Lukas Erler

Side Effect

Von Lukas Erler ist im Arena Verlag außerdem erschienen:

Brennendes Wasser

Lukas Erler, wurde 1953 in Bielefeld geboren. Er studierte Soziologie, Philosophie und Sozialgeschichte und absolvierte eine Ausbildung zum Logopäden. Seit über zwanzig Jahren ist er als Logopäde in der neurologischen Rehabilitation tätig. Als Krimiautor debütierte er 2010 mit dem viel beachteten Ökothriller »Ölspur«, der wie der Nachfolgeband »Mörderische Fracht« für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert wurde. Lukas Erler lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Nordhessen. »Side Effect« ist sein zweites Jugendbuch.

Lukas Erler

SIDE
EFFECT

IM LOCH

Es ist vollständig dunkel. Nicht die Art von Dunkelheit, die durch Sterne, Mondlicht oder Neonbeleuchtungen gemildert wird, sondern eine tiefe, undurchdringliche Schwärze. Die Luke über uns und der Teppich darüber lassen nicht den kleinsten Lichtstrahl durch. Ich frage mich, ob sie auch die Luftzufuhr derart radikal blockieren. Wie lange werden wir hier durchhalten können? Ich taste in der Hosentasche nach meinem Smartphone, aber Nesrin macht einen Schritt auf mich zu und umarmt mich. »Warte noch einen Augenblick!«

Ich küsse sie, doch die Wärme und der Geruch ihrer Haut sind so überwältigend, dass ich beinahe froh bin, als sie sich von mir löst. »Wir hätten mit den anderen gehen sollen«, sagt sie unvermittelt. »Ich bin wieder okay! Kein verdammter Klotz am Bein!«

Sie nimmt mir das Smartphone aus der Hand und lässt den dünnen Lichtstrahl der Taschenlampe über die Kellerwände huschen. Nachdenklich betrachte ich das Mädchen, dem ich in der letzten Woche durch drei Länder gefolgt bin. Es scheint ihr tatsächlich besser zu gehen. Die Panik ist aus ihren Augen verschwunden und ihre Stimme klingt wieder fast normal. Aber das reicht nicht. Sie ist auf keinen Fall stark genug, um durch den Wald zu fliehen.

Ich schüttele den Kopf. »Bis zum Dorf sind es fünf Kilometer. Ich weiß nicht, wie viele von den Typen da draußen warten.«

Nesrins Augen füllen sich mit Tränen, aber ihre Stimme gewinnt mit jedem Wort an Festigkeit und Selbstvertrauen. »Ich will verdammt noch mal hier weg!«, faucht sie und starrt mich an. Sie dreht sich zur Trittleiter um und steigt die ersten beiden Sprossen hinauf.

»Wir bleiben hier«, sage ich.

Was für ein Irrsinn. Ich bin so wütend über ihre Sturheit, dass mir das Atmen schwerfällt. Ein verrückter und lächerlicher Gedanke schießt mir durch den Kopf: Das sind meine Ferien, verdammt! Die in drei Wochen vorbei sein werden. Was ich sehr gerne noch erleben möchte.

Dann hören wir über uns Schritte. Er ist da.

»Denn der einzige Grund für
das Leben oder eine Geschichte ist doch:
Was passiert als Nächstes?«

Jack Kerouac

EINS

Kaltenbach kennt keine Gnade.

Es ist die letzte Stunde vor den Ferien. Die Noten stehen fest und in allen anderen Klassen werden nur noch Filme gezeigt. Auch die Lehrer haben das Schuljahr abgehakt. Aber nicht Kaltenbach.

Er steht mit dem Rücken zu uns an der Tafel und notiert Sinusfunktionen. Mathematik ist sein Leben. Es interessiert ihn nicht, ob jemand zuhört oder irgendwer was kapiert. Kaltenbach zieht sein Programm durch und nichts kann ihn stoppen.

Evi und Nathalie in der ersten Reihe wollen es offenbar trotzdem probieren. Beide tragen bauchfreie Tops, sehr kurze Röcke und haben die Beine übereinandergeschlagen. Sie rekeln sich wie Katzen in der Sonne und warten darauf, dass er sich endlich umdreht. Netter Versuch, aber aussichtslos. Es ist unmöglich, diesen Lehrer aus dem Konzept zu bringen. Wenn mitten im Klassenzimmer jemand erschossen würde, würde Kaltenbach zunächst die Flugbahn der Kugel berechnen und erst dann die Bullen rufen.

