Gordimer, Nadine Ein Mann von der Straße

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Übersetzt aus dem Englischen von Heidi Zerning

 

© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH, 2018
© Felix Licensing, B.V. 2001
Titel der englischen Originalausgabe: »The Pickup«
© Farrar, Strauß & Giroux, New York 2001
© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2001
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München

 

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Für Reinhold
Oriane
Hugo

 

Gehn wir in ein andres Land …
Der Rest, der findet sich,

Du brauchst nur ja zu sagen.

William Plomer

Roman

Raubtiere vor dem Sprung. Geschart um ein kleines Auto mit einer jungen Frau darin. Die Batterie will nicht mehr, und Taxis, Personenwagen, Kleinbusse, Laster, Motorräder drängeln und drohen einander, schnauzen sie an, fluchen, es ist ein Verkehrsmob, der seine eigene Konfusion inszeniert. Na los doch. Blöde Kuh. Idikazana lomlungu, le! Sie hebt die Hände, die Handteller offen, ergibt sich. Das Gerangel geht weiter, das ungeduldige Hupen. Sie steigt aus und stellt sich. Einer der arbeitslosen Schwarzen, die betteln, indem sie Autos in Parklücken winken, schlüpft geschickt zwischen Stoßstangen durch, deutet mit dem Kopf: »Mach schon, mach, setz dich rein!«, und dreht pantomimisch an einem Lenkrad. Noch einer wie er taucht auf, und die beiden schieben sie und ihren Wagen in eine Einfahrt. Die Straße hetzt weiter. Die beiden schauen versonnen an ihr vorbei, während sie nach ihrem Portemonnaie tastet. Ein rascher Kennerblick auf das, was sie ihm in die Hand gedrückt hat, bestätigt dem Straßenboss, dass es mehr als angemessen ist. Sie weiß gar nicht, wie sie ihnen danken soll usw. Er strafft den Körper, um das Geld in einer Hose zu verstauen, die einem anderen gepasst hat, und lächelt, hält dabei schon Ausschau nach dem nächsten Wagen, der einen Parkplatz sucht. Eine Frau mit einem Frottéhandtuch um den Kopf, die auf einer Obstkiste hinter ihrem Sortiment an Kämmen, Rasierklingen, Bimssteinen, Wollmützen und Kopfschmerzpulvern thront, ruft ihm etwas zu, was in einer Sprache, die die junge Frau nicht versteht, eine neckende Bemerkung sein muss.

 

Da: Sie haben es gesehen. Ich habe es gesehen. Die Geste. Eine Frau in einer Verkehrsstockung, wie sie in einer Großstadt, in jeder Großstadt, an der Tagesordnung ist. Sie werden sich nicht daran erinnern, Sie werden nicht wissen, wer sie ist.

Aber ich weiß es, denn anhand dieser Szene werde ich – in einer Geschichte – ausfindig machen, was als Folge dieser alltäglichen Verlegenheit auf den Straßen geschehen wird; wohin es sie lenkte, und zu was. Ihre erhobenen Hände, offen.


Die junge Frau war unten in einer Gasse, die ein Basar all dessen war, was die Stadt nach den Gesetzen und Traditionen der Generation ihrer Eltern nicht hatte sein dürfen. In Cafés und Bars die Hemmungen der Vergangenheit aufzubrechen ist immer ein Werk der Jungen, Unbekümmerten und selektiv Toleranten gewesen. Sie war auf dem Weg zu einem Lokal, wo sie gewöhnlich Freunde und Freunde von Freunden antraf, ohne feste Verabredung, wer gerade da war. Das L. A. Café. Die meisten Leute, die daran vorbeizogen, wussten wahrscheinlich gar nicht, dass sich hinter den Großbuchstaben Los Angeles verbarg, sondern hielten sie für die Initialen des Besitzers, so wie die alten griechischen Lebensmittelläden den Namen Stavros oder Kimon trugen. EL-EY. Wer der Besitzer auch sein mochte, er war jedenfalls der Meinung, dass dieser Name den Stammgästen einen imaginären Lifestyle vorgaukelte, der zu ihrem eigenen passte; wahrscheinlich verwechselte er Los Angeles mit San Francisco. Der Name seines Cafés war eine Aussage. Ein Ort für die Jungen; aber auch einer, wo alte Überlebende aus der Vergangenheit des Viertels, alternde Hippies und linke Juden, Großväter und Großmütter aus der Immigration der 20er, Leute, die nicht zu Wohlstand gekommen waren, über einer einzigen Tasse Kaffee sitzen konnten. Verstörte Bauern, die aus den ländlichen Gebieten in die Stadt gewandert waren, brabbelten und bettelten draußen am Rinnstein. Aus der Straßenbude eines Friseurs wehte der menschliche Filz afrikanischen Haares auf die Terrasse. Prostituierte aus dem Kongo und dem Senegal saßen mit dem Selbstbewusstsein von Schönheitsköniginnen an den Tischen.

Hi, Julie – wie gewöhnlich, sie winkten sie herein. Die sie da begrüßten, sahen einen schönen Hals und ein Gesicht, das, normalerweise blass, jetzt von irgendeiner Erregung gerötet war. Sie fragten sofort nach, Schwarze wie Weiße: Hi, Julie, entspann dich, was hast du denn. Zwei ihrer Freunde aus der Studienzeit waren da, ein arbeitsloser Journalist, der für abwesende Besitzer Häuser hütete, ein Paar, das Plakate für Kundgebungen und Popkonzerte malte. Sie waren empört: Diese Stadt. Was für Scheißkerle.

»Die haben nur eins im Sinn, ankommen …«

»Und wo, glauben die, kommen die am Ende an?« – dies von dem Dauergast mit blanker Glatze und einem Kranz grauer Locken, der hinter den Ohren auf die Schultern fiel. Er hatte noch immer nichts veröffentlicht, war aber von Kindesbeinen an als Dichter und Philosoph anerkannt, von seiner Mutter.

»Nichts gibt einem weißen Mann einen stärkeren Kick, als eine Frau am Steuer zu demütigen.«

»Sexuelles Stimulans für Neandertaler –«

»Einer hat was gebrüllt … klang wie Idikaza mlungu … Was bedeutet das, ›weiße Schlampe‹, ja?« Die Frage richtete sie an den schwarzen Freund.

»Ungefähr so was. Diese Stadt, Mann!«

»Aber es waren natürlich schwarze Männer, die mir geholfen haben.«

»Ach komm – für ein Trinkgeld!«

 

Ihre Freunde kannten eine Werkstatt die nächste Straße runter. Mit einem Winken aus dem Handgelenk verließ sie sie, um die notwendigen praktischen Schritte zu unternehmen.

