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Johannes Wilkes

Der Fall Fontane

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Karte: Johannes Wilkes

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von:
© https://commons.wikimedia.org/wiki/File:

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Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6020-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Karte

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Gedicht

Ich hab’ es getragen sieben Jahr.

Und ich kann es nicht tragen mehr,

wo immer die Welt am schönsten war,

da war sie öd’ und leer.

 

Theodor Fontane

Dienstag

»Bist du denn als Kind schon mal hier gewesen?«, wunderte sich Mütze.

»Nicht körperlich«, erwiderte Karl-Dieter und grinste.

Was gibt es Schöneres, als sich an einem sonnigen Sommermorgen aufs Rad zu schwingen? Fand zumindest Karl-Dieter. Mütze hätte gerne noch ein zweites Frühstücksei gelöffelt, aber was half’s? Karl-Dieter sprühte vor Unternehmungsgeist wie eine Wunderkerze. Heute sei ein ganz besonderer Tag, heute würden sie zum Traumort seiner Kindheit radeln.

Die Sache mit dem Fahrradurlaub ist natürlich Karl-Dieters Idee gewesen. Sich interessante Orte anzuschauen und dabei gleichzeitig die Fitness zu verbessern, das sei doch die optimale Kombi. Wie hat es Fontane ausgedrückt? »Luft und Bewegung sind die eigentlichen geheimen Sanitätsräte!« In ihrem Alter würde es schon gar nicht schaden, etwas für die Gesundheit zu tun. Mütze hatte skeptisch gelächelt. Für die Gesundheit? Karl-Dieter meine wohl eher sein neues Abspeckprogramm. Ob da nicht ein richtiges Fahrrad geeigneter wäre? – Auch ein E-Bike sei ein richtiges Fahrrad, hatte Karl-Dieter nur säuerlich erwidert. Schließlich müsse man auch beim E-Bike trampeln. Der einzige Unterschied sei, dass man die Anstrengung feiner dosieren könne.

»Na, dann dosier’ mal fein!«

Mütze trat kräftig in die Pedale. Niemals wäre er auf ein E-Bike gestiegen. War er ein gichtgeplagter Opa? Mann, er war ein harter Bulle in den besten Jahren! Wenn schon Fahrrad, dann Mountainbike, so ein knackiges X-Trail-Rad ohne jeden überflüssigen Schnickschnack. Karl-Dieters Einwand, in der Mark Brandenburg seien richtige Berge in etwa so zahlreich wie Skandale an seinem Erlanger Theater, ließ Mütze nicht gelten. Ein Mountainbike war etwas für echte Kerle, egal, wo’s langging. Und sei es eine Fahrradtour durch die Sandwüsten der Mark Brandenburg.

»Eine Radwanderung!«

»Wie bitte?«

»Radwanderungen durch die Mark Brandenburg, so nennt sich unsere Reise!«

Mütze schnaubte. Musste Karl-Dieter neuerdings alles unter ein Motto stellen? Konnten sie nicht einfach zehn Tage vor sich hin radeln? Ganz absichtslos, einfach ins Blaue hinein? Nein, Karl-Dieter hatte beschlossen, eine Fontane-Gedächtnistour daraus zu machen. Fontane sei nun mal einer seiner Herzensautoren und Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« ein Highlight der Literaturgeschichte. Davon könne man nur profitieren. Theodor Fontane hatte einmal einem Freund beschrieben, wie er bei seinen Recherchereisen vorgegangen ist, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Feld pickt. Auf solche Ähren hoffte auch Karl-Dieter, die vielleicht schönste wollte er heute pflücken.

Flott ging’s voran. Karl-Dieter hatte den Schalter auf maximale Unterstützung gestellt und raste mit zum Platzen gefüllten Akku dahin, als wollte er die Tour de France gewinnen. Zugleich jedoch saß er äußerst entspannt im Sattel und betrachtete mit sichtbarer Lust die vorbeiziehende Landschaft. Hätte Mütze auch nur den Hauch eines romantischen Anflugs in sich gespürt, er hätte zugeben müssen, was für ein anmutiges Bild sich ihnen bot. Über den Wiesen schwebten zart die Reste des Morgennebels, glitzernd funkelten die Tautropfen in den Hecken und Büschen, und über dem weiten grünen Land begann sich der Himmel blau zu wölben. Kaum zu glauben, dass Berlin nur einen Katzensprung hinter ihnen lag. Zwischen alten Kopfweiden tauchte der Kirchturm eines nahen Dorfes auf, nach einer Viertelstunde das Ortsschild »Ribbeck«.

