Dieter Moor

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Geschichten aus der arschlochfreien Zone

Inhaltsverzeichnis

Bevor es losgeht

Trucker

Blindkauf

Orientierungsverlust

Pauken und Trompeten

Erkenntnis

Freuden der Nacht

Abgang Wessis

Terminvereinbarung

Bauer Müsebeck

Opfer und Täter

Land in Sicht

Federvieh

Dazwischen

Schlangenhaut

Gelandet

Schlaflos in Amerika

Hell, blond, dunkel

Gartenzauber

Hansens Rache

Freie Aussicht

Blöd

Prinzip Hoffnung

Kirschblütenträume

Teddy

Hürlimann

Heu

Schwester Alma

Brauchen und haben

Fremdes Heu

Waltraut

Iwan der Schreckliche

Krüpki

Ramboiaden

Landeroberung

Hanne

Schwarzköpfe

Himmel auf Erden

Muttermilch

Feuerwehr

Der Eingemauerte

Glatzenalarm

Kümmerlinge

Der Tag danach

Danke

Bevor es losgeht 

In den sogenannten neuen Bundesländern gibt es gleich mehrere Orte namens «Amerika». Es gibt da auch Tausende Dörfer, die über einen Dorfteich verfügen. Es gibt bestimmt sogar Dörfer, die ein Reiterstandbild ohne Reiter aufgestellt haben. Sie alle verbindet mit dem Dorf, in dem dieses Buch spielt, nicht das Geringste. So wenig wie das Dorf, in dem meine Frau und ich unseren Hof betreiben.

Vermutlich fände man, würde man nur lange genug suchen, auch eine real existierende Konsum-Fachkraft, die sich weigert, Frischmilch in ihr Sortiment aufzunehmen. Und einen Single, der Lastwagenmodelle sammelt und auf dessen Lieblings-T-Shirt «no woman, no cry» zu lesen ist. Auch Typen, die sich aus Angst vor der Welt freiwillig selber einmauern, oder Hebammen, die nach einer Messerstecherei ein Hundeleben gerettet haben, mag es wirklich geben. Falls Sie, liebe Lesende, solche Menschen kennen sollten: Ihre Bekannten haben nichts, aber auch gar nichts mit den Menschen zu tun, die Sie in diesem Buch kennenlernen werden.

Um es klarzumachen: «Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig …» und so weiter.

Was ich hingegen versucht habe, so erlebnisecht wie möglich zu schildern: wie es ist, als kleiner Schweizer, zusammen mit einer Österreicherin, in deren Brust das Herz einer Löwin schlägt, in den Weiten Brandenburgs anzukommen, sie zu erspüren und Wurzeln zu schlagen.

Um es klarzumachen: Ähnlichkeiten zwischen mir und dem Erzähler in meinem Buch sind beabsichtigt.

 

Dieter Moor, im Sommer 2009

Trucker

Alles läuft rund auf meiner Fahrt ins neue Leben: Mein Jeep arbeitet die Hunderte von Kilometern Autobahn souverän unter sich weg, die beiden großen Berner Sennenhündinnen pennen schicksalsergeben auf der Ladefläche hinter mir, und sogar die Katzen haben sich mit der Tatsache abgefunden, unwürdig in Käfigen transportiert zu werden.

Der große Hänger mit den nötigsten Habseligkeiten für die ersten Wochen, den ich seit 800 Kilometern immer wieder sorgenvoll im Rückspiegel überwache, läuft seit einer Stunde wie auf Schienen, ohne Ausbruchsversuche. Der Verkehr ist überschaubar auf dem sechsspurigen, brandneu wirkenden Betonband, das mich durch die ostdeutsche Landschaft zieht. Der Tempomat synchronisiert mich mit der Reisegeschwindigkeit der großen 50-Tonner.

Easy driving.

Inzwischen habe ich auch gelernt, dass die Lichthuperei der dicken Brummer, nachdem man sie überholt hat, freundlich gemeint ist: «Kannst wieder einschwenken, Kumpel, bist weit genug vor meiner Schnauze.» Und dass man sich für diese Fürsorge artig mit kurzem Einschalten des Pannenblinkers zu bedanken hat. Ich fühle mich zugehörig zur mächtigen Flotte der 80-km/​h-Beschränkten, die mit hundert Sachen im Schnitt durch die Lande donnern.

