Günter Lucks

mit Harald Stutte

Ich war Hitlers letztes Aufgebot

Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat

Inhaltsverzeichnis

Karte

VORWORT

1. IM KRIEG

Eine Familie im Krieg

Abschied von Hamburg

«Wir sind die Garde» – In der Waffen-SS

An der Front

Gefangen

2. MEINE ODYSSEE

«Woijna plennys» – Kriegsgefangene

Im Viehwaggon über den Balkan

Tallinn

Ein kleines Wunder am Heiligen Abend

Märchenstunden und ein Aufstand

3. TUSCHINO

Endstation

Verbesserungen

Jorka

Walja

Lagerleben

Walzer und Tango im Gorki-Park

Heimkehr

NACHWORT

Harald Stutte: Es begann mit einem dicken Umschlag

VORWORT

In meinen Träumen kehren die schrecklichen Bilder immer wieder. Dann sehe ich die toten Zivilisten in dem österreichischen Dorf Altlichtenwarth. Ich sehe den Kameraden, den wir «Enteritis» nannten und der etwas rechthaberisch gewesen war. Und der dann von einer Granate zerfetzt und besudelt mit Obstkompott unter Dutzenden kaputter Einweckgläser lag, die wir zuvor im Keller eines Bauernhauses gefunden hatten. Oder ich sehe das Bild eines sowjetischen Soldaten, der mit geweiteten Augen auf mich zusprang, mir sein entsichertes Gewehr an den Kopf hielt und mir irgendetwas in russischer Sprache entgegenschrie, das ich damals nicht verstand. Schwer verletzt lag ich in einem Lazarettzug. Der Krieg war bereits vorbei. Nie wieder in meinem Leben hatte ich eine solche Todesangst wie in jenem Moment.

Solche Bilder sind sehr privat und schwer vermittelbar. Sie waren in meinem Kopf verschlossen, unsichtbar für meine Umgebung. Als alter Mensch hat man sehr viel Zeit und beschäftigt sich mehr mit der eigenen Vergangenheit. Endlich hatte ich das Bedürfnis, meine Geschichte, die Geschichte eines Kindersoldaten und später die eines jugendlichen Kriegsgefangenen, der Nachwelt mitzuteilen. Meinem Sohn zum Beispiel, denn den Gedanken an eine Buchveröffentlichung hatte ich zunächst nicht. Aber ich begann vor einigen Jahren damit, meine Geschichte niederzuschreiben. Und ich war selbst überrascht, wie lebendig die Erinnerungen noch sind, selbst an Details.

Die Idee, meine Erlebnisse aufzuzeichnen, kam mir an einem Januarmorgen im Jahr 2005. Ich war mit der U-Bahn in die Stadt gefahren, womit wir Hamburger im engeren Sinn unsere City meinen. Ich wollte mir eine neue Jacke kaufen. Als notorischer Frühaufsteher erreichte ich die Innenstadt, ehe die ersten Läden öffneten. Und so bummelte ich ziellos umher. Auf der Altmannbrücke blieb ich stehen und beobachtete von oben den Schienenverkehr am südlichen Ausgang des Hauptbahnhofes. Es war ein geschäftiges Treiben da unten, S-Bahnen fuhren hin und her, linker Hand wartete ein ICE. Hinter mir lag das alte Postamt. Früher nannte man diesen Komplex – bestehend aus dem Hauptpostamt 1, dem Paketpostamt 7 und dem Bahnpostamt 17 – «Hühnerposten». Benannt nach der Straße gleichen Namens, die dort einst verlief. Hier hatte ich im April 1943 meine Lehrzeit begonnen – oder «Lernzeit», wie man früher bei der Post sagte. Rechter Hand von mir sah ich das Museum für Kunst und Gewerbe, auch das existierte seinerzeit schon. Auf der anderen Seite, wo jetzt das Elektronikkaufhaus Saturn steht, befand sich das Naturhistorische Museum, in dessen Haupthalle ein Walskelett gigantischen Ausmaßes zu sehen gewesen war. Damals war das in Hamburg eine große Attraktion. Im Krieg fiel das Museum leider den Bomben zum Opfer.

In Gedanken versunken begab ich mich auf eine imaginäre Reise, eine Zeitreise, 60 Jahre zurück. Und plötzlich war alles wieder da. Denn genau hier, am Hamburger Hauptbahnhof, hatte sie begonnen: meine lange Odyssee. Ich dachte an jenen kalten 4. Januar 1945 zurück, als eine rußigen Dampf ausstoßende Lokomotive den Zug aus der halbzerstörten Bahnhofshalle zog, in dem ich einem unbekanntem Schicksal entgegenrollte. Als angehender Frontsoldat saß ich damals in einem Waggon zwischen frustrierten Soldaten und Zivilisten. Auf meinen Knien hielt ich einen kleinen Koffer mit etwas Wäsche, in der Tasche meiner HJ-Uniform hatte ich den Einberufungsbefehl für ein sogenanntes Reichsausbildungslager. Dort sollte ich, ein junger Mensch von gerade mal 16 Jahren, zum Soldaten geschliffen werden. An dieser Stelle im Herzen Hamburgs begann die Irrfahrt eines Kindes, das für wenige Wochen in einen sinnlosen, apokalyptischen Krieg geschickt und in die Uniform der Waffen-SS gesteckt wurde – einer militärischen Organisation, die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich war. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass nur Verbrecher in ihr dienten. Sondern am Ende auch halbe Kinder, wie wir es waren.

Als zwölfjähriger «Pimpf» in der Kinderlandverschickung im Frühjahr 1941

Ich nahm mir an jenem Morgen vor, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Wenn alte Menschen ihre Lebensgeschichte schreiben, öffnen sie oft ein Ventil: Mitunter treibt sie Verbitterung um, zuweilen auch Wehmut, der Wunsch, etwas aufzuarbeiten, oder das Gefühl, der Nachwelt etwas Besonderes zu hinterlassen. In meinem Fall stand keiner dieser Beweggründe Pate. Vielmehr wollte ich meinem Sohn ein ganz persönliches Geschenk machen, ich wollte ihm «gelebte Geschichte» schenken, meine Lebensgeschichte, die auch ein Kapitel deutscher Geschichte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist. Ich war einer aus der Masse von schätzungsweise 3,35 Millionen deutschen Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Ähnliche Schicksale wurden schon viele erzählt. Doch erst, als ich in meinen Erinnerungen grub, als ich das Erlebte wieder zum Leben erweckte, wurde mir klar, dass meine Geschichte etwas Besonderes war, dass ich viele Dinge erlebt habe, die in den zahllosen Büchern, Filmen, Dokumentationen, die es über die Kriegs- und Nachkriegszeit gibt, so noch nicht publiziert worden waren.