Es gibt Orte, da ist man noch nie gewesen, und dennoch verbindet man mit ihnen die lebhaftesten Bilder. Jedenfalls ging das Karl-Dieter so. Besonders mit Orten seines Lieblingsschriftstellers Fontane. Der Eriesee in Nordamerika? Nie dagewesen – und doch sah Karl-Dieter die »Schwalbe« darüber fliegen, das in Flammen stehende Dampfboot, dessen Gischt schäumte wie Flocken von Schnee. Der Tay, Schottlands mächtiger Fluss? Vor Karl-Dieters Augen raste der unglückselige Mitternachtszug über die Brücke, durch heftigen Wintersturm, in den Abgrund, in die Tiefe, in den Tod: »Tand, Tand ist das Gebilde aus Menschenhand!« Der schönste, der lebendigste aller literarischen Orte aber war zweifelsohne das Städtchen Ribbeck. Karl-Dieter spürte, wie sein Herz höher zu schlagen begann. Ribbeck, sein Ribbeck! So schlicht, so einfach, und doch voller Magie. Was verband sich nicht alles mit diesem Namen? Bald würde er den Zauberort mit eigenen Augen betrachten können, nur noch ein paar Minuten, dann waren sie dort.

Mit feierlichem Gesicht stand Karl-Dieter vor dem kleinen Bäumchen. Es war nicht mehr der Originalbirnbaum, aber was machte das? Es war derselbe Ort, der alte Friedhof von Ribbeck, derselbe Wind blies durch die grünen Blätter, zwischen denen sich die zarten Fruchtansätze versteckten, in Sichtweite das ehrwürdige Schloss der von Ribbecks, das Doppeldachhaus. Die Fahrräder hatten sie an die Wand der nahen Kirche gestellt, ein niedriger, rustikaler Bau, wie er in der Mark Brandenburg üblich zu sein schien. Karl-Dieter schloss kurz die Augen, dann begann er das Gedicht vorzutragen:

 

»Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Ein Birnbaum in seinem Garten stand …«

»Wöff, wöff, wöff!« Ein winziger Kläffer kam aus dem Gebüsch gestürmt und bellte Karl-Dieter an, ein zerzaustes weißes Etwas mit schwarzen Knopfaugen. Karl-Dieter aber war entschlossen, sich durch nichts und niemand stören zu lassen, nicht jetzt, nicht in diesem erhabenen Moment.

 

»… und kam die goldene Herbsteszeit

Und die Birnen leuchten weit und breit …«

»Wöff, wöff, wöff!« Wilder noch klang das Gebell, eindringlicher, fast verzweifelt. Karl-Dieter hielt ärgerlich inne. Wo kam der Zwerg nur her? Warum gab er keine Ruhe? Was wollte er nur? Wo war sein Frauchen, wo sein Herrchen? Er hatte sich wohl losgerissen, die Leine hing ja noch an seinem Halsband. Ach, was soll’s, sein Besitzer würde sicher gleich kommen. Karl-Dieter schloss die Augen wieder.

 

»… da stopfte wenn’s Mittag vom Turme scholl

Der von Ribbeck sich beide … Autsch! Mistvieh!«

Nachdem ihm der weiße Strubbel in die Radlerhose gezwickt hatte, schoss das Hündchen mit einem wilden Sprung davon, drehte sich abrupt um, bellte heiser, machte drei weitere Sprünge, drehte sich wieder um und bellte erneut.

»Der will uns was zeigen!« Mütze folgte dem Hündchen hinter ein nahes Gebüsch und pfiff durch die Zähne.

Eine Axt. Mitten im Schädel. Kein schöner Anblick. Selbst wenn sich in dem blanken Teil des Stahls, dort, wo er nicht mit Blut verschmiert ist, hell die Morgensonne spiegelt, hat man doch kein Auge für derlei optische Raffinessen. Nicht jetzt, nicht in einem solchen Moment. Es gibt ein paar Dinge, die passen einfach nicht zusammen. Eine Axt hat in einem Kopf nichts zu suchen, erst recht nicht in einem menschlichen.

»Wahnsinn«, flüsterte Karl-Dieter atemlos.

Mütze bückte sich nieder. Das Blut, das dem Toten übers Gesicht lief, glänzte frisch. Die Axt, sie konnte noch nicht lange im Schädel stecken. Mütze erhob sich rasch und sah sich um. Kein Mensch, nirgends.

»Halt’ doch mal den Hund zurück«, sagte Mütze und zog sein Handy hervor.

Das weiße Knäuel hatte damit begonnen, dem Toten das Gesicht sauber zu lecken. Eilig schnappte sich Karl-Dieter die Leine und zog den winselnden Hund ein Stück zur Seite.

Noch unwilliger als sonst trat Mütze in die Pedale, vorbei an einem Maisfeld, das zu einem Labyrinth gestaltet war. Seine Laune war im Keller. Hinter seinem Rücken lag ein Dorf, in dem ein grauenhafter Mord passiert war, ein Täter war zu ermitteln – und er sollte sich an Kuhweiden ergötzen? Zwar hatte ihm der nette Herr Kollege versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten, aber was half ihm das! Seinen Vorschlag, ihnen bei den Ermittlungen zur Hand zu gehen, hatte man dankend abgelehnt. Westliche Amtshilfe bräuchte man zum Glück schon seit einer geraumen Weile nicht mehr, hatte Treibel, so hieß der Kollege, hinzugefügt. Der Spott war nicht zu überhören gewesen. Rudi Treibel war ein Mann seines Alters, allerdings mit einer etwas gemütlicheren Figur. Sein Witz und seine wachen Augen verrieten den hellen Kopf. Wohlwollend hatte Treibel Mütze auf die Schulter geklopft, der Herr Kollege solle nur in aller Ruhe weiterradeln und die schöne Mark und seinen verdienten Urlaub genießen. – Urlaub genießen! War das für Mütze schon ein Widerspruch in sich, so erst recht in einer solchen Situation.

