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Inhalt

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Titel

Die arme Else

Fontane für Leser

Therese, Sophie, Manon oder: der Stillstand

Effi und Cécile oder: die Hilflosigkeit

Stine und Lene oder: die »natürlichen Konsequenzen«

Corinna und Jenny oder: vom Glück, das man sich nehmen kann

Melanie und Mathilde oder: selbst ist die Frau

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

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Und alles ohne Liebe

Theodor Fontanes
zeitlose Heldinnen

Die arme Else

Die Mutter spricht: »Lieb Else mein,
Du musst nicht lange wählen;
Man lebt sich ineinander ein,
Auch ohne Liebesquälen;
Manch Eine nahm schon ihren Mann,
Dass sie nicht sitzen bliebe,
Und dünkte sich im Himmel dann,
Und – alles ohne Liebe.«

Jung-Else hört’s und schloss das Band,
Das ew’ge, am Altare,
Es nahm zur Nacht des Gatten Hand
Den Kranz aus ihrem Haare;
Ihr war zu Sinn, als ob der Tod
Zur Opferbank sie triebe,
Sie gab ihr alles, nach – Gebot,
Und – alles ohne Liebe.

Der Mann ist schlecht; er liebt das Spiel
Und guten Trunk nicht minder,
Sein Weib zu Hause weint zu viel,
Und ewig schrei’n die Kinder;
Spät kommt er heim, er kost, er – schlägt,
Nachgiebig jedem Triebe,
Sie trägt’s, wie nur die Liebe trägt,
Und – alles ohne Liebe.

Sie wünscht sich oft, es wär’ vorbei,
Wenn nicht die Kinder wären,
So aber sucht sie immer neu,
Den Gatten zu bekehren;
Sie schmeichelt ihm, und ob er dann
Auch kalt beiseit’ sie schiebe,
Sie nennt ihn »ihren liebsten Mann«,
Und – alles ohne Liebe.

Fontane für Leser

An meine erste Fontane-Lektüre erinnere ich mich gut. Es war recht spät in meinem Lese-Leben, die Schule hatte ich längst hinter mir. Ich war um die Dreißig und schrieb gerade an meiner germanistischen Dissertation. Mein besonderes Interesse galt damals der deutschen Literatur um 1900, also der literarischen Moderne mit ihren anspruchsvollen Sprachexperimenten, an denen der 1819 geborene »Realist« Theodor Fontane selbst nicht mehr teilgenommen, ja, denen er recht kritisch gegenüber gestanden hatte. Ich las ihn auch nur, um eine allmählich peinliche Lektürelücke zu schließen, ich kannte ja nicht einmal Effi Briest!

Und was geschah? Ich las in Serie alle Romane Fontanes, sehr begeistert von diesen Texten, unter deren scheinbar konventioneller oder gar antiquierter Erzähloberfläche sich eine ganze Welt sozialer und psychologischer Spannungen verbarg. Nach meiner festen Überzeugung hatte diese Literatur in über hundert Jahren nichts an Bedeutung und auch nichts an Aktualität eingebüßt.

Im Anschluss an meine Dissertation wollte ich dann eine Habilitationsarbeit schreiben, deren inhaltlicher Mittelpunkt Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen sein sollte. So sehr hatte mich dieses Werk fasziniert, in dem zwei Figuren schnurstracks auf eine soziale und seelische Katastrophe zusteuern, woraufhin allerdings so gut wie gar nichts Schlimmes passiert und die beiden einfach weiterleben, zu gut versorgt, um ganz verzweifelt zu sein, und zu beschädigt, um noch glücklich werden zu können. Im zweiten Teil von Irrungen, Wirrungen schildert Fontane etwas, das ich den »universellen Alltag« nennen wollte, einen Raum oder eine Lebensform, in der alles Dramatische bis zur Unkenntlichkeit gemildert oder gar aufgehoben wird. Diesem »universellen Alltag« sollte meine Arbeit auch in anderen literarischen Werken nachgehen. Ich habe sie mit Elan begonnen, aber beendet habe ich dann meinen ersten Roman. Man muss sich im Leben manchmal entscheiden; und vergebens war meine Beschäftigung mit Fontane ganz sicher nicht.

Etwa zehn Jahre nach meinem Ausstieg aus der akademischen Germanistik begegnete mir Fontane wieder, jetzt endlich als Schullektüre, allerdings als die meines Sohnes. Die Wiederbegegnung war leider höchst unerfreulich, denn offenbar war es im Deutschunterricht nicht gelungen, Schülern des beginnenden 21. Jahrhunderts einen lebendigen Zugang zu einem Roman des späten 19. Jahrhunderts zu ermöglichen. Dabei ging es ausgerechnet um Irrungen, Wirrungen, diesen meines Erachtens so modernen oder besser gesagt zeitlosen Text.