Schwer verletzt überlebte ich das Kriegsende und wurde auf eine fünfjährige Reise durch insgesamt elf sowjetische Gefangenenlager geschickt. Dort erlebte ich schlimme Dinge – Zwangsarbeit, Hunger, brutale Behandlung und den Verlust vieler Kameraden, die an Krankheit, Entkräftung oder Hoffnungslosigkeit starben, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren. Doch ich machte auch Erfahrungen, die man in einer Kriegsgefangenschaft nicht unbedingt erwartet: Freundschaft und Anteilnahme selbst von Bewachern und Angehörigen des Volkes, deren Gefangene wir waren. Und ich erlebte die erste Liebe meines Lebens – zu einem Moskauer Mädchen, etwas jünger als ich. Ihretwegen wäre ich sogar freiwillig in der Sowjetunion geblieben. Meine Kameraden nannten mich damals nur Bubi, weil ich noch sehr kindlich aussah und mich vermutlich auch oft noch sehr unreif verhielt. Heute denke ich keineswegs mit Verbitterung an die Gefangenschaft, sondern habe sehr lebhafte Erinnerungen an eine Zeit, die mich geprägt hat und immer noch sehr beschäftigt. Verbitterung empfinde ich nur über jene, die diesen Krieg begannen und Millionen Unschuldige – darunter Jugendliche wie uns – als williges Kanonenfutter verheizten.

In einem Aufruf der Hamburger Morgenpost wurden anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes Zeitzeugen gesucht, die mit dem 8. Mai 1945 ganz persönliche und außergewöhnliche Erlebnisse verbanden. Ich meldete mich, ein Artikel über meine Odyssee erschien in dem Blatt. Jahre später schickte ich nochmals meine Erlebnisse an das Blatt, sehr viel detaillierter. Eher zufällig las der Politikredakteur Harald Stutte meine zu Papier gebrachten Erlebnisse und ermunterte mich, sie zu einem Buch auszubauen. Zwei Jahre brauchten wir, bis wir meine losen Erinnerungen zu dem vorliegenden Buch verdichtet hatten. Nicht die oft beschriebene Geschichte einer Niederlage, die eigentlich eine Befreiung war, sollte im Mittelpunkt stehen. Sondern das Schicksal von Jugendlichen und Kindern, deren Naivität und deren Enthusiasmus von den Nazis missbraucht wurden. Und die letztlich ebenfalls zu denen zählen, die für die Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes begangen wurden, die Zeche zahlen mussten. Der Missbrauch junger Menschen als willige Vollstrecker des Krieges ist also kein neues Phänomen. Nur die Dimensionen haben sich geändert. Hunderttausende Kindersoldaten – UNICEF, Terre des Hommes und Amnesty International bezeichnen damit «alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind» – werden heute in Kriegen in Zentral- oder Westafrika verheizt. Auch wenn die Situation mit der unsrigen damals nicht vergleichbar ist, so ist uns allen gemein, dass wir um unsere Kindheit, die wichtigste und prägendste Zeit des Lebens, betrogen wurden.

1. IM KRIEG

Eine Familie im Krieg

Ich stamme aus einer sozialistisch geprägten Familie. Schon mein Großvater, der Schneidermeister Adolf Schill, war in der sozialistischen Arbeiterbewegung Hamburgs engagiert und genoss sogar eine gewisse regionale Prominenz. Er war ein Veteran der USPD, einer Linkspartei, die sich noch während des Ersten Weltkrieges von der SPD abgespalten hatte. Ein Großteil der USPD war dann 1919 in der neugegründeten Kommunistischen Partei aufgegangen. Adolf Schill hatte die SPD-Legende August Bebel noch persönlich gekannt. Er war stolz darauf, Bausteine für den Bau des Gewerkschaftshauses – der «Waffenschmiede des Proletariats», wie er es nannte – gespendet zu haben. Mich nervten diese proletarischen Heldenlegenden zwar, denn ich war in meiner Jugend ein stolzer Hitlerjunge und Gefolgsmann Hitlers. Aber «verpfiffen» hätte ich meinen Opa nie, obwohl so etwas in anderen Familien durchaus vorkam. Mein Vater, der als Soldat im Krieg war, stand politisch sogar noch weiter links. Er war einst Mitglied im Rotfrontkämpferbund (RFB), dem paramilitärischen Arm der Kommunisten, ebenso mein Stiefvater, der neue Mann meiner Mutter. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Vater ebenso wie mein Stiefvater waren bis zu Hitlers Machtergreifung 1933 in der kommunistischen Bewegung Hamburgs aktiv gewesen.

Nach Hitlers Machtergreifung waren ganze Hundertschaften von RFB-Leuten der SA beigetreten. Ich erinnere mich noch, dass uns ein Freund meines Vaters besuchte, in nagelneuer SA-Uniform. «Komm doch auch zu uns, Hermann», bat er meinen Vater. «Sieh mal, die schönen braunen neuen Stiefel und die Uniform, alles umsonst. Der Führer will uns auch Arbeit beschaffen.» Mein Vater starrte ihn fassungslos an, Ehrlosigkeit und spontane Gesinnungswechsel waren ihm zuwider. Doch die Nazis machten es den ehemaligen Kommunisten leicht und waren nicht nachtragend, schließlich gab es auch ranghohe Nazis wie Joseph Goebbels, die einst kommunistischen Ideen anhingen. Hart und unnachgiebig bekämpften sie aber jene, die nach 1933 in den Untergrund gingen. Dazu fehlte meinem Vater der Mut, was ich sehr gut verstehen kann, denn die Überlebenschancen als kommunistischer Widerstandskämpfer waren gering. Er fügte sich still und wurde später zur Wehrmacht eingezogen. Seine innere Überzeugung jedoch gab er nicht auf.