Auch Karl-Dieter fühlte sich elend, wenngleich aus gänzlich anderen Gründen. Mit bleichem Gesicht surrte er mechanisch vor sich hin. Der Anblick des Toten ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie zerbrechlich das Leben doch war. Ein einziger Schlag, und es herrschte ewige Finsternis. Der Mann wird nichts gespürt haben, hatte Mütze trocken bemerkt. Als wenn das ein Trost wäre! Während Mütze mit den Kollegen diskutiert und auf die Spurensicherung gewartet hatte, hatte sich Karl-Dieter um sich abzulenken den Rest des alten Birnbaums angesehen, den Original-Ribbeck-auf-Ribbeck-Birnbaum, dessen Stumpf man, nachdem ihn ein Sturm gefällt hatte, in der alten Kirche aufbewahrte. Der alte Stamm hatte sich manches von seiner Würde bewahrt, Karl-Dieter aber hatte die Kirche dennoch schnell wieder verlassen. Nichts von der erhofften Stimmung hatte sich eingestellt. Dabei hatte er sich so auf Ribbeck und seinen Birnbaum gefreut! Unzählige Male hatte ihm Tante Dörte, die ihn wie eine Mutter aufgezogen hatte, das Gedicht aufsagen müssen, oft an Samstagabenden, wenn er aus der Badewanne geklettert war und es sich in seinen Frotteebademantel gekuschelt auf dem Plüschsofa gemütlich gemacht hatte.

 

Da stopfte wenn’s Mittag vom Turme scholl

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,

Und kam in Pantinen ein Junge daher,

So rief er »Junge, wiste ne Beer?«

Und kam ein Mädchen, so rief er: »Lütt Dirn,

kumm man röwer, ich hebb ’ne Birn.«

Währenddessen hatte ihm die Tante mit dem flauschigen Badetuch die Haare trockengerieben. Wie sich das angefühlt hatte! Karl-Dieter spürte heute noch die sanft kreisenden Bewegungen, die Wärme, die davon ausging, hörte heute noch den Zauber in der Stimme der Tante.

 

So ging es viel Jahr, bis lobesam,

der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.

Er fühlte sein Ende, ’s war Herbsteszeit,

Wieder lachten die Birnen weit und breit …

Im Ruhrpott ist stets an den Samstagnachmittagen gebadet worden, obwohl es damals, als der Pott noch rauchte, sicher häufiger nötig gewesen wäre. Aber man hatte es nicht dicke, wie man an der Ruhr zu sagen pflegt, auch am Wasser musste gespart werden. An allen anderen Tagen hatte der Waschlappen reichen müssen, an den Samstagen aber wurde das Badewannenritual zelebriert. Die Wärme des Wassers, der Duft des Apfelshampoos, die vertraute Stimme der Tante …

 

Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab.

Legt mir eine Birne mit ins Grab.«

Karl-Dieter merkte, wie ihm etwas leichter ums Herz wurde. Lag es am Ribbeck-Gedicht? Vielleicht, nein ganz sicher! Woraus speiste sich dessen Zauber denn? Doch einzig und allein aus der Gewissheit, dass manche Dinge eben unsterblich sind. Vielleicht war es auch nur ein einziges Ding, und dieses Ding musste die Kraft der Liebe sein. In was für Kleidern kam sie nicht daher! Immer wieder neu, immer wieder überraschend. Im Gedicht ist es die Liebe des alten Ribbecks zu den Kindern gewesen. Ihnen zuliebe hatte er sich eine Birne mit ins Grab legen lassen. Aus der Birne war ein neuer Baum gewachsen, der die Kinder auch nach seinem Tode reich beschenkte.

 

Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her,

so flüstert’s im Baume: »Wiste ’ne Beer?«

Und kommt ein Mädchen, so flüstert’s: »Lütt Dirn

kumm man röwer, ick gew’ di ’ne Birn.«

Ob auch der Mann mit der Axt im Schädel rechtzeitig den Samen der Liebe gepflanzt hatte? Vielleicht bei einem Kind, das er durch seine Liebe wetterfest gemacht hatte für die Stürme des Lebens, vielleicht bei einem Enkel, der nie vergessen wird, wie warmherzig die Stimme seines Opas geklungen hat, vielleicht bei einem Freund, dem er ein treuer Begleiter bleiben wird bis zuletzt und wenn auch nur in der Erinnerung. Liebe war so wunderbar vielfältig, sie konnte die unterschiedlichsten Formen annehmen. Hatten das nicht zuletzt die traurigen Augen des kleinen Hundes bewiesen? Karl-Dieter hob den Kopf und sah wehmütig lächelnd zu Mütze hinüber, der stumm in die Pedale trat. So scheußlich der Tod auch war, er war nicht das Ende. Ganz gewiss nicht. Überall konnten neue Birnbäume blühen, man musste nur rechtzeitig ans Pflanzen denken.

