resonanzboden aus schottischer Fichte unter den Saiten war das besondere Markenzeichen der Firma Channon, ihr Betriebsgeheimnis. Gegen ein Orchester konnte sich ein Channon mindestens so souverän durchsetzen wie ein Steinway oder ein Bösendorfer. Wo genau sich die Fichtenwälder in Schottland befanden, aus denen Channon sein Holz bezog, welche Bäume ausgewählt wurden – je gerader der Wuchs, desto gerader die Maserung – und welche Sägewerke das Holz vorbereiteten, diese Einzel

Nach dem Ende seiner Scheinvorführung nahm Brodie am Flügel Platz und fing an, den »Skye Boat Song« zu spielen; dabei sah er, dass sich dem einzelnen Zuschauer inzwischen drei weitere hinzugesellt hatten. Er wusste, würde er eine halbe Stunde weiterspielen, würden ihm schließlich zwanzig Leute zusehen. Es war eine gute Idee, die sie auf dem Kontinent gehabt hatten. Von diesen zwanzig würden sich zwei vielleicht erkundigen, was ein Stutzflügel oder ein Klavier kostete. Er unterbrach sein Spiel, nahm sein Plektrum heraus und schlug damit einige Saiten im Flügel an, wobei er aufmerksam lauschte. Wie das wohl auf Außenstehende wirken mochte? Ein Mann, der mit einem Plektrum auf einem Flügel spielte wie auf einer Gitarre. Alles sehr geheimnisvoll –

»Brodie!«

Er sah sich um. Emmeline Grant, Mr Channons Sekretärin, stand seitlich neben der Fensterrahmung und gab ihm mit der Hand Zeichen. Sie war eine kleine, korpulente Frau, die zu verbergen versuchte, wie gern sie ihn hatte.

»Ich bin gerade beschäftigt, Mrs Grant.«

»Mr Channon möchte Sie sehen. Unverzüglich. Kommen Sie mit, jetzt gleich.«

»Ich komme ja schon, ich komme ja schon.«

Er stand auf, überlegte kurz, ob er den Flügel zuklappen sollte, entschied sich jedoch dagegen. In zehn Minuten wäre er wieder zurück. Nach einer Verbeugung vor seinem kleinen Publikum folgte er Mrs Grant durch den Ausstellungsraum mit seinen glänzenden Pianos und in die Haupthalle des Channon-Stammhauses. Auf olivgrün-dunkelgrau gestreifter Tapete hingen strenge, ernst blickende Porträts

»Geben Sie mir zwei Minuten, Mrs G. Ich muss mir rasch die Hände waschen.«

»Beeilen Sie sich bitte. Ich warte oben auf Sie. Es ist wichtig.«

Brodie begab sich nach hinten und ging durch eine lederverkleidete, mit Messingknöpfen besetzte Tür in den Lagerbereich, wo sich auch die Werkstatt befand. Ein Mittelding aus Zimmerei und Büro, dachte er jedes Mal, wenn er den Raum betrat, in dem es nach Holzspänen, Leim und Harz roch. Er stieß die Tür auf und traf seine Nummer zwei, Lachlan Hood, bei der Arbeit an; er war dabei, die Saitenstifte in einem Stutzflügel auszuwechseln – ein zeitaufwendiges Unternehmen, denn von diesen Stiften gab es Hunderte.

Lachlan blickte auf, als er eintrat.

»Was ist los, Brodie? Solltest du nicht im Fenster sitzen?«

»Mein Typ wird verlangt. Mr Channon.«

Er öffnete seinen Rollschreibtisch und zog die Schublade auf, in der er seine Tabakbüchse aufbewahrte. »Margarita« hieß die Marke: eine Mischung aus Virginia-, Perique- und türkischem Tabak, hergestellt von einem New Yorker Tabakladen namens Blakely und in Edinburgh nur bei einem Händler erhältlich: Hoskings, am Grassmarket. Er nahm eine der drei Zigaretten heraus, die er bereits vorgedreht hatte, steckte sie an und gönnte sich einen tiefen Zug.

»Was will er denn von dir?«, fragte Lachlan.

»Keine Ahnung. Es sei ›wichtig‹, sagt die liebe Emmeline.«

»Tja, war nett, dich kennenzulernen. Ich nehm mal an, dass ich jetzt deinen Job bekomme.«

Lachlan war aus Dundee und hatte einen starken Akzent. Brodie machte das Zeichen zur Abwehr des bösen Blicks in seine Richtung, drückte nach zwei weiteren Zügen seine

 

Ainsley Channon war der sechste Channon an der Spitze der Firma seit ihrer Gründung Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Auf dem Treppenabsatz stand ein Fünf-Oktaven-Cembalo von 1783 – das erste Channon-Instrument, das ein wirklicher Erfolg war und den Aufstieg der Firma begründete. Heute war das Haus der viertgrößte, manche sagten sogar der drittgrößte Klavierhersteller in Großbritannien, nach Broadwood, Pate und, möglicherweise, Franklin. Und als wollte er die lange Familientradition unterstreichen, kleidete sich Ainsley Channon in einem Stil, der seit einem halben Jahrhundert überholt war. Er trug einen üppigen Backenbart und einen steifen Kläppchenkragen, dazu eine Seidenkrawatte mitsamt Krawattennadel. Sein schütteres graues Haar, das er hinter die Ohren gestrichen trug, war annähernd schulterlang. Er sah aus wie ein alter Musiker, wie ein stämmiger Paganini. Brodie wusste, dass er keinen einzigen Ton spielen konnte.