Wir Kinder sahen in den erst allmählich einsetzenden Luftangriffen zu Beginn des Krieges noch eine Art Abenteuer, sie hatten für uns ein unterhaltsames Moment. Etwas weit hergeholt vergleichbar mit Fernsehen oder den heute so populären Computerspielen. Auch wenn es heute unglaublich klingt, empfanden wir das so, denn die Gefahr dieser Angriffe war uns anfangs noch nicht bewusst. In klaren Nächten standen wir draußen und sahen die Scheinwerferbündel unserer Flugabwehr am Himmel, auf der Suche nach englischen Fliegern, die sie mitunter erfassten. Hatten die hellen Leuchtbalken erst mal einen feindlichen Flieger fixiert, gab es für ihn in den meisten Fällen kein Entrinnen mehr, trotz all der fliegerischen Kapriolen, zu denen er ansetzte. Gebannt blickten wir zum Himmel, beobachteten das Duell und sahen, wie die kleinen Explosionswölkchen der Flakgeschosse die Flugbahn des Bombers säumten. Alle deutschen Städte waren eingebettet in einen Ring aus Flakstellungen, in denen ab 1943 Jugendliche, die sogenannten Flakhelfer, die Geschütze bedienten. Wurde der Flieger von einem Geschoss getroffen, freuten sich meine Freunde stets, jubelten, wie man sich heute während einer Fußball-Live-Übertragung über ein Tor seines Lieblingsvereins freut. So richtig begeistert war ich von dieser Jagd da am Himmel nie. Eigentlich freute ich mich nur, wenn ich am Himmel kleine Fallschirme sah. Hitlerjunge hin oder her – ich hatte Mitleid mit den abgeschossenen Piloten und gönnte ihnen die Rettung; zeigen und mitteilen mochte ich das aber meinen Freunden nicht.

Am folgenden Tag gingen wir Kinder dann die Straßen entlang und suchten Granatsplitter von den Geschossen der Fliegerabwehrkanonen. Wir tauschten sie untereinander. Wenn einer der Splitter noch ein Stück des Führungsringes aufwies, war es so wertvoll wie fünf andere Stücke. Am begehrtesten waren Bombensplitter aus Leichtmetall, dafür gab es unter uns Jungens zehn andere. In der ersten Zeit waren Leichtmetallsplitter für uns sogar so wertvoll wie eine seltene Briefmarke. Doch das Angebot an Fundstücken wurde im Verlauf des Krieges immer größer, der Umtauschkurs sank, Folge des forcierten Bombenkrieges der Alliierten gegen das Reich, das die Lufthoheit verlor und den Himmel über den Städten nicht mehr wirksam zu schützen vermochte. Immer mehr Bomben fielen und begruben so manchen der kleinen Sammler unter sich.

In den ersten Kriegstagen wurde in den Städten noch strikt auf Einhaltung der Verdunkelung geachtet. Fenster, Auto- und sogar Fahrradscheinwerfer mussten mit blauem Verdunkelungspapier beklebt werden. Nur kleine Lichtstreifen blieben ausgespart. Blockwarte liefen nachts durch die Straßen, «Licht aus!» riefen sie, falls jemand das Verdunkelungsgebot missachtete. Die Menschen trugen kleine, phosphoreszierende Abzeichen, in Hamburg waren das oft kleine Möwen. Daran sollte erkannt werden, dass jemand entgegenkam. In den Kinos und im Radio wurde gemahnt: «Denk an die Verdunkelung!» Doch all diese Vorsichtsmaßnahmen ließen später nach, denn die Alliierten bombardierten die deutschen Städte, ob sie nun dunkel waren oder nicht.

Aus sporadischen Bomberattacken wurden allmählich Großangriffe mit Bomberflotten, die den Städten schwer zusetzten. Schrecklich für uns waren die Nächte, die wir Großstadtkinder dann stundenlang im Luftschutzkeller sitzen mussten. Oft wurden wir nachts aus dem Schlaf gerissen, wenn die Sirenen heulten. Wir mussten dann in die bereitliegende Kleidung schlüpfen, wurden schlaftrunken von den Erwachsenen durchs zumeist kalte Treppenhaus gezogen, um die schutzverheißenden Luftschutzkeller zu erreichen. Dort warteten wir, bis der Albtraum endete, ein langgezogener Sirenenton gab Entwarnung. Dauerte der Alarm länger als drei Stunden, fiel am nächsten Tag die Schule aus. Wir empfanden das als kleine Entschädigung für durchlittene und durchwachte Nächte.

Als sich die Luftangriffe häuften, führten die Nazis die sogenannte Kinderlandverschickung ein – KLV abgekürzt. Kinder, vorzugsweise aus den besonders gefährdeten Großstädten mit Industrie, wurden in vermeintlich sichere Gebiete gebracht, vor allem aufs Land. Oft geschah das unter Zwang, und so manche Träne wurde vergossen, weil sich die Kinder nicht von ihren Eltern trennen wollten. Meist ging es nach Süd- oder Ostdeutschland sowie in die sogenannte Ostmark, wie Österreich seit dem Anschluss ans Deutsche Reich genannt wurde, oder nach Böhmen und Mähren. Die kleinen Kinder kamen in der Regel in die Obhut von Privathaushalten, die sich dafür freiwillig zur Verfügung stellten. Schulkinder indes gingen in Klassenformation mit Lehrern in dafür vorbereitete KLV-Lager. Hatte man Glück, kam der eigene Lehrer mit. Das war aber nur selten der Fall, denn die Lehrer erfanden oft Gründe, der ungeliebten Verschickungsaktion zu entgehen. Es gab aber auch Lehrer, die ihre Schüler begleiteten. Ein kleines Hamburger Mädchen wurde von ihrer Klassenlehrerin, einer gewissen Frau Hannelore Schmidt, heute bekannt als Loki Schmidt, Frau des Alt-Kanzlers Helmut Schmidt, damals in ein KLV-Lager ins fränkische Coburg begleitet. Zufällig war ich zur gleichen Zeit in diesem Lager, lernte das Mädchen aber nicht kennen, ein Jahrzehnt später wurde es meine Frau.

