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Dieses Buch enthält fiktive Geschichten. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Joern Sackermann/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-458-2

Kurzkrimis aus der Region Aachen

Originalausgabe

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Liebe Leserinnen und Leser,

kennen Sie Aachen? Allgemeines Kopfnicken, natürlich: Karl der Große, Aachener Dom, CHIO-Reitturnier, Orden wider den tierischen Ernst und natürlich Printen, überall Printen! Aachen, die westlichste Großstadt Deutschlands. Kennt man, Haken dran.

Wirklich?

Wie einst der große Karl neben historischen Verdiensten auch viel Blut an seinen Händen hatte, so hat auch Aachen seine dunklen Seiten. Die Stadt ist ein Grenzfall, sieht sich im Dreiländereck von großen Nachbarn in die Enge getrieben, kämpft um Aufmerksamkeit und Anerkennung. Mit allen Mitteln. Zuweilen mit harten Bandagen. Da wird nicht nur mit dem Klenkes gegrüßt, da muss auch mal einer über die Klinge springen!

Genau das richtige Pflaster für das Syndikat. Und die CRIMINALE!

Das Syndikat? Das ist die Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen und -autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Rund 750 Mitglieder sind es inzwischen, und es werden immer mehr. Sie decken ein weites Spektrum ab: vom regionalen Krimi bis zum internationalen Thriller – geschrieben von Newcomern oder »alten Hasen«. Im Syndikat treffen sich die Verfasser von Bestsellern, professionelle Allrounder und ambitionierte Nebenerwerbsautoren auf Augenhöhe zum Austausch, zur Inspiration und um gemeinsame Interessen zu vertreten.

Seit über 30 Jahren veranstaltet das Syndikat alljährlich sein eigenes Krimifestival, die CRIMINALE, in wechselnden Städten – Sie verstehen, Spuren müssen verwischt werden. Da wird einzeln und in Gruppen »criminell« gelesen, immer in besonderem Rahmen und an reizvollen Orten, es wird informiert und diskutiert, es werden Workshops und Vorträge rund um das Thema Krimi angeboten, es werden gut dotierte Preise verliehen, und es wird gefeiert. 2019 ist Aachen an der Reihe. Und einige der hinterlassenen Spuren, auf die wir stolz sind und durch die wir uns gerne auf die Schliche kommen lassen, halten Sie gerade in der Hand.

21 Kriminalgeschichten enthält dieser Band, jede einzelne eigens für diesen Anlass geschrieben, einige von Krimipreisträgern und Nominierten, andere von engagierten Syndikatlerinnen und Syndikatlern oder Autorinnen und Autoren, die einen besonderen Bezug zu Aachen haben. Sie alle stöbern das Verbrechen in all seinen Formen auf, sei es historisch oder aktuell, kulinarisch oder politisch, lokal oder grenzüberschreitend.

Literarisch, versteht sich. Wir wollen ja nicht Teil der Kriminalstatistik werden – wir setzen sie lieber in spannende Storys um.

Freundlich aufgenommen wurden wir in Aachen, mit offenen Armen empfangen – und das ist nun der Dank?

Ja, ganz genau. So bedankt sich das Syndikat. Kriminell eben. Und spannend.

Wir wünschen spannende und vergnügliche Lesestunden!

Herzliche Grüße

Peter Gerdes

(CRIMINALE-Beauftragter des Syndikat e.V.)

Liebe Krimifreundinnen und -freunde,

Marburg, Graz, Halle und nun Aachen – mit seinen Anthologien will das Syndikat die deutschsprachige Krimilandschaft abbilden. Dabei legen wir Wert darauf, dass jede Stadt ihre Eigenarten wiedererkennt, allerdings oftmals mit einer Leiche garniert.

Die CRIMINALE ist ein einmaliges Ereignis. 250 bis 300 Krimiautorinnen und Autoren fallen in eine Stadt ein, lesen, lehren, lernen, und vor allem bringen sie ganz viel gute Laune mit. Denn das Leben als Autor kann recht einsam sein. Wenn dann auf einmal viele Gleichgesinnte aufeinandertreffen, brodelt es in der Stadt an allen Ecken und Enden. Nach einer Woche ist es vorbei, doch mit der Anthologie setzen wir eine Duftmarke, die weit über das Ereignis hinausreicht. Lassen Sie sich entführen in die chaotische, sinnliche und immer kriminelle Welt unserer Mitglieder, der höchst Ehrenwerten Gesellschaft des Syndikats.

Mit criminellem Gruß

Jens J. Kramer

(Vorsitzender des Syndikat e.V.)

Inhalt

Ralf Kramp
Happy Birthday, Schäng

Jutta Profijt
Kalles letzter Sieg

Thomas Hoeps & Jac. Toes
And twelve points go to … Europe!

Gisa Klönne
Boris Wolkow passt auf

Herbert Knorr
Karl Arsch der Große ist es leid
Oder: Wo sich Himmel und Erde berühren

Sabina Naber
Der Traum eines Fans

Carsten Sebastian Henn
Print it black

Ilka Stitz
Mens sana in corpore sano

Peter Gerdes
Doppeltes Spiel

Uli Aechtner
Spätlesen

Peter Godazgar
Der Erlediger

Tatjana Kruse
Ja, wo laufen sie denn, wo laufen sie denn hin?

Richard Lifka
Die Beichte

Barbara Saladin
Geld stinkt nicht

Kurt Lehmkuhl
Kalenderspender

Regina Schleheck
Tunnelblick

Sabine Trinkaus
Der Hauptgewinn

Günter Neuwirth
Morgens im Tierheim

Mike Mateescu
Blutlaachen

Daniel Carinsson
Warum nur – bleibt alles so still?

Silvia Götschi
Tödliches Menü

Die Autorinnen und Autoren

Dank an die Komplizen

Ralf Kramp

Happy Birthday, Schäng

Es juckte Schäng Deneffe an der Nasenwurzel, aber wann immer er nach der Augenbinde tastete, kicherte Gina an seiner Seite und klopfte ihm zärtlich auf die Finger. »Überraschung, Liebchen«, piepste sie. »Du sollst nicht so neu-po-pei-gierig-po-pierig sein!« Bei jeder Silbe stupste sie ihm mit dem Finger auf die Nasenspitze.

Sie hatten seinen Sechzigsten im »Knipp« gefeiert. Das »Knipp« war immer gut. Da feierten alle, die in Aachen was auf sich hielten. Die Brüder Ramrath hatten ihm, Gina und den anderen acht ein köstliches Menü serviert. Danach hatte Gina darauf bestanden, in diesen riesigen Tanzschuppen beim Tivoli zu fahren. Schäng fühlte sich schon den ganzen Tag über irgendwie komisch. Sechzig wurde man Gott sei Dank nur einmal im Leben. In dem Club war nur junges Gemüse gewesen, da war er sich gleich noch mal doppelt so alt vorgekommen. Gina und die anderen hatten ein bisschen getanzt, und er hatte sich an einem sausüßen Cocktail festgehalten.