Er pochte leise an die Tür, ehe er eintrat.

»Nur herein, Brodie. Brodie, mein Junge. Setz dich doch, setz dich doch.«

Der Raum war groß und düster – trotz der morgendlichen Stunde brannten die Gaslampen – und hatte drei hohe Sprossenfenster mit je zwölf Scheiben, die auf die George Street hinausgingen. Durch den unverändert diesig niedergehenden Regen konnte Brodie verschwommen den hohen, dünnen Turm der St Andrew’s and St George’s West Church erkennen.

Ainsley kam hinter seinem Schreibtisch hervor und zog einen Sessel für Brodie heran. Er klopfte einladend auf die lederbezogene Sitzfläche.

Brodie setzte sich. Ainsley blickte ihn lächelnd an, musterte ihn, als hätte er ihn seit Jahren nicht gesehen.

Es war weniger eine Frage, mehr eine Feststellung, und Brodie erhob keine Widerrede. Ainsley ging an einen Tisch mit einer stattlichen Sammlung lichtfunkelnder Karaffen, wählte eine aus und goss zwei Gläser voll. Er brachte Brodie sein Getränk, ehe er sich wieder auf seinem Schreibtischsessel niederließ.

»Zum Wohl«, sagte Ainsley und hob sein Glas.

»Slange var«, erwiderte Brodie auf Schottisch und nippte an seinem bernsteinfarbenen Whisky. Malz, torfig, Westküste.

Ainsley nahm eine Mappe aus dunkelbraunem Karton vom Tisch und schwenkte sie in seine Richtung.

»Die Akte Brodie Moncur«, sagte er.

Unvermittelt geriet Brodies Herz ins Stolpern. Er beruhigte es mit einem weiteren Schluck Whisky.

Ainsley Channon hatte immer eine etwas versponnene, entrückte Art an sich. Von daher wunderte sich Brodie nicht über den verschlungenen Weg, den die Besprechung nahm.

»Wie lange bist du nun bei uns, Brodie? Seit ungefähr drei Jahren jetzt, ja?«

»Tatsächlich seit sechs, Sir.«

»Großer Gott, großer Gott, großer Gott.« Er hielt kurz inne, während er lächelnd darüber nachsann. »Wie geht es deinem Vater?«

»Gut, Sir.«

»Und deinen Geschwistern?«

»Alle gesund und wohlauf.«

»Hast du Lady Dalcastle in letzter Zeit mal gesehen?«

»Nein. Schon länger nicht.«

»Wunderbare Frau. Wunderbare Frau. Sehr tapfer.«

»Ihr geht es, glaube ich, auch sehr gut.«

Ainsley Channon war ein Cousin von Lady Dalcastle, die wiederum eng mit Brodies verstorbener Mutter befreundet

Ainsley warf erneut einen Blick in seine Akte.

»Ja. Du bist ein gescheiter Junge, keine Frage. Sehr gute Noten.« Er sah auf. »Kannst du parlee-wuh?«

»Entschuldigung?«

»Französisch sprechen? Oh, là là. Bonjour, monsieur.«

»Nun, ich habe Französisch in der Schule gelernt.«

»Lass mal was hören.«

Brodie dachte kurz nach.

»Je peux parler français«, sagte er. »Mais je fais des erreurs. Quand même, les gens me comprennent bien.«

Ainsley sah ihn erstaunt an.

»Das ist ja unglaublich! Dieser Akzent! Ich hätte Stein und Bein geschworen, dass du Franzose bist.«

»Danke, Sir. Merci mille fois.«

»Großer Gott. Wie alt bist du jetzt, Brodie? Dreißig? Zweiunddreißig?«

»Ich bin vierundzwanzig, Sir.«

»Du lieber Heiland! Wie lang bist du nun bei uns? Drei Jahre, jetzt?«

»Sechs«, wiederholte Brodie. »Ich bin beim alten Mr Lanhire in die Lehre gegangen, damals, ’88

»Ach ja, ganz recht. Findlay Lanhire. Gott hab ihn selig. Der beste Klavierstimmer aller Zeiten. Aller Zeiten. Der Allerbeste. Aller Zeiten. Er hat den Phoenix entworfen, weißt du.«

Der Phoenix war das Klaviermodell, das sich bei Channon am besten verkaufte. Im Lauf seiner sechs Jahre hatte Brodie Hunderte davon gestimmt.

»Was ich weiß und kann, habe ich alles von Mr Lanhire gelernt.«

Ainsley beugte sich vor und musterte ihn.