Sie spürt heißen Abgasatem. Stahlschnauzen und gebleckte Kühlergrillzähne starren ihr ins Gesicht. Etwas in ihr kämpft dagegen an. Ihr Herz ballt sich unter ihren Rippen zur Faust, keuchende Atemzüge steigen zum Schlüsselbein auf. Sie geht die Straße entlang, das ist alles, es ist nichts. Geht nur den Block bis zur Werkstatt. Es ist nichts, es war nichts, es ist vorbei. Ihr schaudert. Eine Verkehrsstockung.

Da ist die Werkstatt, wie sie gesagt haben. Als sie hineinging, sah sie ihre Gewöhnlichkeit, eine Landung in der Normalität: Fahrzeuge als hilflose, harmlose Opfer auf hydraulischen Hebebühnen, Werkzeuge auf Tischen, Wasserspender, Plastikbecher und Pizzakartons, ein Radio plärrte, und ein Mann lag auf dem Rücken halb unter einem Wagen. Es waren noch zwei andere da, die sich mit irgendeiner lärmenden Maschine beschäftigten und sie zu dem Liegenden hinüberwinkten. Die Beine und der untere Teil des Körpers bewegten sich beim Klang ihrer entschuldigenden Stimme schlängelnd unter dem Wagen hervor, und der Mann tauchte auf. Er war jung, in verdreckter Arbeitskleidung, lange ölverschmierte Hände baumelten an langen Armen; er war keiner von ihnen – der weiße Mann sprach mit dem schwarzen Mann an der Maschine Afrikaans –, sondern hatte glänzende dunkle Haare und schwarze Augen in bläulichen Schatten. Ohne jegliche bestätigende Aufmerksamkeit oder Bemerkung hörte er ihr zu. Sie wartete einen Augenblick in seinem Schweigen.

Könnten Sie also jemanden schicken, der mal nachsieht … das Auto steht um die Ecke.

Er starrte auf seine Hände. Gleich, ich muss mich nur waschen. Er trug eine sperrige Tasche ohne Tragegriff mit einer neuen Batterie und Werkzeug, und es war schwierig, auf der Straße neben ihm zu gehen, die Leute mussten ihnen ausweichen, aber sie mochte nicht vor dem Mechaniker hergehen, als wäre er eine Art Diener. Schweigend brachte er das Auto in Gang und fuhr es mit ihr auf dem Beifahrersitz in die Werkstatt.

Da ist noch was – ich weiß nicht – mit der Zündung. Ich glaub, Ihr Auto wird wieder stehen bleiben.

Dann lass ich’s besser hier. Ich nehm an, es muss sowieso mal durchgesehen werden.

Wann war die letzte Inspektion?

Sie lächelte schuldbewusst. Ich weiß nicht mehr.

Wie lange her?

Ich fahr einfach, bis was kaputtgeht.

Er nickte langsam, sagte nichts: sicher, das ist so eure Art.

Ich ruf an, um mich zu erkundigen, ob es fertig ist – Sie sind Mr. …?

Fragen Sie nach Abdu.

 

Sie ließ der Werkstatt zwei oder drei Tage Zeit, um zu tun, was erforderlich war. Als sie anrief und nach Abdu fragte, dem Mechaniker, der ihr Auto übernommen hatte, wurde ihr gesagt, er sei nicht da, aber der Wagen sei mit Sicherheit noch nicht fertig. Das machte nichts, der Drittwagen ihres Vaters stand ihr zur Verfügung, ein ansehnlicher alter Rover, den er auf einer Auktion bei Sotheby’s gekauft und gründlich hatte überholen lassen. Er benutzte ihn selten. Es war ein Auto aus den Villenvororten, mit dem sich normalerweise niemand in das Viertel vom EL-EY Café hinunterwagte. Als es dort unter der bewundernden Obhut eines mit Trinkgeld gut versorgten Straßenmannes parkte, umstanden es die Leute, um es staunend zu betrachten, ein Wesen aus einer anderen Welt, Reichtum so fern wie der Weltraum. Sie war nicht sonderlich besorgt, dass es gestohlen werden würde – es war zu einzigartig, um damit unbemerkt davonzukommen, und zu altertümlich, um eine profitable Quelle für Ersatzteile zu sein, falls es ausgeschlachtet wurde. Unangenehm war ihr nur der Gedanke, das Auto – und sich, als Familiennutznießerin – vor ihren Freunden zur Schau zu stellen. Sie wohnte nicht in dem Villenvorort, in dem sie aufgewachsen war, sondern in einer Reihe von Hinterhofhäuschen, umgewandelten Dienstbotenunterkünften, oder in bescheidenen Mietwohnungen, wie ihre Freunde sie bevorzugten, gezwungenermaßen, denn sie konnten sich nichts Besseres leisten. Es war Sonntag, sie erholte sich in ihrem Kreis bei therapeutischem Mineralwasser und Kaffee von dem Abend in einem Club in Soweto, wo einer von ihnen Trompete spielte, und fand schließlich drei glückliche Kinder und einen Säugling auf der blinkenden Motorhaube sitzen und mit dem kleinen silbernen Merkur, der Kühlerfigur, spielen. Ihr Vater hätte diesen ganz neuen Umgang mit seinem Oldtimer-Spielzeug vielleicht gerade noch lustig gefunden, aber sie erzählte nichts davon, denn seine junge Ehefrau wäre gar nicht davon erbaut gewesen, dass der Wagen in unpassenden Gegenden herumkutschiert wurde – diese Gemahlin wachte streng über seine Besitztümer.

In der Woche, die folgte – sie hatte noch nicht wieder in der Werkstatt angerufen –, sah sie auf der Straße den Mechaniker, als sie aus dem Wagen ihres Vaters stieg, er war stehen geblieben und betrachtete ihn.

Das ist ein Auto … Entschuldigen Sie. Als hätte er jemanden angesprochen, den er nicht kannte.

Nicht meins! Sie gab sich zu erkennen: Ich hätte gern mein eigenes altes zurück! Und lachte.

Er schien sich zu erinnern, wer von den Kunden sie war, unter deren Autos er lag. Ach ja – Donnerstag fertig. Wir müssen von der Vertretung einen Verteiler kommen lassen.

Er betrachtete den Rover aus anderem Winkel. Wie alt? Welches Modell?

Ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung. Er ist geliehen, er gehört mir nicht, so viel ist sicher.

Ich hab noch nie einen gesehen – nur auf einem Foto.

Die sind vor Ewigkeiten in England gebaut worden, bevor Sie oder ich geboren waren. Sie lieben Autos? Obwohl Sie den ganzen Tag mit deren Innereien zu tun haben?

›Lieben‹ – das will ich nicht sagen. Das ist was anderes. Es ist einfach schön – (seine lange Hand hob sich zu seinem Gesicht und öffnete sich zu dem Auto). Viele Dinge können schön sein.

