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Stevie Smith

Roman auf gelbem Papier

Aus dem Englischen und mit einem
Nachwort von Christian Lux

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Stevie Smith, Novel on Yellow Paper

Copyright © Hamish MacGibbon 1936
First published in the United Kingdom by Jonathan Cape Ltd. in
1936; first published in the United Kingdom in 1980 by Virago Press,
an imprint of Little, Brown Book Group

Inhalt

Roman auf gelbem Papier

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Casmilus, whose great name I steal,

Whose name a greater doth conceal,

Indulgence, pray,

And, if I may,

The winged tuft from either heel.1

Wenn ich dieses Buch beginne (also nicht das, was sie in meiner Branche darunter verstehen – die meinen damit lediglich ein Heftchen), wenn ich also dieses Buch beginne, möchte ich, wenn es gestattet ist, wenn es gestattet ist (so schreibt Sir Phoebus), dann möchte ich sagen: Lebt wohl denn meine Freunde, meine wunderschönen, lieben Freunde.

Und warum das?

Lies weiter, lieber Leser, lies weiter und finde es selbst heraus.

Hier also bin ich an einem schönen Oktobertag und reite mit Leonie auf der Row2. Nun nimm aber bloß nicht an, dass ich besonders reich wäre. Ich bin lediglich trotzdem hier. Wer das zahlt? Naja, das ist teilweise so: Weißt Du, es gibt günstige Reitpreise auf der Row. Mit billigen Pferden? Nun, nein, auch das eher nicht. Hier also ist mein Pferd. Es ist besser als das Pferd, das ich letztens in Cornwall hatte, das Pferd hieß Kismet. Er hatte einen gesunden Appetit, dieser Kismet. Ohne Unterlass erntete er das Grün. Wie eine Sense bewegte er seinen langen Kopf auf seinem langen, schlangenartigen Nacken. Oh ho Kismet. Er konnte eine Wand schneller von ihrer Pflanzenwelt befreien als irgendein anderes Pferd, das mir je begegnet ist. Er war das riesige Pferd, das das Herzogtum Cornwall verwüstet hat. Das hättest Du sehen sollen, wie sich Kismet auf wachsendes Getreide stürzte. Danach wuchs da im selben Jahr nichts mehr. Nun, Kismet, ich hoffe, dass die Bauern Verständnis hatten, weißt Du?

Das Pferd aber, auf dem ich mich gerade befinde, während Leonie neben mir ganz schick und patent aussieht, dieses Pferd ist ein gutes Pferd. Mit zurückgelegten Ohren tänzelt es seitwärts über die Schatten. Es ist ein heißer, sonniger Tag, und es wirkt wirklich nicht, als würde es bald November werden. Es ist ein heißer, sonniger Tag, doch die Erde riecht, als wäre sie mit Frost überzogen, und das Laub zerbricht und zerspringt und wird unter Deiner Nase und vom Mutterboden aufgewirbelt. So ist das im Oktober. Ich blicke zu Leonie, sie hat geschickte Hände, ihre Beinarbeit aber ist nicht sooo wahnsinnig überzeugend. Leonie ist Jüdin, doch schlank, und sie hat einen Sinn für Schick. Sie sieht sehr elegant aus, trägt einen gelben Pullover und beige Reitstiefel und einen beigen Filzhut. Und wen interessiert’s.

Letzte Woche war ich auf einer Party bei Leonie. Und ich sah mich um. Ich dachte: Ich bin der einzige Goi3 hier. Es war auch ein Typ von der Zeitung da und ein Musiker und einige oberflächliche Geschäftsmänner. Aber die Juden. Nun, alles, was über die Juden zu sagen ist, ist gesagt worden, also belasse ich es dabei. Dann aber geriet ich auf der Party in einen Augenblick des Hochgefühls. Ich drehte richtig auf. Hurra, ein Goi zu sein! Ein cleverer Goi ist cleverer noch als ein cleverer Jude. Und ich bin ein cleverer Goi, der alles im Himmel und auf Erden kennt. In jenem Augenblick des Hochgefühls, von dem ich Dir erzählte, da spürte ich, die einzige lebendige Person in diesem Raum zu sein, die cleverste Person im Raum, der cleverste lebende Goi überhaupt.

Geht es allen Gois unter Juden so? Ja, vielleicht. Und das Gefühl muss man herunterschlucken und sich dafür entschuldigen, derart überlegen und clever zu sein: Ich kann mir nicht helfen, mein Freund, ich bin nun mal ein Goi. Das kommt einfach mit der Geburt. Es ist eine Welt der ungleichen Chancen, im Gegensatz zu B. Franklins Sicht in dieser Sache. Aber vielleicht hat er öffentlich auch einiges heruntergeschluckt und sich dafür entschuldigt, ein Goi zu sein. Und damals gab es ebenfalls Juden. Also schrieb er von Gleichheit und hoffte, dass das reichen würde und hoffte, dass es niemand ernst nehmen würde. Und das tat ja auch niemand.

Ach wie schön es im Oktober in London ist. Und wie schön ist es, lebendig zu sein, ein Goi und ein Londoner. Ich habe viele jüdische Freunde. Deshalb fühle ich mich wie ein Janusgesicht. Keiner außer mir weiß, was ich darüber denke. Ich verhalte mich aber, als wüssten sie es, und ich muss es hinunterschlucken und mich entschuldigen und darf nicht so erscheinen, als würde ich mir den glücklichen Unfall einer nordischen Geburt als eigene Leistung anrechnen. Es gibt nichts Hochmütigeres als diese unechte Bescheidenheit, und nichts, was so viele Probleme verursacht hat, und nichts, was auf alle Zeit weiterhin so viele Probleme bereiten wird, so lange es Dinge gibt. Still jetzt, ach still. Hatte ich nicht gesagt, dass alles, was zu sagen wäre, bereits gesagt sei?

