Kern_d_Angst_RLY_cover-image.png

Regine Bott

Kern der Angst

Kriminalroman

390453.png

Zum Buch

Angst liegt tief Als Lioba Heller unter streng geheimen Auflagen ihren ersten Arbeitstag bei der Pharmafirma »Amendment Corp.« antritt, ahnt sie nicht, was auf sie zukommen wird. In dem unterirdisch gelegenen Labor wird illegal an einem Medikament geforscht, das Angstkrankheiten besiegen und die Probanden in unerschrockene Söldner verwandeln soll. Nach dem ersten Todesfall schlägt sich Lioba auf die Seite der Entführten. Die Probanden zu befreien und ans Tageslicht zu bringen, gestaltet sich jedoch als haarsträubend gefährlich. Auf der Flucht werden sie unter anderem von einer weiteren Leiche, mehreren Schlägereien, intriganten Wissenschaftlern und einer Armee von Sechsfüßlern aufgehalten. Doch Liobas wahrer Feind ist Lothar Bonlander, der komplett übergeschnappte Firmenreferent, der in seinem Wahnsinn keine Gnade kennt. Auch der Tübinger Kriminalkommissar Deckert, der den Machenschaften der Pharmafirma auf der Spur ist, kommt dem irren Bonlander mit seinen unorthodoxen Ermittlungen in die Quere. Wird der Kommissar verhindern können, dass er auch über Liobas Leiche geht?

 

Regine Bott, 1968 in dritter Generation in Stuttgart geboren, studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften und Anglistik. Parallel dazu arbeitete sie in einer Buchhandlung und legte in einem Vorstadtkino die Filmrollen in den Projektor. Nachdem Bott fast zwanzig Jahre lang als festangestellte Lektorin beschäftigt war, ist sie seit 2013 selbstständig, schreibt Krimis, Kurzgeschichten und Science-Fiction. Die überzeugte Schwäbin lebt zusammen mit Ehemann, Sohn und Kater in der Nähe der Landeshauptstadt Baden Württembergs.

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

407281.png Instagram_Logo_sw.psd Twitter_Logo_sw.jpg 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dancerP / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5898-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Home Sweet Home

Als er um Mitternacht den Schlüssel zu seinem Apartment herumdrehte und die Tür öffnete, hatte Hendricks das seltsame Gefühl, als betrete er fremdes Territorium. Instinktiv wollte er sich die Schuhe sorgfältig abtreten und noch einmal mit den Fingern durch die störrischen Wirbel seines Haars fahren, um sich einem vermeintlichen Gastgeber in vorteilhaftem Licht zu präsentieren. Sein Labor im Bunker war ihm vertrauter als sein 150 Quadratmeter großes Loft – eine der teuersten Immobilien der Umgebung. Auch der atemberaubende Blick auf die lichterglitzernde Innenstadt, die sich 200 Meter unter ihm an grüne Hügel und die zu dieser Jahreszeit vorherbstlich schillernden Weinberge schmiegte, konnte bei ihm keine Verbundenheit mit seiner Wohnung hervorrufen, schließlich schlief er nur hier und das in letzter Zeit selten genug. Wenn man eine einzigartige Aussicht auf den Kessel Stuttgarts genießen wollte, so sollte man sich mit dem Aufzug zur Spitze des Fernsehturms transportieren lassen. Er brauchte das nicht vor seiner Haustür.

Als die Maklerfirma ihm das Apartment in Degerloch auf der Filder-Hochebene angeboten hatte, war er zuerst nicht dazu bereit gewesen, in den Kauf einzuwilligen. Die großzügige Küche mit Kochinsel und allem eingebauten Schnickschnack, die das Herz eines Hobbykochs sicher höher schlagen, sein eigenes aber kalt ließ, würde er genauso wenig nutzen wie den leinwandgroßen Fernseher oder die Sofagruppe aus Leder, auf der locker zehn Personen Platz hatten. Außerdem war die Fahrt zum Labor länger, als ihm lieb war. Die Autobahnen waren durch den Pendlerverkehr verstopft – von den Bauarbeiten auf der Bundesstraße Richtung Tübingen ganz zu schweigen.

Aber schließlich hatte er doch unterschrieben. Die Firma zahlte, und Anna war ihm bei einem ihrer seltenen Besuche vor Begeisterung um den Hals gefallen. Obwohl sie in Berlin wohnte und arbeitete, glaubte Hendricks, dass sie das Apartment in naher Zukunft für sich nutzen würde. Wenn die Grundstufe des Projekts im Bunker erst einmal abgeschlossen war und er sich mit ihr zusammen – als Vater-Tochter-Gespann1 – auf die Weiterentwicklung und Vermarktung des Serums konzentrierte, könnte sie ihre Augen über die Weinberge schweifen lassen und im Gegensatz zu ihm den Anblick würdigen.

Der Professor hatte eben den Lichtschalter betätigt und den Schlüssel in eine Glasschale auf einer antiken Anrichte geworfen, als das Telefon klingelte. Ein Blick aufs Display bestätigte ihm, was er beim ersten Ton schon vermutet hatte. Er kannte die Nummer. Bonlander rief fast immer zur gleichen Zeit an. Der Mann schien ebenfalls mit wenig Schlaf auszukommen.