 

So spendet Segen noch immer die Hand,

des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. (1)

Was suchten Priester und Redner verkrampft nach passenden Worten bei einer Beerdigung? Karl-Dieter fasste den Beschluss, sich für seine Beerdigungsfeier nur das Gedicht vom »Ribbeck« zu wünschen. Mit diesem Gedicht war doch alles Wesentliche gesagt.

»Was habt ihr denn bereits herausgefunden?«

Die Freunde hatten einen sanften Höhenzug erklommen und saßen nun auf einer kleinen Bank, von der aus man den nächsten Ort liegen sah: Fehrbellin. Mütze biss in seine Salamistulle, die er sich beim Frühstück heimlich geschmiert und eingesteckt hatte, etwas, was Karl-Dieter niemals tun würde.

»Der Tote stammt aus Ribbeck. Er heißt Gerhard Krumbiegel, ist 66 Jahre alt und verheiratet. Seine Frau konnte verständigt werden. Ihr Mann würde den Hund jeden Morgen zur gleichen Zeit ausführen, immer den gleichen Weg entlang.«

»Denselben Weg.«

»So sagte ich.«

Karl-Dieter verkniff sich eine Bemerkung. »Also immer am Birnbaum vorbei?«

»Anzunehmen«, sagte Mütze kauend.

»Es könnte ihm also jemand aufgelauert haben.«

»So isses.«

»Gibt es schon einen Verdacht?«

»Nop.«

Karl-Dieter schüttelte missbilligend den Kopf. Musste Mütze diesen Slang benutzen? Rutschte er etwa in die Midlife-Crisis? Wollte er einen auf jugendlich machen?

»Bitte tu mir einen Gefallen und red’ anständig!«

»Jap!«

Mütze war immer noch sauer, das war nicht zu übersehen. Karl-Dieter beschloss, das Thema zu wechseln. Warum musste Mütze auch so scharf auf Leichen sein! Lag das am Beruf? Freute sich ein Arzt etwa auf die nächste Krebsdiagnose, ein Feuerwehrmann auf den nächsten Großbrand? Schon klar, jeder Mensch suchte berufliche Herausforderungen, wollte zeigen, was er gelernt hatte. Und doch, ein Kommissar, der sich Verbrechen herbeisehnte, war das nicht pervers?

»Schau, da drüben, der Turm.«

»Du meinst die Liliputausgabe der Siegessäule?«

»Mit dem Gold-Elschen obendrauf, genau. Da kann man raufsteigen.«

Diese Preußen! Schon ziemlich verrückt, sich so eine unsinnige Säule mitten in die Landschaft zu stellen. Der Blick von der Aussichtsplattform aber war fantastisch.

»König Friedrich Wilhelm IV. fand die Landschaft seiner Mark zum Gähnen langweilig, deshalb hatte er alles drangesetzt, sie mit markanten Gebäuden aufzuhübschen.«

Was Karl-Dieter nicht alles wusste! Mütze wunderte sich einmal mehr.

»Und wieso Siegessäule?«

»Die Schlacht bei Fehrbellin, der Startschuss für Preußens Gloria. Sechzehnhundert-schlag-mich-tot hat der große Kurfürst den Schweden eins auf den Schädel gegeben.« (2)

Auf den Schädel gegeben! Mütze musste wieder an den Toten denken. Die Axt hatte den Scheitel voll erwischt, der Schlag war direkt von vorne erfolgt. Das Letzte, was das Opfer von dieser Welt gesehen hatte, musste sein Mörder gewesen sein. Keine Kampfspuren, keine Verletzungszeichen an den Händen oder Armen. Krumbiegel musste so überrascht gewesen sein, dass er nicht die geringste Abwehrreaktion gezeigt hatte.

Karl-Dieter bemerkte nicht, wohin Mützes Gedanken gingen, und erzählte mit Blick auf die sich vor ihnen liegende Landschaft begeistert weiter. Dass sich rundherum einst ein großes Sumpfgebiet erstreckt habe, dass die Preußenkönige Holländer gerufen hätten, das Land trocken zu legen, dass man mit dem Torfabbau halb Berlin befeuert habe.