Sogar einen vernünftigen Radiosender habe ich inzwischen gefunden. «Nur für Erwachsene» ist dessen Motto. Da fühle ich mich doch angesprochen! Die zwei Moderatoren zerpflücken gerade intelligent und respektlos einen Berliner Stadtrat und dessen Prämienflüge in den Urlaub. Die legendäre Berliner Schnauze in Reinkultur. Der Interviewte reagiert erstaunlich schlagfertig für einen Lokalpolitiker. Es wird gelacht, obwohl die «Sache an sich» ein Skandal zu sein scheint. Wie wohltuend nach dem zögerlichen Um-den-heißen-Brei-herum-Gerede in den Medien meiner Schweizer Heimat.

Das Frühaufstehen hat sich gelohnt. Vor dem sommerlichen Morgengrauen losgefahren und jetzt gut in der Zeit! Laut Navi werde ich die Autobahn um 16 : 00 Uhr endlich verlassen und locker vor fünf im Dörfchen Amerika, Bundesland Brandenburg, planmäßig einlaufen. Perfekt. Die Keksrolle von der letzten Tanke ist fast gefuttert, die O-Flasche zu drei Vierteln leer, Benzin noch für 200 km. Der Hintern tut langsam weh, alle Zeichen stehen auf «baldige Ankunft». Ein Schild zieht vorüber: Wickelitz 60 km. Mein Ziel liegt etwa 10 Kilometer weiter.

Plötzlich will ich die Landschaft, die meine Wahlheimat werden wird, in der ich mir den Rest meines Lebens zu verbringen vorgenommen habe, nicht mehr einfach nur vorüberziehen lassen, aus Autobahnsicht, wie ein Ostblock-Tourist. Ich will sie en detail erleben, langsamer. Ich programmiere das Navi um: von «schnellste» auf «kürzeste Strecke».

Der Kilometerfresser-Stress liegt hinter mir. Schmale Straßen jetzt, lange Alleen bis zum Horizont. Wunderbar: offene Landschaft. Schlaglöcher auch, aber das hält ja wach. Kleine Dörfer. Ich erreiche Wickelitz. Na ja, gut, das ist nun nicht sooo sehr schön. Alte Garnisonsstadt, viel Kleinindustrie. Angeblich soll hier das militärische Strategiezentrum der DDR gewesen sein. Eine Menge SED-Bonzen. Jetzt: verfallene Fabriken, dann wieder Tankstellen, Baumärkte, Reihenhaussiedlungen, Resopal-Hotels auf den Äckern – Nachwende-Idylle.

Ein Wegweiser: Amerika. Eigentlich müsste ich ein Foto machen von diesem gelben Schild mitten in der grünen Landschaft. Es wirkt verheißungsvoll 

Das Navi rechnet aus: noch acht Minuten bis zu meinem neuen Zuhause.

Blindkauf

Mein neues Zuhause.

Das ist aber auch schon alles, was ich weiß. Mein neues Zuhause, das ich mir noch nicht einmal angesehen habe. Das ich blind gekauft habe. Ich Wahnsinniger. Ich zwangsverschicke mich selber an einen Ort, vor dem mich jeder vernünftige Mensch gewarnt hat:

Höchste Arbeitslosigkeit Deutschlands. Dumpfe Ossis. Alkoholiker und Neonazis. Die gesunde Bevölkerung flieht. Zurück bleiben die Loser, die Alten, die Gescheiterten, die Kaputten. Das vergessene Land. Das Land, welches Kohls berühmten Ausspruch von den «blühenden Landschaften» zum Dauerlacher werden ließ. Und da willst du hin? Da war nie was, da wird auch nie was sein, und du willst ernsthaft dahin? Du bist bekloppt!

Die Euphorie von eben weicht dem mir so vertrauten Gefühl vor Theaterpremieren oder wichtigen TV-Auftritten: dem Lampenfieber. Wenn es gut läuft: Triumph. Wenn nicht: Niedergang. Aber das hier ist kein Theaterstück, hier geht es um mein Leben. Bis jetzt habe ich mich ja immer irgendwie durchgeschlagen. Nach dem Bach-Prinzip: Der Bach sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstandes und bringt sein Wasser, zwar über Umwege, aber dennoch ins Meer. Das funktionierte als junger, alleinstehender Mensch sehr gut: Wenn es wo nicht passt: weg, next, fertig.