»Ja?«, sprach Hendricks kurz angebunden in den Hörer und starrte auf die großformatige Fotografie über dem Büfett, die eine grafisch verfremdete Molekularstruktur in grellen Farben zeigte. Anna hatte ihm das Bild von einer Schweizer Kunstmesse mitgebracht, und obwohl es nicht wirklich seinen Geschmack traf, hatte er es aufgehängt.

»Wo stehen wir, Professor?«

»Ich stehe in meinem Wohnzimmer und Sie?«

Am anderen Ende der Leitung schnaubte es. »Sie machen einen Witz? Dass ich das noch erleben darf. Haha.« Die Stimme klang nicht amüsiert.

»Ich spaße nicht. Ich wollte damit andeuten, dass wir nirgends stehen. Oder sind Sie in letzter Zeit einmal in meinem Labor gewesen, Herr Bonlander?«, antwortete Hendricks ein wenig schärfer, als es ihm gegenüber dem persönlichen Assistenten des Aufsichtsratsvorsitzenden zustand.

»Werden Sie nicht frech«, dröhnte es gleich darauf herablassend aus dem Apparat. »Ersparen Sie mir Ihre übliche Korinthenkackerei und sagen Sie mir, wie weit Sie sind!«

Hendricks blickte an der Fotografie vorbei und starrte die Wand an. »Wir hatten Probleme.«

»Könnten Sie deutlicher werden? Das wäre unwahrscheinlich entgegenkommend von Ihnen.«

»Der letzte Patient hat die Prozedur entgegen unserer Erwartung nicht verkraftet.«

»Übersetzung, bitte. Was zum Henker heißt das? Ist er Ihnen etwa krepiert?«

Ja. Der Patient war gestorben. So etwas kam eben vor. Er war ein Proband gewesen. Eine Testperson. Schon das Wort allein beinhaltete, dass auch einmal etwas schiefgehen konnte.

»Nicht jeder Mensch reagiert gleich. Das sollten Sie doch wissen. Sie arbeiten schließlich für ein Pharmaunternehmen.« Die Bemerkung, dass Bonlander seiner Meinung nach nur ein kleiner Handlanger war, schluckte Hendricks unter Mühen hinunter. »Da müsste Ihnen bekannt sein, dass der eine auf ein Medikament eben verschiedenartiger anspricht als der andere. Menschen sind keine Roboter, sie werden nicht am Fließband hergestellt. Rückschläge muss man immer einkalkulieren. Das ist einfach …«

»Rückschläge?«, unterbrach ihn Bonlander. »Die Firma kann sich keine Rückschläge leisten. Da hängt ein wenig mehr dran als nur die Höhe Ihrer Prämie, die ebenfalls von einem herben Rückschlag ereilt werden könnte, Hendricks. Aktienkurse, unterschriebene Verkaufsverträge, unterzeichnete Versprechungen, Auszahlungen an die Geschäftsetage …«

»Sie haben das Serum schon verkauft?« Der Professor schnappte nach Luft. »Vor seiner endgültigen Fertigstellung? Vor der Weiterentwicklung? An wen?«

Abkommen dieser Art waren in der Branche zwar nicht unüblich, aber hier lag der Fall etwas anders. Oxy-35 war nicht irgendeine Arznei. Oxy-35 würde das Mensch-Sein revolutionieren. Den Homo sapiens auf eine modifizierte Entwicklungsstufe befördern. Ohne das lange Warten darauf, dass dies die Natur vielleicht irgendwann einmal von allein regelte. Wobei es dazu sicherlich nicht mehr kommen würde, so wie sich die Menschheit anstellte.

Bonlander sprach ungeniert weiter, ohne auf Hendricks einzugehen. »Von der recht unangenehmen Situation, die Ihren Familienanhang ereilen wird, wenn Sie während Ihrer Forschungsarbeit patzen, wollen wir erst gar nicht sprechen«, fuhr er drohend fort.

Hendricks fluchte leise. Dieser Hundesohn! Es verging fast kein Telefonat, in dem Bonlander ihn nicht darauf hinwies. Als ob man ihn daran erinnern müsste, dass er vor einigen Jahren Mist gebaut und Anna in diesen Dreck mit hineingezogen hatte.

Ein paar Sekunden herrschte Stille in der Leitung, dann meldete sich Lothar Bonlander erneut zu Wort. »Wenn ich das nächste Mal anrufe, dann will ich ein Ergebnis haben. Und zwar eins, das mir gefällt. Und eins, das dem Aufsichtsrat gefällt.«

Hendricks schloss die Augen.

»Ist das verständlich rübergekommen? … Hendricks? Sind Sie noch dran?«

»Sie haben den Sachverhalt prägnant dargestellt.«

»Tatsächlich? Sehr schön. Denn wir investieren nicht etliche Millionen Euro in diesen Spielplatz, um Sie alle miteinander Sandburgen bauen zu lassen, die beim kleinsten Windstoß einstürzen. Sie sollten also möglichst bald zufriedenstellende Ergebnisse vorweisen können und es auch unterlassen, sich gegenseitig mit ihren Schäufelchen zu traktieren. Zufriedenstellend – hören Sie mich?«

»Klar und deutlich.« Was für ein eingebildeter Geck.