Für meine Familie, so wie für alle Menschen in Deutschland, war dieser Krieg längst allgegenwärtig geworden. Die Städte waren zerstört, fast jede Familie hatte gefallene Angehörige zu beklagen. Und die Nachrichten von der Front verhießen nichts Gutes. Auch im ganz alltäglichen Leben war die Not groß. Die Lebensmittel waren rationiert, wir Kinder wurden dazu verdonnert, in unserer Freizeit Rohstoffe zu beschaffen. So wurden die Haushalte aufgefordert, Fleischknochen aufzubewahren. Diese wurden dann wiederverwertet, zum Beispiel für die Herstellung von Seife. Kinder und Jugendliche rückten regelmäßig mit Bollerwagen aus, wir sagten damals Blockwagen dazu, um diese Knochen einzusammeln. Das organisierten die Schulen generalstabsmäßig. Unsere Lehrer teilten uns Häuserblocks zu, pro Kind zwei bis drei. Wir zogen dann nach Schulschluss los, klingelten an der Haustür, sagten einen Spruch auf, etwa folgenden Inhalts: «Heil Hitler, haben Sie Knochen?» Fast schon stereotyp bekamen wir dann blöde Antworten: «Ja, aber die brauche ich selbst noch …!» oder «Ja, die tun mir weh …» Einer sagte auch: «Sag dem Lehrer, ich hab nicht mal Fleisch, woher soll ich denn da die Knochen nehmen?»

Trotzdem trugen wir regelmäßig mehr oder weniger große Ladungen Knochen zusammen. Denn die Menschen hatten in sechs Kriegswintern gelernt zu improvisieren, vor allem zu organisieren. In den Großstädten wurden Haustiere gehalten, das Fleisch wurde gegen andere Dinge getauscht. Auf unserem Schulhof waren Tonnen aufgestellt, und ein Lehrer schrieb auf, wer wie viel Knochen mitbrachte. Dafür gab es dann Lob oder Tadel. Doch leider standen vor der Schule oft große Jungs, die uns Kleineren die Knochen abnahmen, weil sie zu faul waren, selbst welche zu sammeln. Und sie drohten uns Schläge an, würden wir ihren Diebstahl verraten. Gewalt unter Jugendlichen ist kein neues Phänomen unserer Tage. Hin und wieder waren die Großen aber auch gnädig und ließen uns einen Teil unserer Ausbeute.

Die Versorgung war schlecht, aber es reichte zum Überleben. Irgendwie. Die Freude war groß, wenn in den Zeitungen bekannt gegeben wurde, dass es sogenannte Sonderzuteilungen gab, Essensrationen zusätzlich zu dem, was uns kraft unserer Lebensmittelkarten zustand. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal in der Vorweihnachtszeit über ein zusätzliches Ei freuten. Man war bescheiden geworden. Das ewige Schlangestehen zerrte an den Nerven. Und man musste immer scharf aufpassen, dass der Krämer im Eifer des Gefechts nicht zu viele Abschnitte von der Karte trennte. Bei den vielen, winzig kleinen 50-Gramm-Abschnitten passierte das gelegentlich. Kam man dann nach Hause, gab es Krach mit der Mutter, weil diese Marken für uns Städter überlebensnotwendig waren.

Wenn auch nicht an den «Endsieg», so glaubten wir trotz der schweren Niederlagen, die auf das Desaster von Stalingrad folgten, gefüttert mit den Goebbels’schen Propagandamärchen aus Rundfunk und Zeitung, dass das deutsche Heer überall standhaft dem Ansturm einer Welt von Feinden trotzte, ungeachtet der immer wieder eingeräumten kleineren «planmäßigen Rückzüge». Da ich aus einem sozialistisch geprägten Elternhaus stammte, gab es bei uns zu Hause nie so etwas wie Kriegsbegeisterung. Meine Mutter hatte ihre eigene Art, dem NS-Regime ein klein wenig die Stirn zu bieten. In den Geschäften waren damals Schilder angebracht, auf denen stand: «Kommst du als Deutscher hier herein, dann muss dein Gruß ‹Heil Hitler› sein!» Meine Mutter aber rief stets halblaut «Hein Dittmer».

Zum sogenannten Führergeburtstag am 20. April hatten wir die Pflicht, die Fensterfront unserer Mietwohnung mit der Hakenkreuzfahne zu beflaggen. Meine Mutter kam dem nicht nach, hängte stattdessen ein rotes Federbett aus dem Fenster – in proletarischer Verbundenheit unserer kommunistischen Vergangenheit gedenkend. Der Blockwart, ein NS-Funktionär niederen Ranges, der mit der Kontrolle der Straßenzüge beauftragt war, klingelte bei uns und fragte empört, was das zu bedeuten habe. Meine Mutter, keineswegs auf den Mund gefallen, machte dem Mann unmissverständlich klar, dass wir keine Hakenkreuzfahne besäßen. Und außerdem seien ihre kleinen Kinder Helma und Jürgen Bettnässer. Deshalb hänge das in den Federbetten damals typische rote Inlett zum Trocknen an der frischen Luft. Der Mann war sprachlos und gab auf.

Die sozialistischen Attitüden meines Elternhauses ließen mich kalt. Denn ich war ein Kind meiner Zeit, 1928 geboren und aufgewachsen in der Hitler-Diktatur. Die Meinungsvielfalt und diese Lust an der politischen Kontroverse, welche die Zeit zwischen den Weltkriegen geprägt hatten, existierte für meine Generation nicht mehr, wir hatten das nie kennengelernt. Unter uns Jugendlichen haben wir so gut wie nie über Politik diskutiert. Wir kamen gar nicht erst auf die Idee, weil es ja nur eine Meinung gab, zumindest nur eine zugelassene. Der Führer war unfehlbar, das war in München, in Berlin und natürlich auch in Hamburg so. Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass Hamburger Gastwirte damals sehr besorgt waren, dass womöglich der Alkohol bei so manchem Gast die Zunge lösen könnte, was dann zu enormen Scherereien geführt hätte. In einer Kneipe nahe unserer Wohnung in Hammerbrook, in die ich mitunter mit einem großen, verschließbaren Fünf-Liter-Glasballon geschickt wurde, um Bier «außer Haus» zu holen, hing ein Schild, auf dem stand: «Sub di duun un freet di dick un hol dat Mul vun Politik!» (Sauf dich voll und fress dich dick und halt das Maul von Politik.) Was «draußen» tabu war, galt nicht für die eigenen vier Wände. Daheim wurde heftig diskutiert und gestritten, was mich allerdings abstieß, denn zumeist stritten meine Eltern und ihre Genossen unter Verwendung eines «revolutionären Kauderwelschs», zumindest empfand ich das so, das ich nicht verstand. Da ging es um «Revisionisten», die proletarische Vorhut, das Monopolkapital – ich verstand Bahnhof. Für mich war die Linie der Nazis maßgeblich, denn deren Botschaft schien klar zu sein, ihre Sprache war einfach und deutlich. Und sie waren die Sieger. Zumindest damals.