Das war die Zeit, in der ich noch drauf geachtet hatte, nicht mehr irdische Güter mein Eigen zu nennen, als in einen VW-Bus passen. Also etwa die Menge, die jetzt in meinem Anhänger verstaut ist. Aber da ist noch ein ganzer Bauernhof in der Schweiz, voller Möbel, Klamotten, Bücher, Schallplatten, Teppiche, Geschirr, Tonnen von Geschäftspapier, dem Restmüll unserer aufgelösten TV-Produktionsfirma, der von Gesetzes wegen aufgehoben werden muss. Da steht noch eine riesige Scheune voll mit landwirtschaftlichem Gerät, Maschinen, Werkzeug, Zaunmaterial, Pferdekram und einem Heuwender, Zweitakt, Baujahr 59. Dieser ganze Riesenberg von Dingen und Sachen und Undingen und Unsachgemäßem, das zwei Menschen im «besten Alter» früher irgendwann einmal ganz furchtbar dringend gebraucht und deshalb angeschafft hatten und die wir jetzt am Hals haben.

Das will alles noch verladen und hierhergebracht werden. Und wenn dieses «hierher» sich als Riesenfehler entpuppt? Dann steh ich da mit 30 Tonnen Besitztum. Was tut ein Obdachloser mit 30 Tonnen Schweizer Zivilisation? Hat doch unter keiner Brücke Platz 

Ganz abgesehen davon erwarten zwei große Hunde und vier Katzen einfach von mir, irgendwo zu Hause sein zu können. Und die vier Esel, das Pferd, die Enten, die in einer Stunde per Spezialtransport unter tierärztlicher Aufsicht im neuen Zuhause eintreffen? Die stehn dann da. Die kann man ja auch nicht einfach am Halfter nehmen und sagen: «Na, schaun wir mal, ob es nicht doch in der Toscana schöner ist.»

Kurz: Meine Sonja und ich haben es hier auszuhalten, auch wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht zum Aushalten ist … Wobei Sonja wenigstens über den kleinen psychologischen Vorteil verfügt, dass sie, im Gegensatz zu mir, den Hof in Amerika schon kennt. Sie hat ihn gefunden, sie hat entschieden: Hier ist gut sein.

Nie werde ich ihren Anruf vergessen, der mich auf dem alten Hof in der Schweiz erreichte. Sie lebte bereits in einer kleinen Wohnung in Berlin, ich hütete Hof und Tiere in der Schweiz, so gut es eben ging, neben meiner Arbeit für das Schweizer Fernsehen. Sonja hatte seit fast einem Jahr neben ihrem Berliner Job als Filmproduzentin jede freie Stunde genutzt, einen Hof zu finden, der passen könnte. «Passen» bedeutete:

1. Wir müssen ihn uns leisten können. Heißt, die vielen leerstehenden adeligen Gutshäuser: fallen weg.

2. Das dazugehörige Land muss arrondiert sein. Nicht dort ein Fleckchen und hier ein Stückchen, sondern klassisch ein Haus mit Land drum rum. Heißt, die Hunderte leerstehender sogenannter Resthöfe: fallen weg.

3. Maximal eine Stunde Fahrzeit in die Berliner City. Heißt, die Zehntausende leerstehender Gehöfte in der Uckermark, der Lausitz oder dem Oderbruch: fallen weg.

«Mein lieber Maaaaaan», scholl es aus dem Telefonhörer. «Ich sitze grade in einem kleinen Dorf namens Amerika beim Dorfwirt im Gastgarten. Es is narrisch!» (Meine Frau ist Österreicherin.)

«Es gibt wirklich ein Dorf, das Amerika heißt?», fragte ich. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, ich wäre gar nicht der Sohn meiner Eltern, sondern das durch einen schrecklichen Zufall vertauschte Kind reicher Amerikaner, die aussehen wie «Tammy» («Das Mädchen vom Hausboot») und Little Joe («Bonanza»), und jeden Moment konnte es geschehen, dass die beiden vor unserer Tür stünden. Tammy würde mich glücklich an ihre spitze Brust drücken, und Joe würde mir einen echten kleinen Colt schenken, und sie würden mich mitnehmen auf ihre Ranch in … verdammt, jetzt würde dieser Traum vielleicht Wirklichkeit werden: eine Farm in Amerika. Ohne Tammy und Joe. Zum Glück.

«Ja!», lachte Sonja. «Amerika, es heißt echt Amerika, es is so narrisch. Über mir das Blätterdach der alten Bäume, die Vögel zwitschern in den Büschen, die Abendsonne scheint mir ins Gesicht, und ich hab mir einen Hof angesehen.»