»Sehr schön, Professor, sehr schön. Haben Sie sich bei der Entsorgung der Leiche an die Vorschriften gehalten?«, wechselte Bonlander abrupt das Thema.

»Die uns zugeteilten Mitarbeiter vom städtischen Dienst waren schon da.« Und während sie hier sprachen, war der Proband längst Teil des Kreislaufs der Stromerzeugung von Stuttgart geworden. Geld regiert die Welt. Und man kann sich alles und jeden damit kaufen.

Aus dem Hörer grunzte es beifällig. Anschließend klickte es. Die Verbindung war unterbrochen.

Angewidert starrte Hendricks eine Weile auf den Hörer in seiner Hand. Dann knallte er ihn auf die Basisstation, schritt zur Kommode, griff nach dem Schlüssel, und als die Apartmenttür hinter ihm ins Schloss fiel, merkte er, dass er nicht einmal dazu gekommen war, seinen Laborkittel auszuziehen.

*

»Du hättest nicht annehmen sollen. Du hättest nicht einmal hingehen sollen, du blöde Kuh.«

Lioba schwenkte die Flasche in Richtung ihres Spiegelbilds und nahm einen tiefen Schluck. Das kleine Schwarze mit dem beeindruckenden Wasserfallausschnitt, das sie extra für das Treffen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden gekauft hatte, trug sie immer noch. Es war dort, wo es schmal sitzen musste, etwas zu eng geraten und schnürte ihr fast die Luft ab. Aber sie hatte nicht die Kraft, es auszuziehen.

Zuallererst hatte sie den Kühlschrank ihrer neuen Wohnung im Niemandsland aufgerissen und sich die letzte verbliebene Flasche des Guinness-Sixpacks gegriffen, das sie in weiser Voraussicht auf dem Heimweg an einer Tankstelle gekauft hatte. Bonlander, der Assistent, Referent, Wasserträger oder wie man seine Funktion auch immer bezeichnen mochte, hatte auf dem Fahrersitz herumgemeckert wie ein altes Weib, aber dann schließlich doch angehalten. Wenigstens hatte er den Anstand besessen, sie zu dem Apartment zu fahren, das die Firma für sie gemietet hatte, denn sonst hätte sie sich ein Taxi nehmen müssen. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren gemeinhin nicht an den Arsch der Welt. Und der Schönbuch, das war für Lioba eindeutig das Skrotum der Zivilisation.

Mit der Bierflasche in der Hand lief sie unschlüssig herum, schleuderte die Riemchensandalen mit den Pfennigabsätzen von sich und genoss seufzend den hochflorigen Teppich unter ihren nackten Sohlen.

Sie starrte auf den Schlüsselbund, den ihr dieser arrogante Fatzke Bonlander im maßgeschneiderten Anzug am Ende der Besprechung mit einem unverschämten Grinsen in die Hand gedrückt hatte.

Kurze Zeit später war die Flasche schon wieder leer, und sie stolperte aus dem Bad in Richtung Küche.

»Gib’s zu, du bist auf das Geld scharf. Moneten! Knete!« Sie riss den Kühlschrank erneut auf und warf einen Blick ins bedauernswerterweise leere Gemüsefach. »Du hast dich mieten lassen, du Schlampe!«, zischte sie.

Ihr knurrte der Magen. Die übersichtlich angerichteten Speisen im Restaurant hatten sie alles andere als gesättigt. Die Erbse unter der Ameisenzunge. Zudem war sie kaum dazu gekommen, ihren Teller auch nur anzuschauen, geschweige denn davon zu essen, weil Doktor Reinhard Horgenzell während des Gesprächs nicht nur Blickkontakt zu ihren Brüsten aufnahm, sondern außerdem anfing, unter dem Tisch zu füßeln. Von diesem geilen Bock hatte sie sich kaufen lassen! Nicht nur dieses Zwei-Zimmer-Apartment verdankte sie ihm, auch bot er ihr ein Monatsgehalt an, das ihr die Sprache verschlug. Und dieses Mal war das zu eng geschnittene Kleid nicht schuld daran gewesen.

»Tja Kindchen. So viel Geld hast du noch nie gesehen! Kleine Kokotte, du!«

Stark angeschickert hüpfte Lioba über den Teppich wie Butler James, kurz bevor er den Tigerfellkopf malträtiert, und schwang eine Dose Billigbier, die in der hinteren Ecke des Küchenoberschranks versteckt gewesen war. Welcher Vormieter sie auch immer dort deponiert hatte, sie war ihm enormen Dank schuldig.

