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Über dieses Buch:

England im Jahre 1172: Nach einem tragischen Schiffsunglück wird eine Frau ohne Gedächtnis am Strand entdeckt. Der spanische Pilger Rinaldo nimmt sich der schönen Unbekannten an und nennt sie fortan Viviana – die Lebendige. Gemeinsam mit Rinaldo begibt sie sich auf eine Pilgerreise nach Saint Albans und die Suche nach ihren Erinnerungen. Als sich ihnen der freundliche Julian White anschließt, wächst in Viviana die Hoffnung auf ein Leben an seiner Seite. Doch sie ahnt nicht, dass Julian ein Agent der Krone ist – und welchen Wert ihre verlorenen Erinnerungen in diesem gefährlichen Spiel um Macht und Verrat haben …

Über die Autorin:

Laura Bastian studierte Altgermanistik und Archäologie und arbeitete anschließend als Fernsehredakteurin. Heute ist sie freie Autorin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ideen zu ihren mitreißenden Romanen kommen ihr ganz spontan im Bus, auf Spaziergängen oder beim Kochen.

Laura Bastian veröffentlichte bei dotbooks bereits »Das Geheimnis der Burgherrin«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Das Amulett der Pilgerin« bei Wilhelm Goldmann Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/faestock und eines Gemäldes von Andreas Aschenbach »Schiffe im Sturm«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)

ISBN 978-3-96148-706-6

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Laura Bastian

Die Sehnsucht der Pilgerin

Historischer Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Sie war sehr durstig. Das war das Erste, was sie bemerkte. Sie war so durstig, dass es kaum auszuhalten war. Wasser schwappte über ihr Gesicht, und sie hustete. Es war Salzwasser und brannte in ihrer Kehle. Der Untergrund war weich und nass und bitterkalt. Wasser bedeckte rhythmisch ihre Beine bis zu ihrem Rücken und zog sich dann wieder zurück. Jedes Mal legte sich der Stoff ihres Kleides eiskalt und schwer auf ihre Haut, um sich dann bei der nächsten Welle wieder zu lösen. Wo war sie? Sie wollte sich aufrichten, aber sie war zu schwach. Wenn sie hier liegen blieb, würde sie sterben. Das war ihr letzter Gedanke, ehe sie wieder in eine schwarze Ohnmacht zurückglitt.

»Lebt sie noch?«

»Ich weiß nicht.«

»Doch, sie atmet noch! Komm, wir müssen sie ins Trockene bringen.«

Die beiden Fischer hoben die leblose Frau hoch und trugen sie, so schnell es ging, zu dem Karren, mit dem sie ihren täglichen Fang ins nahe gelegene Dorf brachten. Sie legten die zierliche Person vorsichtig auf die Fische, darauf bedacht, den Ertrag ihrer heutigen Ausfahrt nicht zu beschädigen und auch der Schiffbrüchigen gerecht zu werden. Das helle Kleid, das an ihrem Körper klebte, und die langen schwarzen Haare, die über den Rand des Karrens fielen, ließen sie inmitten der Fische aussehen wie eine Meerjungfrau.

»Sie ist nicht schwer, ich schaff das allein. Lauf du vor und sag Bescheid, dass wir jemanden gefunden haben.«

Der jüngere der beiden Fischer rannte die Dünen hinauf; während der ältere sich langsam mit dem Karren durch den feinen Sand arbeitete.

»Na, mein Mädchen, von welchem Schiff bist du denn gefallen?«, sagte er eher zu sich selbst als zu der bewusstlosen Gestalt vor sich. Bewundernd betrachtete er sie. Unter dem nassen Stoff zeichnete sich jede Kurve ihres schönen Körpers ab. So etwas Wunderbares hatte er noch nie aus dem Meer gezogen! Wer sie wohl sein mochte? Er hatte nichts von einem Schiffsuntergang gehört. Manchmal wurden Schiffe mit falschen Leuchtfeuern absichtlich in die Nähe der Felsen gelockt. Die Ladung wurde dann angetrieben und von Halunken geborgen. Sie machten auch nicht vor Überlebenden und Leichen halt, alles wurde geplündert. Er selbst hatte einmal eine Kiste mit Gewürzen gefunden. Leider war der Inhalt durch das Salzwasser ungenießbar geworden, aber die Kiste war gut und stabil. Die seltsamen Zeichen darauf zeigten, dass sie von weither gekommen war. Er selbst war noch nie weiter als bis Exeter gereist.

»Sieh, sie kommt zu sich!«

Die entscheidenden Persönlichkeiten von Little Willow upon the Sea standen in der zweiten Gästekammer der Schenke »Zum guten Fang« und blickten auf das Strohlager zu ihren Füßen und die darauf liegende Frau. Ihre Lider flatterten, aber sie öffnete die Augen nicht.

»Flöß ihr noch etwas von dem Wein ein.«

»Ich habe ihr schon genug Wein gegeben«, antwortete Trudy, die Frau des Wirtes, die die Schiffbrüchige ausgezogen, abgetrocknet und in ein Nachthemd ihrer dreizehnjährigen Tochter gesteckt hatte. Sie beugte sich wieder über die Frau und tätschelte ihre Wange.

»Komm, mein Mädchen, es ist Zeit, aufzuwachen!«, sagte sie eindringlich.

Wieder flatterten die Lider mit den langen schwarzen Wimpern, und die Frau murmelte etwas.

»Ruhe! Sie hat etwas gesagt!«

Im Raum herrschte gespanntes Schweigen, als die Frau erneut die Lippen öffnete und etwas sagte. Die Wirtin richtete sich abrupt auf

»Sie ist Ausländerin!«

Die Dorfältesten sahen sich an. Auch das noch. Wahrscheinlich eine Französin. Sie sah schon so fremdländisch aus: klein, zierlich, mit olivfarbener Haut und schwarzem Haar. Dazu war sie eine echte Schönheit, wie die Männer von Little Willow upon the Sea sofort festgestellt hatten.

»Hol den Riesen, der ist doch auch Ausländer.«

Die Wirtin stand auf und warf ihrem Mann einen missbilligenden Blick zu. Man sprach nicht abfällig über zahlende Gäste. Aber der seltsame Pilger, der gestern hier abgestiegen war, war sicher kein Einheimischer, auch wenn er recht gut Englisch sprach. Vielleicht würden die beiden sich ja verstehen, so als Ausländer unter sich. Also schob sie sich zwischen den Männern hindurch und ging die Treppe hinunter, um den Gast aus der Schankstube zu holen. Als sie wiederkam, fand sie die Szene in ihrem Gästezimmer ein wenig verändert vor. Die Schiffbrüchige war aufgewacht und hatte sich, die Knie angezogen, an die Wand gepresst und die Decke bis unter das Kinn gezogen. Sie starrte mit riesigen dunklen Augen in die Runde. Die anwesenden Männer gafften sie mit offenen Mündern an.