Blitzschnell analysierte ich: Sonja ist gut drauf («lieber Maaaaan» nennt sie mich nur, wenn sie freudig aufgelegt ist), das Dorf ist ruhig (Vogelgezwitscher), es handelt sich um kein Schlafdorf, sondern um eines mit lebendiger sozialer Struktur (Dorfwirt), es ist ein kleines Dorf (sie sitzt beim Dorfwirt und nicht bei einem Dorfwirt), es steht nicht im Schatten einer Chipfabrik oder einer Zeppelin-Montagehalle (Sonne im Gesicht), und der Hof, um den es geht, ist interessant. Immerhin hat sie ihn angeschaut, ist nicht, wie so viele Male zuvor, sofort wieder gefahren, verärgert über die Zeit, die ihr der Makler stahl mit einem Angebot, das mit unseren Suchkriterien und seinen Schilderungen so viel gemein hatte wie eine frischgefangene Lachsforelle mit den labbrigen Fischstäbchen von vorgestern.

Das hörte sich gut an. Bis jetzt.

«Und?», fragte ich mit belegter Stimme.

«No ja.» Nichts weiter, nur dieses «No ja», gefolgt von Schmatzgeräuschen. Wahrscheinlich verleibte sie sich gerade ein Stück hausgemachten Brandenburger Streuselkuchen ein oder zerkaute einen Wildschweinbraten, hiesige Jagd. Natürlich reine Verzögerungstaktik, ihre Mampferei. Sie wollte mich auf die Folter spannen. Und die Tatsache, dass sie mich auf die Folter spannte, bedeutete doch, dass sie eine sensationelle Neuigkeit mitzuteilen hatte. Das war ein gutes Zeichen, ein sehr gutes sogar. Ich wurde nervös.

«Was isst du denn gerade?», wollte ich wissen. Bloß nicht anmerken lassen, dass das mit dem Auf-die-Folter-Spannen prächtig funktionierte.

«’ne Strippe.»

«Was?»

«’ne Strippe.» Schmatz, kau, schluck.

«Telefonstrippe, Hanfseil, Kupferleitung oder was für ’ne Strippe?»

«’n Brötchen. Die heißen hier Strippen, weißt du?»

«Warum?»

«Weiß nicht.»

Sonja sitzt also bei einem Wirt, der zu Brötchen «Strippen» sagt. Ruhig bleiben.

«Ach so, ’n Brötchen isst du. Lass es dir schmecken.»

«Tu ich. Und bei dir, alles gut?»

«Ja, alles gut, aber was …»

«Schön, freut mich. Du mein lieber Maaaaaaaaan, du.»

«Sonja, du rufst mich doch nicht an, um mir zu erzählen, dass du Strippen isst.»

«Schmecken aber gut!»

Es war Folter. Sie hätte noch stundenlang smalltalken können, wissend, dass ich danach schmachtete zu erfahren, was nun mit dem besichtigten Hof ist.

«Sonja, was ist mit …»

«Hmmm?»

«Was ist mit dem Hof?»

«No ja …»

«Das sagtest du schon.»

«Nett.»

«Wie nett?»

«Sehr nett.»

«Und?»

«Das fragtest du schon.»

«Sonja!»

«Ich glaub, der isses.»

UFF! Preis? Zustand? Lage? Größe? Nebengebäude? Land? Ich ließ ein Trommelfeuer von Fragen auf Sonja niederprasseln, die sie wie aus der Pistole geschossen beantwortete. Der Hof bestand aus einem großen zweistöckigen Ziegelsteinhaus, leider nicht mehr mit der original Stuckaturfassade, sondern mit grobem Spritzverputz, wie er in der DDR Standard war – keiner weiß so recht, warum eigentlich. Aber voll unterkellert, was hier selten zu finden ist bei alten Höfen. Das bedeutete: kein Schimmel, gutes Wohnklima, genügend Lagerplatz. Ein großer Keller ist Gold wert! Außerdem ein Stallgebäude, wunderschön in Sichtbackstein-Bauweise, die Eselchen und das Pferd könnten sofort darin wohnen. Eine große Scheune, klassische Bauweise, unten Feldsteine, ab drei Metern Ziegel. Das Dach marode, müsste neu gemacht werden. Land an den Hof angrenzend.

«Wie viel?»