Der Gedanke, der in mir aufsteigt, während ich auf diesem Pferd reite, das seine Ohren nach hinten legt und über die Schatten tänzelt und voller Hass und Panik auf die weißen Begrenzungspfähle blickt, ist der Gedanke, der alles umfasst, was ich in diesem Buch sagen will, es ist der Gedanke, der in mir wie ein Wurm arbeitet, wie ein Darmwurm, der seine alexandrinische Länge über jene 500 Yard-Linie voller Sorgen und Nöte zieht und schleppt. Als ich ein junges Kind war, habe ich das Buch Mrs. Haliburton’s Troubles4 gelesen. Manchmal glaube ich, dass ich zu viel gelesen habe. Da waren zum einen die Wie-reite-ich-ein-Pferd-Hobby-Bücher. Kaum taucht das Wort Reiten auf, muss ich gleich wieder an Kismet denken. Hobby-Pferd hühott! Das Buch Mrs. Haliburton’s Troubles. Ich kann mich an nichts in dem Buch erinnern, außer dass Mrs. Haliburton – vielleicht schrieb man sie auch mit zwei »l« – jede Menge Schwierigkeiten hatte, die sie standhaft und mit unbewegter Miene ertrug, und dass sie bis zum bitteren Ende lächelte, da Gott endlich dazwischen fuhr und alles wieder in Ordnung brachte.

Es gab noch ein weiteres Buch, an das ich mich in bescheidener Dankbarkeit erinnere, auch dieses ein kleines viktorianisches Kunstwerkchen, und der Titel lautet: Lost Sir Massingberd5, was die cleveren Jungs der damaligen Zeit in »Lost Sir Missing-Bird« umtauften. Naja, mach es selbst halt besser. Es geht darin um einen Baronet, der in einer hohlen Eiche auf seinen Ländereien gefangen gerät und dort stirbt. Und wenn Du das Buch liest, siehst Du, wie die Vorsehung alles hübsch fügt, oh ja, und die richtigen Leute auf der richtigen Seite des Unheils versammelt, und die Eiche erwischt schließlich den Missetäter. Die Vorsehung sorgt für dergleichen in den Büchern aus jener Zeit, die ich als Kind in Scaithness, Lincs6 in der Bibliothek meines Großvaters väterlicherseits gelesen habe.

Wie sattsam verrottend lehmig-traurig diese viktorianischen Tage gewesen sind, voller Traurigkeit, die nicht wie die heutige die Nerven durcheinanderbringt. Wie ich diese klammen viktorianischen Wirren liebe. Die Wälder rotten, die Wälder rotten und fallen hin, Der Dunst weint seine Bürden in das Land, Der Mensch bestellt das Feld und liegt darin, Und viele Sommer später stirbt der Schwan.7 Ja, immerfort stirbt jemand, weint jemand, abgestimmt auf das Fallen der Lorbeerblätter und das Tropfen des Wasserhahns und das dünne Flackern der Gasflamme im nasskalten Wintergarten.

Und die Lorbeeren, vor denen es überall auf dem Weg wimmelte, führten dazu, dass einen menschlichen Fuß das Gefühl beschlich, dass hinter alledem etwas stecken musste. Hinter den Lorbeersträuchern lag die Leiche von Sir Vyuyan Markaby, Baronet.

Dann denke ich an die wilden nassen Tage des wilden nassen Lincolnshire des jungen Tennysons. Wie, gab es denn zwei? Ja, aber ich meine jenen, der jünger war als das Schoßtier der alten Queen. Jünger und trauriger. Oh der traurige, süße, übermäßig süße Alfred, so hochmütig, so stolz und so unangenehm.

Und wenn ich an all das denke, überkommt mich eine immense Nostalgie nach einem offenen Abfluss, wie jene gefluteten Auffangbecken zwischen den aufgeweichten Feldern. So wie in diesem Bild aus meiner Kindheit. Wir sind im Sommer stets in eine kleine Hütte am Meer verreist, wo es die Bilder und das saubere grobe Leinenbettzeug gab. Und den Gestank der stickigen Landhauszimmer. Dort hing an einer Wand dieses Bild. Es prangte wie der Finger Gottes. In Lincs hing es, wo wir bei Saltfleet unterkamen. In Norfolk, wo wir bei Heacham unterkamen. Und auch in Suffolk, wenn ich meine Counties richtig in Erinnerung habe, wo wir bei Pakefield unterkamen, überall hing dieses Bild.

Darauf sieht man eine weite überflutete Grasebene, einen rauschenden schlammgelben, aufschäumenden, regengepeitschten Strom, als wären alle Dämme der Welt auf einmal gerissen; er wirbelt, treibt, stößt sich nach vorn, das Ganze ist kaum noch christlich zu nennen, überhaupt nicht christlich, einfach nur das schiere Element in all seiner Wildheit und unverändert zu der Zeit vorm Jahr des Herrn, das die Flut einst zähmte. Und es reitet – Kismet, Du alte Mähre, brrr, sage ich, brrr – es reitet, ruhig, jetzt, ruhig, auf dieser braunen Flut reitet ein Kind. Ein kleines Kind soll sie reiten, in einer Wiege mit einer Katze darauf. Sieh Dir das an, sieh Dir nur diese Katze dort an, vergiss einfach das B-a-b-y, ist diese Katze nicht raffiniert? Allumfassende Trostlosigkeit und ein dunkler Himmel, der einen Regen hinabschickt, der so fest ist, dass man ihn essen könnte. Das Baby in der Wiege auf dieser wirbelnden gelbbraunen Flut macht mir Heimweh.

Diese Kindheitserinnerungen haben Folgen, wie einem die Psychoanalytiker für ein Pfund die Stunde erzählen. Ich habe nichts gegen Psychoanalytiker, die machen nur ihren Job, und wenn ich mir deren Leid vorstelle in Anbetracht all der Dinge, die Bennie in seinem Kopf zusammenklauben konnte, um sie jeden Tag eine Stunde lang auf sie auszugießen, dann ist das ein durchaus hart verdientes Pfund die Stunde. Ob ich Dir von Bennie erzähle? Natürlich erzähle ich Dir von Bennie und all meinen Freunden. Du wirst zurückschauen und Dich noch an das erinnern, was ich zu Beginn des Buches gesagt habe.