Mein Blick gleitet über die Hinterköpfe meiner Mitschüler und bleibt an dem Kopf hängen, der mich am meisten interessiert. Leider ist er verhüllt. Zumindest von hinten. Nesrin Celik sitzt in der Reihe vor mir, und wenn ich mich vorbeugen und den Arm ausstrecken würde, könnte ich sie berühren. Sie trägt ein dunkelbraunes Kopftuch, dessen lange Enden sie kunstvoll um den Hals geschlungen und unter dem Kinn verknotet hat. Im Unterschied zu allen anderen in der Klasse, die sich demonstrativ genervt auf den Tischen herumfläzen, sitzt sie mit geradem Rücken da und scheint tatsächlich Kaltenbachs halblautem Monolog zu lauschen. Ihre schmalen Schultern stecken in einer langärmeligen weißen Seidenbluse, die weit und locker über die Jeans fällt.

Ich bin in Nesrin verliebt, seit sie am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien den Klassenraum betreten hat. Niemand weiß davon, außer Arni. Arnold Goldberg ist mein Freund, das Geheimnis ist bei ihm gut aufgehoben, doch er hat nur mitleidig den Kopf geschüttelt, als ich es ihm erzählte.

»Das kannst du v-v-voll vergessen, Mann. Die ist so unerreichbar wie die Rückseite des M-M-Mondes.«

Arni stottert wie ein alter Zweitaktmotor, aber er ist der klügste Typ, den ich kenne. Vor einer Woche habe ich ein paar Minuten lang gehofft, dass er sich ein Mal irrte. An jenem Freitag, als ich für kurze Zeit dachte, ich hätte eine Chance …

Am späten Nachmittag war ich unterwegs zur Sporthalle gewesen, um nachzusehen, ob ich meine Sneakers dort vergessen hatte. Auf dem Gang im Erdgeschoss sah ich Nesrin. Sie stand mit dem Rücken an der Wand, bleich und die Hände in einer hilflosen Bewegung nach oben gereckt. Um sie herum standen Max Keller, Jochen Dreyer und Jenny Trapp aus dem Mathe-LK. Alle lachten und feixten und Max hielt ein Handy in die Höhe, dessen Display ich nicht erkennen konnte. Das sah nach Ärger aus.

»Hey«, sagte ich und ging näher ran, »was läuft denn hier?«

»Kleines Tauschgeschäft«, grinste Max. »Ich hab’ ein paar schöne Schnappschüsse von Miss Morgenland. Aus der Umkleide. Kein Kopftuch und auch sonst nicht viel an. Sie überlegt gerade, was sie mir bieten könnte, damit ich die Fotos nicht auf Facebook stelle.«

Mein Blick huschte von Nesrin, die trotzig und wütend in die Runde blickte, zurück zu Max. Jenny Trapp kicherte blöd.

»Ich könnte dir ein Angebot machen«, sagte ich. »Ein Angebot, das du nicht ausschlagen wirst.«

Er musterte mich erstaunt, dann wurden seine Augen wachsam und seine Schultern strafften sich. »Verpiss dich! Das hier geht dich nichts an!«

»Ich hätte auch ein paar Fotos zu bieten. Drei, um genau zu sein. Gestochen scharf. Von dir und Zoé Henke. Auf der Mädchentoilette. Du erinnerst dich an die Abi-Fete vor vier Wochen? Die elften Klassen waren eingeladen.«

Max runzelte die Stirn und brauchte ein paar Sekunden, um die Tragweite dieser Information zu verdauen. Jenny hatte aufgehört zu kichern. Zoé Henke war die Tochter der Schuldirektorin.

»Kein Schimmer, von was du redest.« Max schluckte seinen Speichel hinunter. Seine Stimme klang belegt.