»Nun lasst mich schon durch und steht nicht rum und glotzt dumm. Herrgott, als wenn ihr noch nie eine Frau zu Gesicht bekommen hättet. So, raus jetzt, ihr verschreckt sie ja.« Mit dieser unwirschen Rede, der sich nicht einmal der Dorfvorsteher widersetzen konnte, drängte Trudy die Männer aus dem Zimmer.

»Also, hier ist sie. Vielleicht können Sie sie ja verstehen. Sie ist bestimmt Französin.«

Der große, füllige Mann mit den weichen Gesichtszügen blickte die Wirtin an und sagte mit einer schönen, melodischen Stimme: »Ich komme aus Mauretanien.«

»Das ist doch gleichgültig, vielleicht versteht sie das ja.«

Er trat in den Raum und wandte sich an die Frau auf dem Lager.

»Verstehen Sie mich?«, fragte er auf Spanisch.

Die dunklen Augen blickten ihn konzentriert an, aber es lag kein Erkennen darin.

»Sprechen Sie Französisch?«

Ein Leuchten ging über das Gesicht der Unbekannten, und sie nickte.

»Na also!« Die Wirtin schaltete sich wieder ein.

Die Schiffbrüchige stutzte und sagte plötzlich: »Ich spreche auch Englisch.« Ihr Gesicht drückte ob dieser Entdeckung Überraschung aus. Sie sprach mit einem deutlich französischen Akzent.

»Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt!«, rief die Wirtin empört.

»Ihre Sinne sind noch durcheinander, sie wird nicht gleich alles begriffen haben, was um sie herum vorging«, bemerkte der Spanier. Tatsächlich sah die junge Frau sehr verwirrt aus.

»Wie heißen Sie, Mademoiselle?«, fragte er.

Sie runzelte die Brauen, und ihre großen Augen wanderten suchend im Zimmer umher.

»Ich weiß es nicht.« Betroffen blickte sie von einem zum anderen.

Einen Augenblick starrten sie einander an, dann sagte der Spanier: »Es kann vorkommen, dass man durch einen Schock zeitweise das Gedächtnis verliert. Sie werden sich schon wieder erinnern, wenn es Ihnen besser geht.«

»Und Sie wissen gar nicht, wer Sie sind?«, vergewisserte sich Trudy ungläubig.

Die Fremde schüttelte den Kopf und zuckte unglücklich mit den Schultern.

»Na, das ist ja eine schöne Bescherung.« Sie wandte sich an den Spanier. »Ich gehe jetzt etwas zu essen holen, vielleicht können Sie ja noch was herausfinden. Sie kommen ja schließlich auch vom Festland.« Damit verließ sie die Kammer wieder.

Der Spanier lächelte die Fremde entschuldigend an.

»Den Bewohnern dieser Insel ist offenbar nicht bekannt, wie groß das Festland ist.« Er zog sich den einzigen Stuhl in der Kammer heran und setzte sich.

»Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Rinaldo della Rosa del Ranguano. Ich komme aus Saragossa und bin auf einer Wallfahrt nach Saint Albans.«

Es entstand eine kleine Pause, denn an dieser Stelle hätte sich eigentlich die Schiffbrüchige vorstellen müssen, aber sie seufzte nur und blickte ihn an.

»Immerhin haben wir schon feststellen können, dass Sie Französin sind«, sagte er aufmunternd.

»Zumindest, dass ich Französisch spreche.« Ihre Stimme war etwas rau, und Rinaldo fragte sich, ob das vom Salzwasser kam oder ihre natürliche Stimme war. Es hatte etwas reizvoll Verführerisches an sich.

»An was können Sie sich denn erinnern?«

Die Unbekannte fuhr sich mit der Hand über die Stirn, zog konzentriert die Brauen zusammen und schüttelte dann den Kopf.

»Es ist völlig verrückt, ich kann mich an wirklich überhaupt nichts erinnern. An gar nichts.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Mademoiselle, die Erinnerungen werden sicher bald wiederkommen.«

»Ich hoffe es.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wo bin ich hier eigentlich?«

»Wir sind etwas westlich von Poole.«

»Poole?«

»Ja, eine kleine Hafenstadt. Die nächste größere Stadt ist Southampton. Heute ist der achte August im Jahre des Herrn 1172.«

Trudy stieß mit dem Fuß die Tür auf Sie trug ein Tablett, auf dem sich ein Stück Fischpastete und ein Krug Wasser mit einem Holzbecher befanden.

»Na, fällt Ihnen schon was ein?«

Die Unbekannte schüttelte den Kopf.

»Dann stärken Sie sich erst einmal.«

Doch so sehr die junge Frau sich auch anstrengte, sie konnte sich einfach nicht erinnern. Nicht daran, wie sie hieß, wer sie war, woher sie kam oder wohin sie wollte. Der freundliche Spanier hatte ihr noch einige Zeit Gesellschaft geleistet, bis die Erschöpfung sie erneut überkam und sie wieder eingeschlafen war. Jetzt war sie erwacht, und es war dunkel. Der tiefen Stille nach zu urteilen, war es mitten in der Nacht. Der Mond warf ein fahles, unwirkliches Licht in das Zimmer. Wer war sie? Sie betrachtete ihre Hände. Dies waren nicht die Hände einer Bäuerin. War sie von edler Geburt? Oder vielleicht war sie eine Bürgerin oder auch nur eine Zofe? Ihr Blick wanderte durch den Raum. Neben der Tür stand ein Tisch mit einer Waschschüssel und darunter ein Nachttopf. Es war eine sehr schlichte Gästekammer einer bescheidenen Schenke, und sie lag auf einem Strohlager mit schlecht gelüftetem Bettzeug. Dort stand der Stuhl, auf dem der Spanier gesessen hatte. Rinaldo della Rosa del Ranguano war ein ungewöhnlicher Mann. Er war sehr groß und sehr dick, und seine Stimme hätte die einer Frau sein können. Aber er schien ein Freund zu sein und einer, der zudem kein körperliches Interesse an ihr hatte. Die versammelten Männer des Dorfes hatten sie vorhin mit ihren lüsternen Blicken regelrecht ausgezogen. War sie eines Mannes Frau? Hatte sie Kinder? Ergebnislos kreisten ihre Gedanken, bis es anfing zu tagen.

Die Wirtin hatte ihr das Unterkleid der Tochter überlassen. Ihr eigenes war nicht mehr zu gebrauchen. Aber das cremefarbene Kleid, in dem sie angespült worden war, war aus festem Leinen, und wenn es geflickt wurde, konnte sie es noch tragen. Sie saß dem Spanier gegenüber in der Schankstube. Sie waren allein, die Männer des Dorfes gingen ihrer Arbeit nach, und nur ein zahnloser Greis saß am Fenster im Sonnenschein und murmelte leise unverständliche Dinge vor sich hin.