Theo und die Jungs waren schon am Morgen bei ihm aufgekreuzt und hatten gratuliert. Sie hatten offenbar zusammengelegt und ihm eine Rolex Oyster Perpetual geschenkt. Das hatte ihn sehr gerührt. Bestimmt hatte Theo das organisiert. Kostete um die vierzehn Mille. Gleichmäßig durch sieben geteilt hätten die das nie hingekriegt. Die Jungs waren fleißig und verlässlich, hatten aber nur Mus im Kopf. Von Theo hatte er ein Gemälde von irgendeinem bekloppten Künstler aus Düsseldorf gekriegt. Konnte man nix drauf erkennen, passte aber farblich zur Sitzgruppe. Und Gina hatte ihn auf heute Nacht vertröstet.

Tagsüber hatte er Anrufe entgegengenommen und Fußball geguckt. Alemannia hatte gegen den BVB gewonnen, das war noch so ein kleines Geschenk gewesen. Anschließend waren ein paar alte Kumpels gekommen und seine Schwester aus Amsterdam mit ihrem Spanier, die aber gegen Abend nach Marbella weitermusste. Dann das Abendessen und hinterher ebendieser scheißlaute Tanzschuppen.

Als Gina irgendwann kurz vor Mitternacht gesagt hatte: »Komm, wir gehen mal raus«, war er ziemlich erleichtert gewesen. »Rausdibaus. Raus-haus-di-baus.« Ihm war das zu eng. Zu laut. Zu grell. Zu … alles. Aber das hätte er natürlich nie zugegeben. Er wollte sich schließlich nicht gleich am ersten Tag mit sechzig nach achtzig anhören.

Gina hatte ihm mit ihrem knallgelben Seidenschal die Augen verbunden. Zuerst hatte er gedacht, sie wolle ihm auf dem Parkplatz ein Geschenk machen, etwas, was mit Ausziehen und so zu tun hatte, und schon befürchtet, dass das ganz schön kalt werden würde. Aber auch dabei hätte er die Zähne zusammengebissen. Er würde selbst mit sechzig weiterhin seinen Mann stehen, auch in einer Novembernacht auf einem Parkplatz.

Jetzt vernahm er plötzlich Theos heisere Stimme zu seiner Linken: »Wir machen einen kleinen Ausflug, Chef.« Auch darauf ließ er sich ein, obwohl er müde war. Viel müder als sonst um diese Zeit. Änderte sich das alles so schlagartig? Ging das so rasch? Er ließ sich nichts anmerken.

Gina versprach ihm: »Das wird dir Spaß machen!«, und tippte ihm wieder auf die Nase. Das musste er ihr langsam mal abgewöhnen.

Bitte nicht in den Puff, dachte er. Darauf hatte er jetzt wirklich keine Lust. Nebenher war er Verwalter einiger Häuser im »Sträßchen«, hatte aber schon lange keine Lust mehr auf die Ausprobiererei. Ihm reichte Gina, die er ausreichend mit Klamotten, Botox und Silikon ausgestattet und schließlich sogar geheiratet hatte. Nur manchmal, wenn sie ein-, zweimal im Jahr zu ihrer Familie nach Dessau fuhr, ließ er sich ein paar Neueinsteigerinnen kommen. Seine wilden Zeiten waren schon lange vorbei.

Er hörte den Rollmechanismus der Seitentür eines Vans, dann halfen sie ihm hinein und fuhren schließlich los. Vom Gefühl her in Richtung Innenstadt, aber da konnte er sich täuschen. Schäng fühlte sich nicht wohl, so völlig erblindet. Sonst sah er noch verdammt gut, brauchte keine Brille, nicht mal zum Lesen. Darauf war er sehr stolz.

Er spürte, wie der Wagen in die Kurve ging, stoppte, anfuhr, hielt, der Blinker gesetzt wurde, alles mehrmals. Hörte Theo und Gina murmeln. Zwei oder drei der Jungs schienen auch im Auto zu sein.

»Alles gut?«, piepste Gina, als sie ihm eine Viertelstunde später beim Aussteigen half. »Guti? Guti-po-puti?«

»Klar, alles okay«, log er. In Wirklichkeit kam er sich vor wie ein pflegebedürftiger Greis. Würde das jetzt so weitergehen? Dauernd diese Gedanken ans Altsein? Schöne Scheiße.

Die Rumänen und Albaner, die mittlerweile die Stadt unter sich aufgeteilt hatten, waren allesamt jünger, und seit er vor zwei Monaten seinen alten Rivalen Arno »die Prent« Bosten kaltgemacht hatte, war er unbestritten der Älteste. Eigentlich war er fit, trainierte jeden Tag eine halbe Stunde auf dem Stepper und zweimal die Woche im eigenen Studio auf der Peterstraße. Aber sechzig war er jetzt trotzdem.

Die war Bosten schon nicht mehr geworden. Nur achtundfünfzig. Dafür hatte Schäng eigenhändig gesorgt. Ein einziger Schuss, und der Prentekopp war hinüber gewesen. Grund dafür war ein Bauprojekt in Stolberg gewesen, bei dem Bosten ihn hatte ausbooten wollen. Aber die linken Touren von der Prent hatte er sich lange genug gefallen lassen. Wer beim Amt mit wie viel und weswegen geschmiert wurde, das bestimmte immer noch er, Schäng Deneffe.

Die Jungs hatten den toten Bosten ins Krematorium draußen in Hüls gefahren und ihm am nächsten Morgen seine Asche gebracht. Irgendwann in den nächsten Wochen würde er vielleicht nach Blankenberge fahren. Im Herbst war es da schön ruhig. Da würde er die Asche in den Ärmelkanal streuen. Die Prent hatte Blankenberge gehasst. Und das Meer erst recht.

Als Schäng Deneffe sich mit dem Fuß vorantastete, spürte er festen Boden und glitschiges Laub unter den Füßen. »Hört mal, Leute«, sagte er, »ihr habt euren Spaß gehabt, und jetzt würde ich verdammt noch mal gern den Schal runter–«

»Warte, warte, warte!«, rief Gina schrill. »Wir sind ja gleich da!«

Er hörte, wie sich eine Metalltür öffnete, dann eine Männerstimme: »Und, war schwer?« Womöglich Pepe.

Eine andere Stimme antwortete: »Hätt ich sogar nur mit dem Fingernagel aufgekriegt.« Das musste Schocki Schröder sein. Der Neue, der Ringer aus Walheim.

Warme Luft strömte Schäng entgegen, als sie offensichtlich ein Gebäude betraten.

»Wir gehen weiter nach vorne«, sagte Theo und fasste ihn am linken Arm. »Aber nicht in die erste Reihe. Dritte oder vierte, da sieht man besser.«

»Ich seh überhaupt nix«, knurrte Schäng.

»Nur noch eine Minute, Chef.« Theos Stimme beruhigte ihn. Das tat sie immer. Sie waren etwa gleich alt. Theo Müntzer war in den Achtzigern die rechte Hand von Schäfers Nas aus Köln gewesen. So lange, bis der in den Bau gewandert war. Dann war er zu ihm gekommen. Schäfers Nas war nur einundsechzig geworden, fiel es Schäng in diesem Moment ein. Scheiße.

Gina half ihm aus dem Mantel und drückte ihn sanft auf einen gepolsterten Sitz. Stuhlbeine stießen aneinander, machten metallene Geräusche.

»Kann ich jetzt endlich?« Er wurde ungeduldig. Schritte entfernten sich.