»Na ja, wenn du es nicht mehr weißt, ist es ja um so schöner, dass es Erinnerungsfotos gibt. Es war schon ziemlich spät. So gegen Viertel nach elf bist du mit Zoé abgehauen. Natürlich war mir klar, wohin ihr wolltet. Ich habe ein paar Minuten gewartet und bin euch dann auf die Toilette gefolgt. Ein schneller Klimmzug mit dem Handy zwischen den Zähnen, dreimal von oben in die Kabine fotografiert und wieder raus. Keine große Sache.«

»Das hätten wir gemerkt«, zischte Max wutentbrannt und machte einen Schritt auf mich zu. Jenny und Jochen, die mir offenbar bis jetzt nicht recht geglaubt hatten, starrten ihn entsetzt an. Dann griffen sie beinahe gleichzeitig nach seinen Schultern und hielten ihn fest.

»Ich war auch überrascht, wie abgelenkt man sein kann«, sagte ich leichthin. »Aber so war’s nun mal!«

Max schüttelte die Hände seiner Freunde ab und ballte die Fäuste. Sein Gesicht hatte eine dunkelrote Färbung angenommen, die wirklich nicht gesund aussah. Er war kurz davor, komplett auszurasten. Ich fing einen besorgten Blick von Nesrin auf und wich zurück. In diesem Augenblick trat Jenny Trapp zwischen uns und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor Max auf.

»Hör dir sein Angebot an!«, sagte sie kalt. Offensichtlich war sie stinksauer wegen Zoé Henke.

Als Max nicht gleich antwortete, beschloss ich, die Sache abzukürzen.

»Hast du schon irgendwelche Fotos von Nesrin gepostet ?«

»Nein!«

»Schön für dich! Dann ist es ganz einfach. Ein klassisches Patt, falls du weißt, was das ist: Wir lassen uns gegenseitig in Ruhe und alles ist bestens. Keine Fotos von Nesrin, keine Fotos von dir. Ich rate dir, deine Bilder zu löschen. Wenn sie irgendwo auftauchen, egal, ob du schuld bist oder nicht, ist klar, was geschieht. Aber das muss ja nicht sein. Ich hab’ kein Interesse daran, dich reinzureiten. Wenn du vernünftig bist, passiert überhaupt nichts! Also, was ist: Deal or no deal?«

Als er nickte, winkte ich Nesrin zu mir und die anderen machten ihr bereitwillig Platz. Ohne uns umzudrehen, gingen wir nebeneinander den Gang hinunter und beeilten uns, aus dem Gebäude herauszukommen. Ich schwitzte aus jeder Pore meines Körpers und war plötzlich so verlegen, dass ich mich kaum traute, ihr in die Augen zu sehen. Nesrin war blass, starrte auf den Kiesweg, und ohne ein Wort miteinander zu wechseln, gingen wir zu den Fahrradständern. Ich zog mein Bike heraus, schloss es auf und zwang mich, sie anzusehen.

»Danke«, sagte sie, ohne zu lächeln.

»Schon okay.«

»War das alles wahr? Mit den Fotos von Max und Zoé?«

Ich schüttelte bedächtig den Kopf. »Sehe ich aus wie jemand, der einen Klimmzug kann? An einer Klowand ?«

Ihre Augen weiteten sich und dann begann sie zu lächeln. Ein Lächeln, das an dem Boden unter meinen Füßen zerrte.

»Das war ein Bluff?«

»Ja. Ich habe einfach geraten, was wiederum nicht schwer war. Ich hab’ die beiden in Richtung Damentoilette verschwinden sehen und mir meinen Teil gedacht. Der Rest war improvisiert.«

»Du kannst fantastisch lügen.« Die Anerkennung in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Ich hab’ so meine Momente.«

»Danke, noch mal«, sagte sie und ließ das Lächeln verschwinden. »Wir sehen uns Montag.«

Dann drehte sie sich um und ging einfach davon.

Super!

Das war sie gewesen, meine Chance.

Warum hatte ich sie nicht aufgehalten? Sie auf ein Eis eingeladen oder wenigstens zu einem Spaziergang? Weil ich ein blöder Vollpfosten war, der nicht mal ein bisschen Small Talk hinbekam, um noch ein paar Minuten mit ihr herauszuschinden.

Game over.

Während ich nach Haus radelte, beschimpfte ich mich selbst mit allen Kraftausdrücken, die ich jemals gehört hatte, und das Wochenende verbrachte ich in einer Art Tagtraum, in dem Nesrin und ich nebeneinander an einem Baggersee lagen.