Ich schreibe dieses Buch auf gelbem Papier. Es ist sehr gelbes Papier, und es ist deshalb sehr gelbes Papier, weil ich es oft manchmal in meinem Büro auf der Schreibmaschine tippe, und das Papier, das ich für Sir Phoebus’ Briefe nutze, ist blaues Papier, das in der oberen Ecke seinen Namen ›Sir Phoebus Ullwater, Bt.‹ zeigt, und eben diese Briefe von Sir Phoebus gehen hinaus in alle Welt. Und darum tippe ich auf gelbem Papier, ich tippe zu meinem eigenen Vergnügen und sende sie nicht aus Versehen für ein paar Tausend an die Börsenmakler in Tekka Taiping und sende sie nicht mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde an den Polizeichef und sende sie nicht an die Großtante Agatha, um sie zu bitten und sie zu bitten …

Sieh nur, welch gefährliches Terrain ich da betrete. Ich bin eine Privatsekretärin. Und wie geht es Sir Phoebus? Und wie geht es seiner …? und wie geht es …? Es tut mir leid, aber ich kann dazu keine Auskunft geben. Nein, Äußerungen solch großer Tragweite kann ich niemals machen, und das liegt teilweise daran, dass es zu viel der Wahrheit wäre. Es tut mir leid, aber ich kann dazu keine Auskunft geben. Und ich fürchte, ich sollte es können. Und ich fühle mich wie eine verzweifelte Figur. Und dann fallen mir allerlei eilige Aufgaben ein, die ich zu erledigen habe. Da ist zum einen der Job-Job-Job mit den alten Briefen. Dazu braucht es aber das dunkle Gesicht Sir Phoebus’ und der liebe Sir Baronet langweilt sich rasch, genauso wie ich, wenn es um unnötige Jobs geht, die nicht selbst danach rufen, erledigt zu werden.

Und ich sage noch dies und schere mich nicht um die Konsequenzen, Herbert8, dass das, was uns beide verbindet, die glückliche Art und Weise ist, in der wir uns rasch langweilen. Und belaste ich ihn mit dummen, unnötigen Anfragen? Das mache ich nicht. Wir durchfrönen die äußersten Grenzen der Langeweile, er in seinem Zimmer und ich in dem meinen, und taumeln hervor, wenn es Zeit für den Tee wird, weil es irgendwann Zeit werden muss, wie auch immer es zustande kommt, ob er nun über das Haustelefon bestellt wird oder eines der angestellten Mädchen ihn hineinschiebt, das wie ein Gnadenengel in die Orgie der Langeweile bricht, zu der sich meine Seele verpflichtet hat.

Es braucht eine gute Frau, ein gutes Mädchen reicht auch, um einen zurück aus der steinigen Wüste zu holen, die flach auf einen Abhang zuführt, von dem die Seele an einem Faden über dem Abgrund baumelt. Und was erwartet uns unten? Die Hölle. Und sag mir nun nicht, Du glaubst nicht an die Hölle, sonst wird die Hölle Dir Dein Lachen im Halse verdrehen. Und an einem Kordelknoten über der dunkelnden Leere hängend, die von einem blauen Blitz erleuchtet wird, wie die Leitungen der Straßenbahnen, kennst Du dieses blaue Licht? – dorthin kommen die Seelen von Schlaumeiern, und da baumeln sie dann, bis es Zeit für den Tee ist und das breit lächelnde, glückliche Gesicht eines jungen Mädchens auftaucht, das solche Orte noch nie gesehen hat, die die Dinge einfach nimmt, wie sie sie vorfindet, womit kein herumliegendes Kleingeld gemeint ist.

Wenn ich über meine Arbeit nachdenke, glaube ich, dass Gott sehr gut zu mir gewesen ist. Ein bisschen wie die Zeichnung, die ich heute in einer amerikanischen Zeitung gesehen habe. Ich musste lachen. Da stand eine Ruchlose in einem Nerzmantel, und der Sugardaddy mit seinem Scheckbuch saß nebendran, alles ganz Liebesglück verheißend. Und die Ruchlose dachte sich genau das, was ich mir dachte, nur bei Gott nicht so aufrichtig wie ich.

In meinem Leben gibt es keinen Suggardaddy, und jene, die nach Suggardaddys suchen, sollten jetzt den Mund halten und sich mit der Verkäuferin im Buchladen von Boots Cash Chemists9 auseinandersetzen.

Sir Phoebus langweilt sich rasch. Das ist etwas, wofür ich dankbar sein kann. Das Durchhaltevermögen vieler Magnaten ist überraschend. Sie könnten so viele Dinge tun, wie beispielsweise Statistiken und Tabellen und alles mögliche unnötige Wissen anhäufen. Da ist dieser Sir »Ich nenn’ keine Namen«, der nie einen Brief unter sieben eng beschriebenen Seiten aufsetzt. Und langweilt der sich? Nein. Aber seit letztem Herbst hat er drei Sekretärinnen verschlissen, und sagte ich bereits, dass es Oktober ist?

Dieser Sir Namenlos hat einen niedrigen nach Kirchen und religiöser Neuentdeckung riechenden Atem, der ihn umgibt wie ein Sarg. Jeder ist für ihn wie ein Bruder, ›alle Kains und Abels‹, wie es Sir Cale Spring Rice sagte, glaube ich, der Junge, der an der Britischen Botschaft beschäftigt war10, nicht der Dichter11, dessen Namen ich hineingemischt habe. So verdient Sir Namenlos sein Geld. Und tut es weiterhin. Und tut es weiter, ach.

Ich hoffe wirklich, dass Sir P. eine Menge Geld verdient. Oh ich hoffe sehr, dass er das tut. Ich wünsche ihm viel oder mehr noch, als er sich selbst wünscht. Und wie er selbst kann ich nicht anders, als ihn zu mögen.

Das einzige, was mich ein bisschen fordert, ist, wenn ich die Telegramme machen muss. Wir haben einen geheimen Code, den ich vereinfacht habe, da es nun wirklich ein zu viel des Guten gibt. Es war einfach zu viel hübscher Ballast in dem alten Code. Ich habe ihn also vereinfacht, und jetzt ist es ein nettes kleines Spiel, mit dem man vergessen kann, dass es sechzig Sekunden braucht, um eine Minute durchzustehen.