»Ja«, hauchte Gina, und er spürte ihre Finger am Hinterkopf. »Jetzt kannst-du-po-pannst-du.«

Schäng Deneffe kniff die Augen zu, weil er erwartete, geblendet zu werden, aber das Licht war gedämpft. Er blickte sich um. Ein großer Raum mit roten Wänden, voller Stuhlreihen. Wandlampen, Belüftungsrohre an der Decke, heruntergelassene Rollos vor den Fenstern zur Rechten. Und an der Stirnseite, etwa sechs oder sieben Meter vor ihm, eine rechteckige Öffnung. Eine Bühne, nur ein bisschen größer als sein gigantischer Flatscreen im Wohnzimmer.

Alte Backstein- und Fachwerkhäuser waren zu sehen, auf Sperrholz gemalt. Die Kulisse stellte einen Marktplatz dar. Gestapelte Obstkisten, Körbe mit Kohlköpfen und Äpfeln.

Schäng drehte den Kopf nach rechts und links. Gina strahlte ihn an. Der Brilli auf ihrem Schneidezahn blitzte im Halbdunkel auf. Links von ihm zwinkerte ihm Theo zu. »Mach den Mund zu, Chef.«

»Ist das etwa …?«, hauchte Schäng.

Theo nickte lächelnd.

Gina quiekte: »Das ist das Öcher Schängche ganz privat und ganz intim für meinen Schäng. Für meinen Schäng-po-päng!«

Schäng spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Scheiße, rührselig wurde man also auch noch ab sechzig.

Er saß im Zuschauerraum vom Öcher Schängche, der fast hundertjährigen Traditions-Puppenbühne, deren Hauptfigur sein Namensvetter war. War das schön! »Au Hur, ist dat schön«, sagte er mit belegter Stimme und ließ seinen Blick weiterschweifen.

Er liebte Puppentheater. In Sankt Vith, wo er aufgewachsen war, war in seinen Kindertagen immer wieder eine fahrende Kasperlebühne zu Gast gewesen. Er hatte sein ganzes Taschengeld dafür ausgegeben. Und angefangen zu klauen, um sich weitere Vorstellungen leisten zu können. Sein Vater, ein alter Kaffeeschmuggler, hatte ihn deswegen mehr als einmal windelweich gehauen.

Puppentheater zogen ihn seitdem magisch an. Wenn er auf Reisen war, ließ er keine Gelegenheit aus. In Berlin, Hamburg oder auch in Wien gönnte er sich mehr oder weniger regelmäßig einen Besuch. Im Öcher Schängche aber war er nur in den Siebzigern ein paarmal gewesen, als er seinen ersten Job in Aachen hinter der Theke einer Stripteasebar hatte. Da war das Theater noch im Jugendheim in Burtscheid untergebracht gewesen.

Hier, in den Räumen der Barockfabrik am Löhergraben, war er noch nie gewesen, denn in seiner heutigen Position konnte er sich natürlich nicht in einem Puppentheater sehen lassen. Damit würde er sich in Aachen schnell zum Gespött machen.

Aber jetzt war er hier. Heimlich. In einer Vorstellung, nur für ihn!

»Die Jungs haben was für dich einstudiert«, raunte Theo. »Sie sind nicht gut, aber es wäre schön, wenn du sie hinterher trotzdem loben könntest. Es kommt von Herzen.«

Schäng schluckte schwer und kämpfte wieder mit den Tränen.

Etwas regte sich hinter der Bühne. Ein Klappern, ein leises Rumpeln.

Von rechts schob sich eine Puppe ins Scheinwerferlicht. Ein junger Kerl in einem braunen Wams mit gold blinkenden Knöpfen und in Kniebundhosen. Er hatte pechschwarzes Haar, dunkle Augenbrauen und ein spitzbübisches Gesicht.

»Das ist der Schäng«, flüsterte Gina. »Der Schocki spielt den.«

»Schocki? Der Ringer?«, fragte Schäng aus dem Mundwinkel.

»Ja, der kann Öcher Platt.«

»Söd ühr allemole doe?«, erscholl ein lauter Ruf von der Bühne.

Schäng blickte nach rechts und links.

Gina und Theo nickten aufmunternd.

»Ja!«, rief Schäng ein bisschen verschämt. »Also … äh … joo!«

»Ich han noch jarnüüs jehuet!« Die Puppe hob demonstrativ die Hand zum Ohr.

Gina stieß ihn mit dem Ellbogen an.

»Jooo!«, rief Schäng wieder.

Doch das Schängche auf der Bühne ließ nicht locker: »Dat moss knalle, dat heij de Lampe vajene Plafond falle!«

»Joooo!«, brüllte Schäng, jetzt fast enthemmt. »Joooo! Ich ben dooo!«

»Dat is ja fein«, fuhr Schängche in einer Mischung aus Hochdeutsch und Mundart fort. »Dann machen wir heut Nacht en super Sondervorstellung nur für der größte Schäng va jan Oche!«

Schäng klatschte begeistert in die Hände. Schnell wollte er Gina einen Kuss auf die Wange drücken, aber die war auf einmal nicht mehr da. Er sah gerade noch ihr wackelndes Hinterteil, das durch eine Tür rechts neben der Bühne verschwand.

Dann ertönte der Klang eines Akkordeons.

»Das ist Pepe«, flüsterte Theo.

»Kann der Musik machen?«

»Deine Jungs können mehr, als du denkst.«

»Sind die alle da?«

»Alle.«

Schäng faltete die Hände im Schoß und lauschte der Melodie. »Happy Birthday« natürlich.

»Un jetz singe mer dem Schäng e Ständche!«, rief das Schängche, und von links erschien eine weitere Puppe zwischen den Kulissen. Ein Weib mit blonder Mähne, einer goldfarbenen Bluse, die sich über einem Riesenbusen spannte, einem knallroten Rock aus Lackfolie und schwarzen Stiefeln.

»Die sieht ja aus wie die Gina!«, rief Schäng und grinste selig. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Seine Gina!

»Sie wollte das unbedingt selbst machen«, erklärte Theo. »Für dich. Sie ist gut, oder?«

Schäng hatte immer gedacht, Gina sei doof wie Bohnenstroh und könne nur das eine. Aber als die Puppe jetzt »Happy birthday to youuuu« sang, da klang das so gekonnt und so lasziv, wie es dereinst Marilyn Monroe für Präsident Kennedy gehaucht hatte.

Schäng weinte. Eine Träne quoll ihm aus dem rechten Auge und rollte seine Wange hinunter. Er wischte sie nicht fort, wagte nicht, sich zu bewegen.

Im Hintergrund schoben sich weitere Puppen auf die Bühne. Eine Marktfrau, ein Mädchen mit wallendem braunen Haar, ein Teufel, dazu noch Figuren in historischer Gewandung. Schäng kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Tant Hazzoor«, flüsterte ihm Theo zu. »Jretchen, der Krippekratz –«

»Schschsch!«, machte Schäng. »Hör lieber zu, wie schön die Gina singt.«

»Happy birthday, dear Schäääähääääääng, happy birthday to youuuuu«, schmachtete die weibliche Puppe ein letztes Mal, und ein paar Männerstimmen mischten sich leise unter den Gesang.

Links neben Schäng summte auch Theo mit.