«Die Hofstelle ein halber Hektar plus zweieinhalb Hektar Weide.»

Wow. Das war gut! 25 000 Quadratmeter, doppelt so viel, wie wir in der Schweiz hatten!

«Und das Dorf?»

«Gut, sehr gut», erzählte Sonja. «Eine Dorfpfuhle.»

Dieses neue Wort kannte ich, Pfuhlen werden in Brandenburg jene Teiche genannt, die früher den Gänsen und Enten der Dorfgemeinschaft als Lebensraum dienten, den Kindern als Badeseen und der freiwilligen Feuerwehr als Löschteich. Sonja berichtete, die Pfuhle sei umrahmt von der Dorfwiese, dem Anger. Um diesen wiederum würden sich die Häuser gruppieren. Der Hof liege absolut «downtown», mitten im Dorf.

«Aber wollten wir nicht eher außerhalb, für uns, allein stehend …?», wandte ich ein.

«Hintenraus hast du nix außer Feld und Wiese. Der Hof liegt mittendrin und gleichzeitig am Rand!»

«Ach, so klein ist das Dorf?!»

«Etwa 200 Einwohner, schätze ich. Es gibt einen kleinen Dorfladen für den täglichen Einkauf, und stell dir vor: ein kleines Schloss. Also, es sieht eigentlich nicht sehr schlossig aus, eher wie ein Gutshof, wird aber hier trotzdem Schloss genannt. Und eben die ‹Graue Gans›, die gibt’s hier auch. Die Wirtsleute sind total nett, ich frag ihnen gerade Löcher in den Bauch über Amerika.»

Lachen aus dem Hintergrund. Das musste das Wirtepaar sein.

«Und weißt du, was direkt gegenüber dem Hof steht?», fuhr Sonja fort.

«Machst du jetzt einen auf Quizmasterin?», erwiderte ich.

«Das errätst du nie!»

«Na, wenn ich es nicht errate, dann sag’s mir halt. Was Schlimmes?»

«Nein, was Monströses. Aber schön, richtig schön.»

«Ein holländisches Treibhaus mit Gentomaten?», ließ ich mich nun doch auf die Quizshow ein.

«Quatsch», tönte es aus dem Hörer, «ich sagte doch, was Schönes.»

«Ein holländisches Treibhaus mit Biotomaten?»

«Ich sag doch, du kommst nicht drauf, brauchst gar nicht weiterraten.»

«Gut, ich rate nicht weiter.»

Stille am anderen Ende der Leitung.

«Sonja, bist du noch dran?»

«Klar.»

«Verrätst du mir jetzt, was …»

«… ein Pferd.»

«Ein Pfeeeerd?», echote ich.

«Ein riesiger Bronzehengst. Auf einem Bronzepodest.»

«Was, ein Reiterstandbild? Ich bin überwältigt. Napoleon, Friedrich der Große oder gar Erich Mielke?»

«Nein, ohne Reiter. Einfach nur ein Hengst aus Bronze. Prächtig.»

«Gehört der Monsterhengst zum Schloss, steht das Haus beim Schloss oder wie?»

«Nein, das Schloss ist am anderen Ende vom Dorf, der Hengst steht vor der Pfuhle, genau gegenüber vom Haus. Ist das nicht wunderbar? Wir sehen direkt auf den Hengst von Amerika!»

«Äh, ja, wunderbar, ganz wunderbar. So einen bronzenen Hengst hat nicht jeder vor der Hütte …»

«Ach, Ditaaa!»

«Sonja, was ich eigentlich fragen wollte …»

Sollte ich sie jetzt wirklich wagen, die alles entscheidende Frage? Die Frage, wie es sich für Sonja anfühlte, dieses Amerika, der Hof? Schon zweimal dachten wir, fündig geworden zu sein. Ich war nach Berlin geflogen, wir hatten uns das Fundstück angesehen, hatten beratschlagt, gerechnet, Visionen entwickelt. Eines der seltenen gemeinsamen kurzen Wochenenden lang. Dann war ich zurückgehetzt, um auf dem Schweizer Hof den Umzug vorzubereiten. Nach ein paar Tagen hatte Sonja angerufen, sie sei noch einmal dort gewesen. Sie würde «es nicht spüren», würde «nicht wissen, warum gerade hier».

Ich zählte dann noch einmal die Gründe auf, zum Donnerwetter: «Wir können es zahlen, es ist nah genug an Berlin, es hat einen Stall für die Tiere, es hat ein wenig Land gleich angrenzend, darum!»