»Ich habe hier direkt nach der Schule angefangen.«

Ainsley senkte wieder den Blick auf die Akte.

»Welche Schule war das?«

»Mrs Maskelynes Musikakademie.«

»Wo ist die? In London?«

»Hier in Edinburgh, Sir.«

Ainsley war im Kopf immer noch mit Rechnen beschäftigt.

»’88, sagst du?«

»September 1888. Da habe ich hier bei Channon angefangen.«

»Nun, jetzt haben wir eine Channon-Herausforderung für dich …« Er hielt inne. »Schenk uns nach, Brodie.«

Brodie holte die Karaffe, schenkte ihnen beiden nach und setzte sich dann wieder. Ainsley Channon hatte die Fingerspitzen vor sich aneinandergelegt und schaute sein Gegenüber unverwandt an. Wieder stieg in Brodie ein leises Unbehagen auf. Er nippte an seinem Whisky.

»Du weißt, dass wir diesen Channon-Ausstellungsraum in Paris eröffnet haben, letztes Jahr …«, sagte Ainsley.

Brodie bejahte es.

»Nun, er läuft nicht besonders gut«, vertraute Ainsley ihm an, mit gesenkter Stimme, als fürchtete er, dass jemand sie belauschen könnte. »Unter uns gesagt, läuft er sogar miserabel.« Er erläuterte die Lage näher. Calder Channon, Ainsleys Sohn, war zum Filialleiter in Paris ernannt worden, und obwohl alles gut aufgestellt schien – gute Kontakte, ein gut bestücktes Sortiment, regelmäßige Werbeanzeigen in der Pariser Presse –, verloren sie Geld, nicht in beunruhigendem Umfang, aber langsam und stetig so viel, dass man es nicht länger ignorieren konnte.

»Wir brauchen etwas frischen Schwung dort«, stellte Ainsley fest. »Wir brauchen jemanden, der etwas vom Klavier

Brodie verkniff sich das Eingeständnis, dass seine Französischkenntnisse eher rudimentär waren, und ließ Ainsley weiterreden.

»Der Plan lautet wie folgt, Brodie, mein Junge.«

Brodie sollte so bald wie möglich nach Paris reisen – am besten schon in einer Woche, sobald er seine Angelegenheiten geregelt hatte – und dort als Calder Channons Nummer zwei anfangen. Als stellvertretender Filialleiter in Paris. Dabei sollte er nur ein Ziel vor Augen haben, erklärte Ainsley: Verkaufen, verkaufen, verkaufen. Und nochmals verkaufen.

»Weißt du, wie viele größere Klavierhersteller es in Europa gibt? Na los, rate mal.«

»Zwanzig?«

»Zweihundertfünfundfünfzig, bei der letzten Zählung! Das ist die Konkurrenz, mit der wir es aufzunehmen haben. Unsere Klaviere sind wundervoll, aber in Paris kauft sie niemand, oder zu wenige Leute. Stattdessen kaufen sie Schund wie Montcalms, Angelems, Maugeners, Pontenegros. Inzwischen fangen sie sogar an, Klaviere in Japan zu fertigen! Ist das zu fassen? Es ist ein heftig umkämpfter Markt. Hervorragende Qualität reicht da nicht aus. Es muss sich etliches ändern, Brodie. Und etwas sagt mir, dass du für die Aufgabe der Richtige bist. Du kennst Klaviere in- und auswendig und bist ein Weltklasse-Klavierstimmer. Und du sprichst fließend Französisch. Großer Gott im Himmel! Calder braucht jemanden wie dich. Warum habe ich dummer alter Narr das nicht eher begriffen?« Er lehnte sich zurück, trank einen großen Schluck Whisky und dachte nach. »Calder war zu selbstsicher, zu überzeugt von seinem Erfolg, das wird mir nun klar. Er braucht jemanden an seiner

»Ich verstehe, Sir. Aber, wenn die Sprache ein Problem ist, warum stellen Sie nicht einfach einen Franzosen ein?«

»Um Himmels willen, nein! Hast du den Verstand verloren? Wir brauchen einen der unsrigen dort. Jemanden, dem man voll und ganz vertrauen kann. Der zur Familie gehört, gewissermaßen.«

»Verstehe.«

»Bekommst du das hin, Junge?«

»Versuchen kann ich’s auf jeden Fall, Sir.«

»Wirst du dein Bestes geben? Dich richtig ins Zeug legen?«

»Selbstverständlich.«

Ainsley schien mit einem Mal bester Dinge. Er sicherte Brodie eine ansehnliche Gehaltserhöhung zu, und außerdem würden seine Stellung sowie sein Gehalt in sechs Monaten noch einmal überprüft, gemessen am Erfolg.

Ainsley kam hinter seinem Tisch hervor und goss ihnen noch zwei Whisky ein, um ordentlich auf das neue Pariser Unternehmen anzustoßen. Sie prosteten sich zu und tranken.

