Für Hannah

Die Sagen

Jedes Volk hat seine Sagen, seine Geschichten aus dem Volk.

Sie gehören zu ihm wie das Land, wie die Berge und die Täler, in denen das Volk lebt.

Jahrhundertelang wurden die Sagen nicht aufgeschrieben.

Warum? Weil es noch gar nicht so lange Papier gibt. Früher schrieb man auf Pergament. Pergament machte man aus Schaf- und Ziegenfell und es war sehr, sehr teuer.

Es gab auch nur sehr wenige Menschen, die lesen, und noch weniger, die schreiben konnten. Die Volksgeschichten lebten durch Erzählen, durch Weitersagen; deshalb wurden sie auch Sagen genannt.

Menschen, die das Erzählen zu ihrem Beruf gemacht hatten, sammelten auf Jahrmärkten mit diesen Geschichten das Volk um sich. Jeder Erzähler sang oder erzählte die Sagen auf seine Weise. Und jeder wollte seine Zuhörer so stark wie möglich beeindrucken.

Sie erzählten vom Leben und Sterben, von Gut und Böse, von den Reichen und den Armen.

Viele Sagen haben einen geschichtlichen Hintergrund.

So beschreibt zum Beispiel das Nibelungenlied die Erlebnisse der Könige Gunther und Attila in der Zeit der Völkerwanderung. Auch das Rolandslied und die Sage vom Golem, der die Juden des Prager Gettos beschützte, gehen auf tatsächliche Ereignisse zurück.

Warum aber hören sich die Sagen so fantastisch und unglaublich an? Weil die Wahrheit oft langweilig war! Deshalb haben die Geschichtenerzähler den Helden der Sagen ungeheure Kräfte angedichtet: Mit einem Schlag köpften die Helden mehrere Gegner; sie bekämpften und besiegten schreckliche Ungeheuer, Feuer speiende oder geflügelte Drachen mit Adlerklauen oder Löwenpranken.

Je länger die Sagen von Generation zu Generation weitererzählt wurden, umso mehr wurden sie ausgeschmückt.

Heute sind die Helden der Sagen viel zu weit von uns entfernt, um wahr zu sein. Oder würdest du im Blut eines Drachen baden wie Siegfried? Ich glaube, du würdest es selbst dann nicht tun, wenn du wüsstest, dass du davon unverwundbar wirst.

Trotzdem verzaubern uns die Sagen – bis heute noch.

Skandinavien

Der Brunnen der ewigen Jugend

Zauberer und Magier haben es jahrhundertelang gesucht. Könige und reiche Leute waren bereit, ein Vermögen auszugeben, um nur einen Schluck davon zu trinken: das Wasser der ewigen Jugend. Alte Leute erzählten es ihren Enkelkindern, und die Enkelkinder erzählten es später ihren Enkelkindern, und die Enkelkinder der Enkelkinder erzählten es ihren Enkelkindern: »Irgendwo auf der Welt gibt es einen Jungbrunnen. Das Wasser darin ist kristallklar und voller Zauber. Es duftet nach Blumen und Frühling. Wenn man von diesem Brunnen trinkt, wird man jünger. Mit jedem Schluck.«

Eine alte norwegische Sage erzählt, dass der Jungbrunnen irgendwo in den Wäldern Norwegens versteckt ist. Hoch im Norden soll er sein, dort, wo der Winter acht Monate dauert.

In dieser Gegend lebte an einem Waldrand ein uraltes Ehepaar. Der Mann war Jäger, die Frau sammelte Pilze und wartete vor der Hütte darauf, dass ihr Mann von der Jagd zurückkam.

Immer wenn er zurückkam, sagte sie: »Ich habe so schreckliche Angst um dich. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn du eines Tages nicht mehr von der Jagd heimkommst.«

»Auch ich habe schreckliche Angst«, sagte dann der alte Mann, »dass dir etwas passiert, während ich weg bin.«

Eines Tages hatte der alte Mann ein junges Rentier erlegt. Er freute sich sehr und dachte: »Jetzt werden wir für drei Wochen genug Fleisch haben. Für die nächsten Wochen brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen.«

Dann merkte er, dass er nicht in der Lage war, seine Beute nach Hause zu schleppen.

Er bückte sich über das Tier, um eine Keule abzuschneiden.

Aber er konnte nicht mehr aufstehen. So alt war er geworden.

Verzweifelt fing er neben dem toten Tier zu weinen an.

»Warum habe ich das arme Tier getötet, wenn ich nichts davon nach Hause bringen kann?«, schluchzte er.

Er war so traurig, dass er selber sterben wollte.

Da hörte er auf einmal eine leise Stimme, die sagte: »Weine nicht, Alter. Ich werde dir helfen.«

Er schaute sich um. Neben ihm stand ein winziges Männchen, nicht größer als eine Handspanne.

»Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich«, sagte das Männchen. »Ich kenne dich sogar sehr gut. Auch deine Frau kenne ich. Ihre getrockneten Pilze schmecken sehr gut.«

Der alte Mann fragte erstaunt: »Woher weißt du das?«

»Woher? Ich esse sie. Heimlich.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich wohne in deiner Nähe. In einem alten, hohlen Baumstamm hinter deiner Hütte am Waldrand. Letztes Jahr war der Winter, wie du weißt, sehr lang. Da sind mir meine Vorräte ausgegangen. Und weil ich nicht vor Hunger sterben wollte, schlich ich mich einfach in deine Hütte. Und die Pilze, sage ich dir, die ich dort in der Vorratskammer fand, haben mir sehr, sehr gut geschmeckt. Auch das getrocknete Fleisch war sehr gut. Genau richtig gesalzen.«

»Warst du oft bei mir?«

»Na ja, nicht sehr oft. Nur wenn ich Hunger hatte«, lachte das Männchen. »Du hast mir das Leben gerettet, ohne es zu wissen. Jetzt werde ich dich dafür belohnen. Das heißt, ich werde meine Schulden zurückzahlen. Ich werde dir helfen, das Rentier nach Hause zu bringen.«

»Das kannst du nicht. Du bist viel zu klein. Und ich bin viel zu alt.«

»Doch, doch. Das kann ich. Komm mit mir.«

»Ich kann nicht aufstehen«, seufzte der alte Mann, »ich bin viel zu schwach. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«

»Dann krieche hinter mir her, so gut es geht. Es ist nicht weit. Gleich dort hinter dem Baum.«

»Was ist dort?«

»Ein Brunnen, aber ein ganz besonderer Brunnen. Es ist der einzige Jungbrunnen der Welt. Wenn du von seinem Wasser trinkst, wirst du mit jedem Schluck ein Jahr jünger.«

»Das gibt es doch nicht! Du machst dich über mich lustig …«

»Komm hinter mir her, Alter. Überzeug dich selbst!«

Mit letzter Kraft schleppte sich der alte Mann hinter dem Männchen her.

Er fand den Brunnen und trank. Einen Schluck, zwei, drei, vier, fünf … zehn Schlucke. Und mit jedem Schluck flossen neue Kräfte in seinen Körper.

Er sah sein Spiegelbild im Wasser. Er wurde wirklich mit jedem Schluck um ein Jahr jünger.

Der alte Mann zählte seine Jahre zurück:

Sechsundachtzig, fünfundachtzig, vierundachtzig … und so weiter.

So wurde er sechzig, fünfzig, vierzig, fünfunddreißig, vierunddreißig … einunddreißig …

Bei neunundzwanzig machte er Schluss, sprang fröhlich auf und rief: »Meine Alte wird sich wundern! Darf ich sie auch herbringen?«

»Aber natürlich!«, lachte das Männchen. »Ich habe dir doch gesagt, dass mir ihre Pilze sehr gut geschmeckt haben.«

Der Greis, der neunundzwanzig Jahre jung geworden war, packte das Rentier auf seine Schultern und lief nach Hause.

Seine Frau erwartete ihn bereits. Sie sah den jungen Mann, der ihr entgegenlief, und traute ihren schwachen Augen nicht. »Sag mal«, fragte sie, »bist du das – oder bist du ein Sohn, von dem ich nichts weiß?«

»Ich bin es, Alte! Komm mit mir! Ein Wunder ist geschehen. Ich werde dir einen Brunnen zeigen. Einen Brunnen mit Zauberwasser, das dich mit jedem Schluck um ein Jahr jünger machen wird.«

»Gibt es so etwas wirklich?«

»Sieh mich doch an!«

Mit leuchtenden Augen stand die alte Frau auf und machte sich mit ihrem Mann auf den Weg.

Bald kamen sie an den Brunnen und die Alte begann zu trinken.

Und wie vorhin ihr Mann konnte sie jetzt ihre Jahre rückwärts zählen: »Sechsundachtzig, fünfundachtzig, vierundachtzig, dreiundachtzig … achtzig …«

Sie sah ihr Spiegelbild im Wasser. Sie sah, wie sich ihr Gesicht veränderte. Und vor lauter Freude und Aufregung fiel sie in Ohnmacht.

Sie kam aber schnell wieder zu sich und trank weiter. Dann sagte sie: »Oh …«, fiel erneut in Ohnmacht, kam schnell wieder zu sich und trank weiter. Ihrem Mann wurde die ganze Sache schon langweilig, weil sie ständig in Ohnmacht fiel und wieder zu sich kam.

»Ich gehe schon mal nach Hause«, sagte er, »und brate etwas Fleisch. Pass auf dich auf und trinke nicht zu viel!«

»Ich mach das schon!«, rief sie. »Ich bin gerade sechzig.«

Er ging zur Hütte zurück, deckte den Tisch, briet das Fleisch und wartete auf seine Frau.

Aber sie kam nicht.

Langsam wurde ihm mulmig. Er wartete noch etwas. Dann lief er zum Jungbrunnen, um seine Frau zu holen.

»Was ist los mit dir?«, rief er von Weitem. »Warum kommst du nicht?«

Da hörte er auf einmal eine Kinderstimme: »Kuckuck! Hier bin ich!«

Er kam zum Brunnen und traute seinen Augen nicht.

Ein zweijähriges Mädchen steckte in dem großen, alten Kleid seiner Frau.

»Trink nichts mehr!«, rief er entsetzt. »Ich will kein Baby zur Frau haben.«

Er zog das zweijährige Mädchen aus den nassen Kleidern und wusste nicht, was er tun sollte: lachen oder weinen?

Seine Frau hatte einfach zu viel von dem Wasser des Jungbrunnens getrunken.

»Papa, Papa …«, sagte die Kleine.

»Ich bin nicht dein Papa. Ich bin dein Mann. Jetzt muss ich warten, bis du wieder groß bist. Das wird mir aber nicht viel ausmachen. Ich werde jedes Jahr einen Schluck aus dem Jungbrunnen trinken. So werden wir in einigen Jahren wieder das gleiche Alter haben.«

Gesagt, getan.

So leben die beiden vielleicht heute noch.

Skandinavien

Olaf Osteson und sein langer Schlaf