Und meins ist definitiv nicht schön. Was ist sonst noch daran kaputt außer dem Ding, das Sie von der Vertretung kommen lassen müssen? Hört sich nach einer größeren Reparatur an.

Warum behalten Sie’s? Sie sollten sich ein neues Auto kaufen.

Er hatte sich von ihr abgewandt, betrachtete wieder den Rover: er war der Beweis, dass sie sich ein neues leisten konnte.

Sie gab ihm den Vorwurf zurück. Warum sollte ich, wenn Sie es für mich wieder in Gang bringen können?

Er kniff die Augen zusammen, die in der Sonne tiefschwarz schimmerten, autoritär. Weil es Sie in Gefahr bringen kann, damit zu fahren. Etwas kann versagen und Sie umbringen. Ich sehe nicht – (er schien ein Wort zu verwerfen, wahrscheinlich eines, das ihm aus einer anderen Sprache in den Sinn gekommen war – er zögerte unentschlossen) – weiß nicht, was ich da machen kann.

Und wenn ich ein neues Auto fahren würde, könnte jemand anders auf der Straße versagen und mich umbringen – also?

Das wäre Schicksal, aber Sie hätten’s nicht – wie soll ich sagen – gesucht.

Schicksal.

Das fand sie amüsant: Gibt’s so was? Glaub ich daran? Sie offenbar ja.

Für Begegnungen offen zu sein – daran jedenfalls glaubten sie und ihre Freunde, als Teil dessen, was den Wert ihres Lebens ausmachte. Warum gehen wir nicht einen Kaffee trinken – falls Sie Zeit haben?

Das ist meine Mittagspause. Er zog unentschlossen die Mundwinkel herunter, dann lächelte er zum ersten Mal. Ein flüchtiger Blick auf etwas Anziehendes, das dieser Mann in sich zurückhielt und das sich jetzt Bahn brach in dem Bild guter Zähne, kontrastiert von klar umrissenen Lippen unter einem Schnurrbart, so schwarz wie seine Augen. Höchstwahrscheinlich stammte er von Indern oder Kap-Malaien ab; wie sie ein Einheimischer dieses Landes, in dem beide als Nachfahren von Einwanderern der einen oder anderen Ära geboren worden waren – in ihrem Fall aus Suffolk und der Grafschaft Cork, in seinem Fall vielleicht aus Gujarat oder dem Malaiischen Archipel.

EL-EY Café.

Die Freunde waren wahrscheinlich drinnen an ihrem üblichen Tisch. Sie sah nicht hinein und ging zu einem Ecktisch auf der Terrasse.

Wenn Menschen sich zufällig begegnen, vor allem Männer und Frauen, vermeiden sie jedes Thema, das Anlass zu Missverständnissen geben oder kompromittieren könnte, und erzählen sich, was sie tun: was bedeutet, welcher Arbeit sie nachgehen, nicht, wie sie sonst ihr Leben gestalten. Ein großes Wort war aus dem, was dieser Mann in sich zurückhielt, hochgestiegen – ›Schicksal‹ –, aber es war gar nicht so schwer, das, was darin an intimem Glaubensinhalt mitschwang, auf das zulässige Thema umzumünzen: die Beschäftigungen, mit denen sie, die Fahrerin des Rover (auch wenn der, wie sie betonte, nur geliehen war), ebenso wie er, mit seinem Platz unter anderer Leute Fahrzeugen, ihr Brot verdienten. Wer immer ihre Vorfahren waren, als Einheimische derselben Generation verstanden sie doch wohl unter ›Brot‹ eher Geld als einen Laib. Trotzdem merkte sie, wie behutsam sie sprach, sorgfältig auf die offensichtlichen Unterschiede an ›Schicksal‹ zwischen ihnen achtend: sie in dem Rover ihres Vaters (den sie verschwiegen und somit verleugnet hatte), er gefangen unter ihrer kleinen Schrottkiste.

Was ich tue. Was du tust. Das ist so ungefähr das einzige unverfängliche Thema.

Ich weiß nicht genau, wie so was zu Stande kommt. Ich wollte eigentlich Anwältin werden. Diesen Ehrgeiz hatte ich schon in der Schule – eine Tante von mir war Anwältin, ich bin einmal hingegangen, um sie in dieser wundervollen Plisseerobe mit dem weißen Lätzchen beim Kreuzverhör zu sehen. Aber da verschiedene andere Dinge auf mich zukamen … hab ich mit Jura schon nach zwei Jahren aufgehört. Dann waren es Sprachen … und irgendwie bin ich dabei gelandet, als PR-Managerin und im Sponsoring zu arbeiten, Wohltätigkeitsgalas, Konzerte, Popgruppen auf Tournee. Alle sagen, wie toll, da lernst du ja berühmte Leute kennen – aber man lernt auch grässliche Leute kennen, und man muss nett zu ihnen sein. Servil. Lange werd ich das nicht mehr machen. Beinahe hätte sie gesagt: Ich weiß nicht, was ich machen möchte, wenn das bedeutet, was ich sein möchte. Das wäre der Beginn einer Beichte, auch wenn der Grundsatz lautete, zu Fremden offen zu sein.

Das ist bestimmt gutes Geld.

Provision. Hängt davon ab, was ich reinbringe.

Er trank den Kaffee gleichmäßig in Schlucken und Pausen, als wäre das ein geregelter Vorgang. Vielleicht würde er nichts mehr sagen: schließlich war es herablassend, aus dem Leben anderer Menschen freimütige Begegnungen zu machen, eine Demonstration der eigenen Überzeugung von der Gleichheit ihres Wertes und ihrer Bedeutung, den Automechaniker im Netz des EL-EY Cafés zu fangen. Wenn er den letzten Schluck getrunken und die Tasse hingestellt hatte, würde er aufstehen, danke sagen und gehen – also musste sie sich rasch etwas einfallen lassen, um die Art, wie sie ihn aufgegabelt hatte, zu berichtigen, zu rechtfertigen.

Was ist mit Ihnen?

Das war das Falsche! Sie hatte es geschafft, es kam als widerwärtige Anteilnahme heraus, und sie meinte, ihn Luft holen zu hören, um damit, mit ihr, fertig zu werden; aber er streckte nur die Hand nach der Zuckerdose aus, sie beeilte sich, sie ihm zu reichen, er nahm sich noch einen Löffel voll für den Rest in seiner Tasse. Er würde schweigen, wenn er wollte, er würde reden, wenn er Lust hatte, es hing nicht von ihr ab.

Vieles, verschiedene Länder. Vielleicht ist das der richtige Weg.

Nur, wenn sie dich nicht wollen, wenn sie sagen, das ist nicht dein Land. Du hast kein Land.

Das ist doch unser Land. Als Feststellung von ihr. Für Sie.