»Vor deiner Abreise treffen wir uns noch mal, Brodie. Ich habe ein paar kleine Tipps, die dir ganz nützlich sein könnten.« Er nahm Brodie das Glas aus der Hand und stellte es auf dem Tisch ab. Die Besprechung war beendet. Ainsley begleitete Brodie noch hinaus. Kurz vor der Tür nahm er ihn fest am Ellbogen.

»Calder ist ein guter Junge, aber ein loyaler Stellvertreter könnte ihm nicht schaden.«

»Ich werde mein Bestes tun, Mr Channon. Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das werde ich. Es ist eine große Chance für uns. Paris ist heutzutage die Welthauptstadt der Musik. Nicht London, nicht Rom, und auch nicht Berlin. Abgesehen von Wien natürlich. Aber wir könnten die Nummer eins in Europa wer

Zurück in der Werkstatt, rauchte Brodie noch eine Zigarette und dachte angestrengt nach. Er sollte sich freuen, das wusste er, unbändig freuen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, etwas Unbestimmtes, ärgerlich Unklares. War es Paris, der Umstand, dass er noch nie dort gewesen war, dass es sich um seine erste Auslandsreise überhaupt handelte? Nein, das fand er eher aufregend: in Paris zu leben und zu arbeiten, das wäre –

Lachlan Hood kam vom Laden in die Werkstatt.

»Noch hier?«

»Nicht mehr lange«, sagte Brodie.

»Wusste ich’s doch. Tja, Brodie, Pech gehabt. So kann’s gehen, alter Junge.«

»Nein. Ich soll nach Paris gehen. Calder mit dem Laden dort helfen.«

Lachlan schien aufrichtig bestürzt, er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

»Wieso du? Verdammt! Warum nicht ich? Ich war immerhin schon in Amerika.«

»Mais est-ce que vous parlez français, monsieur?«

»Was?«

»Genau.« Brodie breitete in gespieltem Bedauern die Hände aus. »Die Vorzüge einer guten Schulbildung, mein Sohn. Ich spreche zufällig vorzüglich Französisch.«

»Lügner. Verfluchter Lügner. Du sprichst höchstens Opern-Französisch.«

»Na schön, ich geb’s zu. Entscheidend ist, ich spreche genug Französisch. Was ungefähr hundert Prozent mehr Französisch ist als du.« Er bot Lachlan eine Zigarette an und lächelte gönnerhaft.

»Wenn alles gut läuft, lasse ich dich vielleicht nachkommen.«

»Dreckskerl.«

Brodie hielt eine Droschke an, die bei Channon & Co. vor- beizuckelte, und nannte dem Kutscher die Charles Street, unweit der Universität, als Ziel, wo sich das Bonar-Konzerthaus befand. Er stieg ein und zog die Vorhänge ein wenig zu, um in der Dunkelheit das beruhigende Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und das Quietschen der Kutschfedern zu genießen, während ihn das Gefährt in den Osten der Stadt beförderte. Vor ihm hatte offenbar eine Frau in der Droschke gesessen, wie er aus dem Duft von Parfum schloss – Rosenwasser oder Flieder –, der den Geruch nach altem Leder und Pferdemist überdeckte. Nun, da er allein war, dachte er eingehender über Ainsley Channons Angebot nach, das er, wie ihm nun bewusst wurde, ohne lange nachzudenken angenommen hatte. Hätte er sich lieber etwas Bedenkzeit ausbitten sollen? Doch was gab es hier noch lange nachzudenken? Paris gegen Edinburgh einzutauschen; vom leitenden Klavierstimmer zum stellvertretenden Filialleiter aufzusteigen; statt vier Guineen die Woche acht zu verdienen, das war wirklich keine schwierige Entscheidung.

Er bezahlte den Kutscher und nahm den Weg zum Bühneneingang. Die Hausleitung hatte für diesen Abend einen alten Konzertflügel von Channon angefordert, verbunden mit der Auflage, dass dieser den Wünschen des Maestros gemäß eingestellt würde, wie auch immer diese lauten mochten. Der Direktor des Konzerthauses, ein ernster, kahlköpfiger Mensch, von dem ein eigentümlich muffiger Geruch ausging, führte Brodie durch dunkle Gänge hinter der Bühne in den eigentlichen Konzertsaal.

»Georg Brabec.«

»Noch nie von ihm gehört.«

»Tja. In Prag und Budapest ist er in aller Munde. Das erzählt er mir jedenfalls pausenlos. Auch in Leipzig ist er eine ganz große Nummer, und so weiter.«

»Der Herrgott steh uns bei.«

Brodie schwante nichts Gutes. Es waren die zweit-, dritt- und viertklassigen Konzertpianisten, die einem Klavierstimmer die meisten Scherereien bereiteten; je dürftiger ihr Rang, desto größer die Probleme. Er hatte einmal für den großen Gianfranco Firmin ein Klavier gestimmt, als dieser in den Assembly Rooms auftrat, Firmin, einer der berühmtesten Klaviervirtuosen Europas, der dabei ein bescheidener, reizender Mensch war und sich selbst nicht zu wichtig nahm. Jeder Bitte ging ein höfliches »Wenn es nicht zu viel Umstände macht«, »Wäre es vielleicht möglich« voraus – ohne jede Arroganz, ohne jegliche Allüren eines Genies.