Früher hätte ein doppelter Code aus fünf Buchstaben bis zu sechs Stunden Decodier-Arbeit nach sich gezogen. Und die Jungs am anderen Ende der Botschaft waren nicht so helle, wie wir es waren, und wahrscheinlich saßen die Faulenzer herum und warteten darauf, dass die Empfangsbestätigung eintraf und sahen einfach nicht ein, dass sie überhaupt nichts verstanden hatten. So ist der menschliche Stolz, mein Freund, nein: Bruder, so ist der Menschen Stolz und Schwäche. Nun haben wir ihn aber hübsch geschniegelt und aufgeräumt, und jetzt könnte ihn sogar ein Kind benutzen, Sir, ja, Sir, solange es nur zählen kann und das Blatt mit den Codes griffbereit hat.

Nach und nach werde ich mich weiter wagen und einen Code erfinden, der kein Blatt mit Codes mehr benötigt, den man einfach im Kopf anwenden kann, während man einen Kopfstand macht und eine Hand hinterm Rücken festgebunden hat, und die Abfolge der Zahlen würde sich dem Datum entsprechend verändern, verstehst Du? Einfach? Natürlich ist das einfach.

Ich bin ein nach vorn blickendes Mädchen und bleibe nicht stehen. »Left right, Be bright«12, wie ich es in meinem Gedicht geschrieben habe. Das gilt für Tage, an denen ich ein echter Knaller bin und vorsichtig sein muss, um niemanden zu nerven. Später aber kehre ich zurück zu meiner philosophischen Grundeinstellung, die uns alle küssbar bleiben lässt. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine Privatsekretärin und ein Magnat aufeinander treffen, die sich gegenseitig keine Schwierigkeiten machen. Wenn sie es aber tun, bekommt man das Gefühl, das die Schöpfung dem Schmutz, von dem die Zyniker sprechen, etwas entgegenhalten kann.

Lieber Leser, mach Dir nun nicht die Mühe, all dem Namen zuzuordnen. Ich sage Dir, dass es in diesem Buch keine Person und kein Ding gibt, das je aus diesem Buch herausgetreten wäre. Es entstammt alles meinem Kopf. Und schau nun nicht aus lauter bösem Neid wie eine kranke Katze drein, das ist etwas, das Du selbst auch erreichen kannst: Wenn Dein Kopf so funktioniert wie meiner. Und verzweifle auch nicht. Denke immer daran, was man im 13. Jahrhundert gesagt hat: »Die Trägheit des Herzens vergiftet den Strom der Seele.«

Ich bin aber niemand, der seine Arbeit nach Büroschluss mit sich herumträgt. Ich bin ein sehr glückliches Mädchen und habe außerhalb der Arbeit eine Menge lieber Freunde, wovon ich Dir, wie gesagt, später berichten werde. Was ich an meinen weiblichen Freunden am meisten bewundere, finde ich am stärksten bei Harriet. Sie bringt mich zum Lachen. Zweitens hat sie einen großen Sinn für Schick. Drittens ist ihre Gegenwart sehr angenehm.

Habe ich Dir schon gesagt, dass mein Name Pompey Casmilus ist? Getauft bin ich eigentlich auf Patience, doch später, als ich erwachsen wurde und ausging und in London unterwegs war, nannte man mich Pompey. Und das passt zu mir. Pompey haftet etwas Verschlagenes und Verdorbenes an, und ich würde sagen, ich wage es zu sagen, auch etwas Elegantes. Wie eine kaputte römische Statue. Einer dieser alten römischen Typen, die ihr Vermögen verloren haben und nun um kostenlose Mahlzeiten bei ihren guten alten Freunden schnorren, die ihn weiterhin in ihrer Nähe behalten, um Lücken zu füllen und die Dinge am Laufen zu halten.

Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich ein glückliches Mädchen bin und mich auf die ein oder andere Weise recht frei vergnügen kann. Und viele meiner Freunde, und es ist schon seltsam, wie sich das gefügt hat, sind aufs Land hinausgezogen. Die besuche ich also inzwischen über das Wochenende und bekomme so neue Einsichten in das Leben. Und niemand von denen, die ich besuchen fahre, ist unangenehme Gesellschaft, mit Ausnahme jener, die ich jetzt hier nicht aufzähle, nur um einen Moll-Ton anzuschlagen.

So wie die Dinge heute stehen, ist es klar, dass man nicht für immer so leben kann. Obwohl es vor einigen Jahren, so nach dem Krieg etwa, Cyril, den Schwamm gab, der sehr begabt darin war und daraus einen Beruf gemacht hat. Doch wenn man diesen Pfad einschlägt, hat man keine Freiheit mehr, mit der Seele zu kommunizieren, wie ich sie habe. Nehmen wir zum Beispiel Cyril. Er war der Cousin eines Cousins von mir aus den USA, der ein Mädchen geheiratet hat, denn das war sie damals, und das war vielleicht etwa 1920. Dieses Mädchen war auf den Namen Gladys getauft, was aber natürlich nicht reichte. Später nannte sie sich also Prunella, was viel besser ist, was mich aber aufgrund der Tyrannei der Assoziationen, wie Max Nordau13 das beschrieben hat, zu der Vorstellung von Darmverstopfung führt14. Und was weißt schon Du darüber, Mr. Arch-Enemy-of-Elimination-Celia-Celia- Celia-Swift?15

Dieser Cousin von mir jedenfalls, der Prunellas Ehemann war, ist zu Geld gekommen. Und je mehr er verdiente, desto mehr verdiente er. Und je mehr er verdiente, desto mehr schmeichelte ihm Prunella und trickste ihn aus, indem sie ihm all die richtigen Dinge sagte. Und er konnte überallhin, und keiner bekam etwas davon mit. Und sie konnte das auch. Und niemand merkte es. Sie waren einfach famos, danke sehr. Und sie verdienten immer mehr Geld und hatten zwei Kinder, und Prunella sorgte dafür, dass sie von Kindesbeinen an mit den richtigen Ideen aufwuchsen. Und das taten sie. »Meine Liebe, ist er nicht wie ein echter englischer Gentleman? Weiß man’s?« Niemand kannte ihn. Niemand würde ihn je kennen. Es gibt niemanden, den man kennen kann. Wen interessiert’s?