Ich habe das später immer wieder so erfahren: In der Schule werden Fontanes Romane in kleine und kleinste Leseeinheiten zerschnitten, bis das Wesentliche des Textes gar nicht mehr wahrnehmbar ist. Man legt Figuren-Charakteristiken an, die wenig Raum für die Ambivalenz der Akteure lassen. Und wird der Text überhaupt einmal als Ganzes betrachtet, dann nahezu ausschließlich als eine Art Dokument früherer gesellschaftlicher Zustände, die wir heute zum Glück überwunden haben.

Ich fürchte, in den letzten Jahrzehnten sind mehrere Generationen potentieller Fontane-Leser mit einer, um es vorsichtig zu formulieren: leichten Abneigung gegen diesen Autor in ihr Lese-Leben nach der Schule entlassen worden. Unvorsichtig formuliert: Es ist nicht das Richtige getan worden, Fontanes Texte als zeitlose Literatur zu empfehlen. Stattdessen gelten sie vielfach als verstaubt, obwohl, um nur ein Beispiel zu nennen, gerade jetzt wieder zunehmend junge Leute unter einer rigiden Bevormundung durch ihre Familien leiden.

Ich bin mir indes vollkommen sicher, dass es keine Herkulesarbeit ist, Fontanes Romane aufs Gegenwärtige und nicht aufs Überkommene hin zu lesen. Man muss nur damit aufhören, zum Beispiel Effi Briest als eine literarisierte Exemplifizierung des unmenschlichen Scheidungsrechts im wilhelminischen Kaiserreich zu verstehen, und stattdessen beobachten, wie ein unerfahrener junger Mensch auf seine Manipulation reagiert. Und statt Irrungen, Wirrungen bloß als Beispiel für die Standesschranken in einer von der Aristokratie dominierten Gesellschaft zu lesen, müsste man den Blick auf das lenken, was geschieht, wenn Menschen ihre Herzenswünsche mit sogenannten Vernunftgründen unterdrücken.

Der Richtungsanzeiger der Lektüre müsste von »Distanzierung« auf »Aneignung« gestellt werden. Effi wäre dann nicht das siebzehnjährige Mädchen aus einer weit entfernten Vergangenheit, das von seinen Eltern standesgemäß verheiratet wird, ohne dazu gefragt zu werden. Sie wäre vielmehr eine universelle Siebzehnjährige, die in Abhängigkeiten gerät und auf eine bestimmte Art und Weise darauf reagiert. Es mag ja sein, dass der individuelle Spielraum der weiblichen Figuren in Fontanes Romanen durch die patriarchalische Gesellschaftsordnung stark beschränkt ist. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass in unserem demokratischen und, nun ja, weitgehend gleichberechtigten Alltag jeder Mann und jede Frau die Freiheit und die Individualität leben bzw. leben können, die ihnen die Gesetze erlauben. Immer noch, und wieder!, gibt es den bestimmenden Einfluss durch Familie und Religion, neu hinzugekommen ist der Druck, den Moden, Trends und die allgegenwärtige Kommunikation in sozialen Netzwerken auf den Einzelnen ausüben. Unsere Gegenwart ist voller Effis, voller Lenes. Man muss sich nur aufmerksam umsehen, dann erkennt man sie.

Was also habe ich im folgenden Text getan? Zunächst einmal habe ich Fontanes acht »Berliner Romane«, also die Texte, die in den 1870er und 1880er Jahren in Berlin spielen, in eine bestimmte Reihenfolge gebracht, und zwar nach Maßgabe dessen, wie stark und wie erfolgreich die weiblichen Hauptfiguren versuchen, ihre familiären und gesellschaftlichen Prägungen und Bestimmungen infrage zu stellen oder zu überwinden.

Nun mag man einwenden: Lohnt sich denn eine derart differenzierende Anordnung überhaupt? Sind nicht Fontanes Heldinnen einander traurig ähnlich? Alle sind sie doch fest in ihre Zeit gebunden und von der Gesellschaft bestimmt: als Untertanen in einem autoritären Staat und als Frauen in einer von den Männern beherrschten Gesellschaft. Tatsächlich gibt es unter ihnen keine Frauenrechtlerinnen, keine Revolutionärinnen, keine, die das gesellschaftliche System ernsthaft in Frage stellten oder daraus auszubrechen suchten. Sie machen allenfalls Fehler und bringen sich damit um ein vermeintliches Lebensglück; doch keine würde auch nur daran denken, eine Änderung der Verhältnisse im Großen und Ganzen einzufordern.