Brodie stieg die kleine Treppe zur Bühne hoch und bahnte sich einen Weg durch die Stühle und Notenständer, die bereits für das Orchester aufgebaut waren, zu dem Channon, der vor dem noch leeren Auditorium stand. Daneben Georg Brabec, mit schulterlangem Haar und, wie Brodie feststellte, einer dramatischen grauen Strähne. Dazu ein schütterer Schnauzbart. Offenbar ein Vertreter der Liszt-Schule, das verhieß nichts Gutes. Brabec rauchte einen Zigarillo.

Brodie reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Brabec fiel ihm ins Wort, noch ehe er bei seinem Nachnamen angelangt war.

»Der Flügel ist nicht gestimmt«, sagte er mit einem undeutlichen, ausgeprägt mitteleuropäischen Akzent. Brodie konnte ihn nicht einordnen.

»Und mit zu viel Hall in hohen Tönen.«

Er setzte sich und spielte ein paar Akkorde: C-Dur, fis-Moll, Es vermindert. Er hatte in Oktaven gespielt. Der Flügel war perfekt gestimmt.

»Und ich wollte alten Flügel.«

»Es ist ein alter Flügel, Sir. Vierzig Jahre alt.«

Brabec hieb mit einer Hand energisch auf einige Tasten.

»Hören Sie: hier ist dünn. Der Hammer trifft …« Er suchte nach dem passenden Ausdruck. »Der Hammer trifft nicht recht. Nicht richtig.«

Brodie seufzte innerlich. Setzte aber nach außen hin ein Lächeln auf.

»Ich sehe es mir mal an, Sir.«

Er öffnete seinen kleinen Gladstone-Koffer und nahm seine Werkzeugrolle aus Leinwand heraus.

Brabec fuchtelte mit dem Zigarillo aggressiv vor Brodies Brust herum und aschte dabei um ein Haar auf seine Jackenaufschläge.

»Und die Tasten sind sauber. Ich habe nicht um sauberen Flügel gebeten.«

»Ich kümmere mich darum, Sir.«

Brodie entfernte den Tastendeckel und zog die Mechanik heraus. Die meisten Konzertpianisten – 99 Prozent von ihnen, soviel er wusste – hatten absolut keine Ahnung, was sich technisch zwischen ihrem Tastenanschlag und dem dabei erzeugten Ton abspielte. Umso mehr Eindruck machte es, wenn man die verborgene Kompliziertheit der beweglichen Teile zum Vorschein brachte. Brabec starrte die Mechanik einen Moment lang blinzelnd an.

»Überlassen Sie das ruhig mir, Sir«, sagte Brodie. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald alles in Ordnung ist.«

Der Direktor erschien erneut und geleitete Brabec zur Künstlergarderobe.

Georg Brabec hätte nun noch mehr Grund, mit sich zufrieden zu sein.

Brodie machte sich auf die Suche nach dem Direktor und fand ihn in seinem Büro, mit einem Gläschen verdünntem Portwein vor sich auf dem Tisch.

»Kein besonders umgänglicher Zeitgenosse, unser Signor Brabec«, sagte Brodie.

»Ja. Ein Schwachkopf«, bestätigte der Direktor mit tonloser Stimme. »Und jetzt hat er auch noch den Wunsch geäußert, dass Sie dem Konzert beiwohnen. Für den Fall, dass das Instrument in der Pause nachgestimmt werden muss.«

»Sagen Sie ihm, ich wäre hier«, sagte Brodie. »Im Falle eines Falles werden Sie mich dann aber wahrscheinlich nicht finden können.«

»Völlig richtig.« Der Direktor lächelte jetzt sogar und hielt sein Glas in die Höhe. »Mögen Sie auch einen Schluck?«

 

Mit einem Glas leicht säuerlichen Rotweins in der Hand folgte Brodie Senga die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie sah immer wieder über die Schulter, als könnte sie es nicht ganz fassen, dass er sie tatsächlich aufgesucht hatte. Brodie hatte das Konzerthaus verlassen, sobald Brabec auf die

Mrs Loutherns Etablissement hatte einen Hinterausgang, der in eine Wohnstraße hinter dem Gebäude führte, was Brodie ganz besonders schätzte. Man verließ das Haus nicht auf demselben Wege, auf dem man es betreten hatte – also durch den Salon –, sodass Brodie nicht erfahren würde, wer Sengas letzter Freier gewesen war. Er machte sich nichts vor. Sie ging hier einem Gewerbe nach, und je mehr sie zu tun hatte, desto besser für sie. Dennoch war es ihm mehr als recht, nicht einem grinsenden, rotgesichtigen Bauern begegnen zu müssen, der zur Landwirtschaftsmesse in der Stadt war und geradewegs aus ihrem Bett kam. Brodie konnte gut und gern darauf verzichten, demonstrativ an seine eigene Stelle in der Warteschlange erinnert zu werden.