Prunella hat die Kinder direkt mit den richtigen Büchern versorgt. Du weißt schon, das Zeug, das man an die von der BBC verzogene Brut austeilt. So großäugig und blümchensüß und mit einem solch pathetischen jungen und süßlich-süßen Geruch der Kindheit, wie Medea sagte, in dem Augenblick, da sie das Messer in ihre beiden Kinder rammte, um Jason zu bestrafen. Die beiden waren allerdings natürlich nicht verheiratet. Das, meine Liebe, ist selbstverständlich etwas ganz anderes. Nur ein emotionaler Karrierist konnte mit einer Ausländerin abhauen und – die Hochzeit einfach sausen lassen. Und wir alle wissen, wie emotionale Karrieristen sind, wenn irgendwo Messer offen herumliegen.

Wir müssen uns aber nicht in diese scheußlich schauderhaften Dinge vertiefen, wenn es doch so viel in diesem Leben gibt, das rosarot und blumensüß ist. Gibt es das? Sind sie das nicht?

Als die Kinder etwa sechs und vier Jahre alt waren, stürzte Cyril:

As falls the gravelled grouse

From a clear sky,

Or as the clear eyed hawk,

Sighting through skyey spaces

Some lesser creature, formed and nurtured

By the dear gods for his peculiar pleasure,

Down plunges through the empyrean blue

And takes what is his own,

What rightly,

Time, place, circumstance harmonious

Does, with the ageing of a weary world,

Escheat to him.16

Diese Stelle von ›Cyril‹ an ist ein Gedicht, das ich geschrieben habe, so wie ich das andere geschrieben habe, von dem ich sprach, das nicht veröffentlicht wurde. Das sind schon mal zwei. Wobei der letzte Text nur ein Auszug aus einem unvollendeten Manuskript ist, das sechsundzwanzig einzeilig beschriebene Schreibmaschinenseiten umfasst, und das nun erst mal herumliegt, bis die Zeit reif dafür ist. Lies die Stelle nochmal, und dann verstehst Du Cyril, den ganzen Cyril und nichts als Cyril. Immer natürlich mutatis mutandis17 – was aber ohnehin die Aufgabe des Lesers ist.

Cyril kam vorbei, um ein Wochenende mit der Familie zu verbringen. Und dann war er immer mal zeitweise da, bis er vor zwei Jahren an einem Hirnschlag gestorben ist. Gar nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Cyril das noch nie zuvor ausprobiert hatte – nicht bei seinem Cousin jedenfalls.

Und die Idee kam ihm, als er den Namen meines Cousins auf einem Prospekt entdeckt hat, den irgendein Depp ihm in den Briefkasten geworfen hatte. Ha ha, sagte sich Cyril, unterschreiben? Nein, er nicht. Er spielte die Zweitbesetzung. Er war die Zweitbesetzung für die Nanny und die Aushilfe für die Mutter und für Cookie-Darling. Ein Charakter wie die alte Cookie, ich erinnere mich gut an sie, hilft sehr dabei, eine altbekannte Reputation für soziale Gerechtigkeit zu etablieren. Und er spielte die Zweitbesetzung sehr gut. Er brachte den Kindern bei, Bridge zu spielen, wenn Prunella und mein Cousin einen Tag für sich brauchten und die Nanny mit ihrer kranken, verheirateten Schwester beschäftigt war. Und er sah gut aus. Ich meine attraktiv, nicht nur gesund. Wobei Cyrils Gesundheit nicht angegriffen schien, kein Klappern, kein Brummen, bis er ihnen, wie schon gesagt, aufgrund eines Hirnschlags tot zusammenbrach. Und er half Pru bei der Gartenarbeit, die ihr von Natur sehr lag, was zugleich so gut zu der ländlichen Ortschaft passte, die sie bearbeiteten.

Und ich erinnere mich, wie ich dort ebenfalls einige Wochenenden verbracht habe, allerdings ganz amateurhaft, ich wollte Cyril nicht verdrängen, obwohl er dreinschaute, als würde er annehmen, dass ich das versuchte. Ich dachte, ich müsste mich mal genauer mit der Gartenarbeit beschäftigen. Also fragte ich Prunella nach den Namen der Pflanzen, die sie anpflanzte. Und mir kommt die Erinnerung wieder so klar wie damals: Ochsenzunge. Ich erinnere mich noch, dass sie blaue Blüten trug. Das weiß ich noch. Ich würde eine Ochsenzunge überall wiedererkennen. Ich will mich aber nicht zu lange an einer Sache aufhalten. Ich erinnere mich also an die Ochsenzunge und lasse den Rest fallen. Cyril, der Schwamm, aber war gründlich. Er hat keine halben Sachen gemacht: Und schau ihn Dir jetzt an, an einem Hirnschlag gestorben. Eine lebende Pompey ist besser als ein toter Cyril. Wie ich mir schon selbst letzthin sagte: Eine lebende Pompey ist besser als ein toter Lord – da hatte ich mir gerade das Porträt des großen, toten Zeitungseigentümers angesehen, ein scharfsinniger Peer mit einem Hang für forensische Penny-pro-Zeile-Erzeugung, die in mein Leben trat, als ich 24 wurde, als ich in meinem Zimmer saß und dieses Gedicht über Russland schrieb, das sechsundzwanzig Seiten lang und noch nicht fertig ist.

Nach und nach will ich diese Gedichte, von denen ich erzähle, in einem Buch veröffentlichen. Dennoch lieber Leser, glaube mir, keines der Gedichte, die Du auf diesen Seiten liest, wurde je veröffentlicht: Du liest sie also als Erster.