Das war phantastisch! Er wollte gerade anfangen zu klatschen, da legte ihm Theo die Hand auf den Arm und sagte: »Warte noch. Guck mal, was jetzt kommt.«

Die Bühnen-Gina breitete die Arme aus, und ein verborgener Mechanismus ließ den Riesenbusen der Puppe ruckartig rauf- und runtertanzen.

»Bravo!«, rief Schäng und applaudierte wie wild. »Bravo, bravo, bravo!«

Dann schob sich eine andere Puppe nach vorne. Ein Mann in einem knallblauen Kittel und mit rot kariertem Halstuch.

Schäng stutzte. »Das ist doch …« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Der sieht ja aus wie …«

»Das ist der Veries«, erklärte Theo. »Der gehört zu jedem Stück.«

»Aber der sieht genauso aus wie …« Die Halbglatze, die schwarzen Koteletten, die große rote Knubbelnase. »Wie die Prent!«

»Stimmt. Jetzt, wo du es sagst.«

»Aber das fällt doch jedem auf! Der sieht aus wie die Prent. Das ist die Prent gespuckt!«

Theo schmunzelte. »So, findest du? Na, dann pass jetzt mal auf.«

Das Schängche trat wieder ins Zentrum der Bühne und lächelte sein schelmisches Lächeln, während das Busenwunder sich langsam zur Seite schob.

»Do bes du jo, du Prentekopp!«, rief das Schängche und streckte seinen Arm in Richtung des Blaukittels aus. Plötzlich steckte etwas in seiner geschnitzten hölzernen Hand. Ein schwarzer kantiger Gegenstand. Eine Pistole!

»Du Filue!«, rief der andere verächtlich.

»Du Fottjeseech!«, antwortete Schängche hämisch. Dann reckte er die Pistole nach vorne, und ein lauter Knall ertönte.

Schäng schrak auf seinem Stuhl zusammen. Die glatzköpfige Puppe warf die Arme in die Luft, taumelte stöhnend nach hinten und fiel schließlich um.

Die blonde Gina-Puppe schmiegte sich an Schängchens Seite. »Das hast du gut gemacht, Schäng«, flötete sie, und Schängche ließ lässig die Pistole sinken.

»So geht es jedem, der den Schäng übers Ohr hauen will!«, rief er mit kräftiger Stimme.

Schäng hielt es nicht mehr auf seinem Sitz. Er sprang auf und klatschte begeistert. »Toll! Das war ganz, ganz toll!«

Theo erhob sich ebenfalls. »Ich muss jetzt auch nach vorn«, sagte er leise. Er drückte Schäng zurück auf den Stuhl und schob sich zwischen den Stuhlreihen hindurch.

Das Puppenspiel ging weiter. Schäng fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und verfolgte gespannt das Geschehen. Erneut erklang das Akkordeon, und die Puppen begannen, auf der Bühne zu tanzen und wieder vielstimmig zu singen: »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …«

In seiner übergroßen Freude hätte Schäng Deneffe beinahe nicht bemerkt, was sich am linken Kulissenteil abspielte, an dem alten Haus, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Obst und Gemüse« prangte. Vor lauter Vergnügen hätte er fast nicht gesehen, dass sich die Tür langsam öffnete und eine Puppe im Rahmen erschien. Sie fiel ihm erst auf, als die Tür schon sperrangelweit offen stand. Die Nase der Figur leuchtete rot, die Glatze glänzte, und mit einem Mal übertönte ein hämisches Lachen den Gesang und die Musik. Die Puppen hielten in ihren Bewegungen inne, drehten sich alle in eine Richtung. Schängche wedelte mit den hölzernen Händen, in denen er längst keine Pistole mehr hielt, wich langsam zurück, tastete hinter sich. Doch da war keine vollbusige Schönheit mehr, da war niemand, der ihm helfen konnte, nur die gemalte Backsteinmauer.

Die Prent war wieder da!

Aber Schängche hatte sie doch erschossen!

Schäng Deneffe rutschte auf die vordere Kante seines Stuhls und knetete fahrig die Hände.

»Wenn du denkst, ich bin mausetot, dann hast du dich geschnitten!«, schallte es laut von der Bühne her, und Schäng riss vor Schreck die Hände in die Höhe.

Das konnte nicht sein! Das war unmöglich! Das war doch die Stimme von …

Hinter dem Glatzkopf trat jetzt das Busenwunder durch die Tür und schmiegte sich ganz dicht an ihn.

»Gina!«, rief Schäng panisch. »He, Gina! Scheiße, was soll das? Was bedeutet das?«

Aber Gina lachte nur und ließ wieder ihren Busen auf und ab hüpfen.

»He, Schäng!«

Sein Blick flog nach rechts.

In der Tür neben der Bühne erkannte er eine menschliche Gestalt. Ein großer, kräftiger Mann. Schäng konnte nur seine Umrisse ausmachen. Und die Glatze, auf der sich der Scheinwerfer spiegelte. Mehr musste er nicht sehen.

»Bosten?«, hauchte Schäng. »Bist du das wirklich? Die Prent?«

Die Puppen auf der Bühne waren plötzlich verschwunden.

»Jo, du Bavian«, knurrte der Mann und machte einen Schritt nach vorne, sodass das Licht auf seine rot leuchtende Knollennase fiel. »Happy birthday, Schäng!«

Das Mündungsfeuer einer Pistole blitzte auf, und ein Schuss krachte durch den Saal.

Schäng taumelte nach hinten. Er presste eine Hand auf die Stelle an seiner Brust, von der sich der Schmerz ausbreitete. Stühle kippten polternd um, er versuchte, sich auf einem der metallenen Beine, die jetzt in die Luft ragten, abzustützen, aber alles rutschte lärmend zur Seite. Er torkelte, fand keinen Halt, spürte plötzlich seine Beine nicht mehr und fiel schließlich rücklings zu Boden, so wie vorhin noch die Puppe auf der Bühne.

In seinem Kopf hämmerte es laut. Metallisch, klirrend, seltsam aus dem Takt. Sein Blick suchte die Decke des Raumes ab, glitt zitternd an den Rohren mit den Lüftungsgittern entlang. Es gelang ihm, den Arm zu heben und sich seine Hand vors Gesicht zu halten. Sie war so rot wie die Wände des Theaters. Blut tropfte ihm in die Augen.

Er verstand das nicht. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Bosten war doch tot! Erschossen! Verbrannt! Er ruhte als Häufchen Asche in einer Tupperdose auf seinem Bürotisch und wartete darauf, die Reise an die Nordsee anzutreten!

Und doch war es eindeutig das Gesicht von der Prent, das sich jetzt in sein Gesichtsfeld schob.

»Warum … warum bist du nicht tot?«, röchelte Schäng Deneffe.

Der Glatzköpfige lachte trocken. »Weil ich besser schießen kann als du, alter Mann.«

»Du Krauvouel.« Schäng wollte weitere Beschimpfungen ausstoßen, aber es gelang ihm nicht mehr, Laute zu formen.