Am folgenden Montag wurde mir klar, dass ich tatsächlich alle Hoffnungen begraben konnte. Nesrin nickte mir zur Begrüßung kurz zu, lächelte schwach und setzte sich auf ihren gewohnten Platz in der Reihe vor mir. Schweigsam wie immer. Das zog sie den Rest der Woche durch. So, als wenn nichts passiert wäre. Max, Jochen und Jenny ignorierten uns und irgendwie schien es mir, als sei ich der Einzige, der sich an die Ereignisse vom letzten Freitag erinnerte. Falls sie überhaupt stattgefunden hatten …

Aber, das haben sie, denke ich und konzentriere mich wieder auf das Geschehen in der Klasse und auf Nesrins schmale Schultern. Max Keller wird sich auf die eine oder andere Art rächen, da bin ich ziemlich sicher. Scheißegal! Was mich wirklich beunruhigt … nein, was mich restlos fertigmacht, ist die Tatsache, dass ich nach dem Ende dieser Doppelstunde Nesrin für mindestens sechs Wochen nicht mehr sehen werde. Sie wird mit ihren Eltern in die Türkei fliegen und vermutlich die ganzen Ferien dort verbringen. Das halte ich nicht aus. Völlig unmöglich.

Ich sehe auf meine Armbanduhr. Noch eine Viertelstunde bis zum Ende des Schuljahres. Im Klassenraum ist es jetzt trotz der geöffneten Fenster sehr heiß. Vom Schulhof dringt Geschrei herauf. Die Mittelstufenschüler sind schon entlassen und auch um mich herum wird es unruhig. Kaltenbach spürt offenbar, dass er die Disziplin nicht länger aufrechterhalten kann, hat aber nicht vor, ohne ein letztes Wort einfach so abzutreten. Er dreht sich zur Klasse um und bringt das allgemeine Gemurmel mit seiner schneidenden Stimme zum Verstummen.

»So, Herrschaften, werfen wir noch einen Blick auf die Tafel. Ich fasse zusammen: Sinus – und Kosinus sind mathematische Funktionen, die zunächst mal in die Geometrie gehören. Aber, wo spielen sie noch eine wichtige Rolle?«

Ein empörtes Aufstöhnen geht durch die Reihen und für einen kurzen Moment denke ich, dass Kaltenbach den Bogen überspannt hat. Dann hebt Nesrin die Hand. »Bei der mathematischen Beschreibung von Wellen- und Schwingungsphänomenen.«

Wenn jemand so was weiß, dann sie. Nesrin ist die Nummer eins im Mathe-Leistungskurs.

Kaltenbach grinst wie ein zufriedener Haifisch.

»Genau! Schöne Ferien!«

Einen Augenblick lang herrscht ungläubige Stille. Es hat noch nicht geklingelt. Kaltenbach schenkt uns tatsächlich sieben Minuten. Dann bricht ein ohrenbetäubender Tumult los. Alle springen auf, packen zusammen und jeder versucht, so schnell wie möglich rauszukommen. Nur Nesrin nicht. Sie dreht sich zu mir um, lächelt und wird ein bisschen rot dabei.

»Kannst du in zwanzig Minuten im Bootshaus sein?«

Es ist immer noch sehr laut um mich herum, doch ich bin sicher, dass sie das gerade gesagt hat. Nur zu wem? Eine Sekunde lang denke ich, dass sie mit jemandem spricht, der hinter mir steht. Das Blut rauscht in meinen Ohren und mir ist schlecht vor Aufregung und Glück.

»Klar«, sage ich. »Kein Problem.«

Von wegen kein Problem. Ich bin derart von der Rolle, dass ich mich auf dem Weg zum Bootshaus wahrscheinlich verlaufen werde.

Sie will sich mit mir treffen. Arni wird aus dem Stottern gar nicht mehr rauskommen, wenn er davon erfährt, und bei dem Gedanken muss ich lachen. Ich habe ein Date mit der verdammten Rückseite des Mondes.

Und ich werde hingehen.

Falls mir wieder einfällt, wie man sich bewegt.

Als ich die Schockstarre überwinde, bin ich allein im Klassenzimmer. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und mache mich auf den Weg zum Bootshaus. Es handelt sich um ein lang gestrecktes Holzhaus am äußersten Rand des Schulgeländes, das die Boote der Ruderermannschaft, aber auch zahlreiche Kanus und Kajaks beherbergt. Normalerweise ist es abgeschlossen, aber als ich näher komme, sehe ich, dass die Tür weit offen steht. Nesrin ist schon da. Sie steht mitten im Raum, links und rechts eingerahmt von in Wandhalterungen fixierten Booten.