Sonjas Skepsis jedoch blieb beide Male. Ich kannte sie nun schon lange genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, etwas durchdrücken zu wollen gegen ihre Intuition. Die wenigen Male, wo wir es dennoch getan hatten, bereuten wir es später bitter. Also hieß es den männlichen Aktionismus bremsen und auf die weiblichen Schwingungen vertrauen. Eine Zen-Meister-Übung für mein ungeduldiges Temperament!

«Bist du noch dran? Du wolltest was fragen», unterbrach Sonja meine Erinnerungen. Ich gab mir einen Ruck.

«Ja, äh, mein Schatz, wie … wie fühlt es sich an?»

«Noooo … joooo … sag ich doch.»

«Wie? Heißt das gut? Fühlt es sich gut an?»

«Glaub schon.»

«Sonja!»

«Ja, fühlt sich gut an!»

Stille auf beiden Seiten. Atmen. Endlich. Das Ungewisse, die Unsicherheit, der Zweifel hatten ein Ende. Das Leben in einer Ehe über 800 Kilometer Distanz, die Hin-und-her-Reiserei, würde vorbei sein. Endlich.

«Dann kauf!», rief ich.

«Wann kannst du herfliegen und es dir anschauen?»

«Du sagst, es fühlt sich gut an, also kauf!»

«Aber du musst es dir doch zuerst …»

«Muss ich nicht, kauf! Dir gefällt es, das reicht. Kauf es!», beschwor ich sie.

«Aber Ditaaaa!» So nannte sie mich, wenn sie Stress hatte. «Dann bin ich schuld. Was ist, wenn es dir nicht gefällt?»

Tja, was ist, wenn es mir nicht gefällt … denke ich jetzt, drei Monate später. Wenn der Kauf doch ein Fehler war. Wie alt muss ich denn noch werden, um vernünftig zu agieren, wie alle anderen mündigen Menschen? Man schaut sich Häuser an, bevor man sie kauft! Denkt nach, fährt nochmal hin. Wägt ab. Entscheidet mit Bedacht. Aber ich musste ja wieder meiner Ungeduld die Zügel schießenlassen mit meinem «Kauf, kauf, kauf es!». Nun haben wir gekauft, es gibt kein Zurück. Jeder Euro, den wir auftreiben konnten (Dank an die Bank), steckt in diesem Hof. Wir haben leichtfertig von schuldenfrei auf Schuldenlast gewechselt. Ein Rückzieher ist schon aus finanziellen Gründen schlicht und ergreifend nicht drin.

Aber was erwartet mich in diesem Ort mit dem Namen, der wie ein Versprechen klingt und von dem ich nur ein paar Bilder im Internet gesehen habe? Wie werden wir auf diesem Hof, den ich nur von Sonjas Beschreibungen und ein paar schlechten Fotos vom Makler kenne, wirklich leben? Werden wir scheitern, wie so viele, deren Häuser wir uns angesehen haben? Werden wir, wie sie, in ein paar Jahren den Hof desillusioniert und abgekämpft zwangsversteigern müssen? Kein Zuhause mehr haben, dafür den Arsch voll Schulden? Werden unsere Träume vom Leben auf dem Land den Bach runtergehen – und mit ihnen unsere Liebe? Und was wird dann aus unseren Tieren?

Ach du lieber grüner Heinrich, in was für ein Riesending haben wir uns da bloß hineinmanövriert!

Orientierungsverlust

Uuups, Vorsicht, die Bäume dieser schmalen Alleen stehen aber dicht an der Straße! Ich konzentriere mich wieder aufs Fahren. Keine Zeit jetzt für schwermütige Gedanken … Ich bin noch an die Sonntagsfahrerstraßen der Schweiz gewöhnt. Glatter Teer selbst auf den entlegensten Feldwegen, Tempolimits vor jeder Kurve, weiß reflektierende Linien entlang allen, aber auch wirklich allen Straßenrändern.

Hier hingegen rumpelt es heftig, das Land wuchert fließend in den brüchigen Asphalt, die Kurven kommen ohne Vorankündigung und plötzlich doch enger als gedacht. Ulkige Warnschilder: ein Comic-Autochen, einen Baum frontal küssend. Sehr nett. In meinem Heimatland hat man in den Sechzigern fast sämtliche Alleen mit Schweizer Gründlichkeit ausgerottet. Jetzt sind die Straßen, auch über den Rand hinaus, «sauber», und kein böser Baum kann den Autochen etwas antun.