»Haben Sie vielleicht etwas geträumt, Mademoiselle, das ein Hinweis sein könnte?«

»Nein. Gar nichts. Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße.«

»Dann müssen wir Ihnen einen Namen geben, bis Sie sich erinnern. Jeder Mensch braucht einen Namen.«

Ja, sie brauchte einen Namen. Sie fühlte sich, als wenn sie gar nicht richtig existierte.

Der Spanier kniff die Augen zusammen und sagte dann: »Wie wäre es mit Viviana? Es heißt ›die Lebendige‹. Ich finde es passend, schließlich sind Sie dem Meer entkommen.«

»Viviana.« Ihre Lippen formten lautlos den Namen. Er gefiel ihr. Ja, sie würde sich Viviana nennen, bis ihr ihr richtiger Name wieder einfiel. Sie lächelte den Spanier an.

»Ich bin Viviana. Es ist schön, Sie kennenzulernen, Señor Rinaldo. Oder wollen wir doch lieber ein bisschen weniger förmlich sein?«

»Sehr gut!« Er strahlte sie an, und sie fand sein freundliches, etwas aufgedunsenes Gesicht sehr liebenswert.

»Also, Viviana, lass uns das Wenige herausfinden, was es über dich zu wissen gibt. Dies ist das Kleid, das du getragen hast, als du an den Strand geschwemmt wurdest?«

»Ja, ich habe nichts Bemerkenswertes daran finden können. Es ist sehr schlicht, aber die Qualität ist gut, sonst hätte es allem nicht so gut standgehalten.« Viviana blickte an sich herunter. »Es ist aber sicher nicht das Kleid einer noblen Dame.«

Sie streckte ihre Hände über den Tisch.

»Schwere Arbeit habe ich mit meinen Händen aber nicht verrichtet.«

Der Spanier betrachtete ihre Hände eingehend und nickte.

»Ich habe nachgefragt. Es ist bisher keine Kunde von einem gesunkenen Schiff ins Dorf gelangt. Nachrichten von einem Schiffsunglück verbreiten sich schnell an der Küste. Immerhin besteht dann die Chance, lohnendes Strandgut zu finden«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.

»Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich habe mir letzte Nacht den Kopf zermartert. Ich spreche Französisch, und wahrscheinlich bin ich über den Kanal gekommen. Ich spreche aber auch sehr gut Englisch, und vielleicht lebe ich hier und bin nur bei einer Ausfahrt über Bord gefallen? Oder ich bin einfach unachtsam gewesen und von einer Klippe gestürzt und ein Stück abgetrieben?«

»Wenn du hier aus der Nähe kommst, dann müsste eigentlich bald eine Nachricht eintreffen, dass du vermisst wirst.«

Kapitel 2

»Das ist sehr unbefriedigend, meine Herren!« Der Kardinal schlug unwirsch mit seiner fleischigen Pranke auf den Tisch. Julian pflichtete ihm im Stillen bei.

Letzte Woche war Godefroy Helmet mit aufgeschlitzter Kehle zwischen Westminster und London aus der Themse gefischt worden. Einen Tag zuvor hatte er Julian erzählt, dass im Umfeld des Königs eine Verschwörung geplant wurde. Er konnte noch keine Details oder Namen nennen, aber er war sich sicher, bald mehr Informationen zu bekommen. Julian hatte der Sache keine Bedeutung beigemessen. Godefroy verstieg sich gerne in wilde Theorien, die sich bisher noch nie bewahrheitet hatten. Er war ein Beamter aus einer anderen Ära, der mit den modernen Verfahrensweisen der Geheimen Kanzlei Henrys II. überfordert war. Der Kardinal hatte ihn jedoch weiter im Dienst behalten und mit einfachen Aufgaben betraut – ein Gnadenbrot. Doch jetzt war Godefroy tot, und der Kardinal forderte eine Erklärung.

»Ich habe überhaupt keine Hinweise auf eine Verschwörung«, wiederholte Gilbert Miller zum dritten Mal. Sie drehten sich im Kreise. Julians Blick wanderte über die vertäfelte Wand hinter Miller. In der linken Ecke der Paneele war eine schmale Geheimtür versteckt. Am unteren Rand warf sie jedoch einen hauchdünnen, kurzen Schatten, der nicht zu dem verschlungenen Schnitzmuster gehören konnte. Dort hatte das Holz gearbeitet, sodass sich ein schmaler Spalt gebildet hatte. Außerdem war eine der Rauten auf halber Höhe etwas dunkler als die anderen. An dieser Stelle wurde offenbar der Mechanismus bedient, der die Tür öffnete. Durch die Benutzung hatte sich das Holz verfärbt. Wenn er eine geheime Tür in seiner Halle hätte, würde er sie nur mit Handschuhen bedienen, dachte Julian. Seine scharfe Beobachtungsgabe war vom Kardinal wiederholt gelobt worden, aber Julian konnte nicht recht auf etwas stolz sein, was für ihn selbstverständlich war. Natürlich kam ihm dieses Talent bei seiner derzeitigen Beschäftigung sehr zugute. Aber wenn er musikalisch gewesen wäre, wäre er vielleicht Barde geworden und nicht Agent des Königs von England.

Gleich würde Adam Brentaux, ebenfalls Agent des Königs, abermals auf die Informationen vom Festland hinweisen.

»Sollten wir nicht zumindest dem Hinweis aus Calais nachgehen? Was, wenn dieser Kurier tatsächlich nächste Woche in See stechen will? Wir müssen ihn abfangen, ehe er an Land geht.«

Julian ritzte mit seinem Daumennagel Linien in das Holz des Tisches, an dem die fünf Männer saßen. Es würde schwierig werden, einen feindlichen Kurier zu ergreifen, von dem sie weder eine Beschreibung noch seinen Namen hatten. All das waren wilde Vermutungen ohne viel Substanz. Vielleicht war Godefroy schlichtweg das Opfer eines Raubüberfalls geworden, und dieser Informant wollte sich nur ein bisschen Geld dazuverdienen und hatte ihnen einen Bären aufgebunden. Und deshalb, weil diese beiden Dinge kurz nacheinander passiert waren, saßen sie hier nun schon seit einer Stunde herum.

»Adam, Sie werden sich der Sache mit Godefroy annehmen. Ich erwarte bis nächste Woche erste Ergebnisse.« Der Blick des Kardinals traf auf Gilbert Miller.

»Und Sie werden diese französische Geschichte überprüfen. Gibt es diesen Kurier, wer ist es, wann kommt er nach England, was will er hier, wer ist sein Auftraggeber, wer sind seine Verbündeten? Alles klar?«

»Sollte nicht lieber ich der Fährte aus Calais nachgehen?«, fragte Adam Brentaux zaghaft, und auch Gilbert Miller sah alles andere als erfreut aus.