»Komm rein und mach die Tür hinter dir zu«, sagt sie.

Ich tue, was sie sagt und bleibe zwei Schritte vor ihr stehen.

»Schön hier. Woher hast du den Schlüssel?«

Nesrin zuckt nur mit den Schultern und rollt die Augen, was sehr komisch aussieht. Okay, blöde Frage. Neuer Anlauf.

»Ich bin unheimlich froh, dich vor den Ferien noch mal zu sehen«, sage ich.

Nesrin grinst übermütig. Ein ungewohntes Grinsen, das mit dem Lächeln, das ich bisher kannte, wenig zu tun hat. »Du wirst mir auch fehlen.«

»Echt?«

Sie nickt energisch. »Du bist der einzige nette Typ auf der ganzen Scheißschule!«

Gut, denke ich, darauf kann man aufbauen.

»Ich habe dich gebeten zu kommen, weil ich dir etwas zeigen will. Nur dir!«

»Du machst es echt spannend. Brauchst du einen Trommelwirbel?«

Nesrin grinst erneut. »Ja, ein Trommelwirbel wäre nicht schlecht. Pass jetzt gut auf!«

Mit sehr langsamen Bewegungen wie in Super-Slow-Motion, löst sie die Enden des braunen Tuches von ihrem Hals und hebt es wie eine Haube ab. Ihre dunklen Augen sehen mich unverwandt an und in ihren Mundwinkeln zuckt ein mühsam unterdrücktes Lachen. Mein Herzschlag scheint einen Moment auszusetzen und unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück. Was ich sehe, ist so unfassbar und überraschend, dass ich das Atmen vergesse.

Nesrin hält das Tuch einen Augenblick unschlüssig in den Händen, knüllt es dann einfach zusammen und wirft es über ihre Schulter nach hinten. Ich starre sie immer noch an und bringe keinen Ton heraus. Ihr Haar ist nicht so lang, wie ich vermutet habe. Es endet in Schulterhöhe – und es ist blau. Ein tiefdunkles, metallisch glänzendes Blau.

»Cool, oder?«

Ich räuspere mich und nicke nur.

»Dein Vater …?«, krächze ich schließlich.

»Ist auf einem Lehrgang. Bis morgen Abend. Ich war die halbe Nacht im Badezimmer. Schwarze Haare kann man nicht einfach so blau färben. Wusstest du das? Man muss sie vorher blondieren, sonst geht es nicht. Das war viel Arbeit und ich musste sehr leise sein.«

»Dein Vater wird ausrasten!«

»Er sieht es nicht.«

»Irgendwann musst du das Tuch ja mal abnehmen.«

»Ich werde es nie wieder anlegen!«

Ich begreife nicht sofort, was sie meint, aber ein Teil von mir versteht, dass dieser Satz der Anfang von etwas ist. Von etwas, das unabsehbare Folgen haben wird. Nesrin hat jetzt Tränen in den Augen. Sie glitzern im Licht der Sonnenstrahlen, die durch das grob gezimmerte Dach des Bootshauses ins Innere dringen.

»Was hast du vor?«

»Ich haue ab!«

»Wohin?«

»Amsterdam.«

Ich schlucke heftig und spüre, wie Schweißperlen von meinen Achselhöhlen aus sich ihren Weg zu den Rippenbögen hinab suchen. Wie in Trance schüttele ich den Kopf.

»Das kannst du nicht machen.«

»Wetten?!«

Sie greift in die Tasche ihrer Jeans und holt einen zerknitterten Zettel heraus, den sie mir entgegenstreckt. »Wenn du mal nach Amsterdam kommst, geh zu dieser Adresse. Dort wohnt eine Frau, die dir sagt, wo ich bin. Ich werde ihr ein Foto von dir aufs Handy schicken.«

Ich nehme den Zettel und starre darauf, ohne irgendetwas entziffern zu können. Es gibt nur eines, was ich kapiere: Sie meint es ernst und ich kann nicht das Geringste dagegen tun.