Sie brauchte das Geld. So einfach war es. Ihr Kontostand verhielt sich besorgniserregend. So, als ob es nach einer Ebbe keine Flut mehr gäbe. Als ob das Meer keinen Drang verspürte, zum Strand zurückzukehren. Und sie konnte sich selbst eine dumme Nuss schimpfen, sich Vorhaltungen machen und an ihr Gewissen appellieren – Fakt war, dass sie ohne einen Job nicht über die nächsten drei Monate kam. Zumal sie momentan keinen hatte. Und bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad durch die Straßen zu radeln und Wurfsendungen oder die Tageszeitung in Briefkastenschlitze zu stopfen – denn dies war der einzige Broterwerb, den ihr die überarbeitete Dame der Arbeitsagentur auf die Schnelle in Aussicht gestellt hatte: Selbst dieser Job war nun ins Off gerückt. Falsch. Er war vom Tisch gefallen und unter das Sofa gerutscht. So weit nach hinten, dass man auch mit einem ausgeklappten Meterstab nicht mehr herankam.

Das Dosenbier gefährlich wackelig auf den Knien jonglierend und in die weichen, angemieteten Kissen des ledernen, Sofas versunken, dachte Lioba nach.

Horgenzell war ein Spatzenhirn, aber sie würde ihn sicherlich selten zu Gesicht bekommen. Alles sollte über diesen Lothar Bonlander laufen, das untergewichtige, überhebliche Bürschchen, das auf sie auch keinen besseren Eindruck gemacht hatte. Mit einem vernichtenden Blick, der besagte, dass er nicht viel von ihr hielt, hatte er sie begafft. Aber mit diesem Trottel würde sie zurechtkommen. Dem war sie intellektuell turmhoch überlegen. Sie hatte einen Doktortitel, er machte den Anschein, als gehe er noch in die Vorschule. Obwohl er sich erstaunlich eloquent ausgedrückt hatte, vermutete Lioba, dass er bei jedem Gespräch auswendig gelernte Phrasen abspulte. Den würde sie in den Sack stecken, wenn es nötig wäre.

»Der Job ist doch gar nicht so übel, Schätzchen«, nuschelte sie und stellte entsetzt und gleichzeitig enttäuscht fest, dass sie die Dose Bier schon leergetrunken hatte. Ihr Alkoholkonsum an diesem Abend war verbrieft besorgniserregend. »Gar nicht so übel.«

Irgendwas im Labor. Wissenschaft lag ihr. Professoren lagen ihr. Schließlich hatte sie einige Jahre ihrer Lebenszeit an der Uni verbracht und auch im Institut geholfen. Sie wusste, wie die Typen in ihren Elfenbeintürmen tickten. Diesen Hendricks, oder wie der noch gleich hieß, würde sie ohne große Anstrengung im Auge behalten können. Wenn man darüber nachdachte, dann war ihr sogar eine leitende Funktion angeboten worden. Mitarbeiterbeurteilung war ein wichtiger Bestandteil innerhalb der Organisation eines Betriebes. Mit dieser Aufgabe würde sie ihren nicht unbeträchtlichen Teil zur Qualitätssicherung beitragen.

Die Dose fiel ihr vom Schoß, und sie sank befriedigt in die Waagerechte.

Den letzten Gedanken, den sie hatte, war, dass sie jeden Cent wert war, den dieser geile Horgenzell für sie springen ließ.

1 Frauen in einer Führungsposition oder als Teilhaberin einer Firma – selten genug. Die Väter ersparen sich aber einiges: das überzogene Konkurrenzdenken, den eitlen Hahnenkampf, Pisswettbewerbe und die Entmachtung durch einen jüngeren Mann. Patriarchen sollten über diese Faktoren einmal nachdenken.

Hell Bloody Hell

Ungeduldig zerrte David an dem bockenden Brustgurt des Fahrersitzes. Er war nervös. Supernervös. Seine Beine wollten nicht stillhalten.

Als Fran ihm vor einem Monat mit vor Freude glänzenden Augen eröffnet hatte, dass sie beide ein langes Wochenende im Schönbuch verbringen würden, nein mussten, weil ihre beste Freundin Mascha in den Stand der Ehe eintrat, hatte seine Laune die Fahrt in einem ungebremsten Lift in die Tiefe unternommen. Für ihn war in dieser Sache kein Hintertürchen vorgesehen, denn er, der Angetraute der Brautjungfer, hatte auf jeden Fall auch anwesend zu sein. Zwei ganze Tage würden sie sich dort aufhalten, wo die Natur enthemmt ihren Lauf nahm. Hohes nicht gemähtes Gras, treibende Knospen, wild wachsende Sträucher – ein Summen und Brummen, Krabbeln und Kriechen. Das, was Franziska als »Romantik pur« bezeichnete. Ihre Freundin Mascha, die David nur ein oder zwei Mal gesehen hatte, sah das gewiss ebenso, ansonsten hätte sie es vorgezogen, im örtlichen Rathaus in einem dieser penibel geputzten Räume ohne Zimmerpflanzen zu heiraten und nicht unter freiem Himmel.

David konnte das Szenario vor seinem geistigen Auge schon sehen: Der ehrenamtliche Pfarrer, wahrscheinlich in Cordhosen und legerem Karohemd, stand nahe eines Baums, an dessen Äste bunte Bänder geknüpft waren, die lustig im Wind flatterten, und nudelte mit salbungsvoller Stimme abgedroschene Glückskekssprüche herunter, während unter den Füßen und über den Köpfen der geladenen Gäste das Insektenreich den Angriff vorbereitete.