Ach, ich dachte, Sie wären – wie ich – hier zu Hause, aber es ist gut, mal rauszukommen. Ich war ein Jahr in Amerika – ein anderes Land wär für mich besser gewesen.

Ich geh dahin, wo sie mich reinlassen.

Und woher … Sie zögerte. Jetzt ließ es sich nicht mehr umgehen.

Er nannte ein Land, von dem sie kaum gehört hatte. Eines jener Länder, entstanden beim Abzug der Kolonialmächte oder ausgeschieden aus zusammengeschusterten Föderationen, die das Machtvakuum füllen und verhindern sollten, dass die alten Kolonialmächte sich unter Abkürzungen, die immer noch die Welt einteilen, neu formierten. Eines jener Länder, in denen sich Religion und Politik nicht auseinander halten lassen, ebenso wenig, wie deren Formen der Tyrannei von der Tyrannei der Armut zu trennen waren – als Grund dafür, das Land zu verlassen und sich irgendeins zu suchen, das einen aufnimmt.

Und da war’s so schlimm? Sie wusste eigentlich gar nicht, wovon sie redete.

War, ist.

Aber hier geht’s Ihnen gut? Ja?

Jetzt stellte er die Tasse ordentlich auf die Untertasse, legte den Löffel hin und stand auf, um zu gehen.

Danke. Ich muss wieder an die Arbeit. Sie stand auch auf. Donnerstag?

Rufen Sie lieber an, bevor Sie kommen. Donnerstag.

 

Hier ist Julie.

Aber er sagte: Wer, wen möchten Sie sprechen?

Ich bin die, deren Auto Sie reparieren, Sie haben gesagt, Donnerstag.

Tut mir Leid, es ist sehr laut hier – ja, Sie können’s abholen.

In der Werkstatt übergab er dem Besitzer im Büro eine Art Arbeitsbogen, und sie bezahlte.

Ist jetzt alles in Ordnung? Sind Sie sicher?

Er zuckte leicht die Achseln wie jemand, der den Umgang mit besorgten Kunden gewohnt ist. Sie können’s mit mir ausprobieren, wenn sie wollen.

Er stieg auf der Beifahrerseite ein; sie fuhr zwischen Hindernissen auf dem Werkstattboden rasch rückwärts hinaus, um ihm zu zeigen, dass sie das konnte. Sie kurvten im Viertel herum, spritzten durch Wasserlachen aus überfließenden Gullys, bremsten scharf hinter plötzlich haltenden Minibus-Taxis, quetschten sich geschickt neben in zweiter Reihe geparkten Lieferwagen durch, wichen Fußgängern aus, die wie Fischschwärme auf die Straßen huschten. Sie war entspannt; jetzt war sie Teil dieser hektischen Völkerwanderung, schwamm plaudernd darin mit.

Sie meinen immer noch, ich sollte mir ein neues kaufen.

Das wär besser. Beim nächsten Mal wird was anderes kaputtgehen; dann zahlen Sie wieder, um dasselbe alte Ding zu behalten.

Ich würd einen guten Gebrauchten kaufen. Vielleicht. Vielleicht ist das eine Idee? Meinen Sie, Sie könnten ihn für mich unter die Lupe nehmen, wenn ich das mache? Ich müsste ihn von jemandem durchsehen lassen, der weiß, was er sich angucken muss. Wenn Sie wollen. Das könnte ich machen.

Wunderbar. Wissen Sie vielleicht von jemandem, der ein gutes Auto verkaufen möchte? Vielleicht hören Sie was …

Manchmal kommen Leute in die Werkstatt … ich kann mich umschauen. Wenn Sie wollen. Was für ein Wagen?

Keinen Rover, darauf können Sie Gift nehmen!

Ja, aber Zweitürer, Viertürer, Automatik – was immer.

Vor dem EL-EY Café war ein Parkplatz frei. Sie gehorchte dem Halbwüchsigen, der sie mit seiner Klebstoffschnüffelflasche in der Hand einwies. Sie sprachen über den Autotyp, was sie ausgeben wollte, während sie den Wagen verließen und die Treppe zur Terrasse hinaufstiegen. Diesmal gingen sie hinein, diesmal wurde er an den Tisch ihrer Freunde mitgenommen.

Hi, Julie; Stühle wurden gerückt. »Das ist Abdu, er wird mir einen neuen fahrbaren Untersatz besorgen.«

Hi, Abdu. (Klingt für sie wie eine Abkürzung von Abdurramin, einem häufigen Namen unter Malaien in Kapstadt.) Die Freunde haben keine Hemmungen, ihn zu fragen, wer bist du, wo kommst du her – das ist genau das Gegenteil bürgerlicher Fremdenfeindlichkeit. Nein, nicht vom Kap. Sie entlocken ihm in kürzester Zeit seine Geschichte, sie machen Einwürfe, ergänzen sie mit Beispielen, die sie kennen, Ratschlägen, die sie zu bieten haben, Interesse, das in aller Unschuld gönnerhaft oder unwillkommen ist, hängt ganz davon ab, wie der Mann es aufnimmt – aber sofort ist er nicht mehr der ›Automechaniker‹, sondern ein Freund, einer von ihnen, ihr Horizont erweitert sich ständig.

Also daher kommt er; einer von ihnen weiß alles über dieses gottverlassene Land. Der Mechaniker hat dort ein Diplom in Volkswirtschaft (die Universität ist eine, von der niemand gehört hat), aber es gab da nicht die geringste Aussicht (warum auch immer, wahrscheinlich auf Grund der religiösen und politischen Splittergruppen, denen er angehörte oder nicht angehörte, oder auf Grund von Geldmangel, um die richtigen Leute zu bestechen), einen akademischen Posten zu bekommen. Oder irgendeinen Job; keine Arbeit, keine Entwicklung, was kann man in einer Wüste anpflanzen, korrupte Regierung, religiöse Unterdrückung, Grenzkonflikte – eine Mischung, wenn auch unzutreffend, aus all dem, was sie über die Region zu wissen meinen, sie erzählen ihm etwas über sein Land. Aber dann hört sie eine Erklärung für etwas, das er ihr gesagt und das sie nicht verstanden hat. Er sagt ihnen: »Ich kann das nicht sagen – ›mein Land‹ – jemand anders hat einen Strich gezogen und gesagt, das ist es. Zur Zeit meines Vaters haben sie es den Reichen gegeben, die es für sich führen. Von wessen Land soll ich also sagen, es ist meins?«

Unter ihnen reicht sein Englisch aus, und sie sind nicht zu schüchtern, ihn zu fragen, aus welcher Muttersprache sein Akzent und seine Ausdrucksweise stammen. Eine von ihnen erkundigt sich hoffnungsvoll nach dieser Fremdheit, da sie den Glauben angenommen hat, der eine Lebensweise ist, keine kriegerische Verteidigung der eigenen Ethnie. »Bist du Buddhist?«

»Nein, das bin ich nicht.«

Und wieder ist er aufgestanden, er muss sie verlassen, er ist Mechaniker, er gehört zur Welt der körperlichen Arbeit. Einer von ihnen überlegt, zerbricht ein Streichholz in immer kleinere Stücke. »Ein Volkswirt, der Kfz-Schlosser werden musste. Ich frag mich, wie er das mit den Autos gelernt hat.«

Ein anderer hatte die Antwort.