»Von Theodor Fontane gibt es dazu eine schöne Stelle in seinen ›Wanderungen‹. Soll ich sie dir vorlesen?«

»Später.« (3)

Mütze blickte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Da hinten lag Ribbeck. Dort waren Treibel und seine Kollegen gerade eifrig dabei, Zeugen zu befragen und Spuren zu sichern. Wieder spürte Mütze grimmigen Ärger in sich aufsteigen. Das war doch Folter pur! Und ungerecht, zutiefst ungerecht! Wer hatte den Toten schließlich gefunden? Zuständigkeit hin, Zuständigkeit her, es gab doch auch so etwas wie eine natürliche Zuständigkeit. Und wem stand die anders zu als ihm, Mütze. Zudem bei diesem Toten, bei dieser Tat. Mit der Axt mitten in den Schädel. Krach! Das kam nicht jeden Tag vor, selbst nicht in der Mark Brandenburg, wie Treibel gewitzelt hatte. Treibel hatte gut lachen. Im Land Brandenburg geschahen dreimal so viele Gewaltverbrechen pro Nase wie in Bayern. Gut für die Bayern, schlecht für einen bayerischen Mordkommissar.

Lebhaft hatten sie ein mögliches Motiv diskutiert. Angenommen, es ist eine Beziehungstat gewesen. Dann müssen heftige Emotionen mit im Spiel gewesen sein, ein starkes Rachebedürfnis etwa, erzeugt durch eine massive Kränkung. Mit einer Knarre zu töten ist leicht, da braucht es nicht viel. Den Finger gekrümmt, piff-paff, das war’s. Mit einer Axt aber tötet nur jemand, der voller Hass ist, der den anderen nicht nur töten, der ihn vernichten will.

»Schau mal in die andere Richtung, schau mal nach Norden«, sagte Karl-Dieter, »die Stadt an dem langen See dort, das ist Neuruppin. Soll die preußischste aller preußischen Städte sein. Dort ist Fontane zur Welt gekommen.«

»Jap«, erwiderte Mütze und schnippte eine tote Fliege von der Brüstung. In einer traurigen Spirale segelte sie den grünen Wiesen entgegen.

Radweg war nicht gleich Radweg. Erst recht nicht im Havelland. Mal glitt man über frischen Asphalt dahin wie auf Schienen, mal wurde man vom Kopfsteinpflaster durchgerüttelt, mal ging es über feinen Schotter, mal über den nadelbedeckten Boden lichter Kiefernwälder. Immer musste man aufpassen, nicht in den begleitenden Sand zu geraten, sonst lag man schnell auf der Nase. Nun radelten sie auf einer stillgelegten Bahnstrecke dahin. Am schönsten aber reise es sich entlang von Flüssen, hatte Karl-Dieter gemeint und als Hauptroute den Havelradweg ausgeguckt. An der Quelle der Havel hatten sie vor wenigen Tagen ihre Tour begonnen, mitten auf der Mecklenburger Seenplatte. Ein idyllischer Ort, das hatte selbst Mütze zugeben müssen und war prompt in den kleinen See gehechtet, dem die Havel entsprang. Karl-Dieter hatte sich unterdessen an der Landschaft ergötzt. Überhaupt konnte er sich ständig an der Natur erfreuen, während Mütze nur an deren praktischer Seite interessiert war.

»Schau, die Störche! – Schau, die blühenden Kornblumen! – Schau, den Mohn! – Schau, die hübsche Allee!«

»Schau, ein Gasthaus mit Biergarten«, hatte Mütze nur grinsend erwidert.

Ein Gasthaus mit Biergarten gab es auch in Neuruppin. Sogar eines mit Fremdenzimmern. – Fremdenzimmer! Dass dieser Begriff noch existierte. Eigentlich hatten sie in Neuruppin nur eine mittägliche Zwischenstation einlegen wollen, aber durch die Sache in Ribbeck waren sie erst am Abend in die Fontanestadt hineingeradelt. Sie hieß zu Karl-Dieters Freude tatsächlich so, jedenfalls auf dem Ortseingangsschild: »Fontanestadt Neuruppin«.

»Umso schöner«, fand Karl-Dieter, als sie das Zimmer bezogen, »so dürfen wir eine Nacht lang die Luft von Fontanes Kindheit atmen.«

Mütze verdrehte die Augen. Die Luft von Fontanes Kindheit! Als würde es hier anders riechen als im Rest der Mark Brandenburg. Karl-Dieter war schon etwas verschroben in seiner Begeisterungsfähigkeit. Im »Dominikanerhof« aber gefiel es auch Mütze. Im Biergarten gab es »Schnitzel satt« und Mütze ließ nicht locker, bis er ein kleines Schweinchen auf dem Gewissen hatte. Karl-Dieter hingegen beschränkte sich auf den Salatteller »Theodor«, allerdings bat er die nette Bedienung immer wieder darum, den Brotkorb neu zu füllen. Radfahren aber machte nicht nur hungrig, Radfahren machte vor allem durstig. Und so goss sich Mütze ein Köstritzer nach dem anderen hinter den Knorpel. »Schweine müssen schwimmen«, lachte er und ließ sich ein weiteres Schnitzel kommen.