Hinter Bosten erschienen jetzt die Jungs. Theo, die Hände tief in den Taschen vergraben, Pepe, Schocki, die anderen …

»Es war Ginas Idee«, sagte Theo gefasst. »Sie wollte dir zum Schluss noch eine letzte Freude machen.«

Schäng hustete. Wo war die Schlampe? Wo war diese verdammte Hure? Er versuchte, den Kopf zu heben, um zur Bühne hinüberzusehen. Sein Blick begann sich zu verschleiern, alles verschwamm, aber er erkannte sie dennoch. Dort oben, auf der Bühne. Die blonden langen Haare, der rote Lackrock. Stocksteif.

Und dann wurde aus Schängs Husten plötzlich ein Lachen. Er schmeckte Blut und lachte lauter und lauter. Er hatte das Gefühl, als würde es ihm den Brustkorb zerreißen.

Hoch über ihm warfen sich Bosten und die anderen skeptische Blicke zu. Theo runzelte die Stirn und nahm langsam die Hände aus der Tasche. Erschien ihnen sein Lachen würdelos? Unpassend? Sichtbar verunsichert wandten sie die Köpfe und folgten Schängs letztem Blick zur Bühne.

Die Frauenpuppe war nicht mehr allein. Eine Figur war an ihre Seite getreten, an der sie geradezu liebestoll ihren prallen Busen schubberte. Die andere Figur hatte bis jetzt noch keinen Auftritt gehabt. Der Schutzmann guckte mit streng gesträubtem Schnurrbart unter seinem Tschako hervor und hob gebieterisch den Arm.

Noppeney, fiel es Schäng in diesem Moment ein. Der Marktpolizist Noppeney, der gehörte zum Öcher Schängche dazu. Der sorgte in Schängchens kleiner Welt immer für Recht und Ordnung.

Und dann explodierte plötzlich alles in lautem Gelärm und wirrem Getümmel, als sich mit gebrüllten Kommandos und hektischen Bewegungen mehrere Polizisten durch den Eingang des Theaters und die Bühnentür drängten.

Die Jungs rissen ihre Waffen hervor, aber kein Schuss fiel. Bosten warf die Pistole weg und hob die Hände. Handschellen klickten.

Langsam wurde es dunkel. Schängs letzter Blick galt der Bühne, auf der Gina und Noppeney jetzt wild herumknutschten, und er lachte wieder. Lachte so lange, bis das Blut aus seinem Mund sprudelte und alles um ihn herum für immer schwarz wurde.

Jutta Profijt

Kalles letzter Sieg

Criminale! 2019! Aachen! Was für eine Aufregung, wenn sich über zweihundert buchstabenschwingende Möchtegern-Mörder am westlichsten Rand der Republik treffen, in der Hauptstadt des – nicht kriminellen, sondern meteorologischen – Niederschlags, der Hochburg der Zahnkillerprinten und der testosterondominierten Studentenschaft der Nerd-Schmiede RWTH. Neben all diesen korrekten Beschreibungen der Kleinstadt mit Großkarlsvergangenheit ist Aachen natürlich vor allem eins: janz nah. Jedenfalls für Leute, die in Köln leben. Und auch für solche, die in Köln weder so richtig leben noch so richtig tot sind. Also für Leute wie mich, wobei ich der Einzige meiner Art bin, weshalb ich mich kurz vorstelle: Mein Name ist Sascha Lerchenberg, genannt Pascha. Im zarten Alter von vierundzwanzig wurde ich ermordet, aber meine Seele fand den Tunnel mit dem Licht nicht und schimmelt deshalb seither zwischen der Welt der Lebenden und der Toten herum. Kommunizieren kann ich nur mit Martin, dem Rechtsmediziner, der mich anlässlich meiner Obduktion vom Hals bis zum Sack aufgeschlitzt hat. Mit ihm habe ich inzwischen etliche Kriminalfälle gelöst, die mein Grauhaardackel – Sie wissen schon: kurze Beine, graue Borstenfrisur und ein Geltungsdrang wie die Öcher Tollitäten – als ihre Romane ausgibt.

Mein Grauhaardackel war also schon ganz hibbelig wegen der rheinischen Nieselcriminale und wollte eine hübsche Geschichte für diese Anthologie beitragen, aber weil ich schlimmstes Häkelkrimigesülze befürchtete, beschloss ich, mich selbst ein wenig vor Ort umzusehen.

An Aachen interessant ist – nichts. Berühmt hingegen so einiges. Die Printen. Der Dom. Der Karlspreis. Und natürlich der Typ, der den Dom gebaut und dem Preis seinen Namen gegeben hat: Karolus Magnus oder schlicht Karl der Große. An dem kommt man nicht vorbei, wenn man in Aachen abhängt. Überall seine seltsame Signatur, die als Stolperfalle in die ohnehin buckligen Kopfsteinpflastergässchen eingelassen ist. Überall sein Name, ob über Apotheken, Eingängen von Gymnasien oder zu Wellnesstempeln. Nur ein Karlsklo habe ich nicht gefunden, dabei hätte mich auch das nicht gewundert. Stattdessen überall sein goldglänzendes Antlitz, das wen auch immer zeigen mag, aber sicher keinen siebenundsechzigjährigen Knacker ohne Zugang zu Botox oder einer verdammt guten Änderungsfleischerei. Und dann ist da natürlich noch der Karlsschrein, der die Netzhaut mit seinem Goldglanz heller als ein Osram-Night-Breaker-Laser-H4-Frontscheinwerfer im Nordeifel-Dauernebel blendet.

Ich zockelte eine Weile durch die Stadt, bis es – natürlich – zu regnen begann. Also rein in den Dom, in dem es von Holländern, Holländern, Holländern und Japsen nur so wimmelte. Oder Chinesen, keine Ahnung, jedenfalls waren die Typen winzig und fanden die Info, dass Karl vermutlich über eins achtzig groß gewesen war, sensationell. Dass sein Grab irgendwo unter ihren Füßen lag, beeindruckte sie schon weniger, und die Tatsache, dass man bis heute nicht weiß, wo genau es gelegen hatte, bevor der Dritte aus einer Reihe von Ottos die Reste seines Vorgängers ruppig aus der Gruft gezerrt und seinen Zwecken dienlich anderweitig verpackt hatte, rief nicht mal ein Zucken der schmalen Schultern hervor.

In mir löste diese alte, seit fast einem Jahrtausend ungelöste Frage hingegen ein wohliges Kribbeln der Kopfhaut aus – virtuell natürlich, denn meine Kopfhaut befindet sich wie der Rest meiner irdischen Hülle im fortschreitenden Verwesungsvorgang.

Ich schaltete mich also unter den Fußboden des achteckigen Gotteshauses und drängelte durch über tausend Jahre alten Dreck. Er war nicht homogen, beileibe nicht, vielmehr gab es jede Menge Gruben, Löcher und Höhlungen. Das wussten die Archäologen natürlich, nur eben nicht, in welchem dieser Löcher Karl gelegen hatte. Aber ich fand es heraus.

In einer dieser Gruben unter dem Fußboden stieß ich auf Karlchens »Geruch«. Das Wort habe ich nur gewählt, weil ich nicht weiß, wie ich den molekularen Nachhall eines Toten sonst nennen soll. Kennengelernt hatte ich das Phänomen auf dem Kölner Melatenfriedhof, übrigens eine hervorragende Schule für alles, was mit dem Leben nach dem Sterben zu tun hat. Aber zurück nach Aachen.