Mrs Louthern schenkte ihm von dem minderwertigen Rotwein nach und meinte, dass Ida oder Joyce ihm gern zu Diensten wären, sofern er es eilig hätte. Nein danke, sagte Brodie, er würde lieber auf Senga warten. Und Senga tauchte dann auch zuverlässig auf.

In ihrem Schlafzimmer im Obergeschoss gab Senga ihm einen Kuss auf die Wange. Er habe ihr gefehlt, sagte sie. Was durchaus zutreffen konnte, da er seit über zwei Monaten nicht hier gewesen war. Brodie stellte sein Glas ab und fing an, sich zu entkleiden. Senga knüpfte ihren Rock auf und legte ihre Rüschenbluse ab; in ihrem Hemd aus Baumwolle und in Stiefeletten stand sie da und sah dabei zu, wie er sich bis auf die Unterwäsche auszog.

»Das macht zwei Shilling mehr«, erwiderte sie. »Selbst für dich.«

Das kümmerte ihn nicht, er wollte, dass sie beide nackt waren. Senga stammte aus South Uist, ein junges Ding, das nach Edinburgh gekommen war, um als Dienstmädchen in einem großen Haus in der New Town zu arbeiten. Sie war schwanger geworden, hatte umgehend ihre Stellung verloren und war schließlich hier in Mrs Loutherns Etablissement gelandet, wo sie einem anderen, durchaus einträglicheren Broterwerb nachging. Sie war jünger als er, um die zwanzig, vermutete Brodie, und das Kind wurde wahrscheinlich anderweitig versorgt. Gefragt hatte er nicht danach: Was sie von sich preisgab, blieb Senga selbst überlassen.

Sie war blond, schlank und vollbusig, was erklärte, warum sie so gefragt war, wobei er jedoch einige Freier hatte sagen hören, dass sie die »Schielende« nicht haben wollten. Ihr rechtes Auge wies eine Fehlstellung auf, und das fanden manche offenbar abstoßend. Brodie, der selbst unter einer erheblichen Sehschwäche litt, störte es nicht. Sie pflegte weiter die guten Umgangsformen, die sie in dem Haus in der New Town gelernt hatte, obwohl ihre Begegnungen rein sexueller Natur waren, und war immer höflich, zudem schien sie ihn ehrlich gernzuhaben. Wichtiger noch, sie erregte ihn. Vielleicht gerade wegen ihres Schielauges, wie er mitunter überlegte.

Als sie beide nackt waren, zog Senga ihn zu dem schmalen Bett aus Gusseisen. Sie nahmen nebeneinander Platz, und sie machte sich mit beiden Händen sanft an seinem Glied zu schaffen, bis es hart wurde.

»Warum warst du so lange nicht hier, Brodie.«

»Ich hatte viel zu tun«, sagte er, während er ihre schaukelnden Brüste im Auge behielt.

»Schreiben.« Er hatte ihr erzählt, er sei Komponist.

»Hast du ein Lied für mich geschrieben?«

»Kann schon sein.«

Als sie sah, dass er bereit war, legte sie sich hin und spreizte die Beine. Brodie ließ sich auf sie gleiten, wobei er sich auf den Armen abstützte.

»Darf ich dich küssen?«, fragte er.

»Ich küsse nicht gern«, sagte sie. »Das weißt du doch.«

»Ich geb dir einen Shilling mehr.«

»Ich verzichte auf den Shilling. Ich küsse nicht gern.«

»Na schön. Wie du meinst.«

Er ließ sich auf den Armen nach unten sinken, und sie griff nach unten und führte ihn ein – so mühelos, dachte er. Wie oft sie das wohl schon gemacht hat?

»Nimm die Brille ab, Brodie.« Sie hatte einen weichen Highland-Akzent.

»Nein.«

»Na komm.«

»Ich will dich ansehen, Senga. Du bist ein hübsches Mädchen. Ich sehe das hübsche Mädchen, das ich gerade vögle, gern an.«

Sie zog ihre Knie zurück. Sie kannte die Abläufe und das Geschäker bereits.

»Das sagst du bei allen Mädchen. Ein hübscher Dreckskerl wie du mit deinem Riesengerät, wie ein Hockeyschläger. Du willst uns Mädchen sehen, während du dich vergnügst, ist es nicht so, edler Herr? Du siehst uns gerne erschaudern, nicht wahr?«

»Genau so ist es.«

 

Brodie bestellte ihnen von unten eine Flasche Rotwein. Unerhörte fünf Shilling, völlig überteuert, aber er mochte noch nicht gehen. Solange man Geld ausgab, stand einem

Er goss Senga ein Glas ein, und sie trank den Wein in gierigen Schlucken. Nach ihrer Betätigung hatten sie sich beide wieder angekleidet. Sie hieß eigentlich Agnes McCloud, aber sie mochte den Namen Agnes nicht und hatte ihn daher einfach umgedreht.