Ich hatte eine große Sammlung der damals üblichen Elastolin-Soldaten. Es gab Deutsche, Franzosen, Engländer, sogar abessinische Soldatenfiguren. Mein Bruder und ich waren die Feldherren, wir schickten unsere Heere in gewaltige Schlachten, wobei ich als der Lütte stets die ausländischen Truppen befehligen musste und natürlich immer verlor. Egal, wie clever ich meine Soldaten postierte, es gewannen immer die Deutschen unter General Hermann, so der Name meines zwei Jahre älteren Bruders. Als mein Vater eines Tages mitbekam, dass ich eine Gruppe SA-Männer und eine Figur von Hermann Göring mit nach Hause brachte, wurde er furchtbar wütend und warf sie alle ins Feuer des Ofens. Kurz darauf wurde er selbst Soldat. Er kam nach Frankreich und wurde 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.

Das dritte Kriegsjahr ging zu Ende. An den Fronten verließ uns das Glück. In Stalingrad kämpfte die 6. Armee ihren Todeskampf. Und in Hamburg? Die Silvesternacht auf das Jahr 1943 feierten wir mit bescheidenem Luxus: Man trank etwas Bier und rauchte die wenigen Zigaretten, die es für Raucherkarten gab. Wir besaßen ein Grammophon, zu den krächzenden Walzer- oder Tangoklängen der Schellackplatten tanzten die Erwachsenen. Auch das Radio dudelte leise vor sich hin, mit halbem Ohr musste stets einer lauschen, ob am Himmel über Hamburg Unheil in Form von Bombern drohte. Wir hofften, es würde kein «Feuerwerk» geben, denn was uns heute heiter stimmt, brachte uns damals Tod und Verderben.

Die Familie, einen Monat bevor mein Bruder Hermann (hinten rechts) starb. Vorne links meine Halbgeschwister Jürgen (6 Jahre) und Helma (9 Jahre), hinten links ich mit 14; in der Mitte meine Mutter Luise (34 Jahre). Das Foto entstand im Juni 1943.

Im April trat ich in Postuniform eine Lehrstelle am Postamt Hamburg 1 an. In Jahrgängen um eine Büste des «Führers» aufgestellt, mussten wir jeden Morgen antreten. Dann wurde ein Nazilied gesungen, und der zuständige Postsekretär, der dort auch Jahre nach dem Krieg noch tätig sein sollte, hielt eine markige, kurze Ansprache. Ein knappes «Sieg Heil», und ab ging die Post 

Und dann kam der Sommer 1943. Im Mai hatten meine Eltern Hamburg verlassen. Mein Stiefvater – meine Eltern hatten sich bereits 1932 scheiden lassen – wurde als Spezialist für den Flugzeugbau in einem Werk in Kuřim in Tschechien gebraucht, dem sogenannten Reichsprotektorat. Nur meine Mutter und meine zwei kleinen Geschwister durften ihn begleiten. Als Lehrlinge, also Berufstätige, hatten mein 16-jähriger Bruder und ich (zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre jung) in Hamburg zu bleiben. Zunächst kamen wir in der Familie meines leiblichen Vaters unter. Doch der war ja im Krieg, und seine neue Frau mochten wir nicht. Wir empfanden, sie sei egoistisch. Ich erinnere mich noch, dass uns Kindern damals kraft der Lebensmittelkarten Schokolade zustand. Doch meine Stiefmutter aß uns in schöner Regelmäßigkeit diese Schokolade weg. Außerdem stammte sie aus gutbürgerlichen Verhältnissen und fühlte sich in unserem proletarischen Umfeld nicht besonders wohl, was in ihrer schlechten Stimmung ihren Niederschlag fand. Sie schlug uns oft. Als ich einmal Schläge bekam, ging Hermann dazwischen, versetzte der Stiefmutter gar eine Ohrfeige und packte seine Sachen. «Gehst du mit zu Mutter?», fragte er mich. So beschlossen wir, den Rest der Zeit bis zur Rückkehr meiner Mutter und des Stiefvaters in den eigenen vier Wänden zu wohnen.

Und so bezogen wir die Wohnung unserer Eltern im Hamburger Osten, im Nagelsweg Nummer 49. Ein paar Häuser davor, im Nagelsweg 39, unterhielt meine Tante Olga Paasch ein kleines Gemüsegeschäft im Souterrain des Hauses. Tante Olga sorgte dafür, dass täglich etwas Warmes auf den Tisch kam. Hermann, der sehr dominant war und die Rolle des großen Bruders gelegentlich mit der des Vaters verwechselte, übernahm die Regie. Das Haus meiner Großeltern befand sich in der Hammerbrookstraße Nummer 8, einer Parallelstraße. Dort hatten sie auch ihre kleine Schneiderei. Ich erinnere mich noch, dass sich gegenüber dem Wohnhaus meiner Großeltern eine Ausgabestelle für sogenannte Volksgasmasken befand, die für fünf Reichsmark das Stück verkauft wurden. Sie sollten die Stadtbevölkerung im Falle eines Gasangriffes schützen und waren sehr simpel konstruiert.

Es war bis dato ein heißer Sommer, ein unbeschwerter Sommer gewesen, das Grauen des Krieges war zwar präsent, wurde aber eher mittelbar als Bedrohung wahrgenommen. «Ein feindlicher Bomberverband befindet sich im Anflug auf Nordwestdeutschland. Es folgt in Kürze eine weitere Vorwarnung!», verkündete am Abend des 24. Juli eine ruhige Stimme in unserem Radio Typ «Volksempfänger». Solche Meldungen gab es oft. Mitunter hatte man Glück, und es hieß kurze Zeit später: «Der gemeldete Kampfverband fliegt in Richtung Hannover – Berlin weiter.» Dann hatten die Menschen dort Angst, aber wir hatten Ruhe.