Es war nicht einfach nur ein seelenfriedliches Säuseln, was mich da umströmte, sondern ein wütendes Brummen. Ein Zorn, fast so alt wie der Dom selbst. Und diese Woge rasender Empörung zog mich mit sich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.

Als ich das nächste Mal das Tageslicht erblickte, erkannte ich den Dom. Achteckiger Grundriss, Kuppel drüber, so weit alles klar. Aber keine Mosaike, kein Fußboden, jedenfalls nicht der, den ich eben noch gesehen hatte. Kein wagenradgroßer Kronleuchter, keine Chorhalle mit Buntglasfenstern und vor allem: kein Karlsschrein. Auch kein elektrisches Licht, sondern Kerzen und Funzeln, die die Luft vernebelten und zusammen mit dem Katholikenjoint namens Weihrauch für einen infernalischen Hustenreiz sorgten, obwohl ich keine Bronchien und keine Lunge mehr hatte.

Ich befand mich genau über einem Typen, der ausgestreckt auf einem Tisch lag, die Hände auf der Brust gefaltet und die Augen ordentlich zugedeckelt. Seine Krone und sein goldener Mantel wiesen ihn als Karl aus, den Großen, den Kaiser, den Herrscher über das größte Reich, das Europa je zu bieten gehabt hatte. Leider war er mausetot.

Meine Hirnwellen wogten wie im Photonensturm und lieferten eine einleuchtende Erklärung für die Situation, in der ich mich befand: Ich war durch die Zeit geflutscht und bei Karl dem Großen gelandet – leider etwas zu spät, um herauszufinden, ob der Kerl wirklich der Überflieger gewesen war, als den ihn später alle darstellen würden. Hin- und hergerissen zwischen der Faszination, mich in einer anderen Epoche zu befinden, und der Sorge, nicht mehr nach Hause zu kommen, hing ich wie schockgefrostet über der Leiche und beobachtete das Geschehen.

Der Gestank der Kerzen und der Räucherfässer hielt keine der ungefähr tausend Gestalten im Dom davon ab, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Die meisten heulten – vermutlich wegen des Nebels. Es wäre kein Wunder, wenn jeder Zehnte später an einer Rauchvergiftung krepieren würde.

Irgendwo aus dem Dunkeln schallte lautes Psalmengeleier, aber ganz in meiner Nähe hörte ich plötzlich eine kultivierte Stimme, die mich meinte, als sie fragte: »Bist du der Engel, der mich in den Himmel geleitet?«

Das konnte nur einer sein: Karl höchstselbst!

»Blödsinn«, antwortete ich. »Ich bin kein Engel, ich bin Pascha. Und ich komme aus der Zukunft, nicht aus dem Himmel.«

Karlchen war irritiert.

»Ich geh dann mal wieder«, sagte ich, denn Aufbahrungen und Beerdigungen waren noch nie so mein Ding gewesen, und ich wollte sicherstellen, dass ich wieder nach Hause kam.

»Wenn du durch die Zeit reisen kannst, kannst du mich vielleicht retten«, sagte Karl, der alte Opportunist. »Komm beim nächsten Mal ein paar Tage früher wieder, dann können wir darüber reden.«

Der machte mir Spaß. Ich wusste sowieso nicht, wie ich hier gelandet war, und hatte nur ein Ziel: heimwärts. Sobald ich in meiner Zeit wäre, würde ich den Teufel tun und noch mal durch die Bodenlöcher Richtung Mittelalter kriechen.

Aber wie das mit guten Vorsätzen so ist: Kaum ist man der akuten Gefahr entronnen, lockt schon wieder das nächste Abenteuer.

Zurück im Hier und Jetzt machte ich mich erst mal über Karls Todesursache schlau. Er hatte sich verkühlt, der Ärmste, und war vermutlich an einer Rippenfell- oder Lungenentzündung oder einer ähnlichen Pest gestorben. Klarer Fall für Antibiotika. Nur konnte ich keine Pillen in die Vergangenheit mitnehmen, selbst wenn ich es wieder hinüberschaffte. Also schaltete ich mich zu Martin dem Schlitzer, der schließlich auch irgendwann mal Medizin für Lebende gelernt hatte.

»Ein alternatives Antibiotikum?«, fragte er, ohne wissen zu wollen, wofür ich das brauchte. Er versucht schon seit Jahren, unsere Kommunikation auf das absolute Mindestmaß zu beschränken, wohingegen ich am Gegenteil interessiert bin. Keine einfache Situation – und eine Paartherapie scheidet aus offensichtlichen Gründen für uns aus.

»Eine Mischung aus Ingwer, Chili, Knoblauch, Kurkuma und Propolis könnte helfen. Wird mit gutem Öl zu einer Paste gerührt, dann lässt man jeden Tag fünf Löffel langsam im Mund zergehen. Außerdem natürlich viel trinken, Lindenblütentee zum Beispiel. Und warm halten, bei Fieber Wadenwickel. Dazu mehrere Tassen Hühnersuppe zur Stärkung verabreichen und die Akupressurpunkte ›Verbindung mit dem Tal‹, ›Tore des Bewusstseins‹ und ›Elegante Villa‹ drücken.«

Akupressur war sein neuestes Steckenpferd. Ich wartete nur darauf, dass er sie an einer der Leichen in der Rechtsmedizin ausprobierte und der so Behandelte vom Edelstahltisch sprang, um den nächsten Level seines Lebens abzufeiern.

So vorbereitet schaltete ich mich wieder nach Aachen, in den Dom, unter den Fußboden, und dann – saugte mich die Zeitspirale wieder ein. Erneut tauchte ich im Dom auf, aber diesmal hockte der Herrscher, der bei unserem letzten Treffen bereits tot gewesen war, zusammengesunken im Halbdunkel und betete.

»Kannst aufhören mit dem Beten, ich bin ja hier«, sagte ich – drang aber natürlich nicht zu ihm durch. Logo, schließlich kann ich mit Lebenden nicht kommunizieren. Na toll. Ich verließ also den Dom – und rieb mir die Augen. Virtuell natürlich. Die ganze Stadt war weg. Genauer gesagt: Sie war noch nicht da. Jedenfalls nicht in der Form, die ich kannte. Kein Centre Charlemagne, stattdessen ein Gang vom Dom zum Rathaus, das nur eine Halle war, allerdings in monströsen Ausmaßen. Alles natürlich ohne Außengastronomie. Der Marktplatz ein lumpiges Fleckchen mit ollen Häuschen drum herum, keine Brauereikneipen, kein REWE, keine Fußgängerzone mit Erlebnisbäcker und Souvenirshop. Die ganze schöne Kaiserstadt Aachen war ein Kaff voller Pferdescheiße. Nur der Regen war schon da.

Ich suchte mir einen Sterbenden, dessen Körper einigermaßen vernünftig aussah, also ohne Furunkel auf der Nase oder klaffende Wunde am Hals. Die Seelen von Sterbenden sind hochflexibel, will sagen, sie können den Körper verlassen, wenn der sich in Schwierigkeiten befindet. Doch die meisten von ihnen wollen gar nicht weg, sondern halten sich verzweifelt an ihm fest. Also warf ich den reichen Sack aus seinem Körper, versprach ihm aber, selbigen wiederzubringen, pumpte ein bisschen Energie in die Hülle, zog seinen guten Mantel an und die Fellmütze auf und machte mich auf den Weg zum Kaiser.