Momo und Zora, die beiden Sennenhündinnen, spüren, dass wir uns einem Ziel nähern. Sie äugen aufmerksam durch die Scheiben, wedeln mit den Schwänzen. Es gefällt ihnen, was sie jetzt sehen, nach Stunden auf der Autobahn, was sie riechen, selbst noch durch die Filter der Klimaanlage. Wir tauchen in einen Waldweg ein.

Seltsam, das ist doch keine Verbindungsstraße zwischen zwei Orten? Dazu ist sie viel zu schmal. Wenn sich hier zwei Fahrzeuge kreuzten, wären beide nur noch mit den linken Rädern auf befestigter Straße. Aber es kommt uns keiner entgegen. Was ja wieder seltsam ist. Da stimmt doch was nicht! Das Navi jedoch hält unerschütterlich an dieser Route fest. Noch drei Minuten bis Amerika.

Scheiße, nein!

«Brücke gesperrt, keine Durchfahrt» – das Schild hängt an einer rot-weiß lackierten Holzlatte, die das Sträßchen in Hüfthöhe absperrt. Ich traue meinen Augen nicht. Wo war das Warnschild?, fragt der kleine Schweizer in mir. Wo die Sackgassen-Tafel? Wo der Vor-Wegweiser und der Vor-vor-Wegweiser, der den geschätzten Automobilisten rechtzeitig über die Versperrung seines Weges informiert? Wo das Schild für die Umleitung? Wo die freundlichen Polizisten, welche neben dem rot-weiß lackierten Volvo vor der rot-weiß lackierten Holzlatte mit ihren rot-weißen Leuchtstäben zu winken haben, damit man schon von weit, weit her sehen kann: «Aha, da ischt öppis.» Und die einem dann exaktestens Auskunft geben, warum, wie lange, wegen wem und ab wann dann sicher wieder nicht die Brücke «zu ischt» und wie man das Problem umfahren kann:

«Einfach da vorne links reinheben und dann den Schildern nach bis zum Waldrand, durch das Wohnquartier – Achtung, da isch dann nur dreißig, hä –, und dann sind Sie in Amerika. Tut uns leid, hä. Aber die Brücke ist nur noch 99,99 Prozent sicher, drum müssen wir vorsichtshalber, bis der Kantons-Chefstatiker sein Gutachten, oder. Es geht ja auch um Ihre eigene Sicherheit, oder. Wenn Sie sich verfahren sollten, fragen Sie einfach einen der 200 Pfadfinder, die wir vorsorglich im Wald verteilt haben, damit, falls sich einer verfährt, der die dann fragen kann, hä. Tut uns also leid, gäll, dass Sie jetzt 30 Sekunden später in Amerika sind, wenn Sie wollen, hier ischt das Beschwerdeformular wegen dem Schadenersatz und dem Benzinkostenanteil. Schönen Tag noch, geht das Wenden mit dem Anhänger, oder sollen wir den Bergepanzer anfordern, wäre kein Problem, der steht gleich da drüben bereit mit vorsorglich vorgewärmtem Motor.»

Wo sind die Helfer, die Ratgeber, die Vor-Sorger und die Be-Sorgten, die von Amts wegen hier sein müssten?

Und wo ist eigentlich diese Brücke?

Ich steige aus. Die Hunde bellen. «Also gut, raus mit euch.» Wir verharren. Lauschen der Stille. Kein Autobahngedröhne in der Ferne. Kein Motorsägengeknattere. Keine fröhlich Lieder trällernde Wandergruppe. Keine sich in ihrem typischen Schreiton unterhaltenden Cross-Road-Biker. Einfach Stille. Ich höre sogar mein Blut in den Ohren rauschen. Nicht mal das Plätschern des Baches 

Ach so ja, die Brücke, wo ist sie? Vorsichtig, um ja nichts zum Einsturz zu bringen, tauche ich unter der Sperrlatte durch und wage einige zögerliche Schritte. Keine Brücke zu sehen. Auch hundert Meter weiter nicht. Wenn ein Schild ankündigt, die Brücke sei gesperrt, muss es doch eine Brücke 

Erst als ich zum Jeep zurückgehe, sehe ich sie, die «Brücke». Eine unter dem Laub von Jahren kaum wahrnehmbare Betonplatte, vielleicht drei Meter lang, neben der das Gelände tatsächlich jäh in die Tiefe abfällt: gut und gerne 40 Zentimeter. Kein Schaden zu erkennen. Kein Grund, da nicht drüberzufahren. Ich müsste nur diese Sperrlatte aus der Verankerung, die ist ja nicht mal ordentlich befestigt. Kein Mensch weit und breit 

«Obacht!», ruft der kleine Schweizer in mir. «Es muss einen Grund haben, dass hier gesperrt ist. Vielleicht liegen Blindgänger vom Krieg unter der Betonplatte, und sie wollten das so nicht aufs Schild schreiben, um Panik zu verhindern.»