»Nein, es bleibt so!«

Julian betrachtete Gilbert Millers säuerlichen Gesichtsausdruck mit einem Gefühl der Genugtuung. Es war ein seltener Augenblick ausgleichender Gerechtigkeit. Miller war ein Drückeberger und wälzte gerne Aufträge auf seine Kollegen ab. So hatte er es Julian zugeschoben, in der kommenden Woche eine Mätresse des Königs sicher und unauffällig nach Devon zu bringen. Eine lästige Aufgabe, denn eigentlich musste Julian seine Ermittlungen gegen einen flüchtigen Knecht abschließen, der in London untergetaucht war. Aber die Wünsche des Königs standen natürlich über allem. Was Adam Brentaux betraf, so war es allgemein bekannt, dass er eine Geliebte in Dover hatte und jede Gelegenheit nutzte, an die Küste zu reisen. Offenbar hatte der Kardinal allmählich genug von diesen vorgeschobenen Ermittlungsreisen.

Julians Blick wurde vom fünften Mann am Tisch, Simeon, eingefangen, der hinter seinem buschigen Bart grinste. Julians Mundwinkel zuckten ebenfalls.

Simeon grinste immer noch, als er mit Julian wenig später den gepflasterten Hof in Richtung Stallungen überquerte.

»Das geschieht Miller recht! Der kann jetzt schön nach einer Nadel im Heuhaufen suchen, während der Kardinal ihm im Nacken sitzt. Wer weiß, ob an der Sache überhaupt etwas dran ist.«

»Wäre nicht das erste Mal, dass sich irgendjemand etwas ausgedacht hätte.«

»Wann brichst du nach Devon auf?«

»Montag.«

»Freu dich doch, eine nette Reise in angenehmer Begleitung.«

Julian blieb stehen und blickte seinen Freund einen Moment ausdruckslos an. Simeon brach in Gelächter aus. Julian setzte seinen Weg fort.

»Willst du heute Abend zum Essen kommen? Wir haben eines der Schweine geschlachtet, und Janet macht Braten. Wir haben genug.«

»Das hört man einen Vater von fünf Kindern auch nicht so oft sagen.«

»Stimmt, du solltest also diese seltene Gelegenheit auf jeden Fall nutzen, Julian.«

»Ich komme nur, wenn Janet nicht wieder eine passende Braut für mich eingeladen hat!«

»Keine Sorge, so viel Braten ist auch wieder nicht da.«

Sie hatten die Stallungen erreicht, und Julian rief nach dem Knecht. Kurz darauf führte der Stalljunge einen kräftigen Dunkelfuchs ins Freie. Julian nahm die Zügel und schwang sich in den Sattel.

»Bis heute Abend dann.«

Simeon blickte Julian nach, als er vom Hof ritt. Er teilte die Ansicht seiner Frau Janet, die fand, dass Julian White endlich wieder heiraten sollte. Julian war ein gut aussehender Mann mit großartigen beruflichen Möglichkeiten. Er war der jüngere Sohn eines niederen Landadeligen. Durch Ehrgeiz und Geschick hatte er es im Dienst der Krone schnell weit gebracht. Julian war ausgesprochen intelligent und wissensdurstig. Er konnte lesen und schreiben, sprach mehrere Sprachen und hatte sich ein umfassendes Wissen angelesen. Außerdem hatte er geschliffene Manieren und konnte sich auch auf dem glatten Parkett des Königshofes sicher bewegen. Seiner bescheidenen Herkunft war er bereits um Längen entwachsen, und doch legte er auf seine soziale Stellung nur dann Wert, wenn es ihm für seine Arbeit dienlich war. Und seine Arbeit schien das Einzige zu sein, das Julian interessierte, seitdem seine Frau Aelia vor sechs Jahren spurlos verschwunden war. Ausgerechnet diese Angelegenheit hatte er nicht aufklären können. Simeon fragte sich, als er schließlich ebenfalls auf sein Pferd stieg und sich auf den Heimweg machte, ob Julian nicht doch heimlich immer noch nach ihr suchte.

Vom nahe gelegenen Anwesen des Kardinals war Julian nach Westminster geritten, um am Königshof die letzten Details seiner Reise nach Devon zu besprechen. Die eigentliche Organisation wurde von einem der königlichen Reisemarschälle übernommen, aber Julian war letztendlich für die Sicherheit von Miss Marguerite verantwortlich, und daher hatte er nicht nur die Planung, sondern auch die einzelnen Personen der Eskorte genauestens überprüfen wollen. Nichts wäre seiner Karriere weniger förderlich, als wenn er versehentlich eine Gespielin König Henrys verlieren würde. Die ganze Angelegenheit hatte wie immer länger gedauert als nötig, und er war jetzt hungrig und wollte London erreichen, ehe die Stadttore schlossen und er mit der Wache herumdiskutieren musste. Es dämmerte bereits, und er konnte aus der Entfernung die Lichter der großen Stadt sehen. London sprengte bald seine Festungsmauern, denn die Stadt war Anziehungspunkt für Handwerker und Händler und für alle, die auf der Suche nach ihrem Glück waren. Entlaufene Leibeigene konnten, wenn sie ein Auskommen fanden, nach einem Jahr die Freiheit erlangen. Aber natürlich kamen auch zahlreiche Diebe und Halsabschneider, und die Verbrechensrate war hoch. Das war jedoch das Problem der Londoner Bürgerschaft und nicht Julians, der ausschließlich die Interessen König Henrys vertrat. Er würde Simeons Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um den nichtsnutzigen Kerl zu finden, der mit den wenigen Einnahmen eines kleinen Kronguts bei Reading nach London durchgebrannt war. Es war nur eine geringfügige Summe, da der Handel auf dem Land fast immer noch ausschließlich in Sachwerten und Naturalien stattfand. Aber der Mann hatte den König bestohlen, und darauf stand üblicherweise die Todesstrafe.

»Sir, bitte eine milde Gabe für eine arme, alte Frau.«

Am Straßenrand stand eine gebeugte, in Lumpen gehüllte Person und streckte die Hand aus. Julian hielt sein Pferd an und blickte auf die ausgestreckte Hand.

»Bitte eine kleine Gabe, Gott wird es vergelten«, wiederholte die weinerliche Stimme.

»Wird Gott dir auch vergelten, dass du die Mildtätigkeit deiner Mitmenschen ausnutzt?«

Die zerlumpte Gestalt wurde plötzlich steif, und das Gesicht, das sich Julian nun zuwandte, war erstaunlich jung. Es war das schmutzige, blasse Gesicht eines Jungen von etwa zehn Jahren. Julian wartete darauf, dass der kleine Betrüger schnell das Weite suchen würde, aber er stand regungslos da und blickte ihn furchtsam an.

»Willst du hier etwa stehen bleiben, bis der Nächste des Weges kommt, den du anlügen kannst?«

»Nein, Sir.«

»Dann mach dich davon.«

Der Junge setzte sich in Bewegung, und es war sofort erkennbar, dass er lahm war. Mühsam zog er ein Bein nach. Julian bekam Mitleid.

»He, Bursche!«

Die zerlumpte Gestalt blieb stehen.