Doch an jenem 24. Juli 1943 sollte es uns treffen. Wir sollten Zeugen eines neuen, grausamen Kapitels in der Geschichte des Luftkrieges gegen Zivilisten werden. «Gomorrha» nannte die britische Royal Air Force die Operation. Heute wissen wir, dass es sich um die bis dahin schwersten Luftangriffe der Kriegsgeschichte handelte. Ein Grauen in mehreren Fortsetzungen, beginnend in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943. Und ausgerechnet unseren Wohnort, den Hamburger Osten, sollte es besonders schwer erwischen.

Nach der Vorwarnung erfolgte der Vollalarm. Zu diesem Zeitpunkt und noch bis Ende 1944 wurden bevorstehende Angriffe zuverlässig im Radio angekündigt. Erst danach, vor allem durch den Verlust der nordfranzösischen Kanalzone, in der die deutsche Frühaufklärung tätig war, brach das Frühwarnsystem zusammen.

Hermann und ich eilten in den Luftschutzkeller unseres Hauses, als wir den Signalton des Vollalarms vernahmen. An fast jedes Haus war damals mit Kreide «LSR» geschrieben, darunter wies ein Pfeil in die jeweilige Richtung. «LSR» bedeutete Luftschutzraum, es gab ihn in fast jedem Keller. Wir nahmen also unser Handgepäck, eine Tasche, in die wir unser wichtigstes «Spielzeug» gepackt hatten, und liefen zügig die Treppe hinunter. Unser Luftschutzraum war eigentlich eine Wäscherei, in der die Inhaber auch gleichzeitig wohnten. Wir saßen also mit etwa 20 Personen – fünf Männer, der Rest Frauen und Kinder – im unterirdischen Wohnzimmer, welches zur Wäscherei gehörte.

Das Licht wurde gelöscht, weil wir glaubten, es locke die Bomber an. Das war natürlich Blödsinn, denn durch die sogenannten Tannenbäume – das waren brennende Leuchtmarkierungen – glich die ganze Stadt längst einem gleißenden Meer aus Licht. Als die ersten Bomben fielen, erstarben auch die letzten Gespräche, die meisten Menschen im Keller hielt es nicht mehr auf den Stühlen, Sesseln, dem Sofa. Die Bomber der ersten Angriffswellen dröhnten über uns und ließen ihre todbringende Last fallen. Wir hörten Einschlag auf Einschlag. Bei schweren Einschlägen in unmittelbarer Umgebung rieselte der Putz von der Decke. Manche Frauen wimmerten, Kinder weinten. Wir hatten schon das Gefühl für Zeit verloren, als plötzlich Ruhe einkehrte. Wir hegten die begründete Hoffnung, dass die Angriffe nun vorüber seien. Denn so war es immer gewesen – bis zu diesem Zeitpunkt zumindest. Eine derartige Massierung von Angriffswellen, wie wir sie in den nächsten Tagen erleben sollten und die geeignet schienen, eine ganze Großstadt komplett auszulöschen, hatte es im ganzen Reich noch nicht gegeben. Also atmeten wir in der Hoffnung, das Schlimmste überstanden zu haben, zunächst einmal auf. Doch lediglich eine Pause gönnte man uns Hamburgern, eine Pause, um noch einmal so etwas wie zwei ganz normale Sommertage genießen zu dürfen – für viele Hamburger die letzten ihres Lebens.

Unser Haus war verschont geblieben, ein allerletztes Mal. Am 26. Juli ging ich einen Freund im Stadtteil Fuhlsbüttel besuchen. Unterwegs fielen mir die vielen zerstörten Gebäude auf, die bereits der ersten Bomberwelle zum Opfer gefallen waren. Im Erdkampsweg hob ich ein Flugblatt der Royal Air Force auf. Es hatte in etwa Postkartengröße. Darin wurde vor weiteren Angriffen gewarnt. Man riet der Bevölkerung, Hamburg zu verlassen. Ich warf das Blatt schnell wieder weg, denn auf die Verbreitung von «Feindpropaganda» stand bekanntlich die Todesstrafe. Über die Tatsache, dass die RAF Hamburgs Zivilbevölkerung durch Flugblätter warnte, habe ich später nie wieder etwas gelesen. Doch ich habe es an jenem 26. Juli 1943 mit meinen eigenen Augen gesehen.

Auch der 27. Juli war ein schöner Sommertag. Müde kamen wir abends von der Arbeit zurück. Wir dachten, besser: wir hofften, dass es heute ruhig bleiben würde. Ich erzählte Hermann von dem englischen Flugblatt. Wir kamen überein, dass es sich wohl um «Feindpropaganda» handelte, ohne Wahrheitsgehalt. Wir vermuteten, die Engländer hätten beim letzten Angriff schwere Verluste erlitten, sonst wären sie ja bereits in der vergangenen Nacht zurückgekehrt. Also legten wir uns schlafen, ließen aber wie üblich das Radio leise dudeln. Die Musik wurde unterbrochen, und die sonore Stimme des Sprechers verkündete wieder die schreckliche Botschaft: «Reichssender Hamburg! Über Drahtfunk wird ein großer feindlicher Kampfverband im Anflug auf Nordwestdeutschland gemeldet. Es folgt in Kürze eine Vorwarnung.» Zwanzig Minuten später ertönten in Intervallen die langgezogenen Sirenentöne. Voralarm. Wir klaubten unsere Habseligkeiten zusammen und suchten den Keller auf. In unserem Stadtteil gab es keine Schutztürme oder Hochbunker wie in anderen Vierteln der Stadt. Fast zeitgleich mit dem Auf und Ab des Sirenengeheuls setzte das dumpfe, hohl tönende Gewummer der Flak, also der Fliegerabwehrkanonen, ein, das aber kurze Zeit später im Bombenregen erstickte.