Über dem Abendessen war es dunkel geworden. Von Neuruppin würden sie nicht mehr viel zu sehen bekommen. Dennoch beschlossen sie, noch einen Gang durch die Gemeinde zu machen, und schlugen den Weg zur Uferpromenade ein, wo sich ihnen ein malerisches Bild bot. Der vom Rhin durchflossene Ruppiner See erstreckte sich wie ein weites Band bis zum Horizont, festlich tanzten die Lichter der Promenade auf den heiteren Wellen. Das alles würde der arme Tote von Ribbeck nicht mehr zu sehen bekommen. Karl-Dieters Stimmung wurde wieder melancholisch. Warum musste das so sein? Warum konnte er nicht einfach ungetrübt genießen? Die Schönheit, war sie nur dazu da, uns an unsere Vergänglichkeit zu erinnern? Nie konnte Karl-Dieter eine schöne Blume betrachten, ohne zugleich an ihr Verblühen denken zu müssen. Warum musste sich stets der bittere Tropfen des Abschieds in alles hineinmischen? Ein Freund vom Theater hatte ihm mal erklärt, das mache eben den Kern jeder wahren Melancholie aus: die tiefe Liebe zum Leben. Wer nicht richtig lieben könne, der würde auch keine Trauer verspüren, nicht die Trauer, die sich aus dem Leben und der Schönheit speise. Karl-Dieter atmete tief durch. Auf seine Melancholie wollte er nicht verzichten.

Von der Uferpromenade gingen sie stadteinwärts. Durch diese Gassen musste auch der kleine Fontane gelaufen sein, dessen Vater die Neuruppiner Löwenapotheke betrieben hatte. Die alte Apotheke, das Geburtshaus, stand unverändert auf ihrem Platz, wusste Karl-Dieter aus seinem Reiseführer, bevor der Vater aus Geldnot hatte verkaufen müssen. Morgen würden sie sich alles in Ruhe anschauen. Sie gingen weiter und kamen an einen weiten Platz, an dessen Prachtseite sich ein stattliches Schloss erhob. Auch ein beleuchtetes Denkmal war zu sehen, das hoch in den Nachthimmel ragte.

»Schau, da steht er, dein Fontane«, sagte Mütze.

»Fontane?«, Karl-Dieter schüttelte den Kopf, »das ist ein Preußenkönig, das müsste Friedrich Wilhelm II. sein.«

»Hübsch eingezäunt, damit die Monarchie bleibt, wo sie ist«, lachte Mütze, und sein Lachen hallte von den Wänden des weiten Platzes wider.

Neuruppin war bereits in tiefen Schlummer gefallen. Die beiden Freunde waren die Einzigen, die durch die Straßen bummelten. Sie hatten sich ziellos treiben lassen und befanden sich auf dem Rückweg zum Gasthof, als plötzlich eine Stimme durch die Gassen gellte. Da schrie doch jemand um Hilfe! Augenblicklich spurtete Mütze los.

Blut! Blut überall. Vom noch erhobenen Kopf lief es in Strömen über die Schultern und die Brust, floss tiefer herunter, um sich im Schoß zu sammeln. Schwarz glänzte der Saft im Schein der Straßenlaternen, Blut, Blut, überall Blut! Wer war nur der Ärmste, der dort auf der Granitbank saß, regungslos und stumm?

»Fontane!«, stammelte die alte Dame.

Die Polizeidirektion befand sich nur wenige Straßen weiter. Ein hübsches, fast palastähnliches Gebäude mit einer freundlichen Backsteinfassade. Mütze schaute überrascht, als er die Wache betrat. Das war doch Treibel, Rudi Treibel, sein Kollege vom Ribbecker Friedhof!

»Immer noch im Dienst?«, grinste Mütze.

»Muss«, seufzte Treibel und deutete auf seinen Rechner, »weißt schon, die Papierarbeit. Was verschafft mir die Ehre?«

»Man hat euren Fontane geschändet.«

»Nicht auch das noch!«, sagte Treibel und rollte mit den Augen, während ihm Mütze von der Sauerei berichtete.

»Ein Dummer-Jungen-Streich, nichts weiter«, meinte Mütze, »Schweineblut, wahrscheinlicher ein Eimer roter Farbe. Wird sich hoffentlich wieder abwaschen lassen.«

»Fontane muss warten. Erst müssen wir den Täter von Ribbeck ermitteln.«

»Natürlich«, sagte Mütze, »was gibt’s Neues?«

»Ein Bierchen?«

»Wo warst du so lange?«, brummte Karl-Dieter, als Mütze ins Hotelzimmer geschlichen kam. Mitternacht war schon vorüber.

»Hab’ einen alten Bekannten getroffen, den lieben Treibel, weißt schon, den Kommissar vom Birnbaum.«

»Und? Hat er den Mörder schon am Wickel?«

»Ne, ne, so schnell schießen die Preußen nicht. Eine Spur aber haben sie bereits gefunden.«

»Nämlich?«, fragte Karl-Dieter neugierig.