Sir Phoebus ist derzeit im Urlaub und hat mir heute eine große Schachtel Harrogate Toffees geschickt. Das sind die Dinge an Sir Phoebus, die ihn mannshoch über die gewöhnlichen Baronets hinausragen lassen. Genau diese Dinge.

Dumme Menschen beispielsweise sind Sir Phoebus’ Mutter jetzt nicht sooo sonderlich gewogen, aber ich kann nicht vergessen, dass sie mich, als ich für sie etwas schreiben sollte, ich erinnere mich jetzt, es hieß Zwanzig Tausend Leugen18, nein, Meilen den Amazonas hinauf, da ließ sie mich einfach frei meiner Fantasie folgen.

Und war das schwierig? Nein, war es nicht. Denn meine allerersten Erinnerungen als kleines Kind im Kindergarten hängen damit zusammen, dass wir aus Kleiderkartons, die wir von zu Hause mitbrachten, einen Regenwald gebaut haben. Wir stellten den Deckel senkrecht auf und legten einfach los und klatschten Farben daran. Meine Lieblingsfarbe, erinnere ich mich jetzt, war Indigo. Ich mochte das Wort, und die Farbe sah schön aus im Zusammenspiel mit Grellgrün. Den Aufbewahrungsbereich, der horizontal vor dem Ende des Deckels lag, haben wir mit Moospflanzen, Pilzen und Ackerboden versehen. Das war ein tolles Durcheinander, die Art, die ein Kind ruhig und glücklich machte. Und am Schluss war da unser tropischer Regenwald, so einfach und lebensecht, wie man ihn sich nur wünschen konnte.

Und in diesem Wald krochen und schaukelten und flogen Gibbons und Affen und Papageien und Jaguare und Panther und all unsere vierfüßigen Freunde. Und gar nicht mal so schlecht. Und das Gebrumm und Geheule und Gezische und Geklapper, das vor sich ging, hätte man sich Piccadilly hinauf vorstellen können.

Unsere Erzieherin hatte ein wirkliches Talent dafür, einen Dschungel für Kleinkinder lebendig werden zu lassen. Und ich erinnere mich, dass sie später ihre Stelle als Lehrerin aufgab und Ägyptologie mit Flinders Petrie19 studierte, jenem Mann also, der kürzlich in der Wanderausstellung mit einer rosa Krawatte aufgetaucht ist.

Deshalb war es mir also nicht schwer gefallen, die Reise von Sir Phoebus’ Mutter den Amazonas hinauf aufzuschreiben. Außerdem hatte ich Hilfe von einem Schotten, der in dieser Gegend mal Konsul gewesen war. Und ich erinnere mich, dass er mir Seite um Seite eng beschriebene Daten, wie er das nannte, gegeben hatte, und dass ich kaum etwas davon entziffern konnte. Daher habe ich das einfach alles weggelassen.

Ich nahm an, man wollte eine menschelnde Geschichte und keine geistreichen Scherze über die Gewohnheiten der Eingeborenen, die vonseiten Sir Phoebus’ Mutter ohnehin nicht so gut ankommen würden.

Und das sind die Dinge, bei denen Aufmerksamkeit gefragt ist, und das ist jenes Denken, das die gute Sekretärin ausmacht, die ich bin, und das ist es, was wettmacht, dass ich nur mit dem Zweifinger-System tippen kann. Und wie ich immer sage, sollte man stets daran denken, was eine Person kann und nicht darüber grübeln, was sein könnte.

Ich verbrachte also Tag um Tag im Haus von Mabel Lady U., und mit absoluter Sicherheit kam um vier Uhr jene Art Tee herbei, die eben nur mit einer Frau mit großem Herzen und wirklicher Geschliffenheit einhergeht. Es gab Sandwiches, die zusammengerollt waren und die richtige Füllung besaßen, und Kuchen und Scones zum Tee, der so war, wie ich ihn mochte, nämlich eine Earl-Grey-Mischung. Und das ist das Beste, was der alte Kerl20 so gemacht hat, abgesehen von der League of Nations, wie Sir P. immer sagt21.

Siehst Du, was ich meine mit dieser Familie und wie gut die Menschen zu mir sind, und wie viel Glück ich habe? Und oft denke ich, dass ich ein Schwert über dem Kopf hängen habe, das eines Tages herunterfallen muss, da ich mir der Sünde bewusst bin, die in meinem schwarzen Herzen existiert, und ich glaube, dass Gott etwas ganz Besonderes in der Hinterhand hat, mit dem er Pompey fortraffen wird. Wie die Flut, auf der jenes Kind in der Wiege ritt mit jener raffinierten Katze, die obenauf saß. Und wenn das Kind die Welle richtig geritten hätte, wäre es vielleicht von der Katze erstickt worden. Denn man kann seinem Schicksal nicht entkommen. Und ich weiß von Katzen, die Babys erdrückt haben. Das stand in der Zeitung.

Leser, fühlst Du Dich je seetraurig, lehmtraurig wie Tennyson, fühlst Du jene Traurigkeit, die tiefer als alle Worte ist? Wobei natürlich nichts zu tief für Worte ist, wenn man Dichter ist, so wie er und ich. Ich finde ja, je tiefer, desto besser, so wie es in der Wendung heißt: Je größer der Schmerz, desto besser das Kind.

Für mich sind meine Gedichte mein Kind, und es besteht kein Zweifel, dass es Tennyson genauso gesehen hat: »Deep as first love and wild with all regret, Oh death in Life the days that are no more.«22 Und ein anderes, das ich wirklich gerne mag, handelt von einer kranken Dame: »And like a dying lady lean and pale.«23 – Schmal und blass, so bin auch ich an diesen traurigen Novembertagen. Denn es ist jetzt November, so wie es Oktober war, als ich zuvor schrieb, dass es Oktober war. Ich komme also vorwärts und bleibe an meiner Schreibmaschine, und zu Weihnachten wird das Buch fertig zum Binden sein und dann auf dem Frühstückstablett Deiner reichen Tante neben den Brotkrümeln liegen. – Nach genauerem Nachdenken fällt mir ein, dass »like a dying lady lean and pale« gar nicht von Tennyson ist, sondern von Shelley.