»Ich gehe fort, Senga.«

»Nein! Wo könnte es besser sein als in Edinburgh?«

»Paris.«

»Ah. Ach so.« Sie sah kurz geknickt drein. Damit konnte sie nicht konkurrieren.

»Was hast du in Paris vor?«

»Eine Sinfonie oder zwei komponieren, nehme ich an.«

»Und es gibt dort viele dieser französischen Mädchen, mit denen du herumtändeln kannst.«

»Ich werde immer an dich denken, Senga.« Er schenkte ihnen beiden Wein nach.

»Nein, wirst du nicht. Du wirst mich im Nu vergessen.«

»Nein, werde ich nicht. Versprochen. Du bist sehr besonders.« Er berührte sie an der Wange unter dem rechten Auge. »Deswegen möchte ich dir etwas sagen.«

»Was denn bitte?«

»Weißt du, dein Schielauge? Dein rechtes Auge. Das kannst du in Ordnung bringen lassen.«

»Was ist mit meinem Auge?«

»Es hat eine leichte Fehlstellung, so nennt man das. Aber heutzutage kann das behoben werden.«

Er nahm eine seiner Visitenkarten heraus und notierte auf der Rückseite den Namen und die Adresse seines Optikers.

»Ich übernehme die Kosten. Geh einfach bei diesem Mann vorbei, zeig ihm diese Karte, und er wird sich der Sache annehmen.«

»Muss ich dann so eine grauslige Brille wie du tragen? Solche grässlichen Flaschenbodengläser.«

»Eine Zeit lang, und vielleicht auch eine Augenklappe, bis dein Auge stärker wird … Aber das Leben wird danach besser sein, Senga, glaube mir.«

»Das Leben wird sein, wie das Leben eben sein wird, Brodie. Da können wir nicht viel dran ändern.«

»Eines Tages komme ich wieder zurück. Trink noch einen Schluck Wein.«

Er füllte ihre Gläser auf. Sie sah ihn an, mit schrägem Blick; härter irgendwie.

»Ja. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Nun, ich wünsche dir alles Gute.« Mit diesen Worten stand sie auf und ging zur Tür. »Danke für den Wein. Jetzt muss ich mich aber weiter um meine Angelegenheiten kümmern.«

Brodie beglich den Rest der Monatsmiete, die er seinem Vermieter für das Zimmer in der Pension in Bruntsfield schuldete. Der Vermieter, ein mürrischer Kerl namens McBain, war verärgert darüber, einen langjährigen Mieter von heute auf morgen zu verlieren, und hatte vor, wie Brodie bemerkte, ihn zusätzlich zur Kasse zu bitten. Er suchte Brodies Zimmer eingehend nach Schäden oder Anzeichen von Vernachlässigung ab, wurde jedoch nicht fündig.

»Es ist so kurzfristig, weil ich für meinen Arbeitgeber nach Paris gehe, verstehen Sie«, sagte Brodie, der damit McBains Neid zu erregen gedachte.

»Besser Sie als ich. Das ist eine Senkgrube, Paris. Eine Kloake.«

»Sie waren also schon mal dort, Mr McBain. In Paris.«

»Um zu wissen, was eine Senkgrube ist, brauche ich sie nicht selbst zu betreten.«

Brodie schleppte seinen Schiffskoffer bis ans Ende der Straße und wartete dort darauf, dass eine Droschke des Wegs kam. Paris war die Chance seines Lebens, so viel stand fest, aber es hielt dennoch allerlei Unwägbarkeiten bereit. Eine davon zeichnete sich immer mehr ab: Calder Channon. Brodie kannte ihn ein wenig, aus der kurzen Zeit, die er in dem Ausstellungsraum in der George Street verbracht hatte, bevor die Zweigstelle in Paris eröffnet wurde. Ein unbeständiger, komplizierter Mensch, so Brodies Einschätzung, obendrein sehr von sich überzeugt. Andererseits, Paris war Paris – eine ganze Stadt konnte Calder Channon wohl kaum ruinieren.

Am Bahnhof Waverley stieg er in den um 10.45 Uhr ab

Am Bahnhof von Peebles wuchtete er seinen Koffer hinten auf einen Pferdewagen und wies den Fahrer an, ihn nach Liethen Manor zu bringen, ein Dorf etwa drei Meilen außerhalb der Stadt, abseits der Straße nach Biggar. Der Fahrer, ein junger Bursche, noch keine zwanzig, griff gern zu, als Brodie ihm eine Zigarette anbot; er brach sie entzwei und steckte sich die eine Hälfte hinters Ohr, für später.

»Ich glaube, ich kenne Sie«, sagte der Fahrer nach zwanzig Minuten, während er den Rest von Brodies Zigarette bis zum letzten Stummel rauchte.