»In der Not … Der einzige Weg, in Länder zu gelangen, die dich nicht wollen, ist als Handwerker oder durch die Mafia.«

Eine Woche verging. Sie würde ihn nie wieder sehen. Das kam unter ihren Freunden vor, mit Leuten, die sie aufgegabelt hatten: »Wo ist eigentlich die Frau, die du neulich mitgebracht hast, die, die gesagt hat, sie hätte die Reden für einen Minister geschrieben, der entlassen wurde?« »Ach, sie scheint nicht mehr in der Stadt zu sein.« »Und der andere Typ – interessant – er wollte Straßenkinder organisieren, damit sie als Straßenmusikanten vor Kinos Steeldrums spielen, hat er das je in Gang gekriegt?« »Keine Ahnung, wo der abgeblieben ist.«

Zwei Wochen. Natürlich wusste der Mann aus der Werkstatt, wo er sie finden konnte. Er kam an einem Samstagvormittag an den Tisch der Freunde, um ihr zu sagen, dass er ein Auto für sie gefunden hatte. Die Werkstatt war samstags geschlossen, und jetzt trug er gut gebügelte schwarze Jeans, ein rosarotes Hemd und ein Paisley-Halstuch. Sie bestanden darauf, dass er mit ihnen Kaffee trank; jemand hatte Geburtstag, und der Kaffee verwandelte sich bald in Rotwein. Er trank keinen Alkohol; er sah sie an, als sie ihr Glas hob: »Ich habe das Auto hier, Sie können es Probe fahren.«

Und die Freunde, dazu aufgelegt, alles lustig zu finden, lachten darüber mit parodistischem O-ho-hohoho! und versicherten ihm: »Julie verträgt viel, keine Sorge.« Aber sie lehnte ein zweites Glas ab.

»Die Bullen sind mit ihren Röhrchen unterwegs, es ist Wochenende.«

Das Auto gefiel ihr nicht – zu groß, schwierig zu parken –, und vielleicht sollte es das auch gar nicht. Er stand mit jemandem in Kontakt, der sich umsah, er würde am nächsten Wochenende ein anderes vorbeibringen. Wenn ihr das recht sei.

Anfangs sagte sie, sie wisse nicht, ob sie Zeit haben würde; aber dann tat sie es, sie gab ihm ihre Telefonnummer. Kein Zettel, um sie zu notieren. Die Feier mit den Freunden glühte immer noch in ihr nach, sie lachte. Schreib sie aufs Handgelenk. Und dann war ihre Flapsigkeit ihr peinlich, denn er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, drehte das Handgelenk um und schrieb die Nummer auf die zarte Haut mit den blauen Äderchen.

Er rief an, am Telefon kurz und förmlich, redete sie wieder mit ›Miss‹ und ihrem Zunamen an, und sie vereinbarten ein früheres Datum, nach der Arbeit. Dieses Auto war auch wieder nicht ganz das Richtige für sie. Sie fuhren ein kurzes Stück aus der Stadt hinaus. Es war, als wären sie von der Stadt befreit, es war nicht nur die Straße, die ihnen offen stand; mit dem Gesicht zur Straße vor ihnen brachte sie es fertig, ihn nach dem zu fragen, was die Freunde kurz berührt hatten – In der Not … Wie wird ein diplomierter Volkswirt zum Automechaniker? War das nicht eine ziemlich lange Ausbildung, Lehrzeit und so weiter? Und als er zu sprechen begann, unterbrach sie ihn: Hör zu, ich bin Julie, nenn mich bitte Julie.

Julie. Also gut, Julie. Seine Stimme war leise, obwohl sie allein waren auf der Straße, niemand konnte sie belauschen. Er zauderte, denn schließlich, kannte er eigentlich diese junge Frau, ihre geschwätzigen Freunde, das laute, unbekümmerte Forum vom EL-EY Café? Aber der Wunsch, sich ihr anzuvertrauen, gewann die Oberhand. Er war kein ausgebildeter Mechaniker. Zu seinem Glück hatte er schon als kleiner Junge an Wagen herumgebastelt, sein Onkel – der Bruder seiner Mutter – reparierte auf seinem Hinterhof Autos und Laster … er lernte von ihm, statt mit anderen Jungen zu spielen … Die Werkstatt beschäftigt ihn illegal – ›schwarz‹ ist das Wort, das dafür benutzt wird. Das ist billig für den Besitzer; er zahlt keine Unfallversicherung, keine Rente, keine Krankenkasse. Und jetzt das selten gewährte Lächeln, es steigt zu seinen durchdringenden, ernsten Augen auf, als sie ihn für einen Augenblick anschaut. All die Grundrechte von Arbeitern, wie sie mir in meinem Studium beigebracht worden sind.

Was für ein fieser Kerl, ein Ausbeuter.

Was würd ich ohne ihn tun? Er riskiert was, dafür muss ich bezahlen. So funktioniert das bei uns.

Das nächste Auto war das Richtige – Größe, Kraftstoffverbrauch, Preis –, und vielleicht hatte es die ganze Zeit über zur Verfügung gestanden, zurückgehalten für den richtigen Zeitpunkt. Das Auto gefiel ihr, und außerdem hatte sie die Genugtuung (obwohl sie ihm das nicht sagen konnte), dass er sicher vom Besitzer eine Art Provision bekam – als Schwarzarbeiter ohne Ausbildung konnte er nicht viel verdienen.

Wir müssen feiern. Gut, dass Sie mich überzeugt haben, mich von der alten Klapperkiste zu trennen. Wirklich. In solchen Dingen bin ich einfach faul. Aber Sie trinken ja keinen Wein … Manchmal schon.

Ach, schön! Dann taufen wir mein neues Auto. Aber nicht im Café.

Er hatte gesprochen: damit fand ein Wechsel in ihren Positionen statt, rasch und glatt wurden sie umgekehrt, wie ein Wechsel von einem synchronisierten Gang in den anderen; jetzt bestimmte er über die Bekanntschaft.

Dann in meiner Wohnung.

In seiner ruhigen Autorität hatte er es nicht nötig, begeistert zuzustimmen.