»Keine Fingerabdrücke an der Axt.«

»Wie bitte? Das soll eine Spur sein?«

»Auch fehlende Fingerabdrücke sind eine Spur.«

»Wieso das?«

»Spricht für eine klare Tötungsabsicht und gegen eine Tat aus dem Affekt.«

»Raubmord?«

»Fehlanzeige. Geldbeutel und Smartphone steckten in den Taschen.«

»Also eine Beziehungstat.«

»Oder ein Verrückter.«

Karl-Dieter musste unwillkürlich an den schrecklichen Anschlag bei Würzburg denken, an den jungen Islamisten, der vor einiger Zeit in einem Regionalzug wild um sich geschlagen hatte, ebenfalls mit einer Axt. Hoffentlich nicht schon wieder ein Anschlag, der aufs Konto des IS ging. Es gab genug Brandstifter in Deutschland, da brauchte es keinen Brandbeschleuniger.

»Und seine Frau, wie hat sie’s aufgenommen?«

»Recht gefasst, meint Treibel. Aber das kennen wir ja, der Schock kommt oft erst später.«

»Feinde?«

»Keine in Sicht. Ihr Mann sei überaus beliebt gewesen, in der Nachbarschaft, bei seinen Jägerfreunden. Zu den Genossen seines Kollektivs habe er bis zuletzt Kontakt gehalten.«

Kollektiv! Manche Vokabeln schmeckten noch immer unverwechselbar nach Honni, FDJ und real existierendem Sozialismus, dachte sich Karl-Dieter und wälzte sich auf die andere Seite.

»Gute Nacht, Mütze!«

»Gute Nacht, Knuffi!«

Es war stockdunkel, als Karl-Dieter aufwachte. In seiner Wade verspürte er ein Brennen. Vorsichtig fuhr er mit der Hand über die Stelle und spürte eine Verschorfung und einen leisen Schmerz. Woher stammte die Wunde? Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Das Hündchen, der weiße Mopp! Der hatte ihn doch kurz in die Wade gebissen, um ihn zu seinem toten Herrchen zu führen. Komisch, dachte sich Karl-Dieter, es ist doch nicht mehr als ein Zwicken gewesen. Erst jetzt merkte er, dass er sich dabei verletzt hatte. Wie war das möglich? Leise schwang er sich aus dem Bett, stand auf und ging ins Bad. Es schien zum Glück nur eine oberflächliche Schramme zu sein, der Abdruck von zwei winzigen Zähnen war zu erkennen, rundherum eine geschwollene Rötung, nicht weiter schlimm.

Karl-Dieter öffnete das Badfenster, um etwas frische Luft zu tanken. Der Nacht war schwarz. Kein Stern blinkte am Himmel. War wieder Nebel aufgezogen? Aus der Ferne hörte er einen lang gezogenen tierischen Laut. Ob das der kleine Hund war, der um sein Herrchen trauerte? Unwahrscheinlich. Ribbeck lag eine Fahrradstunde entfernt. Auch war ein solch mickriges Hündchen wohl kaum in der Lage, auf diese Weise zu heulen. Das klang eher nach einem Schäferhund. Karl-Dieter lauschte in die Nacht. Da! Wieder hob das Tier an zu heulen, hohl und unheimlich. So klang kein Hund, der anschlug, weil er etwas Verdächtiges bemerkt hatte, so klagte ein Hund, dem etwas fehlte, der etwas vermisste. Wonach nur sehnte sich die einsame Kreatur?

Gedicht

Sie hob des Toten Haupt in die Höh

Und küsste die Wunden, ihr war so weh. (4)

Mittwoch

So mochte Mütze sein Frühstück. Alles am Platz serviert ohne diese lästigen Ausflüge zum Büfett. Brötchen im Korb, weiche Butter, jede Menge Aufschnitt, dazu ein gekochtes Ei und eine große Kanne heißen Kaffee. Was brauchte es mehr? Karl-Dieter hätte sich über etwas Joghurt und einen Obstsalat gefreut. Immerhin lag ein Apfel auf dem Tisch.

»Schau, die Schlagzeile!«, sagte Karl-Dieter und hob die Märkische Allgemeine in die Höhe.

»Lies vor«, bat Mütze, der seine Lesebrille im Zimmer vergessen hatte.

»Mord unterm Birnbaum – Ein grausames Verbrechen ereignete sich in unmittelbarer Nähe des Birnbaums von Ribbeck. In den frühen Morgenstunden wurde die Leiche von Gerhard K. aus Ribbeck gefunden. Zeugen, die etwas Auffälliges bemerkt haben oder das Opfer zuletzt gesehen haben, sollen sich bitte bei der Polizeidirektion Nord melden. Herr K. führte einen auffällig kleinen Hund mit sich. – Auffällig klein? Vor dem Hund sollte gewarnt werden!«, ergänzte Karl-Dieter und betastete unauffällig seine Wade. Es schmerzte immer noch, wenngleich deutlich weniger als in der Nacht.