Ich hole Rat beim Navi. Zurückfahren würde bedeuten … ja, das gibt’s doch nicht, Umweg 40 Kilometer, 45 Minuten? Dazu bin ich nicht bereit. Nein, definitiv nicht. Nicht mit mir, Freunde, mit mir nicht. Ich muss unbedingt in Amerika sein, bevor der Tiertransport eintrifft. Ich kann meine Sonja nicht ganz alleine die Tiere abladen und Stall und Weide einrichten lassen. Das schafft sie nicht. Ich werde gebraucht! Und ich akzeptiere nicht, dass ich nach 800 Kilometern … Also ich protestiere energisch! Genauer: Ich fluche. In den stillen Wald hinein. Die Hunde sehen mich verwirrt an. Warum bellt das Alphatier so ängstlich in diesem verheißungsvollen Paradies?

Der kleine Schweizer in mir gewinnt. Man fährt nicht über eine amtlich gesperrte Betonplatte, nein, das macht man einfach nicht.

«Momo, Zora, rein mit euch!»

Mühsam wende ich Jeep samt Hänger auf dem schmalen Sträßchen. Ich bin dennoch nicht willens, diesen idiotischen Umweg zu nehmen. Wozu habe ich schließlich einen Geländewagen? Ich fahr einfach auf Forstwegen. Nach Kompass, das ist auf jeden Fall schneller. Da vorne kühn links rein ohne langes Federlesen, wie die Schweizer Polizisten geraten haben – geraten hätten, wenn die Brücke in der Schweiz wäre. Los geht’s Richtung Amerika. Hurra mit Gebrüll, wir kommen, wir eilen, wir fliegen!

Im Schritttempo.

Der Forstweg wird nach fünf Minuten zum Forstweglein, nach sechs Minuten zum Fußweg, nach vier Minuten zum schmalen Fußweg, dann zum Trampelpfad, und endlich zu … nichts. Ende, Sackgasse. Diesmal richtig. Ein Forstweg, der einfach aufhört. Das gibt es doch nicht! Forstwege münden IMMER in andere Forstwege, die in Forststraßen münden, die in Landstraßen münden, die in Bundesstraßen münden, die in Autobahnen münden. So hat das zu sein! Wo ist der Sinn eines Weges, der, bevor er in einen anderen Weg einmündet, einfach aufhört, ein Weg zu sein – mitten im Wald?

Die uralten Eichen und Buchen absorbieren meine Schweizer Kraftausdrücke stoisch in ihrem Laub. Jetzt haben die Hunde ganz viel Grund, mich verwirrt anzuschauen, und der Wald ist überhaupt nicht mehr still. Ich stelle mir ein Wildschwein als Zeuge der absurden Szene vor. Es grunzt ein altes Liedchen vor sich hin:

Ein Schweizer steht im Walde nicht still und stumm,

er hat ein purpurn Köpfchen und schaut gar dumm.

Das tu ich wirklich. Ich sitze in der Falle! Wenden ist hier völlig unmöglich mit dem Hänger. Das Auto stehenlassen und zu Fuß nach Amerika, wie es Indiana Jones gemacht hätte, geht aus zweierlei Gründen nicht. Der Kompass ist im Armaturenbrett verankert, nicht herausnehmbar. Und die Katzen? Die kann ich ja unmöglich einfach hier zurücklassen. Und selbst wenn ich Amerika erreichen würde: Wie fände ich jemals zum Auto zurück in diesem forstweglosen Dickicht ohne Wegweiser? Und ohne Schweizer Pfadfinder? Die einzige Option: zurückschieben, samt dem monströsen Hänger. Nicht im Schritttempo, nein, im Schneckentempo. Einer sehr alten Schnecke.

Nach nur 45 Minuten habe ich es geschafft. Ich bin wieder bei der Brücke!