Seitdem war es ihm nicht gelungen, seine Gemütslage auf Erdgeschossniveau anzuheben.

Vier Tage in der Pampa – Fran wusste nicht, was sie ihm damit antat.

Seit sie es ihm gesagt hatte, litt er wieder unter diesen Träumen. Er – Auge in Auge mit einem Insekt, das auf dem Kopfkissen direkt neben seiner Nase saß und sich die Antennen putzte. David konnte förmlich spüren, wie sich die kleinen starken Mandibeln, die Mundwerkzeuge, in seinen Kopf bohrten und sein Gehirn zerkleinerten. Wie fahle Würmer unter der Bettdecke an seiner Haut knabberten, bis die Stelle dort groß genug geworden war, um hineinzuschlüpfen. Er fühlte, wie sie sich in ihm fortbewegten. Wie sich ihre Körper knapp unterhalb der Oberfläche seiner Epidermis wanden und schlängelten. Er konnte ihre Bewegungen sehen.

David kannte jedes Insekt in- und auswendig. War imstande, jegliche Körperteile zu beschreiben. Alle lateinischen Bezeichnungen hatte er verinnerlicht. Seinen Feind zu kennen – das war das Ziel gewesen! Stunden hatte er mit den einschlägigen Enzyklopädien verbracht. Sich unter Qualen Dokumentarfilme angesehen, von denen er sich eine Art Heilung versprach. Oder zumindest eine Besserung der Symptome. So wie sich Menschen mit Höhenangst immer wieder mal auf einen Aussichtsturm wagten, so hatte er sich die Viecher vorgenommen.

Die ganze Mühe war umsonst gewesen. Die Angst und die Albträume waren geblieben. Aber immerhin konnte er jetzt mehr oder weniger alles beim Namen nennen, was kreuchte und fleuchte.

Was für ein Erfolg, sinnierte er bitter.

Das Grüne! Warum gaben sich die Menschen nicht in einem Luftschutzkeller das Eheversprechen?

»Herrgott, David! Ich dachte, du hättest das Auto vorher noch gesaugt!« Franziska bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Hab’ ich doch auch«, versuchte sich David zu verteidigen.

»Und warum liegt hier auf dem Boden ein alter Kaugummi?«

»Das kann nicht sein. Du weißt, wie empfindlich ich gegenüber Abfall bin. Was suchst du denn überhaupt?«

Statt ihrem Mann eine Antwort zu geben, drehte Franziska noch einmal den Kopf und spähte in eine große Tasche zwischen Rückbank und Fußraum des Wagens. »Hast du ihn mitgenommen? Ich sehe ihn nicht. Er müsste hier drin sein.«

»Himmel … Wen? Von was sprichst du eigentlich die ganze Zeit?«

»Hörst du mir überhaupt zu? Vom Föhn! Ich spreche von meinem Föhn. Er lag auf dem Bett. Ich hab’ dir das doch gesagt! Du erinnerst dich?«

Das war der Gipfel. Nachdem er den Kampf gegen den Brustgurt gewonnen hatte, waren sie losgefahren. Er hatte so gezittert, dass es ihm schwergefallen war, das Gaspedal herunterzudrücken. Und jetzt: Zehn Minuten, nur zehn lächerliche Minuten auf der Straße, und sie steckten schon wieder mittendrin in einer dieser bescheuerten, unnötigen Diskussionen.

David warf einen hektischen Blick in den Rückspiegel, setzte den Blinker und lenkte das Auto schnell auf die linke Spur. Aus den Augenwinkeln sah er den Fahrer eines Milchtrucks, den sie überholten, als sie sich in die Blechkolonne auf der Bundesstraße in Richtung Tübingen einreihten. Der Trucker erweckte den beneidenswerten Anschein, als wäre er die Ruhe selbst.

»Nein, den habe ich nicht eingepackt.« David atmete durch, versuchte, zur Attacke blasende Ameisen von seiner inneren Leinwand zu verbannen, und wappnete sich schon gegen den nächsten verbalen Angriff. »Habe ich vergessen, sorry.« Er starrte auf die Straße. »Kann ja mal vorkommen.«

»Kann ja mal vorkommen? Wie kann das mal vorkommen?« Franziskas Stimme rutschte in eine unangenehm hohe Tonlage. »Ich habe dich extra darum gebeten! Extra! Die Haartrockner in diesen Pensionen sind doch alle Mist!«

David sah ihre Schultern zucken und beschloss, seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Fahrbahn zu richten und zusätzlich zu Frans Emotionen auch die Nachmittagssonne zu ignorieren, die die Umgebung in goldenes Licht tauchte. Er zog den Blendschutz weiter herunter.

Steigere dich nicht hinein, Fran! Nicht jetzt! Ich bin angespannt genug. Es ist nur ein verfluchter Föhn!