Ich schätze diese Augenblicke der Traurigkeit und genieße sie zutiefst. Und ich gehe nun gerne alleine spazieren, und ich habe zu Hause einen schönen Spazierweg, der genau richtig ist. Er führt an einem Fluss entlang, der wie ein tiefer Kanal ausgegraben ist, und längs wächst Seegras, durch das er sickert. Und in der Nähe des Ufers ist heller, brauner Schlamm mit wunderbaren kleinen Löchern darin, denn ich nehme an, dass die Flussratten da am Werk waren und sich hindurchgegraben haben.

Nach und nach öffnet sich dieser Fluss, der zunächst tief und eng verlief, und wird breit und flach, sodass der Schlamm an manchen Stellen durchschaut, und obenauf schwimmt geronnener gelb-grüner Schaum, und in der Mitte ist eine Insel, wo sich die Bäume nach vorn beugen und ihre Äste hängen lassen, als wären sie so kosmisch gelangweilt, dass sie ihre Fingerspitzen einfach herabbaumeln lassen. Wie ich auf einigen Bootsfahrten, die ich mitgemacht habe.

Nach und nach dringen der brodelnde Matsch und die Rattenlöcher natürlich in Deine Seele und man ist wieder munter, so beschwingt, wie ich auf dieser jüdischen Party war. Und ich glaube, dass diese nassen, wilden, regendurchzogenen Tage meine Lieblingstage sind. Denn eine Hitzewelle und all die starren, harten Farben nehmen Dir alle Kraft, aber diese Tage der Finsternis und des Schmutzes und der starken Winde, wenn die auch noch dazu kommen, geben einem alles zurück. Sodass ich hinterher zwei Mal so stark bin wie vor diesen Tagen.

Und ich erinnere mich noch, dass da, als ich mit Karl an einem solchen regnerischen Tag in der Nähe von Hertford spazieren war, eine Wühlmaus mit ausgestreckten Pfoten tot auf der Straße lag – wie ein Christ, der überfahren worden war.

Karl war ein guter Kerl und wir verstanden uns gut. Er besaß hier nur zwei Anzüge, und daran dachte er immer, wenn es durch Hecken ging, was unvermeidlich war. Er hatte die schlechte Angewohnheit, manchmal übellaunig und streitlustig zu werden, so als sei er ständig in der Defensive. Weißt Du, wie das mit Ausländern ist? Die geben nie Ruhe und müssen einem immer erzählen, wie es bei ihnen zu Hause ist. Abgesehen davon war Karl aber ein süßer Kerl.

Ich habe etwas von Mrs. Humphrey Ward24 in mir. Ich meine diese nasskalten Felder und traurigen Wälder und seltsam anmutenden viktorianischen Schlösser mit moosüberwachsenen Pfaden. Und ich erinnere mich noch gut, wie ich mit Karl einen dieser Pfade zu einem leer stehenden Haus entlanggelaufen bin. Die Fenster waren verbarrikadiert und es gab ein Tiefparterre. Man konnte sich die verdorbenen Leben des Dienstmädchens vorstellen. Ja, »die« Leben, ich meine durchaus Plural, das war kein Tippfehler, denn ich nehme an, dass das Dienstmädchen ein Nachtleben führen musste, das es entschädigte, wenn die Arbeit mit dem Schafsfett und das Kohlblätterwaschen und Abspülen erledigt oder das Geschirr irgendwo in der Ecke versteckt war. Und ich hoffe, dass sie dabei Glück gehabt hat. Ich hoffe, dass sie nie erwischt wurde und keinen Ärger bekommen hat, denn die Leute haben damals nicht so sehr an Sex geglaubt, wie wir es heute tun.

Wenn man aber den eigenwilligen Geschmack dieser Lebens- und Gedankenwelt nachempfinden möchte, muss man die Romane der Zeit lesen. Es ist zwecklos, das mit Texten zu versuchen, die heutzutage geschrieben werden, überdreht und überbeansprucht und schlichtweg falsch. Wie mich diese Bücher ermüden, ja, und sie machen mich traurig, aber nicht auf die lehmige Art, wie ich es mag.

Als Karl und ich bei dem Haus angekommen waren, das etwas tiefer im Wald gelegen war, begann es mit äußerster Verzweiflung zu regnen. Ich dachte also an seine beiden Anzüge und meinen Wunsch, in das Haus zu kommen, und tat genau das durch ein zerbrochenes Fenster auf der Rückseite des Hauses. Darf ich kurz anmerken, dass ich schlank und agil bin und dass das Kammerfenster nicht das erste war, in das ich eingestiegen bin. Bei Weitem nicht.

Karl war ebenfalls ein guter Kletterer, da er aber 1,88 m groß war, musste er, obwohl er nicht korpulent war, ein zerbrochenes Fenster finden, das eher zu seiner Größe passte. Da eigentlich alle Fenster zerbrochen waren, fiel das nicht sonderlich schwer. Jene im Erdgeschoss aber waren mit Brettern vernagelt, weshalb er auf den Balkon klettern und das geeignetste Schlafzimmerfenster ausfindig machen musste. Ich schätze, sein Anzug war so kaum besser dran, als wenn er einfach im Regen geblieben wäre. Karl jedoch war ein süßer Kerl, der mich nicht in der Speisekammer wissen wollte, während er selbst auf der falschen Seite der Tür stand.

Innen herrschte ein dumpfig mumpfiger Geruch, der an Mord, Suizid und Habgier denken ließ. Wir fanden etwas Sackleinen, und es war fürchterlich kalt in dem Haus, und wir legten uns nebeneinander und hielten uns in den Armen, und er erzählte mir von seinem Pferd Jupiter und brachte mich zum Lachen. Jupiter war ein gut aussehendes Pferd. Er zeigte mir ein Foto. Und Karl hatte Jupiter während seiner Zeit in der Armee. Er war Deutsch-Schweizer, und mit Armee meine ich seinen Wehrdienst, und Jupiter und Karl haben gemeinsam alle Preise gewonnen, die für Stil, Performance, Ausdauer, Verlässlichkeit und wachen Geist zu gewinnen waren.