Obwohl sich ihre Wohnung für die Weißen unter ihren Freunden in genügender Entfernung vom Protz der Villenvororte befand, um ihren Maßstäben für das Hintersichlassen des elterlichen Zuhauses zu genügen, und von den Schwarzen unter ihnen als die Art Wohnraum akzeptiert wurde, in den sie selbst aus der alten Rassentrennung zogen, war ihr zum Cottage umgebautes Nebengebäude recht komfortabel. Die Ausstattung verriet einen gewissen Luxus, wie er selbstverständlich ist, wenn bestimmte Annehmlichkeiten als unabdingbar gelten: es gab ein Badezimmer, neben dem das Wohnschlafzimmer winzig wirkte, und die kleine Küche verfügte über eine Tiefkühltruhe und Haushaltsgeräte. Es war unordentlich; die Behausung von jemandem, der es nicht gewohnt war, selbst aufzuräumen; um sich zu setzen, räumte er benutztes Geschirr, eine Hand voll Briefumschläge, Bögen geöffneter Briefe, verschrumpelte Apfelschalen und eine alte Sonntagszeitung von einem Sessel. Sie entschuldigte die Unordnung mit den üblichen Worten. Sie machte eine Flasche Wein auf, fand eine Packung Salzkekse, roch an Käse, den sie aus dem Kühlschrank nahm und zugunsten eines anderen Stücks zurückstellte. Er beobachtete diese Häuslichkeit, ohne Hilfe anzubieten, wie es ihre Freunde getan hätten, niemand lässt sich von jemand anders bedienen. Aber er aß ihren Käse und ihre Kekse, er trank ihren Wein, dieses erste Mal bei ihr.

Sie redeten bis spät am Abend; über ihn, sein Leben; ihres war hier, wo sie waren, in ihrer Stadt, die Umstände offen für ihn zu erkennen in den Straßen, den Gesichtern, der Geschäftigkeit – aber er, sein Leben, war verborgen. Keine Spur von ihm auf irgendeiner Lohnliste, keine Adresse außer einer Werkstatt, und unter einem Namen, der nicht der seine war. Ein anderer Name? Sie war bestürzt: aber er war doch hier, eine lebendige Gegenwart in ihrem Zimmer, eine Atmosphäre aus Haut, Ein- und Ausatmen, die sich mit der aus ihren Lebensgewohnheiten mischte, mit dem Essen, den Sachen, die herumlagen, den Kissen im Rücken. Nicht sein Name? Nein – denn er war mit einem befristeten Visum hereingelassen worden, das vor über einem Jahr abgelaufen war, und unter seinem Namen wurde er sicherlich gesucht.

Und dann?

Er machte eine Geste: Raus.

Wohin würde er gehen? Sie sah aus, als überlegte sie sich schon Vorschläge; in dem einflussreichen Milieu, aus dem sie kommt, gibt es immer Lösungen.

Er beugte sich vor, um sich noch Wein einzuschenken, wie er sich zur Zuckerdose vorgebeugt hatte. Er sah sie an und lächelte langsam.

Aber es gibt doch bestimmt …?

Immer noch lächelnd, schüttelte er sanft den Kopf. Dann eine Litanei der Länder, die ihn nicht hereingelassen hatten. Ich bin ein Drogendealer, ich bin ein Mädchenhändler, ich werd dem Staat zur Last fallen, sagen sie, ich werd jemand anders den Job wegnehmen, ich werd für weniger Geld arbeiten als die Einheimischen.

Und darüber konnten sie kurz lachen, denn das war genau, was er tat.

Schrecklich. Das ist unmenschlich. Eine Schande.

Nein. Siehst du sie nicht an den Orten, wo du gerne hingehst, im Café? Der Crack, den man da kaufen kann wie eine Schachtel Streichhölzer, die Straßengangs, die deine Brieftasche stehlen, die Frau, die jeder Mann kaufen kann – für wen arbeiten die? Für die von draußen, die reingelassen worden sind. Meinst du, das ist gut für dein Land?

Aber du … du bist doch keiner von denen.

Das Gesetz gilt für mich genauso. Wie für die. Nur die sind schlauer, die haben mehr Geld – um zu zahlen. Seine lange Hand öffnete sich, die Finger entfalteten sich vor ihr, Gelenk um Gelenk.

Es gibt Gesten, die das Leben von Menschen entscheiden: der Händedruck, der Kuss; dies war eine Geste, an der Grenze, bei der Passkontrolle, die über ihr Leben keine Macht hatte.

Bestimmt lässt sich etwas tun. Für ihn.

Seine Hand schloss sich wieder, und er ließ sie aufs Knie fallen. Geistesabwesend entzog er sich dem Gespräch und betrachtete den Stapel CDs neben sich. Sie stellten fest, dass sie doch etwas Gemeinsames hatten: eine Begeisterung für Salif Keita, Youssou N’Dour und Rhythm & Blues, und hörten sich Aufnahmen auf ihrer Anlage an, die er in höchsten Tönen lobte. Du fährst einen Gebrauchtwagen, aber für Musik hast du eine erstklassige Anlage.

Wie es schien, spürten beide im selben Augenblick, dass es Zeit für ihn war, zu gehen. Sie fand es selbstverständlich, ihn nach Hause zu fahren, aber er lehnte ab, er würde in einem Kombi-Taxi mitfahren.

Kein Problem? Hast du’s weit? Wo wohnst du?

Er sagte es ihr: hinter der Werkstatt war ein Zimmer, das ihm der Besitzer überlassen hatte.

 

Sie schaute vorbei – erlaubte sich nicht, sich zu fragen, warum. Schaute in der Werkstatt vorbei, um ihm zu sagen, dass das Auto gut lief. Und es war um die Zeit seiner Mittagspause. Wo sollten sie anders hingehen als ins EL-EY Café, zu den Freunden. Und bald war das fast jeden Tag so: wenn sie ohne ihn erschien, fragten sie: Wo ist Abdu? Sie hatten ihn gern in ihrer Mitte, sie kannten einander vielleicht zu gut, und er war so etwas wie ein Wetterumschwung zur falschen Jahreszeit, der Hauch einer ungewohnten Temperatur. Er beteiligte sich kaum an ihren unaufhörlichen Gesprächen, aber er hörte zu, manchmal so aufmerksam, dass es ihnen fast unangenehm war.

»Was ist aus der schwarzen Brüderlichkeit geworden, möchte ich mal wissen? Regierungsbonzen. Aufsichtsratsmitglieder. Im Busch waren sie bereit, füreinander zu sterben – doch, doch, das war so –, jetzt sind sie bereit, mit ihrem Dienst-Mercedes an dem obdachlosen Bruder auf der Straße vorbeizufahren.«

»Hast du gestern Abend in der Glotze gesehen – der ehemalige Untergrundkämpfer in Cuito, ein Held, der Mitglied in einem exklusiven Club von Zigarrenrauchern geworden ist … jetzt gibt’s Austern und Champagner statt Maisbrei und Ziegenfleisch.«

Der angejahrte Dichter hatte die Augen geschlossen und zitierte etwas, was niemand als nicht von ihm stammend erkannte: »›In zu viel Hingebung[1] manch Herz zum Steine ward.‹«

Niemand beachtete ihn.