Sie fuhr sich mit einer hektischen Handbewegung über den Mund, als wolle sie verhindern, dass der Rest ihrer Worte hörbar wurde. »Immer der gleiche …«, murmelte sie schniefend gegen das Brummen des Diesels.

»Ich war mit dem restlichen Gepäck beschäftigt. Fran, wir sind nur ein Wochenende weg, deine Haare sehen sensationell aus!« David versuchte, so viel Begeisterung wie möglich in diesen Satz zu legen.

Sie fuhr herum. »Ich bin Brautjungfer auf der Hochzeit meiner besten Freundin. Ich muss mehr als sensationell aussehen! Ich muss perfekt sein! Warum begreifst du nicht, wie wichtig das für mich ist? Das wird eine enorm aufwendige Feier! Mit allem Drum und Dran! Ihr Vater ist ein hohes Tier bei irgend so einer Pharmafirma, der investiert ein Vermögen in das Glück seiner Tochter. Da kann die Brautjungfer nicht rumlaufen wie ein alter Besen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, wandte sich wieder ab, und David konnte geradezu durch ihren Hinterkopf hindurch sehen, wie sie provokativ das Beifahrerfenster fixierte.

Er seufzte leise. Von wegen alter Besen. Auch wenn Fran morgens schlaftrunken nur in Slip und dem Männer-Unterhemd, das ihr zwei Nummern zu groß war, ins Bad torkelte, sah sie aus wie Gwyneth Paltrow. Wozu brauchte man einen Föhn, um seine Haare nachträglich so zu stylen, dass man den Eindruck erweckte, als sei man in diesem Moment erst aus dem Bett gestiegen? Dann kämmte man sich morgens eben einfach nicht. Ließ alles, wie es war. Wie hieß das noch gleich? Casual Look? Schwachsinn! Außerdem waren das Peanuts im Vergleich zu seinem eigenen Problem. Er saß hinterm Scheiß-Steuer und musste diese Scheiß-Karre in das Scheiß-Grün fahren, in das er verdammt noch mal gar nicht hinwollte!

Das Zusammenleben mit ihm war schwierig für Fran, David wusste das. Er war schwierig, aber …

Du musst dich zusammenreißen, David, das bringt alles nichts.

»Schatz, leih dir doch einen Föhn von einem der anderen Gäste aus. Es sind sicherlich viele Leute da, die du kennst.« Ein letzter Versuch.

Aber Franziska war nicht so leicht zu besänftigen.

»Die haben den Aufsatz nicht«, grollte sie. »Ohne das Zusatzteil geht das nicht. Wie kannst du nur so unsensibel sein? Du hättest dran denken müssen. Die Köderdosen hast du sicherlich eingesteckt. Hast du doch, oder? Die sind ja immer dabei. Immer! Das Moskitonetz auch. Ich hab’ gesehen, wie du das eingepackt hast. Es geht immer nur um deine Bedürfnisse. Aber wenn ich dich einmal um was bitte … Kannst du auch irgendwann an das denken, was mir wichtig ist?« Ihre Stimme schwoll kurz an und erstarb dann beinahe. »Nur ein einziges Mal?«

»Franziska …«

»Kannst du?« Sie schien mit der Fensterscheibe zu sprechen. David konnte sie mehr schlecht als recht hören. Er konzentrierte sich darauf, die immer noch zitternden Knie zu kontrollieren. Insekten schwärmten vor seinem geistigen Auge aus. Krochen über weiße Tischdecken und blaue Servietten.

»Kannst du das?« Kaum mehr als ein Flüstern. Sie schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände vor der Brust. »Alles dreht sich um dich. Was ist mit mir? Diese verdammten Krabbelviecher ruinieren unsere Ehe. Ist dir das klar?«

Diese verdammten Krabbelviecher waren der verschissenste Teil seines Lebens. Wie konnte ihm das nicht klar sein? Er wollte die Augen schließen. Das Steuer loslassen.

»Fran …«, begann er.

»Lass mich doch in Ruhe.« Sie drehte den Oberkörper von ihm weg und lehnte sich an die Beifahrertür. Der Gurt rieb an ihrem Hals. »Kaputt. Das macht uns alles kaputt«, flüsterte sie.

Der Zeigefinger Gottes

»Bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren, Frau Wagner. Wo könnte das Fahrzeug abgeblieben sein? Wo könnte es stehen?« Kriminalkommissar Erik Deckert sah stirnrunzelnd zu der jungen Frau hinunter, die sich einfach mitten auf den Asphalt gesetzt hatte. Sie hielt den Kopf in den Händen, und ihre Schultern zitterten. »Es gibt zwar entsprechende Reifenspuren, aber diese könnten auch von einem anderen Auto stammen. Momentan wissen wir das noch nicht. Sind Sie absolut sicher, dass sich der Unfall hier ereignet hat?«

Deckerts Knie knackten, als er neben ihr in die Hocke ging. Seine Augen folgten den schwarzen, durchbrochenen Streifen, die quer über die Fahrbahn in Richtung Böschung führten. Dann blickte er auf den Vorhang aus blonden Haaren, der das Gesicht der Frau völlig bedeckte. »Frau Wagner, ich bin sicher, dass Sie in einen Autounfall verwickelt waren. Sie hatten Glück, dass Sie mit ein paar Prellungen davongekommen sind, aber versuchen Sie mich bitte zu verstehen. Hier ist nichts. Wir haben auch in der Zwischenzeit keine Informationen darüber erhalten, dass ein stark beschädigter Ford von einer der nahegelegenen Werkstätten abgeschleppt wurde und«, er zögerte, »tut mir leid – keinerlei Spuren von Ihrem Mann.«

Das Zittern, welches die schmale Gestalt neben ihm durchlief, nahm an Intensität zu. Ein Schluchzen drang hinter den Händen hervor.