Das Sirenengeheul dieser Nacht sollte für Tausende Hamburger zu einem Requiem werden. Angstvoll, die Volksgasmasken umgehängt, standen wir im Keller, schauten an die Decke, die von Einschlägen in unmittelbarer Umgebung bebte. Die Bomberflotten kamen in mehreren Wellen. Das Heulen und Krachen hörte nicht auf, mal klang es weiter weg, mal ganz nah. Dazwischen gab es immer wieder kleine Pausen. Wir hatten große Angst und hofften auf ein baldiges Ende. Meist waren es sechseckige Stabbrandbomben, die auf der Straße lagen und fauchend ihren brennenden Inhalt ausspieen. Wir sahen sie durch unser schmales Kellerfenster dutzendfach. Dazwischen vernahmen wir aber auch immer wieder das entsetzliche Heulen der schweren Bomben, Blockbuster, wir nannten sie damals Luftminen, die mit ohrenbetäubendem Krachen einschlugen. Ihr Zweck war es, die Häuser abzudecken, sie schutzlos für den dann folgenden Phosphorbombenregen zu machen. Tatsächlich pusteten sie aber ganze Fassaden weg. Wir saßen da, die Hände über dem Kopf, und sehnten uns stumm nach dem Sirenenton, der Entwarnung bedeutete. Bislang hatte er uns stets aus diesem Albtraum erlöst. Doch es gab keine Entwarnung.

Und dann schlug es plötzlich bei uns ein! Es klang nicht einmal besonders laut. Etwa so, als würde im zweiten Stockwerk ein schwerer Schrank mit einem dumpfen «Rumms» umfallen. Einer der Männer unterbrach unser Schweigen: «Ich glaube, bei uns hat’s eingeschlagen. Habt ihr das gehört?» Wir alle hatten wohl gespürt, dass es dieses Mal unser Haus erwischt hatte, weil sich der Ausgangspunkt des Knalls direkt über uns orten ließ. Und es war auch keiner dieser berüchtigten Blockbuster, der unser Haus traf, sondern eine Phosphorbombe. Dass diese viel verheerender für unsere Häuser waren, ahnten wir damals nicht. Angst hatten wir stets vor dem großen Knall. Fünf Männer und wir zwei Jugendlichen aus dem Kellerbunker stülpten uns umgehend die Gasmasken über und liefen über die Treppen zum Dachboden. Wir wollten löschen, so wie es uns unsere Lehrer beigebracht hatten. Doch das war alles graue Theorie gewesen, die Realität war hoffnungslos. Es war Sommer, es hatte lange nicht geregnet, der Dachboden war aus massiven Holzbalken gezimmert, und zusätzlich lagen in den einzelnen Verschlägen Kohlen, gedacht als Wintervorrat. Das Feuer hatte also leichtes Spiel. Die Phosphorbombe hatten bereits ein höllisches Flammenmeer entfacht, alles brannte lichterloh. Es standen Feuerklatschen, einige Wassereimer und Kisten mit Sand bereit. Doch das war so, als wollte man mit einer Gießkanne einen Waldbrand löschen – ein vollständig sinnloses Unterfangen also, mit diesen armseligen Mitteln gegen ein flammendes Inferno ankämpfen zu wollen. Vor uns brannte es, hinter uns auch. Dennoch versuchten wir zu retten, was nicht mehr zu retten war. Da traf mich plötzlich ein Schlag gegen die Kehle. Eine durch das Feuer morsch gewordene Holzwand war krachend zusammengebrochen. Ich spürte, wie das durch das Feuer flüssig gewordene Gummi meiner Schutzmaske auf der Haut klebte. In Panik riss ich mir die Gasmaske vom Gesicht und wurde durch die toxischen Gase augenblicklich ohnmächtig.

Mein Bruder Hermann mit 16. Der Riss in dem Passfoto stammt von einem Granatsplitter, der mich an der Front in Mähren traf. Ich hatte das Foto in meinem Soldbuch verwahrt.

Hermann packte mich und trug mich nach unten. Er legte mich in den noch intakten Hausflur im Parterre, von wo aus eine große Steintreppe zur Straße führte. Die meisten Leute, die mit uns im Keller ausgeharrt hatten, brachten sich in Sicherheit, denn das ganze Obergeschoss unseres Hauses brannte bereits lichterloh. Inzwischen hatte ich wieder das Bewusstsein erlangt. Wir befanden uns zwischen einer großen Flügeltür, hinter der das hölzerne Treppenhaus begann, und der Haustür, die zur Straße führte. Immer mehr brennende Trümmer und Treppengeländer stürzten im Treppenhaus herab. Und dann kam Hermann auf die verhängnisvolle Idee, Tante Olga holen zu wollen, deren Gemüseladen sich nur ein paar Häuser weiter befand.

«Bleib ruhig liegen, Goschoi, ich hole Hilfe …», sagte er mir noch. Goschoi, das war mein Spitzname aus frühster Kindheit. Er sagte, ich solle keine Angst haben und in jedem Fall liegen bleiben, denn er komme gleich wieder. Hermann rannte also los – und kam nie wieder. Denn da draußen war inzwischen der gewaltige Feuersturm ausgebrochen, über den im Zusammenhang mit Hamburgs Auslöschung so viel berichtet worden ist. Durch die Straßenschluchten der brennenden Hansestadt fauchte ein glühend heißer Orkan, dem Hermann zum Opfer fiel. Vielleicht haben ihn auch herabstürzende Trümmerteile erschlagen, man wird es nie herausfinden, denn von ihm fehlt seitdem jede Spur. Er hätte schon deshalb niemals gehen dürfen, weil Tante Olga gar nicht zu Hause war, sondern früh genug in ihrem Gartengrundstück mit Häuschen in Billbrook Schutz gesuchte hatte. Dort war ihr nichts geschehen. Doch das erfuhr ich erst später. Vorerst lag ich noch immer im Hausflur, wartete auf die Rückkehr meines Bruders Hermann, inzwischen hatten alle Bewohner das Haus verlassen. Ich war verzweifelt. Viele Leute rannten an unserem Haus vorbei. Ich sah durch die offene Tür, wie sich Leute krümmten, zu Boden sanken und verbrannten. Viele nur noch auf die halbe Größe eines Erwachsenen geschrumpfte Leichen lagen umher, schwarz und verkohlt.