»Warum tust du so, als wenn du ein altes Weib wärst? Du hast es ja tatsächlich schlecht getroffen.«

»Als Junge bekommt man nicht viel, auch nicht, wenn man ein Krüppel ist.«

Julian sah ihn unter gerunzelten Brauen an und glitt schließlich aus dem Sattel. Das Kind machte eine erschrockene Bewegung rückwärts.

»Ich tu dir nichts, keine Sorge. Aber du könntest etwas für mich erledigen.«

»Ich?«

»Ja, du. Kennst du dich aus in der Stadt?«

»Ja, Sir. Ich bin in London geboren!«

»Gut. Ich suche jemanden. Wenn du herausfinden kannst, wo sich die Person aufhält, bekommst du das.« Julian zog eine Silbermünze aus seinem Beutel. Die Augen des Jungen weiteten sich, und er nickte eifrig.

»Ich suche einen Mann aus Reading. Er ist noch nicht lange in der Stadt und war Knecht auf einem Gut. Er ist nicht arm, aber er ist auch kein Edler.«

Wieder nickte das Kind und blickte aufmerksam in Julians Gesicht.

»Solltest du den Mann finden, sagst du ihm nicht, dass ich ihn suche, verstanden? Du kommst gleich zu mir. Ich werde bis morgen bei Mister Simeon in der Eastlane sein. Alles klar?«

»Ja, Sir.«

Julian schwang sich wieder auf sein Pferd und ritt durch das Stadttor, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wenig später überließ er den Fuchs Simeons Ältestem und betrat das Haus seines Freundes. Simeon hatte mit seiner Frau Janet eine gute Partie gemacht und in eine Handwerkerfamilie eingeheiratet. Er selbst war nur der Sohn eines freien Bauern. Sein Vater hatte ihn als Oblaten in ein Kloster gegeben, um nicht noch ein hungriges Kind durchfüttern zu müssen. Mit vierzehn Jahren hatte Simeon jedoch vom Klosterleben genug gehabt, war ausgerissen und hatte sich nach London durchgeschlagen. Da er eine gewisse Bildung genossen hatte, hatte er zunächst Arbeit bei einem Kopisten gefunden und war dann auf verschlungenen Pfaden schließlich im Dienste des Königs gelandet. Sein Schwiegervater rümpfte zwar die Nase über Simeons Beschäftigung, aber er brachte gutes Geld nach Hause, und daher konnte man nicht wirklich klagen. Simeon und Janet bewohnten den vorderen Teil des Hauses. Im hinteren Teil, in dem sich auch die Werkstatt befand, wohnten die Schwiegereltern mit der Familie ihres ältesten Sohnes, der die Werkstatt in absehbarer Zukunft übernehmen würde. Es war recht beengt, aber das war in einer Stadt nun einmal so. Als Julian durch die Tür in das Haus trat, wehte ihm schon der Geruch des Schweinebratens entgegen, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Simeon saß an dem großen, runden Holztisch in der Mitte des Raumes. Als Julian eintrat, blickte er auf.

»Da bist du ja endlich. Was hat dich so lange aufgehalten?« Julian ließ sich seufzend auf einen der Stühle fallen.

»Miss Marguerites Vorstellungen von einer unauffälligen Reisegesellschaft deckten sich nicht mit meinen.«

Simeon grinste.

»Tatsächlich? Wollte sie einen Elefanten?«

»Fast.«

»Damen haben nun einmal mehr Gepäck als Männer.« Janet stellte einen Krug mit frisch gezapftem Bier vor Julian.

»Aber müssen es tatsächlich acht Packtiere sein und ein Schoßhund, der nicht einmal allein laufen kann?« Julian stöhnte. Janet legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

»Damen ziehen sich einfach öfter um.«

»Wer sich oft auszieht, muss sich eben auch öfter wieder anziehen.«

»Simeon!«, tadelte ihn seine Frau und verschwand wieder in der Küche.

»Wann kommt denn das Nächste?« Julian streckte seinen sehnigen Körper und gähnte. Es war spät, und sie hatten ein reichhaltiges Mahl genossen: fetten Schweinebraten, frisch gebackenes Brot und Zwiebelgemüse. Zum krönenden Abschluss und zur Begeisterung der Kinder hatte Julian eine kleine Tüte Honigküchlein aus Westminster mitgebracht.

»Im Herbst.«

»Wird bald ein bisschen eng da oben, was?« Julian machte eine Kopfbewegung zum Zwischenboden über der Küche, auf dem die Kinder schliefen. Es war ein angenehmer, warmer Platz, besonders im Winter, aber bereits für die vier Kinder war es deutlich zu eng. Das Jüngste schlief noch bei seinen Eltern im Bett, deren Schlafzimmer ein mit Brettern vom Wohnraum abgetrennter Verschlag war.

»Ja, wir werden anbauen müssen, das nützt alles nichts«, sagte Simeon und sah wenig begeistert aus.

»Ich muss diesen Knecht aus Reading noch finden, ehe ich nach Devon aufbreche. Wenn es jetzt nicht klappt, wird die Spur kalt sein, ehe ich zurückkomme.«

»Der kann überall sein. London ist riesig.«

»Deshalb wirst du mir helfen.«

»Ich habe es geahnt.«

Plötzlich klopfte es leise an der Tür. Simeon stand stirnrunzelnd auf, griff einen großen Knüppel, der neben dem Eingang stand, und fragte halblaut, um seine Familie nicht zu wecken: »Wer da?«

»Ich suche den Mann auf dem dunklen Fuchs.«

Julian stand ebenfalls auf.

»Es ist gut, du kannst die Tür öffnen.«

Simeon schob den Riegel zurück, ohne den Knüppel aus der Hand zu legen. In dem spärlichen Licht, das nach draußen auf die Straße fiel, war die Gestalt des Lumpenjungen zu erkennen.

»Deine Informanten werden immer jünger«, bemerkte Simeon und stellte seine hölzerne Waffe wieder neben die Tür.

»Komm rein.«

Der Junge humpelte in die Wohnstube.

»Also, was hast du herausgefunden?«

Es rührte Julian, wie das Kind sich bemühte, Haltung anzunehmen, als wenn es zu einem offiziellen Appell anzutreten hätte.

»Ein Joseph aus Reading ist in der ›Turmschenke‹ abgestiegen.«

»Und woher weißt du, dass das der Mann ist, den wir suchen?«, fragte Simeon, der bei genauerem Hinsehen den verlausten Nachwuchsspion nicht so gerne in seinem Wohnzimmer haben wollte.

»Das Sattelzeug seines Pferdes ist teuer, aber seine Kleidung ist es nicht. Deshalb glaube ich, dass er das Pferd geklaut hat und Sie darum nach ihm suchen, Sir.«

»Er könnte auch einfach ein bescheidener Mann sein, der sich nicht gerne auffällig kleidet.«

Der Junge warf Simeon einen Blick zu, als könne er nicht recht bei Trost sein. Julian brach in Gelächter aus, verstummte aber sofort wieder, um die Kinder nicht zu wecken.