Natürlich wollte man mich nicht zu ihm lassen.

Also erklärte ich jedem, der mir zuhörte, dass ich die Medizin für den Kaiser brächte. Würde man mich davon abhalten, ihn zu sehen, würde er sterben, und zwar genau am 28. Januar des Jahres 814 im Morgengrauen. Ich kannte das aktuelle Datum nicht, aber ich wusste: Kalles Todestag konnte nur noch wenige Tage entfernt sein.

Endlich hatte ich genügend Leute eingeschüchtert, um zu Karl vorzudringen, der inzwischen wieder in seinem Bett lag. Ein Kumpel war bei ihm, den er Einhard nannte. Diesem Typen verriet ich das Rezept, weil Karlchen im Fieberdelirium schwitzte und nicht ansprechbar war. Einhard rannte los und ließ die Zutaten besorgen, bevor er mich einem höchst amüsanten Verhör unterzog.

Er: »Wieso kennst du dich mit Medizin aus, Übelhard, ich dachte, du wärst Goldschmied?«

Übelhard?

»Ich hatte eine Vision«, sagte ich. Wenn man einem Gläubigen mit Gott kommt, ist alles entschuldbar und alles erklärbar. So auch hier.

»Ich hörte, du lägst selbst darnieder.«

Mann, sabbelte der Typ ein komisches Deutsch. Ich hatte meine liebe Mühe, ihn zu verstehen. »Das Rezept meiner Heilung habe ich dir gerade verraten, Weinbart.«

»Einhard«, korrigierte er mich pikiert. »Aber du riechst gar nicht nach Knoblauch.«

»Fisherman’s Friend«, gab ich kurz angebunden zurück und betrachtete den Kaiser, der sich kläglich röchelnd in seinem riesigen Bett herumwälzte. Das Haus, in dem wir uns befanden, stand am Marktplatz, durch das zugige Fenster fiel der Blick auf die Rathaushalle. Die Fassade sah überhaupt nicht so kitschig aus wie tausend Jahre später. Trotzdem würde ich in dieser Zeit nicht heimisch werden, so viel stand fest – ohne Strom, ohne Autos und ohne ordentliches Badezimmer. Selbst im kaiserlichen Zimmer stank es nach Schweiß und Scheiße und Tod.

Und demnächst auch noch nach Knofi, dachte ich, denn in diesem Moment ging die Tür auf, und ein umwerfendes Mittelaltersupermodel brachte ein Schüsselchen herein, aus dem mir penetrantes Knofi-Aroma entgegenwehte.

Karl rümpfte die Nase, ließ sich aber ein Löffelchen in den Rachen schieben. Auch die Hühnersuppe, die bald darauf eintrudelte, wurde ihm eingeflößt, obwohl er dagegen schon stärker protestierte.

»Bis jetzt hat er gefastet, um gesund zu werden«, flüsterte Einhard mir hinter vorgehaltener Hand zu.

Der Kerl hatte einen Mundgeruch, dass mich kurz der Verdacht streifte, er sei auch schon verstorben. Aber das Gebet, das er jetzt zu murmeln begann, belehrte mich eines Besseren. Ich hatte die Nase voll von Krankheit, Gestank und Gebet und verließ das Zimmer, jedoch nicht, ohne mir von Beinhart bestätigen zu lassen, dass ich von nun an jederzeit Zugang zum Kaiser bekommen würde.

Dann brachte ich den geliehenen Körper zurück, übergab ihn dem Goldschmied mit der Ermahnung, gut auf ihn aufzupassen, und wohnte seinem sofortigen Ableben bei. Ich hoffte, dass nicht ich der Grund für den Herzstillstand gewesen war, und verließ den Toten, der mir jetzt nicht mehr nützen konnte. Stattdessen zockelte ich durch das, was man im Jahr 814 als Stadt bezeichnete.

Ich beginne mal mit dem, was es damals nicht gab: praktisch alles. Die Stadt bestand aus ein paar mickrigen Häusern, in denen allerdings das Leben tobte. Niemand pendelte zum Arbeiten nach Köln. Niemand verbrachte seinen Tag damit, vor einem wie auch immer gearteten Bildschirm zu sitzen und draufzuglotzen. Nein, hier wurde wirklich von Hand geschrieben, genäht, geschmiedet, gebacken, geschlachtet und gekocht. Und gezipfelt wurde auch: unter hochgeschobenen Röcken, in Mauernischen, Viehställen und auf der Ofenbank. Ich mochte diese Leute, sie waren irgendwie handfest, trotzdem wollte ich um Gottes willen hier nicht stranden. Fast war ich versucht, mich direkt wieder ins Jahr 2019 zu schalten, aber dann interessierte es mich doch zu sehr, wie Karlchen sich am nächsten Tag fühlen mochte. Dem Tod ein Stückchen näher – oder dem Leben?

Es war das Leben. Und mit der Genesung entpuppte der überragende Karl sich als störrischer, egoistischer Klotz, der keinen Bock hatte, diese schöne Welt schon zu verlassen. Auf die kaiserliche Existenz allerdings wollte er gern verzichten, daran hing er offenbar gar nicht mehr.

»Meine Genesung ist ein göttliches Zeichen. Der Herr schenkt mir ein zweites Leben, das ich in Paris verbringen werde«, schnarrte er gerade, als ich sein Zimmer betrat. Es stank weniger schlimm als gestern, was aber auch an dem Perlhuhn liegen mochte, das an Karlchens Bett hockte. Die Schöne von gestern, frisch parfümiert und so entzückend, dass ich Karls Begeisterung für das Überleben verstehen konnte.

»Eine Verlegung des Hofs nach Paris?«, fragte Einhard mit schlecht verhohlenem Schock. Ob er einfach überrascht war, den logistischen Aufwand scheute oder allgemein kein Freund der Froschfresser war, konnte ich nicht erkennen.

»Ich werde nicht als Kaiser gehen«, krächzte Karl und warf dem Schnuckelchen an seinem Bett ein lüsternes Lächeln zu.

Sie hielt den Kopf demütig gesenkt, weshalb ich nicht erkennen konnte, ob sie errötete oder genauso lüstern zurückgrinste.

»Aber eine Abdankung zu Lebzeiten wäre absolut unerhört«, begann Einhard mit einer Stimme und einem Gesichtsausdruck, mit dem man minderbegabte Bonsais daran erinnert, dass es sich nicht gehört, der Frau am Nachbartisch in die Handtasche zu pinkeln.

»Meine Bildungs-, Verwaltungs- und Kulturreformen waren ohne Beispiel. Meine Macht, die es mir erlaubt, an einem Ort zu residieren, anstatt durch die Ländereien zu ziehen, ist ohne Beispiel. Genauso wie die Größe meines Reiches und die Tatsache, dass ich nicht nur lesen, sondern sogar schreiben kann. Und nun werde ich die Gerüchte, die mich bereits tot glauben, nutzen, um einen beispiellosen Abgang zu machen.«

Karl hustete einen Schleimbatzen hoch, spuckte ihn auf den Boden und zeigte dann mit leicht zitterndem Finger auf Einhard.

»Hol einen meiner Doppelgänger. Ihn lassen wir sterben, dann kann ich verschwinden.«

Einhards Hautfarbe wechselte von Sonnenbrand zu Grottenolm.