Das mag stimmen. Dennoch unterscheiden sie sich voneinander, und das sogar ganz erheblich! Ich denke, in meinem Arrangement treten ihre Unterschiede deutlicher hervor; ihre Eigenheiten überstrahlen ihre gemeinsame Rolle als Opfer der Gesellschaft. Ich habe Fontanes Heldinnen in gewissermaßen aufsteigender Linie angeordnet, angefangen mit den gänzlich passiven und unbeweglichen Schwestern Poggenpuhl, endend mit der aktivsten, wenngleich nicht unbedingt sympathischsten Figur Mathilde Möhring und ihrer Entwicklung. Wie die Mitglieder einer schwierigen Familie habe ich sie alle zu einem Gruppenbild arrangiert, besser: zu einer literarischen »Familienaufstellung«, in der jede ihren Platz findet, und zwar nach Maßgabe dessen, wie aktiv oder passiv sie sich gegenüber äußeren Zwängen verhält.

Und was habe ich noch getan? Etwas mit Absicht Schlichtes, aber meines Erachtens sehr Wichtiges. Ich habe nämlich versucht, beispielhaft vorzuführen, wie man über die einzelnen Texte sprechen, wie man sie lesend durchschreiten kann, ohne im Dickicht der historischen Bezüge steckenzubleiben. Meine Inhaltsangaben sollen den Figuren ihre zeitgenössischen Kostüme und den Schauplätzen ihr nostalgisches Lokalkolorit nehmen. Ich glaube fest, dass man manches nur etwas anders aussprechen muss, und schon spielen die Romane nicht anno Tobak, sondern in einem zeitlosen Jetzt. Auf diese Art und Weise möchte ich allen Lesern, insbesondere Lehrern und Schülern, Mut machen, die Texte nicht als »historische« Romane und nicht als Material für langweilige Schulaufgaben zu begreifen, sondern als Darstellung brennender Fragen, auf die es immer wieder eine Antwort zu finden gilt.

Etwa so: Eine Mutter, eine kaltherzige und unbefriedigte Person, verkuppelt ihre Tochter an ihren früheren Freund, damit die Kleine es einmal besser haben soll und damit sie ihren alten Schwarm wenigstens als Schwiegersohn bekommt. Sehr übel. Aber die wichtige Frage lautet: Was genau tut die Tochter jetzt? Und was bringt es ihr?

Oder: Jemand verzichtet auf das Glück seines Lebens, weil er sich sagt, dass es viel zu schwierig und wahrscheinlich aussichtslos ist, dafür zu kämpfen. Lieber richtet er sich mit dem ein, was er leicht bekommen kann. Frage jetzt: Geht das? Oder kostet es ihn vielleicht mehr als der Kampf, selbst wenn er ihn verloren hätte?

Die folgenden Kapitel sind also Entwürfe dazu, wie ich mir die Lektüre der Fontaneschen Romane vorstellen könnte. Ich habe versucht, darin den Ton vorzugeben, auf den ich eine solche Lektüre stimmen würde. Und ich habe sehr viel absichtlich weggelassen. Von allem Zeittypischen und Historischen wie der Adelsgesellschaft, den rechtlichen Verhältnissen oder der Dominanz des Militärischen rede ich kaum, ich lasse auch, wenn eben möglich, die alten Titel weg. Raus aus dem historischen Dschungel!, lautet die Devise.

Auch zur literarischen Machart und insbesondere zu den »tausend Finessen«, die Fontane in seine Romane eingebaut hat, sage ich so gut wie nichts. Das soll nun wirklich keine nachträgliche Abrechnung mit der Literaturwissenschaft sein! Sie ist ein wunderbares Metier. Ich denke allerdings, dass die Lektüre eines bedeutenden literarischen Texts immer, und also auch in der Schule, vom großen Ganzen zu den Teilen und zum Kleinen gehen sollte und nicht umgekehrt. Was nutzt es, wenn man sich mit stilistischen oder kompositorischen Detailfragen befasst, das Werk als Ganzes aber an einem vorbeirauscht? Das nutzt gar nichts und sollte eigentlich nicht passieren. Einem Fontane erst recht nicht. Das ist mein großer Wunsch. Und darum dieses Buch.