»Ist das der Mann, den Sie suchen, Sir? Habe ich recht, hat er das Pferd geklaut?«

Julian lächelte.

»Das hast du gut gemacht.«

Das Kind erglühte vor Stolz bei diesem Lob.

»Hier ist deine Belohnung.« Er warf dem Jungen eine kleine Silbermünze zu.

»Soll ich noch jemanden finden, Sir?«

»Nein danke, der eine reicht mir.«

»So, nun raus mit dir, Bengel. Geh nach Hause zu deiner Mutter.« Simeon scheuchte das Kind zur Tür.

»Ich sorge für mich selbst!«

»Das sehe ich. Los, es ist schon spät.«

Simeon schob den Jungen aus der Tür, ehe er noch protestieren und erneut seine Dienste anbieten konnte.

»Du bist dir aber sehr sicher, dass er die Wahrheit sagt«, bemerkte Simeon, als er sah, dass Julian dabei war, sich sein Schwert umzugürten.

»Der Knecht ist nicht nur mit der Silbertruhe durchgebrannt, sondern auch noch auf dem Pferd des Verwalters. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er es ist. Und wenn er es nicht ist, hat der Zwerg sich wenigstens bemüht.«

»Wenn ich für meine Bemühungen auch so gut bezahlt würde, wäre ich ein reicher Mann«, brummte Simeon.

»Das glaube ich nicht, mein Lieber, denn du hättest ja nicht einmal das Missverhältnis zwischen der Ausstattung des Pferdes und des Reiters bemerkt!«, antwortete Julian in Anspielung auf den – zugegeben unverschämten, aber doch sehr komischen – Blick des Jungen auf Simeon.

»Na gut, dann lass uns gehen und den Kerl bei der Wache abliefern.«

Kapitel 3

Als die kleine Reisegesellschaft Westminster schließlich verließ, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Julian hatte gegen besseres Wissen gehofft, dass sie zeitig abreisen könnten, aber es hatte diverse Verzögerungen gegeben. Miss Marguerite, eine derzeitige Favoritin des Königs, war überaus anspruchsvoll und genoss es sichtlich, ihre Bediensteten mit Extrawünschen auf Trab zu halten. Julian kannte dieses Verhalten von Aufsteigern, die endlich ihre Macht genießen wollten. Mit stoischer Ruhe wartete er also den halben Vormittag, bis alles gepackt, umgepackt und auf den Maultieren festgezurrt war, bis die Kissen der Sänfte für Miss Marguerite auch bequem genug waren und schlussendlich der entlaufene Schoßhund wieder eingefangen und seiner Besitzerin zurückgegeben worden war. Hoffentlich würden sie die Zeit aufholen können und ihr erstes Etappenziel noch vor der Dunkelheit erreichen, dachte Julian, als er seinen Fuchs zu einer schnelleren Gangart antrieb. Die Straßen nach Westen waren recht gut, und die beiden Zelter, die die Damensänfte trugen, waren kräftige Tiere. Und tatsächlich ging es zunächst flott voran.

»Sir!«

Einer der Bediensteten hatte zu Julian, der an der Spitze ritt, aufgeschlossen und hüstelte nervös. Das war kein gutes Zeichen.

»Was?«

»Miss Marguerite fühlt sich nicht recht wohl und möchte eine Pause machen.«

»Jetzt schon? Wir sind noch nicht einmal eine Stunde unterwegs!«

»Es ist das Schaukeln der Sänfte, das ihr Übelkeit verursacht.«

»Na, großartig.«

Julian wendete sein Pferd, ritt an den Bewaffneten vorbei zur Sänfte und dirigierte sein Pferd neben das Fenster des Tragegestells. Eine weiße Hand zog den gemusterten Vorhang beiseite und gab den Blick auf die Insassin frei. Miss Marguerite lag theatralisch zurückgelehnt in den zahlreichen Kissen. Es schien, als wenn das Öffnen des Vorhangs ihre Kräfte bereits zu übersteigen drohte. Sie war eine sehr schöne Frau von Anfang zwanzig mit goldblonden Locken und himmelblauen Augen. Ihre Haut war schneeweiß und makellos, und ihre sinnlichen Rundungen wurden durch ein enges, dunkelrotes Kleid hervorgehoben. Ihre Lippen waren zu einem koketten und meist sehr wirkungsvollen Schmollen verzogen, das Julian allerdings kaltließ. Vielmehr durchfuhr ihn der wenig schmeichelhafte Gedanke, dass Miss Marguerite so aussah, als wenn sie einmal unansehnlich fett werden würde.

»Ich wünschte, wir würden anhalten, ich kann dieses Schaukeln nicht vertragen.«

»Möchten Sie lieber reiten, Madame?«

»Nein, das ist mir zu anstrengend.«

Julian betrachtete sie und schwieg.

»Ich kann nicht mehr in dieser beengten Sänfte sitzen und durchgeschaukelt werden!«, jammerte Marguerite.

»Was schlagen Sie dann vor, Madame?«

»Das weiß ich doch nicht! Aber mir ist übel, und zu heiß ist es hier drin ebenfalls.«

Gleich würde sie zornig werden, weil er nicht auf ihre Launen einging. Er wollte sie nicht verärgern, aber es gab nichts, was er tun konnte, und seine Geduld näherte sich gefährlich dem Ende. Noch ehe sie ihm mit ihrer speziellen Beziehung zum König drohen konnte, nahm Julian ihr den Wind aus den Segeln.

»Miss Marguerite, mein Herr hat mich beauftragt, Sie nach Wildemoore zu bringen. Wenn Sie sich außerstande sehen, die Reise zu unternehmen, kehre ich selbstverständlich gerne wieder um und werde ihm das mitteilen.«

Mit einem Ruck wurde der Vorhang zugezogen, und Julian trieb sein Pferd an, um erneut seine Position an der Spitze des Trupps einzunehmen. Er hatte gehofft, sie würden es in gut vier Tagen nach Devon schaffen, aber so, wie es jetzt aussah, würden sie wohl eher fünf Tage brauchen. König Henry plante demnächst dort zu Gericht zu sitzen, und daher rotierte der Hof bereits, damit der König alles vorfände, was er brauchte, inklusive seiner derzeitigen Lieblingsmätresse. Der Kardinal hatte Julian vor Miss Marguerite gewarnt. Sie sei mannstoll, und er solle sich vorsehen, dass sie ihn nicht in Schwierigkeiten brächte. Julian hatte nicht das geringste Bedürfnis, in Marguerites wohlgerundete Arme zu fallen. Es war lange her, dass er eine Frau anziehend gefunden hatte, und diese Frau war seine eigene gewesen.