»Los!«, verlangte Karl und griff der Maid ans Mieder. »Und jetzt raus hier!«

Ich war baff. So hatte ich mir den großen Karl nicht vorgestellt. Notgeil, machtmüde und mit eindeutig krimineller Energie. Aber vermutlich hatte er auch die Sachsen nicht mit Gebeten christianisiert, sondern mit dem Schwert. Wer über Zigtausende Leichen gegangen war, um seinen Glauben zu verbreiten, würde auch über eine weitere gehen, um in Paris der Liebe zu frönen. Männer sind so, wenigstens das sollte jeder in Geschichte gelernt haben, wenn er sich schon die ganzen Jahreszahlen nicht merken konnte.

Ich folgte also dem unglücklichen Einhard und machte mir so meine Gedanken über seine absolute Ergebenheit. Was war er wohl? Ein Freund? Ein Mitverschwörer? Ein Abhängiger? Einer, der in Karls Kometenschweif seine eigenen Ziele verfolgte? Natürlich verriet er mir die Antwort nicht, und auch an seinem Gesichtsausdruck konnte ich sie nicht ablesen.

Als er ein kleines Haus betrat, wandten sich drei fast gleich aussehende Gesichter ihm zu. Die Männer erhoben sich artig. Alle waren gleich groß, alle ähnelten Karl, alle verbeugten sich. Niemand sprach – was auch schwer möglich gewesen wäre, denn man hatte ihnen die Zungen herausgeschnitten, wie ich schnell bemerkte. So stellte man sicher, dass die Doppelgänger sich nicht verplapperten. Das Gleiche plus Daumenamputation hätte man besser auch mit den Trump-Doubles gemacht, denn es war ja wohl undenkbar, dass der Präsident der Vereinigten Staaten selbst der Urheber all des geistigen Dünnpfiffs war, den seine Klone verbreiteten.

Dann zeigte Einhard auf einen der Männer, drehte sich um und ging zurück zu Karl. Der Karlsklon warf sich einen Kapuzenumhang über und folgte ihm in so großem Abstand, dass niemand die beiden miteinander in Verbindung bringen würde.

Der Rest ist schnell erzählt. Der mit weiteren toten Hühnern hochgepäppelte Karl empfing den Klon höchstselbst und stieß ihm, während er ihn brüderlich umarmte, zielsicher ein Messer ins Herz. Einhard und die Schöne kleideten den Toten in Karls Klamotten, dann schlich die Holde mit dem Kaiser hinaus, und Einhard verbreitete heulend den Tod des Herrschers. Mit Hildebold, dem Vorsteher der Hofkapelle, und anderen Würdenträgern beschloss er, den Kaiser so schnell wie möglich zu begraben. Die Aufbahrung im Dom, die trotz der Dringlichkeit zum Prozedere dazugehörte, bedeutete keine Gefahr einer Enttarnung. Das schon beschriebene Dämmerlicht und der Sauerstoffmangel in der Räucherhöhle raubten der trauernden Menge alle Sinne.

Während von nah und fern Reisende nach Aachen strebten, um dem toten Kaiser zu huldigen, trabte ein Tross von sechs Reitern in die entgegengesetzte Richtung. Vorn zwei Bewaffnete, hinten zwei Bewaffnete, in der Mitte ein alter Mann und eine jugendliche Gestalt, von der kein Betrachter geahnt hätte, dass es sich um eine Frau handelte. Sowohl Haltung als auch Kleidung wiesen das schöne Perlhuhn als Edelmann aus. Die Händler – denn um wen sonst sollte es sich bei dem Trupp handeln? – strebten nach Paris, um dort ihren Geschäften nachzugehen.

Wo Karls Grab nun also liegt? Keine Ahnung. Ich weiß nur, wo der Kaiser nicht begraben liegt: im Aachener Dom. Aber das will in Aachen niemand hören. Deshalb erscheint mein Bericht nicht in einer archäologischen oder historischen Fachzeitschrift, sondern in einem Buch voller Kriminalgeschichten.

Wenn ich nun während der Criminale durch Aachen streife, muss ich bei jeder Karolus-Magnus-Plakette grinsen. Ein wahrhaft großer Mann lässt sich nicht zum Gummibärchen einer lokalen Marketingstrategie machen. Und wenn, dann nur über eine Leiche.

Solange es nicht seine ist.

Thomas Hoeps & Jac. Toes

And twelve points go to … Europe!

1

Diese Fernsehleute wurden auch immer bekloppter. Um Mitternacht ins Labyrinth! Bei Neumond! Mit jedem Schritt, den sich das Vollkorn-Gretchen vom Dreiländerpunkt entfernte, an dem Deutschland, Belgien und die Niederlande aneinanderstießen, wurde es dunkler. Warum durften sie das Labyrinth eigentlich nicht durch den Haupteingang betreten, so wie alle anderen eins Komma zwei Millionen Besucher im Jahr? Warum musste es unbedingt der hinterste Seiteneingang sein?

Hoffentlich trat sie nicht in ein Erdloch und verknackste sich den Fuß. Es gab schon genug Dauerkranke in ihrer Mäckes-Filiale. Wenn sie als Chefin auch noch ausfiele …

Andererseits, wenn heute alles gut lief, bedeutete das so viel Werbung für sie, dass sie vielleicht doch den Kredit für ihren großen Traum einer eigenen WeltBioFood-Kette erhielt. »Beim Vollkorn-Gretchen«, das klang doch hip!

In ihrem Jutebeutel raschelte der Brief des Westdeutschen Rundfunks.

»… wollen wir auf ungewöhnliche Weise an das fünfundzwanzigjährige Bestehen des Vertrags von Maastricht als Gründungsakt der Europäischen Union erinnern.«

»Ungewöhnlich« war ein schwaches Wort für die verrückte Idee des WDR. Offenbar hatte der Sender all jene jungen Leute auftreiben können, die damals, nur wenige Monate nach der Vertragsunterzeichnung, engagiert worden waren, um bei der feierlichen Eröffnung des Dreiländerlabyrinths in Vaals kostümiert die zwölf Maastricht-Staaten darzustellen. Zwölf Klischee-Maskottchen hatten vor fast drei Jahrzehnten Ringelreihen getanzt, und eines davon war sie gewesen: das deutsche Vollkorn-Gretchen. Sie hatten damals eine Menge Spaß gehabt, vor allem in der Nacht.

»Beim ersten Drehtermin steht das künstlerische Element unseres Films im Mittelpunkt«, wurde im Brief erklärt. »Er findet am 10. April ab Mitternacht im nachtdunklen Labyrinth statt. Dort wollen wir mit Ihnen vor der Kamera plaudern – über 1992, was seitdem aus Ihnen geworden ist und was Sie sich zukünftig von Europa erhoffen. Das auf der beiliegenden Karte markierte Türchen ist für Sie geöffnet. Der Park scheint verlassen, aber wir haben Infrarot-Kameras installiert, die Sie beim Gang durch das Labyrinth aufnehmen. Sie folgen bitte den Markierungen und gelangen so zum zentralen Aussichtspunkt. Sobald der Letzte von Ihnen eingetroffen ist, gehen die Strahler an, und unser Moderator erscheint.«