»Hm«, brummte Mütze, »mir bereitet der Kläffer eher Kopfschmerzen.«

»Wieso das?«

»Überleg doch mal, das passt doch hinten und vorne nicht. Krumbiegel soll ein passionierter Jäger gewesen sein. So ein Hündchen aber ist doch nichts für einen Waidmann.«

»Warum nicht?«, sagte Karl-Dieter, »selbst ein krummbeiniger Dackel wird als Jagdhund geschätzt. Keiner kommt besser in einen Fuchsbau.«

»Bei dem Winzling kriegt doch jeder Fuchs einen Lachanfall! Der Knirps war kaum größer als ein Meerschweinchen, der muss aufpassen, nicht in ein Maulwurfloch zu purzeln.«

»Vielleicht war Krumbiegel ja Maulwurfjäger?«, grinste Karl-Dieter.

»Idiot!«, grinste Mütze zurück.

Die Kellnerin, eine brünette Mittfünfzigerin mit kräftigen Oberarmen, trat an ihren Tisch und fragte, ob die Herren noch Wünsche hätten. Dabei fiel ihr Blick auf die Schlagzeile.

»Furchtbar, nicht wahr? Und das bei uns in der Nachbarschaft. Wenn Sie mich fragen, das war bestimmt wieder so ein Islamiker.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Karl-Dieter. Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf.

»Die machen doch immer so Sachen mit Äxten und so. Das macht doch kein Deutscher. Warum man die nur reinlässt.«

Mütze sah die Kellnerin aufmerksam an. »Wieso Axt? Davon steht nichts in der Zeitung.«

»Ach, das wissen Sie noch nicht? Nein, wie sollten Sie auch, Sie sind ja nicht von hier. Bei uns aber weiß schon jeder Bescheid. Jawohl, mit einer Axt, wie ein Schlächter!«

Mütze seufzte und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Die Sache mit der Axt war doch klassisches Täterwissen. Wie hatte sich das nur rumsprechen können? Irgendein Kollege musste gequatscht haben. Karl-Dieter seufzte aus einem gänzlich anderen Grunde. Mit seiner Befürchtung hatte er leider recht behalten. Wieder waren natürlich die Ausländer schuld. Ein Deutscher tut so was nicht. Wenn schon, dann mordet ein Deutscher anständig mit Gewehr und Pistole. Aber doch nicht wie so ein arabischer Beduine mit seinen primitiven Waffen. Jetzt würden die Diskussionen wieder beginnen, würde die AfD wieder stolz ihre Fahnen in den Wind hängen und sich ins Fäustchen lachen. Allein daran konnte man erkennen, wes Geistes Kind diese verblendete Bande war. Wer freute sich über islamistische Terroranschläge? Doch nur der IS und die AfD, in ihrer Beschränktheit brüderlich vereint. Wie hatte es Fontane ausgedrückt? »Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist, kommt keine Klugheit auf.« Auf der anderen Seite: Hatte er nicht selbst an eine islamistische Tat denken müssen? Was machten solche Geschichten nur mit ihm! Man musste höllisch aufpassen, eh man sich versah, sog man das tückische Gift selber ein.

Die Kellnerin kam zurück und brachte frischen Aufschnitt.

»Kannten Sie den Toten vielleicht?«, fragte Mütze und versuchte, leutselig zu klingen und nicht wie ein Kommissar.

»Nicht näher«, sagte die Kellnerin, »aber seine Frau kenne ich.«

»Die Ärmste«, sagte Mütze scheinheilig, »die wird bestimmt fix und fertig sein.«

»Wie man’s nimmt«, sagte die Kellnerin.

»Jetzt machen Sie uns aber neugierig«, sagte Mütze.

»Ach, vergessen Sie’s«, sagte die Kellnerin und eilte zur Küche zurück.

Wie amputiert. So kam sich Mütze vor. Normalerweise hätte er lässig seinen Ausweis gezückt und eine anständige Vernehmung begonnen. Nun aber war er in Zivil, nun war er lediglich ein einfacher Tourist, der mit seinem Partner auf den Spuren von Fontane eine höchst unsinnige Radtour unternahm.

»Eine Radwanderung«, korrigierte ihn Karl-Dieter verschnupft.

»Ach, ist doch wahr«, stöhnte Mütze.

Nach dem Frühstück stand Neuruppin auf dem Programm, erst am Nachmittag wollten sie weiterradeln. – Die Radtaschen? Aber gerne! Selbstverständlich könnten die Herren ihr Gepäck an der Rezeption abstellen, sagte der freundliche Hotelier.

Der erste Gang führte die Freunde zum Fontane-Denkmal. Zwei städtische Arbeiter waren dabei, den beschmierten Dichter mit einem Hochdruckreiniger sauber zu spritzen, fluchten dabei aber schrecklich, denn die Farbe ließ sich nicht so einfach wegkärchern.

»Haben die Neuruppiner Lausejungen ihr Taschengeld wohl in teuren Autolack investiert«, scherzte Mütze.