Zwei Frauen stolperten zu mir herein. Ihre Kleidung war zerfetzt, sie waren übersät mit Brandwunden. «Wir kommen aus der Sachsenstraße, dort ist nichts mehr zu retten», berichteten sie wimmernd. Die kleinen Querstraßen in Hammerbrook waren zu Todesfallen geworden. Wer nicht verschüttet wurde, verbrannte auf der Straße, wo die Menschen umherliefen, verzweifelt nach Schutzmöglichkeiten suchend, die es nicht gab. Viele sprangen in ihrer Verzweiflung zwischen Norder- und Süderquaistraße in einen Kanal. Aber auch da lauerte der Tod, denn es gab nur an wenigen Stellen Eisenleitern, die an den hohen Steinmauern Halt boten. Etliche ertranken. Andere verbrannten im Kanal, da an vielen Stellen aus lecken Schiffen und Kähnen Öl in den Kanal lief, welches der Feuersturm umgehend entzündete.

Ich lief in eine der Parterrewohnungen und ließ einen Eimer Wasser volllaufen. Gerade als er voll war, kam nur noch Rumpeln aus dem Wasserhahn, die Wasserversorgung setzte aus. Ich half den beiden Frauen, die Wunden mit Hemdfetzen zu verbinden, und kühlte die Brandwunden. Irgendwann liefen die beiden dann weiter. Ich blieb, ich wollte nicht ohne Hermann gehen, denn er hatte mir ja versprochen, zurückzukommen. Und ich wusste, dass er alles daransetzen würde, sein Versprechen zu halten. Doch allmählich wuchs bei mir die Überzeugung, dass ich dieses Haus verlassen müsse, falls ich überleben wollte, die Anzeichen mehrten sich, dass es bald vollständig einstürzen würde. Nach einer weiteren Ewigkeit entschloss ich mich dazu. Ohne Hermann. Ich rannte auf die Straße. Links und rechts stürzten die Häuserfassaden ein. Ich ging gebückt und langsam. Unterwegs begegnete ich einem älteren Mütterchen, dann schleppten wir uns zusammen durch die brennenden Straßen, durch die der Feuersturm fegte, der einem die Luft zum Atmen nahm. Wir pressten von Zeit zu Zeit unsere Gesichter auf das Kopfsteinpflaster, denn nur in den Ritzen zwischen den Steinen gab es noch kühle Luft, die wir einatmen konnten. Auf diese Weise mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgt, rannten wir wieder ein paar Meter gegen den Orkan aus glühend heißer Luft an. Es war wie im Vorhof der Hölle. Wir erreichten eine S-Bahnbrücke, dort saßen viele Leute, teils verwundet oder nur halb bekleidet, auf ihren wenigen Habseligkeiten. Ich besaß nur noch meine HJ-Uniform und die Gasmaske. Dann gingen wir in die Schule Norderstraße, wo ebenfalls viele Überlebende ausharrten, darunter sehr viele verletzte Menschen. In diese Schule war einst meine Mutter gegangen. Ich musste an sie denken und war froh, dass sie in Brünn und damit in Sicherheit war. Ringsumher brannten die Häuser bis zum Morgen. Ich lief in dem Gebäude umher und hoffte, Hermann zu finden. Es verfolgt mich bis heute: Ich sehe mich wie ferngesteuert durch Menschenmengen kämpfen und hoffe jeden Augenblick, das bekannte Gesicht meines Bruders zu entdecken – erfolglos. Bis zum nächsten Morgen blieb ich in der Schule.

Sehr früh wachte ich auf. Ich torkelte wie benommen über die Trümmergebirge zwischen verkohlten Leichen umher. Es war wie eine Szene aus Dantes Inferno. Und es war hoffnungslos. Hamburg war zu einem Großteil zerstört. Beseelt von dem einzigen Gedanken, Hermann wiederzufinden, nahm ich das Grauen um mich herum nur mechanisch wahr. Ich sah überall schwelende Trümmer. Es folgten noch zwei Nächte schwerer Bombenangriffe. Ich erinnere mich noch, dass die Häuser Nagelsweg 69 und dahinterliegend Gustavstraße 4 als einzige Gebäude in unserer Gegend von den alliierten Bombenangriffen verschont geblieben waren. Vor allem die östlichen Stadtteile Hamburgs waren von «Gomorrha» betroffen. In Hamm-Süd wurden, genau wie in Eilbek, 80 bis 90 Prozent der Gebäude vernichtet. Hammerbrook und Rothenburgsort wurden sogar vollständig ausgelöscht. Wegen der drohenden Seuchengefahr wurden die beiden Stadtteile später zugemauert. Die verkohlten Leichen wurden in Waschwannen fortgeschafft. Ich irrte umher wie ein Getriebener. Ein Soldat hielt mich an und forderte mich auf, beim Bergen der Leichen zu helfen. Aber ich rannte davon. Ich war einfach nicht in der Lage dazu. Ich ging zur Hamburger Universität, wo eine «Auffangstelle» für Bombenopfer eingerichtet worden war. An der Uni wurde ich «registriert». Weil ich eine angesengte HJ-Uniform trug, war man der Meinung, ich hätte mich aktiv an der Opferbergung beteiligt. Das führte dazu, dass man mich zum Kameradschaftsführer der HJ beförderte. Den Brief bekam ich später ausgehändigt.

Der Nagelsweg in Hamburg-Hammerbrook nach dem Feuersturm im Juli 1943. Rechts hinten ist zu sehen, was von unserem Haus übrig blieb.

Quelle: Hamburger Hochbahn

Als Ausgebombter bekam ich eine Lebensmittelkarte für sieben Tage, sogar Zigaretten, echten Bohnenkaffee und Schokolade. Außerdem eine Fahrkarte nach Brünn und einen «Durchlassschein» ins «Protektorat». Am nächsten Tag fuhr ich also nach Tischnowitz nahe Brünn, wo meine Mutter, mein Stiefvater und die jüngeren Geschwister lebten. Ein Jahr blieben wir dort. Ich beendete mein zweites Lehrjahr und lernte nebenbei ganz leidlich Tschechisch, was mir später noch sehr zustatten kommen sollte. Nach dem einen Jahr in Brünn kamen wir wieder zurück nach Hamburg, wir wohnten nun im Keller eines zerstörten Hauses.