»Frau Wagner, ich kann mich nur wieder entschuldigen, aber ich muss bedauerlicherweise darauf bestehen, dass Sie sich den Vorfall noch einmal vor Augen führen. Denkbar, dass wir hier an der falschen Stelle sind.« Deckert richtete seinen langen Körper auf und ging ein paar Schritte auf den Abhang zu. Vor ihm schälte sich die Silhouette der mittelalterlichen Zisterzienserkirche Bebenhausens aus dem Blau.

Der Zeigefinger Gottes2, dachte er. Reckt sich mahnend nach oben.

Der hochgotische Turm ragte wie ein angespitzter Bleistift in den Himmel. Als zuverlässiger Richtungsweiser taugte er Deckert im Moment jedoch nicht.

Die Vormittagssonne tränkte die Abtei in glänzendes Licht. Ein Bild des Friedens und der Besinnung. Und hinter Deckert saß ein weinendes Häuflein Mensch auf dem nackten Asphalt. Verwirrt, alleine, scheinbar verlassen und vollkommen verstört. Dabei sollte dieser Mensch jetzt genau neben dieser Kirche stehen. Franziska mit David Wagner. Bestimmt wären die beiden hineingegangen. Wer verbringt denn ein paar Tage in einem Hotel nahe einem der schönsten Zisterzienserklöster Deutschlands und wirft keinen Blick in das Innere? Die Abtei hatte eine bewegte Geschichte hinter sich und war nicht nur im Mittelalter wirtschaftlich äußerst erfolgreich – eine Zeit lang hatten dort die reichsten Mönche im Süden des Landes gelebt, auch die Herzöge von Württemberg waren von der Lage und den Glanzleistungen gotischer Architektur sehr angetan. Wilhelm II., letzter König von Württemberg, hatte zusammen mit seiner Gattin das Kloster sogar zu seinem bevorzugten Wohnsitz erklärt.

Franziska und David Wagner waren auf dem Weg zur Hochzeit von Frau Wagners bester Freundin gewesen. Mascha Horgenzell hieß die junge Frau. So, wie es aussah, benötigte die Braut nun eine neue Jungfer. Unter den Umständen nahm Frau Wagner an den Feierlichkeiten natürlich nicht teil. Deckert glaubte zwar nicht an göttliche Vorsehung, aber – war das hier nicht ein schlechtes Vorzeichen für eine Ehe, die noch nicht einmal begonnen hatte?

Der Kriminalkommissar schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Tag hatte nicht übel angefangen. Keine Anrufe, bei denen es sich ohnehin immer um Petitessen handelte, hatten ihn in der Nacht aus dem Bett getrieben, und zum ersten Mal seit Langem hatte er wieder durchgeschlafen. Trotzdem war er früh aufgewacht und hatte vom Schlafzimmer aus den roten Morgenhimmel betrachtet, der seine Farbschattierung ständig zu wechseln schien. Erstaunt hatte er festgestellt, dass er sich an den Anblick der leeren Betthälfte neben sich gewöhnt hatte. Dass er Christines kupferne Locken nicht mehr vermisste, die noch vor ein paar Monaten wie ein Fächer über das Kissen gefallen waren. Dass er kein Interesse daran hatte zu wissen, wo sie jetzt wohnte – und vor allem mit wem.

Das üppige Frühstück, das er sich heute Morgen in einem Studenten-Café in der Nähe seiner kleinen Wohnung in der Tübinger Altstadt gegönnt hatte, hatte einen wunderbaren Beitrag zur weiteren Entspannung geleistet. Das Rührei war saftig, die Brötchen waren etwas warm gewesen, sodass die leicht salzige Butter darauf verlief. Ein tadelloser Anfang. Bis ihn der Anruf aus der Zentrale in seiner Beinahe-Beseeltheit unterbrochen hatte. Er hatte es gerade noch geschafft, den Kaffee auszutrinken und die neue Kollegin zu bitten, die Sache erst einmal für sich zu behalten. Dafür gab es Gründe. Seinen Vorgesetzten konnte er auch später informieren. Irgendwann. Streit war so oder so vorprogrammiert.

Der Kriminalkommissar riss sich von seinen Gedanken los und wandte sich mit bemüht sanfter Stimme wieder dem Häuflein Elend zu. »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass ein Wagen an diesem Punkt das Gebüsch durchbrochen hat. Um wie viel Uhr, glauben Sie, hat sich der Unfall ereignet?« Es fiel ihm schwer, die Nerven zu behalten. Das war der totale Gegenpol zu lockerem Rührei und fruchtiger Marmelade. Und keine Anhaltspunkte.