»Sie werden nach dir suchen. Deine Familie, die Polizei, alle …«

»Wenn du mich nicht verrätst, werden sie nicht nach jemandem suchen, der so aussieht wie ich.«

Nesrin knöpft ihre langärmelige Seidenbluse auf und streift sie ab. Darunter trägt sie ein knappes pinkfarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck:

ALS GOTT MICH SCHUF,

WOLLTE SIE ANGEBEN!

Das Rosa des T-Shirts passt wunderbar zu dem Blau der Haare. Die Verwandlung ist perfekt.

»Ich habe auch blaue Kontaktlinsen gekauft.«

»Gut«, sage ich mechanisch und versuche, die Benommenheit in meinem Kopf abzuschütteln. »Darf ich ein Bild von dir machen?«

»Eins!«

Ich hole mein Handy heraus und fotografiere sie.

Danach kommt Nesrin auf mich zu, nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich. Ein Hauch von einem Kuss, ich spüre ihre Lippen kaum, aber es ist ein Kuss.

»Verlier den Zettel nicht!«, sagt sie.

»Bitte gib mir deine Handynummer.«

Nesrin schüttelt den Kopf.

»Ich werde das Telefon nicht mehr bei mir haben. Kein Handy. Keine Social Media. Keine digitalen Spuren. Weg ist weg!«

»Und wie kann ich dich erreichen?«

»Gar nicht.« Das übermütige Grinsen von eben ist jetzt ein trauriges Lächeln.

Dann geht sie zur Tür und verschwindet. Ich stehe da wie der letzte Volltrottel, unfähig, mich zu rühren, und den Verstand im freien Fall. Verlier den Zettel nicht! Keine Sorge!

Sechs Wochen Ferien. Seit zehn Jahren verbringe ich den Sommerurlaub mit meinen Eltern auf Usedom. Es wird ihnen nicht gefallen, aber in diesem Jahr müssen sie ohne mich auskommen.

ZWEI

Das gemeinsame Frühstück am Samstagvormittag ist in meiner Familie eine entspannte Sache. Normalerweise. Alle sind einigermaßen ausgeschlafen und gut gelaunt, weil das Wochenende gerade erst begonnen hat. Es herrscht eine behagliche Stimmung. Irgendwelche Diskussionen sind nicht erwünscht.

Heute Morgen ist alles anders und ich bin ziemlich nervös. Vor mir liegen nicht zwei freie Tage, sondern sechs Wochen Sommerferien. Und was ich für diese Zeit geplant habe, wird meinen Eltern in wenigen Minuten das kostbare Weekend gründlich versauen. Ich lasse meinen Blick zwischen beiden hin- und herwandern. Mein Vater hat sein Brötchen verdrückt und ist schon bei der zweiten Tasse Kaffee, die er hinter seiner Zeitung schlürft. Meine Mutter löffelt ihr Müsli und trinkt Orangensaft dazu. Sie blickt nachdenklich durch die Verandatür hinaus in den Garten und überlegt wahrscheinlich, ob die Rosen schon geschnitten werden müssen. Zwecklos, es weiter hinauszuzögern.

»Ich muss was besprechen.«

Mein Vater lässt die Zeitung ein paar Zentimeter sinken, bleibt aber weiterhin unsichtbar. Er hofft, dass meine Mutter diese lästige Unterbrechung unserer Morgenroutine abfängt, und das tut sie auch. Mom wendet sich mir zu und lächelt erwartungsfroh.

»Schieß los«, sagt sie.

»Ich fahre nicht mit nach Usedom.«

Meine Mutter ist normalerweise nicht schwer von Begriff, aber diese Mitteilung überfordert sie. Ihr Mund bleibt offen und in ihrem Gesicht steht absolutes Unverständnis.

»Wie meinst du das …?«

»So wie ich es gesagt habe! Ich komme nicht mit.«

»Wir fahren jeden Sommer zusammen …«

»Eben!«, unterbreche ich sie. »Wir fahren seit zehn Jahren auf die Insel und es hat mir immer gut gefallen, aber in diesem Sommer hab’ ich was anderes vor.«

Mein Vater lässt jetzt die Zeitung so weit sinken, dass ich sein Gesicht sehen kann. Es zeigt einen verständnislos genervten Ausdruck und die beiden Steilfalten über seiner Nase signalisieren, dass er auf dem besten Weg ist, stocksauer zu werden.