Die ersten drei Tage der Reise waren ereignislos verlaufen. Miss Marguerite hatte eingesehen, dass Julian nicht willens war, ihre Spielchen mitzuspielen, und hatte ihn in Ruhe gelassen. Mit etwas Glück würden sie morgen Henrys Gut in der Nähe von Exeter erreichen. Dann könnte er seine anstrengende Fracht wohlbehalten abliefern und sich wieder wichtigeren Dingen zuwenden, das hoffte Julian, als sie am Spätnachmittag auf den staubigen Hof einer großen Gastwirtschaft ritten. Zwei Knechte kamen angelaufen, um die Pferde zu übernehmen und das Treppchen der Sänfte auszuklappen. Julian reichte Marguerite die Hand und geleitete sie in die Halle des imposanten Holzhauses.

»Herzlich willkommen, Herrschaften, wir haben Sie schon erwartet. Bitte hier entlang.« Der Wirt, ein untersetzter Mann mit einem mächtigen schwarzen Vollbart, ging voran und öffnete die Tür zu einer privaten Gaststube. Es war ein gemütlicher Raum, mit einem gold und grün gestreiften Fußboden, und die niedrige Decke war in den gleichen Farben, aber mit einem Rautenmuster bemalt. An den Wänden hingen bunte Teppiche, und auch die Einrichtung war sehr geschmackvoll. Marguerite nahm in einem Sessel am Feuer Platz, und der Wirt reichte ihr einen Becher Wein.

»Wann darf ich das Essen servieren?«

»In einer halben Stunde«, sagte Julian. Der Wirt verbeugte sich und ging.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen, Madame? Ihr Mädchen wird sicher gleich kommen, wenn das Gepäck abgeladen ist.«

Marguerite drehte sich zu ihm um und blickte ihn aus ihren himmelblauen Augen an.

»Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten, Julian?«

Julian hob überrascht die Augenbrauen. Warum suchte sie plötzlich seine Gesellschaft? Vielleicht wollte sie nur freundlich sein, aber das Verhalten, das sie bisher an den Tag gelegt hatte, sprach dagegen. Da er nicht unhöflich sein wollte, nickte er und setzte sich.

»Jetzt reisen wir schon seit Tagen miteinander und kennen uns gar nicht.«

»Nun, ein bisschen kennen wir uns schon«, sagte Julian vorsichtig und dachte, dass ihm ihre bisherige Bekanntschaft völlig ausreichte.

»Wie lange sind Sie bereits im Dienste Seiner Majestät?«

»Schon einige Jahre.«

»Begleiten Sie immer die Damen des Königs auf Reisen, Julian?« Sie zwinkerte ihm kokett zu. Es gefiel ihm nicht, dass sie ihn so vertraulich anredete, und er hatte das ungute Gefühl, dass sie mit ihm flirten wollte. Er durfte ihr nicht die Führung des Gespräches überlassen.

»Aus welchem Teil des Landes kommen Sie, Miss Marguerite?«

»Ich komme aus Kent.«

»Sind Sie mit den Belmonts bekannt?«

Im weiteren Verlauf der Unterhaltung ließ er ihr keine Zeit mehr für Koketterien und befragte sie nach Orten und Personen und Sehenswürdigkeiten. Marguerites Mädchen machte ihrem Gespräch schließlich dankenswerterweise ein Ende, indem sie verkündete, dass Madames Gepäck ausgepackt sei, und fragte, ob sich Madame nicht umziehen wolle. Julian atmete erleichtert auf, als Marguerite das Zimmer verließ, und ging, um die Unterbringung seines Pferdes zu kontrollieren. Er musste vorsichtig sein, denn ein falsches Wort gegenüber Marguerite würde ihn in Teufels Küche bringen. Außerdem konnte er die verwöhnte, junge Frau nicht leiden, die nichts als ihre pralle Jugend zu bieten hatte, und die würde schnell genug vorbei sein.

Das Knarren der Tür ließ Julian aus dem Schlaf hochfahren.

»Wer ist da?« Seine Hand glitt unter das Kissen zu seinem Dolch.

»Ich bin es bloß.«

Julian war schlagartig hellwach.

»Was machen Sie hier, Miss Marguerite, ist etwas passiert?«

Im gleichen Augenblick ließ sie ihren Umhang fallen und stand plötzlich nackt vor ihm. Ihr Körper glänzte weiß in der Dunkelheit.

Julian zog scharf die Luft ein. Marguerite missdeutete seine Reaktion und lächelte verführerisch.

So schnell er konnte, schlüpfte Julian in seine Hose.

»Madame, bitte gehen Sie wieder.«

Sie stand an der Tür und ließ ihre Hände über die Rundungen ihres Körpers und zwischen ihre Beine gleiten. Dann steckte sie den Mittelfinger ihrer rechten Hand spielerisch in den Mund und sog daran. Gegen seinen Willen regte sich Julians Männlichkeit.

»Nein, nein, nein, Sie müssen sich sofort wieder anziehen und zurück in Ihr Zimmer gehen!«

»Komm schon, Julian, du willst es doch auch.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Es war so gut wie unmöglich, eine Frau abzuwehren, die man nicht anfassen sollte, und wehtun durfte er ihr auch nicht. Julians Gedanken rasten. Wenn er sie ablehnte, würde sie ihm das übel nehmen, wenn er sie in sein Bett ließ, machte er sich des Hochverrats schuldig. Es war eine Situation, in der er nicht gewinnen konnte.

»Es wird unser Geheimnis bleiben, Julian«, flüsterte Marguerite und streckte ihm aufreizend ihre vollen Brüste entgegen. Sie machte einen Schritt vorwärts, und Julian wich an das Fenster zurück.

»Was ist los, Julian, willst du mich nicht? Verschmähst du etwa, was gut genug für den König ist?«

Er registrierte die unterschwellige Drohung sehr wohl. Wenn er nicht einwilligte, würde sie ihm Schwierigkeiten bereiten. Marguerite war jetzt dicht an ihn herangetreten, um sich an ihn zu schmiegen. Julian hielt sie an beiden Armen fest, um sie sich vom Leib zu halten.

»Los, zeig mir, was für ein Mann du bist«, gurrte Marguerite und versuchte, ein Bein um ihn zu schlingen. Die Situation war grotesk, und er musste dem sofort ein Ende bereiten.

»Genug jetzt!«, sagte er energisch und schob sie zurück zur Tür.

»Aua!«

»Gehen Sie jetzt bitte, Madame.«

»Nein!« Wütend stemmte Marguerite die Hände in die Hüften.

Er konnte sie nicht mit Gewalt hinausbefördern, ohne Aufsehen zu erregen.

»Ich werde sagen, dass du mich in dein Zimmer gezwungen hast! Und der König wird ja wohl eher mir glauben als dir.«

Er war sich nicht so sicher, dass König Henry, ein mit allen Wassern gewaschener Mann, seiner Mätresse diese Geschichte abkaufen würde, aber Julian wollte das Risiko nicht eingehen.