»Ergibt doch keinen Sinn … warum sollten Menschen sich abkehren von dem, woran sie geglaubt und wofür sie gekämpft haben, was ist zwischen damals und heute in sie gefahren?«

Was dachte er darüber, diese im Overall verkleidete Intelligenz – wenn er tatsächlich etwas zu sagen hatte, brachte das schnell ihre Meinung ins Wanken oder stutzte eine ihrer lautstarken Überzeugungen zurecht. Wenn er sprach, hörten sie zu:

»Damals hatten sie keine Wahl. War nichts sonst da. Nur Haferbrei für jeden. Jetzt ist alles andere da. Man kann wählen.«

»Ha! Brüderlichkeit ist also nur der Zustand des Leidens? Gilt nicht mehr, wenn man die Wahl hat, und die Wahl ist der dicke Scheck und der Dienstwagen und die hübschen Vergünstigungen, die ein Minister kriegt.«

»So ist das. Man hat eine Wahl oder man hat keine Wahl. Nur zwei Sorten. Von Menschen.«

Und sie entschieden sich, darüber zu lachen. »Abdu, der große Zyniker.«

»Na und du, David, zu welcher Sorte gehörst du, nach seinen Kategorien?«

»Also im Moment ist meine Wahl Pitta mit Haloumi.«

»Es gibt keinen freien Willen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Nur den Willen der Bosse. Das will der Mann damit eigentlich sagen.« Der politische Theoretiker unter ihnen sagt das in herablassendem Ton.

»Das sagst du, weil du Schwarzer bist, das ist die alte Gewerkschaftsleier, mein Bruder, und inzwischen würdest du am liebsten aussteigen und irgendwo der Boss sein.«

Die beiden packen sich in gespieltem Streit bei den Schultern. Sie alle kennen die gegenseitigen Haltungen und Ansichten nur allzu gut. Ihre Aufmerksamkeit wendet sich wieder ihm zu.

»Teilst du seine Meinung über das kapitalistische Wirtschaftssystem?«

»Wo ich herkomm, gibt’s kein kapitalistisches Wirtschaftssystem, kein sozialistisches. Nichts. Erst an der Universität hab ich davon gehört …«

Und er hat sie zum Lachen gebracht, er lacht mit, so ist das am Tisch der Freunde, sobald man dort aufgenommen ist.

»Wie würdest du’s denn nennen – was meinst du mit ›nichts‹?« Offenbar sucht er ein Wort, das ihnen etwas sagt, will sie damit zufriedenstellen.

»Feudalismus.« Er hebt und senkt die Ellbogen auf dem Tisch, blickt zu ihr, seiner Mentorin, um zu sehen, ob es das richtige Wort ist; um zu sehen, ob sie, nach diesem Blick, aufbruchsbereit ist. »Aber sie nennen sich Minister, Präsidenten, dies und das.«

Die Freunde schauen den beiden auf ihrem Weg durchs Café nach, vorbei an Gästen, die kauen, trinken, die Köpfe im Gespräch zusammenstecken, Zigarettenrauch steigt auf als Ektoplasma der Kommunikation, die durch am Gürtel steckende oder am Ohr klebende Handys nicht zu erreichen ist. »Wo hat Julie ihn aufgegabelt?« Ein Mitglied der Tafelrunde, das nicht da war, als Julie eine Verkehrsstockung auslöste, musste ins Bild gesetzt werden: in der Autowerkstatt gleich um die Ecke, doch, ist wahr.

Ihr Begleiter war einen Augenblick auf der Terrasse stehen geblieben, sie drehte sich um und sah: eine junge Frau, die Sonnenbrille hochgeschoben aufs Haar, die Schenkel gespreizt, streichelte die Rastalocken eines jungen Mannes in ihrem Schoß, der zusammengeklappt war, Alkohol oder Drogen.

Er ging fort, sein Gesicht verschlossen vor Abscheu. Ihr »Na und?« war eher versöhnlich als eine Frage nach seiner Stimmung.

Die Leute da drin sind schrecklich.

Sie sagte, als spräche sie für die Leute: Es tut mir Leid.


Sie sind nicht da; ich bin nicht da: um zu beobachten. Es ist kein Verkehrsknäuel auf den Straßen, keine Hände, die sich schuldbewusst heben, sich ergeben, gestehen, allen sichtbar.

Es ist keine Abendshow im Fernsehen.

Sie setzt sich nach wie vor zu ihren Freunden an den üblichen Tisch – sie sind schließlich ihre Wahlgeschwister, die sich von den Verhältnissen der Vergangenheit distanziert haben, von ihren Familien, ob es schwarze sind, die immer noch in den alten Ghettos leben, oder weiße in den Villenvororten. Aber ihre Arbeitszeit ist flexibel, und sie ist zu Zeiten da, zu denen er eine Ecke weiter unter Fahrzeugen liegt; er begleitet sie nicht immer, um beim Kaffee dazusitzen oder bei dem miesen Wein, den das EL-EY Café zu bieten hat. Die Freunde gehören nicht zu denen, die nachfragen, das ist Teil ihres Credos: Was du auch tust, Schwester, was dir auch zustößt, Bruder, egal, was passiert, ich hab damit keine Probleme. Die Leute an ihrem Tisch kommen und gehen; solange sie sich nur untereinander treu bleiben; versammelt in der Tafelrunde.

Da war der Tag, an dem ihm das deutlich werden musste, der Tag, als einer aus der Runde erzählte, er habe gerade seine Diagnose erfahren: Aids. Ralph. Ebenso wie Julie aus wohlhabender weißer Familie, klare gelbgrüne Augen, glatt rasierte Wangen, in der Jugend viel Sport, der ihm so muskulöse Schultern verliehen hat, dass in seinen Hemden Polster zu stecken scheinen: sie starrten ihn an, und es war, als sähe der alte Dichter etwas, was sie nicht sahen, auf der faltenlosen Stirn. Der alte Mann sprach zur Tischrunde in den raunenden Tönen eines Orakels. »Es ist der Fluch unserer Ahnen.«

»Um Himmels willen, was soll der Quatsch …«

Es gibt Grenzen für die Narrenfreiheit des Alten. Gemurmel: Schnauze, Mann, das reicht. Aber wenn der Dichter der Tafelrunde etwas zu sagen hat, lässt er sich von niemandem zum Schweigen bringen.