»Ich weiß nicht genau«, murmelte sie leise und starrte auf den Boden. »Vielleicht so gegen fünf Uhr nachmittags?« Dann sah sie ihn an. »Ist Ihnen klar, dass ich die ganze Nacht hier draußen war? Mutterseelenallein? Und möglicherweise war ich die gesamte Zeit nicht bei Bewusstsein, sonst hätte ich doch jemanden verständigt. Ich hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt. Glauben Sie, ich übernachte freiwillig neben der Landstraße?« Ihre Stimme zitterte vor Sorge und Angst. Jetzt erst konnte Deckert sehen, wie attraktiv sie war. »Ich mag gar nicht dran denken, was da alles hätte passieren können. David ist weg, der Himmel weiß wo, und vielleicht ist da noch jemand in der Nähe, war es die ganze Zeit und der wartet nur darauf, dass …« Sie brach ab.

Deckert nickte verständnisvoll. »Tut mir sehr leid«, brummte er und versuchte dabei fürsorglich zu klingen.

»Wir haben uns gestritten«, schluchzte sie. »Über einen Föhn. Einen gottverdammten Föhn!«

Nervös fuhr er sich durchs Haar und wünschte, sie hätte die letzten Sätze nicht gesagt. Ein Tatort war das eine. Er wusste damit umzugehen, auch wenn es bis jetzt keine Anhaltspunkte gab. Das war sein Job. Schon länger, als er denken konnte. Trauerberatung oder eine andere Art von psychologischer Unterstützung hatte er jedoch nie anbieten können. »Ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben, Frau Wagner«, spulte er den einstudierten Satz ab. »Aber jetzt sind wir ja da. Und wir suchen. Wenn Sie uns nur noch ein paar Fragen beantworten würden – dann lassen wir Sie erst einmal in Ruhe, und der Kollege vom Rettungsdienst wird sich um Sie kümmern.«

Er wandte sich zu den Sanitätern, die geduldig auf ihren Einsatz warteten. Deckert hatte ihnen bis jetzt zu verstehen gegeben, dass er allein mit Frau Wagner reden wollte. Allem Anschein nach fehlte ihr ja auch nichts, außer den Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Nacht. In dieser Beziehung standen sie hier im Nirgendwo, gestrandet auf Asphalt und wussten nicht, wo sie anfangen sollten. Deckert richtete noch einmal den Blick auf den Kirchturm.

Die ihm zugetanen Kollegen von der Spurensicherung waren mit ihrer Ausrüstung schon vor einer halben Stunde aufgebrochen, um die L 1208 und das Drumherum abzugrasen. Der Leiter des Teams, ein langjähriger Freund des Kommissars, der ebenso wie Deckert gerne einmal den einen oder anderen Dienstweg abkürzte oder überhaupt nicht nahm, konnte bis jetzt nicht vermelden, dass man in irgendeiner Weise einen Erfolg vorzuweisen hatte. Ziemlich frustrierend.

Ein solcher Fall war Deckert in seiner über 20-jährigen Laufbahn noch nie untergekommen. Natürlich ließ sich die Verstörtheit von Unfallopfern erklären, sie standen unter Schock und konnten das Geschehen aus diesem Grund oftmals nie lückenlos rekapitulieren, trotzdem kam hier offensichtlich etwas anderes hinzu. Was die Sache nebulös machte, war die Abwesenheit des Ehemannes. Scheinbar hatte sich eine Person entmaterialisiert. Aber warum hätte David Wagner nach einer Kollision aus dem eigenen Wagen kriechen, seine Frau im Stich lassen und sich klammheimlich aus dem Staub machen sollen? Wenn das eine neue Spielart war, eine Ehe zu beenden, dann benötigte man dazu eine Menge krimineller Energie. Zudem hätte David Wagner bei diesem Unterfangen selbst getötet werden können. Und vor allem: Wo war das Auto hin, verdammt?

Nichts ergab einen Sinn.

Das kleine Team, das er ohne Wissen seines Vorgesetzten um sich geschart hatte, konnte im Umkreis nirgends Blut entdecken. Nirgendwo. Was war hier geschehen?

Sie standen am falschen Ort. Das musste es sein. Franziska Wagner war herumgeirrt, hatte sich verlaufen. Unter Schock war sie völlig desorientiert durch die Gegend gestolpert.

Oder bei ihr ist eine Schraube locker.

Aber so wirkte sie nicht.

Er betrachtete ein letztes Mal den göttlichen Zeigefinger. Dann ging er zurück zum Einsatzwagen und schnappte sich das Smartphone vom Beifahrersitz.

2 Wenn Sie beim »Zeigefinger Gottes« an das augenfällige Zentrum von Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle denken oder etwa die Seherin Conchita Gonzales und ihr Internetsprachrohr, den Amerikaner Glenn Hudson, vor Augen haben, deren vermeintliche Enthüllungen über den geheimnisvollen Plan des Allmächtigen das Web verstopfen, so liegen Sie hier falsch.