»Gut, wenn Sie unbedingt hierbleiben wollen.« Er drehte sich um und war so schnell aus dem Fenster geklettert, dass Marguerite ihn nicht daran hindern konnte. Sein Zimmer lag im ersten Stock, aber direkt darunter war das Vordach der Eingangshalle. Von dort war der Sprung in den Hof nicht gefährlich. Als er sich umdrehte, sah er sie am Fenster stehen, eine Hand zur Faust geballt. Zum Teufel, genau so eine Situation hatte er vermeiden wollen, dachte Julian, als er in Richtung Stall ging, um das Lager mit seinem Pferd zu teilen.

Kapitel 4

Es war der dritte Tag nach ihrer Rettung, und Viviana saß draußen an der dem Meer abgewandten Seite der Schenke. Die Hauswand in ihrem Rücken war warm, und sie blinzelte in die Sonne. Neben sich hörte sie die Bienen in den wilden Rosen summen und hoch am strahlend blauen Himmel das Schreien der Möwen. Die Luft roch in dieser warmen, windstillen Ecke aromatisch nach Salz und Tang. Nachdenklich grub sie mit ihren nackten Füßen im feinen Sand. Niemand schien sie zu vermissen, es gab keinerlei Hinweise darauf, wo sie hergekommen sein könnte, und sie konnte sich noch immer an nichts erinnern. Der weiße Sand rieselte zwischen ihren braunen Zehen hindurch und über ihre blassrosa Nägel. Dies waren nicht die Füße einer Frau, die lange Wege barfuß oder in schlechtem Schuhwerk gegangen war. Wer war sie? Eines stand fest: Sie konnte hier nicht bleiben. Aber sie wusste auch nicht, was zu tun war. Sie hatte kein Geld. Das dringendste Problem war, irgendwie ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ehe sie überhaupt daran denken konnte, Nachforschungen anzustellen. Für die Männer im Dorf war sie wie Freiwild, und wenn Gott ihr nicht den Spanier als Freund geschickt hätte, wäre es schlecht um sie bestellt. Eine mittellose Frau und ganz allein, das war eine leichte Beute. Rinaldo hatte seinen Aufbruch nach Saint Albans verschoben, um hier mit ihr eine Welle abzuwarten. Aber keiner hatte nach ihr gefragt, und sie wusste, dass er bald weiterziehen wollte. Ihre Füße schoben den Sand zu einem kleinen Wall zusammen. Wenn Rinaldo ginge, wäre sie völlig schutzlos.

»Ein schöner Tag.«

Viviana blickte auf. Der Spanier kam auf sie zu.

»Ja, es ist wunderschön.«

Rinaldo räusperte sich.

»Viviana, wie du weißt, habe ich einen Eid geschworen, diese Pilgerfahrt zu machen. Wenn das nicht so wäre, könnte ich hier noch länger mit dir abwarten.« Er räusperte sich wieder. »Ich kann dich aber auch nicht einfach hier zurücklassen.«

Viviana wollte etwas sagen, aber er machte eine Handbewegung und sprach weiter.

»Ich habe nachgedacht. Gott hat uns sicher nicht grundlos hier zusammengeführt, und wenn du mit mir nach Saint Albans gingest, wird der Heilige dir vielleicht dein Gedächtnis zurückgeben.«

»Du willst mich mitnehmen?«

»Ich kann verstehen, wenn du nicht möchtest.«

»Doch, doch. Aber ich habe nichts, womit ich die Reise bezahlen könnte.«

»Wenn wir uns einschränken, wird das Geld bestimmt reichen.«

»Ich komme sehr gerne mit, und ich werde auch sicher einen Weg finden, dir alles zurückzuzahlen.« Impulsiv griff sie nach seiner großen Hand und drückte sie dankbar.

Der Spanier war hocherfreut und machte ganz den Eindruck, als würde sie ihm und nicht umgekehrt einen Gefallen tun.

»Gut, dann gebe ich der Wirtin Bescheid, dass wir morgen abreisen.«

Viviana sah ihm nach. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass Rinaldo befürchtet haben könnte, sie würde sein Angebt ablehnen. Seine merkwürdige Erscheinung machte ihn zu einem Außenseiter, dem oft mit Spott oder Ablehnung begegnet wurde. Vielleicht brauchte auch er genau wie sie einen Freund. Viviana schloss die Augen und sog die Meeresluft tief in sich hinein. Es war sehr seltsam, sie hatte keinen Besitz, keine Vorstellung von ihrer Zukunft, und sie kannte nicht einmal ihren richtigen Namen, aber in diesem Augenblick hier in der Sonne hinter den Dünen fühlte Viviana einen tiefen Frieden. Ihr dringendstes Problem hatte sich vorerst gelöst, und durch die Eindrücke einer Reise würde sie sicher auch den Schlüssel zu ihrem Gedächtnis wiederfinden.

Früh am nächsten Morgen standen sie in der Diele und verabschiedeten sich von Trudy. Die Wirtin hatte einen fadenscheinigen Umhang und ein Paar löchrige Schuhe für Viviana aufgetan, die zwar etwas zu groß waren, aber definitiv besser als keine. Rinaldo hatte seine Rechnung bezahlt und darauf bestanden, auch für Vivianas Unterbringung zu bezahlen. Sein Maultier stand im Hof und wartete, doch Trudy hielt sie plötzlich zurück.

»Einen Moment, Miss, ich habe noch etwas.«

Die Wirtin löste das Band des Beutels, der von ihrem Gürtel hing, und nahm etwas heraus. Sie drückte es Viviana in die Hand.

»Hier, das hatten Sie um den Hals. Ich habe es an mich genommen, als ich Sie versorgt habe.«

Viviana betrachtete das kleine Medaillon, das an einer dünnen Silberkette hing.

»Ich habe genau nachgesehen, es ist leer, und es gibt keine Zeichen darauf, die ein Hinweis hätten sein können«, sagte die Wirtin schnell, um sich zu verteidigen. Es war deutlich, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. »Ich dachte, es wäre nur gerecht, für die ganze Arbeit und das Essen und alles.«

»Es ist gut. Danke, dass Sie es mir gegeben haben.«

»War das das Einzige, was Miss Viviana bei sich hatte, oder gibt es da noch andere Dinge?« Der Spanier war verärgert.

»Das war das Einzige, das schwöre ich bei dem Leben meiner Kinder.«

Viviana legte die Kette um ihren Hals und zog Rinaldo am Ärmel.

»Lass uns aufbrechen, Rinaldo.«

Das große, kräftige Maultier trug ihre wenigen Habseligkeiten, während sie beide zu Fuß gingen. Schweigend hatten sie bereits ein ganzes Stück des Weges zurückgelegt, als Viviana unvermittelt sagte: »Was ist, wenn ich mich einfach nie mehr erinnern kann?«

»Es wird wiederkommen, bestimmt.«

»Ich fühle mich so losgelöst von allem. Jeder Mensch hat Familie und weiß, wohin er gehört. Nur ich nicht.«

»Ich gehöre auch nirgendwo hin.«

»Aber du weißt, wo du herkommst.«

»Ja, leider.«