Nicht nur hier in diesem Mrs. Humphry Wardähnlichen Haus, sondern passim25 hat mir Karl von Luther erzählt. Er mochte Luther sehr. Und er erzählte mir, dass Luther eines Tages im Bett lag und sich alle möglichen Gedanken über Sex machte und dabei visuelle Versuchungen erlebte wie der heilige Antonius. Kennst Du das Bild vom Heiligen Antonius mit den hübschen Mädchen? Es hängt im Kaiser Friedrich Museum in Berlin. Oder in London? Ich habe es vergessen. Der Heilige Antonius sieht darauf eher glotzäugig aus, und die Versuchungen sind meist nur von hinten zu sehen mit so hübschen Hinterteilen, dass man ihnen einen Klaps geben möchte. So wie der Tempel, den die Griechen dem Hinterteil der Venus errichtet haben, jedem bekannt ist, der weiß, was für eine schöne Sache Sex ist. Der Heilige Antonius aber dachte, dass Sex einfach fürchterlich sei, einfach fürchterlich, nichts als Auslöser von Fehltritten und Verdruss. Statt nun aber zu sagen, Jungs, ihr solltet Cricket spielen und lange Spaziergänge unternehmen und euch auf gesunde Art ermüden, wie es heute die Anhänger der Werde-es-mit-Sport-los-Schule propagieren, glaubte er an Gebete und Askese. Er war ein Mönch im Zölibat.

Die frühe katholische Kirche war gewiss puritanisch, wie die Katholiken in Irland es sind. Doch die Katholiken in England trimmen ihre Segel und bewegen sich ach-so-vorsichtig und setzen alles daran einfach gesund und patriotisch zu sein, sie befolgen das Evangelium von Fr. Martindale26 und Fr. Ronald Knox27. Dort geht es um das Prinzip der Enthaltsamkeit, das derzeit wild wuchert. Manchmal aber ist es so, dass die Enthaltsamen, weil sie eben eine Neigung dazu haben, in die Falle gehen.

Sagen wir beispielsweise, dass Du ein durchschnittlicher Engländer bist, Mitglied der Staatskirche, und dass Du nun einen Plausch mit einem Priester hältst. Du bist also interessiert. Du bist ein möglicher Kandidat. Nun, dann denken die: Du nimmst an, dass wir Katholiken jesuitisch, subtil, verschlagen und streng päpstlich sind – so wie Elizabeth sie definiert hat. Ach mein lieber Freund – so sind wir kein bisschen. Wir sind einfach englische Leute, so wie Du und ich, wir mögen unser Zuhause und sind kein bisschen clever. Oh überhaupt nicht clever: »Es tut mir leid, ich bin nicht sehr versiert darin, Dinge zu formulieren, aber wir haben das Gefühl, dass der liebe Lord«, u.s.w. u.s.w.

Das ist fürchterlich witzig, und manchmal stelle ich mir vor, wie man einen ruhigen Abend mit gesundem Spaß vor dem heimischen Kamin verbringt und es einfach nichts Besseres gibt als diese kleinen Heftchen der C. T. S.28

Nehmen wir Bloody Mary zum Beispiel, alle verstehen Bloody Mary immer vollkommen falsch. Es war doch eigentlich ihre intrigante Schwester Elizabeth. Was die gemacht hat, war geradezu superschlau und keineswegs gentleman-like. Sie hatte viele Tricks auf Lager, diese Elizabeth, und clever war sie, ja, ich muss zugegeben, dass sie clever war. Bloody Mary aber war einfach eine freundliche, nette Frau, so wie Du und ich, kein bisschen clever, eine Frau, die ihr häusliches Leben liebte und eine wunderbare Mutter gewesen wäre, wenn sie je ein Kind bekommen hätte.

Oder die Inquisition. Oh mein Gott – das. Und schon werden Augen gerollt und die Hände zur Decke geworfen, und man hat den sicheren Eindruck, dass es eher kein Ausdruck guter Etikette ist, die Inquisition zu erwähnen. Selbst dann, wenn man es die Spanische Inquisition nennt, als wären die Dinge dort anders. Ihr wisst ja, wie die Spanier sind. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die Kirche immer die gleiche ist, semper eadem29, ganz gleich, wo sie auch in Erscheinung tritt.

Man kann das aber kaum fair nennen, weißt Du, und – ach zum Teufel damit – nicht, weil etwas an diesem alten Schreckgespenst dran wäre, sondern weil die Frage-schon-ach-so-viele-Male-verworfenwurde. Und wie steht es mit Laud und dem Star Chamber30? Tja. Und was ist mit all den mutigen Priesteranwärtern, die hierherkamen und aufgeknüpft und aufgeschlitzt wurden. Und aus welchem Grund nochmal? Weil sie sagte, sie seien Verräter. Verräter, wohlgemerkt. Oh, sie war intrigant, diese Elizabeth. Sie kannte ihr Volk sehr genau. Ganz wie Lord Beaverbrook31. Diese leichtfertige, frivole, kaltherzige und – ja – unnatürliche Frau. Sie wusste, dass das eine, was die britische Öffentlichkeit nicht hinnehmen würde, ein Mann wäre, sei er nun Priester oder nicht, der seinen Hut nicht vor God Save the Queen zöge. Also verbreitete sie, dass sie alle Verräter seien. Wir Katholiken aber, wir haben durch die Einfachheit unserer Kinderherzen die Wahrheit über diese Frau erkannt, und wir wissen die Wahrheit über die Inquisition. Und waren diese Zeiten nicht harte, grausame Zeiten? Und wie steht es um den Civil Code, war das nicht ebenso barbarisch? Wie dem auch sei, heute sind die Dinge ja ganz anders.

Doch ach!, während die Church of England das Gute behalten und das Schlechte jederzeit verwerfen kann, müssen die Römisch-Katholischen sich vollständig selbst verschlucken, und die Verfolgungsdekrete stehen immer noch in ihren Büchern, auch wenn sie nicht mehr angewendet werden.