»Nun ja, ich habe den größten Teil meines Lebens in Liethen Manor verbracht.«

»Sie sind ein Moncur. Genau, das ist es – Sie sind Malcolm Moncurs Sohn.«

»Richtig. Damit habe ich meine Sünden abzubüßen.«

»Oh, nein! Nein, nein, er ist ein großartiger Mann.«

Als sie von der Straße nach Biggar abbogen und über die

Sie erreichten die ersten Ausläufer von Liethen Manor. Ein aufgegebenes Mauthäuschen, dann einige geduckte, schiefergedeckte Arbeiterunterkünfte mit kleinen Fenstern. Auf dieser Seite des Dorfes gab es einen Laden, ein Gasthaus, einen Mietstall und einen Hufschmied, dazu einen Fachhandel für Landwirtschaftsbedarf, eine Grundschule und ein Postamt. Dazwischen eine ungeordnete Ansammlung von Cottages und größeren Häusern, zu denen Gemüsegärten gehörten. Bedeutend war das Dorf dank seiner ungewöhnlich großen Kirche und dem dazugehörigen Pfarrhaus, beides erst dreißig Jahre zuvor erbaut, am unteren westlichen Ende der Hauptstraße, wenn man sie denn so nennen wollte. Es handelte sich um imposante Gebäude aus rotem Sandstein, die für dieses bescheidene Dörfchen in seinem beschaulichen Tal ein wenig überdimensioniert wirkten. Die große Kirche und das angrenzende dreistöckige Haus hätten eher in den wohlhabenden Vorort einer Großstadt gepasst.

Die Kutsche klapperte durch das Dorf und vorbei an der Kirche St Mungo’s, die noch immer ganz neu aussah –

Brodies Stimmung verdüsterte sich weiter, als die Kutsche vor der von Säulen umstandenen Eingangstür des Pfarrhauses Halt machte, und er wandte sich nach St Mungo’s um, erbaut auf dem Gelände der alten Liethen Kirk, die komplett abgerissen worden war, um der neuen Kirche zu weichen. Die Kirche und das Pfarrhaus waren nach Entwürfen seines Vaters errichtet und über ein kompliziertes Tontinengeschäft finanziert worden. Pastor Malcolm Moncur hatte Liethen Manor auf die kirchliche Karte gesetzt, und diese dominanten, unpassenden Bauwerke legten aufdringlich Zeugnis von seiner Macht und Vorherrschaft ab.

Brodie zahlte dem Jungen seinen Sixpence und gab ihm noch eine Zigarette.

»Predigt Moncur diesen Sonntag?«, fragte der Junge.

»Davon gehe ich aus«, sagte Brodie und instruierte den Jungen bei dieser Gelegenheit, ihn Sonntag früh um Punkt sechs Uhr wieder hier abzuholen. Während die Kutsche auf dem bekiesten Vorplatz wendete, öffnete sich die Haustür, und zwei von Brodies sechs Schwestern kamen herausgestürmt, um ihn in Empfang zu nehmen. Er wandte sich seiner Familie zu und begrüßte sie mit dem breitesten Lächeln, das er zustande brachte.

 

Es klopfte, und sein Bruder Callum kam herein.

»Bist du ein dummer, abtrünniger Mistkerl, oder bist du ein schrecklicher, armer Irrer, der in die Irrenanstalt in Penicuik gehört?«, sagte Callum, anscheinend bitterernst.

»Tja, ich bin hier«, sagte Brodie. »Du hast also vermutlich recht. Ich bin verrückt. Aber andererseits, das bist du auch.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hand. Callum boxte ihn gegen die Schulter, und Brodie boxte ihn zurück. Das machten sie immer, wenn sie sich wiedersahen.

»Ich wäre dir sehr für eine deiner feinen amerikanischen Zigaretten verbunden, besten Dank«, sagte Callum. Brodie kramte seine Dose mit Tabak der Marke Margarita aus dem Koffer, und dann steckten sie sich beide eine an.

Callum war zwei Jahre jünger als Brodie, kleiner und muskulöser, mit einem weichen blonden Schnauzbart. Er war als Angestellter bei einem Notar in Peebles beschäftigt, der zur ehrwürdigen Gilde der Writers to the Signet gehörte. Er streckte sich auf Brodies Bett aus, schlug die Knöchel am Fußende übereinander und rauchte theatralisch, während er Rauchringe zur Decke emporsteigen ließ.

»Deinem Telegramm war zu entnehmen, dass du nach Paris gehst«, sagte Callum.

»Ganz recht. Ich bin hergekommen, um meine Sachen zu packen und mich von meinem dummen Bruder zu verabschieden – und natürlich auch vom Rest der Moncurs.«

»Oh, ja, du wirst französische Mädchen durchvögeln, du Glückspilz.«

»Malky ist nach Glasgow gefahren. Er wird heute Abend zurück sein.«

»Glasgow.« Brodie dachte kurz nach. »Warum fährt er ständig nach Glasgow? Hat er eine Frau dort?«

»Weil ihn in Glasgow niemand kennt, dort ist er sicher. Und eine spezielle Frau gibt es nicht. Ich wette, dass er da einfach nur mit seinen Kumpanen in Freudenhäusern rumhurt. Inkognito.«