»Wir sind Abkömmlinge des Affen. Die Krankheit fing bei den Primaten an. Dann haben hungrige Menschen in den Wäldern sie erschlagen und ihr Fleisch gegessen. So kommt die Rache unserer Urahnen als Fluch über uns.«

Die Neu-Buddhistin regt sich zustimmend: Fleischesser, keine Achtung vor dem kreatürlichen Leben.

Ralph, das Opfer, bricht plötzlich in Gelächter aus. Niemand hatte gewagt, ihm auch nur ermutigend zuzulächeln; eine Stimmung übermütigen Heldenmuts erfasst die Tafelrunde. Auch mit diesem Schicksalsschlag, der einen der ihren getroffen hat, werden sie am Ende zurechtkommen, und zwar ganz anders als das Establishment mit seinem Abscheu und seinem rührseligen Mitleid. Sie werden immer die Lösung haben – die richtige Einstellung, wenn auch nicht die Heilung.

Er, Abdu, schließt sich ihnen nicht an; vielleicht hat er nicht ganz verstanden, worum es geht: dieser vor Gesundheit strotzende Modellathlet ist nicht einfach HIV-positiv, ein Hasardspiel mit der Zukunft, sondern die Krankheit – der Fluch, von dem der Dichter brabbelt – hat schon von ihm Besitz ergriffen. Später auf der Straße, ernüchtert, begann sie zu erklären.

Ich weiß, ich hab’s gehört. Deine Freunde – sie lachen über alles. Schwer zu sagen, ob er das beneidete oder anklagte. Sie schwieg. Das ist ihre Art.

Ja, wir halten nichts von Wehklagen.

Und nachdem sie das gesagt hatte, wurde ihr klar, dass es als Verachtung der Art und Weise aufgefasst werden konnte, mit der, wie sie vermutete, in seinem verborgenen Leben auf so etwas reagiert wurde.

Sie trifft gegen Mittag bei der Werkstatt ein, und er kommt zu dem wartenden Auto heraus, das er für sie gefunden hat. Sie fährt zu einem Park außerhalb des Viertels vom EL-EY Café, und sie gehen um den See und kaufen etwas bei einem fahrbaren Imbissstand – einen Hotdog für sie und Chips für ihn. Sie erkundigt sich nach seinem Zuhause, hat er Fotos – wenn sie Vermutungen anstellt, hat sie nicht mal ein Foto, an das sie sich halten kann, Gesichter, aus denen sie etwas erfahren kann. Seine Gestalt, eine schlanke, straffe Vertikale, als er aus dem dumpfigen Halbdunkel der Werkstatt kommt, die Konturen seines Rückens, in der Sonne, als er zum Wasser schlendert, um den Enten Reste zu geben – er ist aus einem Hintergrund ausgeschnitten, den sie sich bestimmt falsch vorstellt. Palmen, Kamele, Gassen, in denen Teppiche und Messinggefäße aushängen. Dhaus, diese Meeresvogelschiffe mit Männern am Ruder, zu denen sein Gesicht nicht passt. Nein, er hat keine Fotos.

Nicht viel zu sehen. Es ist ein Dorf wie hunderte andere dort, kleine Werkstätten, in denen die Leute Dinge herstellen, Essen kochen, Polizeirevier, Schule. Die Häuser, klein. Eine Moschee, klein. Es ist sehr trocken – Staub, staubig. Sand.

Es gibt Brüder und einen Schwager, Schwestern, älter und jünger als er – natürlich eine große Familie, das wird sie verstehen, in jenem Teil der Welt. Ein Bruder ist jenseits der Grenze auf den Ölfeldern. Die Schwägerin lebt mit den Kindern bei der Familie.

Der Onkel mit dem Hinterhof, wo du Autos reparieren gelernt hast?

Ach, das war im Dorf, neben dem Haus meines Vaters.

Du musst sie vermissen, ihr wart euch alle so nah, und hier … Sie verwandelt sich in ihn, während sie in seinem Rhythmus geht, sie hat vergessen, dass sie sich auch entfernt hat, von ihrer Familie in den Villenvororten. Aber sie hat keine Ahnung (da es nicht mal ein Foto gibt), wie die Menschen, die er vielleicht vermisst, aussehen.

Ich würde meine Mutter herholen. Hierher. Das wollte ich immer.

Das sagte er. Und natürlich war das unmöglich, er selbst war nicht hier: unter dem Namen, mit dem er geboren worden war, galt er als verschwunden.

Vielleicht hab ich von ihr ein Foto – bei meinen Sachen, in dem Zimmer.

Sie hatte das Zimmer nie gesehen. Für sie war er davon abgetrennt, wie auch von dem anderen Ort, den sie nie gesehen hatte, dem Dorf in jenem anderen Land.

Als es eines Samstags regnete, fuhren sie nicht zum Park, sondern zu dem Zuhause, das sie gewählt hatte – ihrem Cottage. Sie trug einen Regenmantel; sein Hemd war klatschnass, klebte schon nach wenigen Augenblicken an seiner Haut, als sie vom Auto zur Tür rannten. Durch Regen zu rennen bringt zum Lachen. Zieh es aus, zieh es aus, wir trocknen es in der Küche. Du kannst eins von meinen anziehen, die passen dir, du wirst sehen. Seine Brust und sein Rücken glänzten, als hätte der Regen ihn mit Öl eingerieben, ein Frösteln zitterte unter den Muskeln seiner Brust, er brachte die Unverfrorenheit auf, die es in seinen Augen offenbar darstellte, sie um etwas zu bitten.

Kann ich ein heißes Bad nehmen?

Durch sein Verhalten wurde ihr plötzlich klar, dass sie sich nie darüber Gedanken gemacht hatte, wie er in dem Zimmer zurechtkam, dem Zimmer hinter der Werkstatt – war da kein Badezimmer?

Ja, natürlich. Ich hol dir Handtücher. Und die Dusche ist wunderbar, wenn dir die lieber ist.

Duschen kann ich immer – in der Werkstatt ist ein altes Ding, und manchmal funktioniert es, manchmal kommt kein Wasser. Ich nehm das Bad, wenn du nichts dagegen hast.

Lass die Wanne richtig voll laufen! Da ist Schaumzeug und Kräuterseife und alles Mögliche. Ich mach inzwischen Kaffee.

Sie hörte ihn da drin, das Platschen des Wassers gegen die Badewanne, als sein Körper es verdrängte, ein leises Stöhnen des Wohlbehagens, als er sich ausstreckte, das Rauschen eines Hahns, der wieder aufgedreht wurde, wahrscheinlich, damit noch heißes Wasser nachlief. Seine gelegentliche Anwesenheit in dieser Wohnung veränderte deren Charakter auch für sie selbst. Sie wurde ein Zuhause – wenigstens für den Samstagnachmittag.

Er kam barfuß heraus, in Jeans, lächelnd, das Handtuch ordentlich zusammengefaltet in den Händen.

Lass doch, gib her.