»Und was genau, bitte?«

»Interrail«, sage ich lässig. »Start in vierzehn Tagen. Ich mach’ eine Interrail-Tour. Mit der Bahn durch Europa. Holland, Frankreich, Italien und Spanien. Vier Wochen, vier Länder. Eine überschaubare Sache.«

An dieser Strategie habe ich die halbe Nacht gefeilt. Eine gezielte Fahrt nur nach Amsterdam hätte eine Flut von Fragen nach sich gezogen, die so alle entfallen. Meine Eltern sind in ihrer Jugend selbst mehrfach mit dem Interrail-Ticket unterwegs gewesen und haben mir oft erzählt, wie toll sie diese Reisen damals fanden. Von irgendwelchen Gefahren war nie die Rede. Sie haben keinen glaubwürdigen Grund, mir in die Quere zu kommen. Mein Vater versucht es natürlich trotzdem.

»Du bist erst siebzehn.«

»Warst du damals auch. Und soweit ich weiß, war Mom sechzehn.«

Diese Debatte kann er nicht gewinnen und ich sehe ihm an, dass er das weiß. Er nimmt seine Brille ab und beginnt, mit der Serviette die Gläser zu polieren.

»Was ist mit deinem Job?«

Ich habe schon im Frühjahr einen zweiwöchigen Ferienjob in der Stadtgärtnerei klargemacht. Den jetzt abzusagen, kommt nicht infrage. Macht aber auch nichts. Die Kohle kann ich für Amsterdam gut gebrauchen.

»Den erledige ich vorher. Das passt schon.«

Mein Vater wienert immer noch unzufrieden an seiner Brille herum.

»Ach Scheiße«, sagt er schließlich. »Warum konntest du das nicht früher erzählen? Dann hätte ich auf Usedom eine kleinere Ferienwohnung gebucht.«

Typisch Dad! Mir mit den Kosten, die ich verursache, ein schlechtes Gewissen zu machen, ist eine Spezialität von ihm, aber ich bin da mittlerweile abgehärtet. Mom ist, was diesen Punkt angeht, auf meiner Seite und starrt ihn kopfschüttelnd an.

»Ich weiß, es ist ein bisschen kurzfristig, aber ich bin gestern erst gefragt worden. Ein paar Leute aus meiner Klasse haben mir angeboten, mich ihnen anzuschließen. Sie starten schon früher und ich treffe sie am Montag in zwei Wochen in einer Jugendherberge in Amsterdam.«

»Wo genau?«

»Im Stayokay Stadsdoelen. Ein Youth Hostel im alten Stadtzentrum.«

Diese Jugendherberge habe ich gestern Nacht gegoogelt, weil ich wusste, dass mein Vater danach fragen würde. Immer wieder versucht er zu testen, wie gut organisiert ich bin und welche »lebenspraktischen Fertigkeiten« mir seiner Meinung nach noch fehlen.

»Hast du einen Jugendherbergsausweis? Und einen gültigen Perso?«

»Klar!«

»Genug Geld?«

»Ich habe das Geld von dem Job und tausendachthundert Euro auf dem Sparkonto.«

»Die für den Führerschein gedacht waren«, wirft Mom ein.

»Ich würde gern diese Reise machen. Es passiert nicht so oft, dass ich gefragt werde, ob ich mitkommen will.«

Mom zuckt etwas zusammen. Ich weiß, dass sie sich wegen meiner Außenseiterposition in der Klasse häufig Gedanken macht. Mehr als ich jedenfalls.

»Ist Arni Goldberg dabei?«

»Ja, er und noch drei andere.«

Meine Mutter sieht zu meinem Vater hinüber, der resigniert mit den Schultern zuckt. Er weiß, wann er verloren hat.

»Wann willst du aufbrechen?«

»Hab’ ich gerade eben gesagt: Montag in zwei Wochen.«

Er rollt mit den Augen und wirft die zerknüllte Serviette auf den Tisch. »Alles so plötzlich. Das passt mir irgendwie nicht.«

»Na ja, im Alter ist man nicht mehr so flexibel.«

Über das Gesicht meiner Mutter huscht ein Grinsen. »Übertreib’s nicht«, sagt sie.

Ich beginne, den Frühstückstisch abzuräumen, und stelle das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Der Blick meines Vaters besagt, dass das wohl das Mindeste ist, was ich tun kann. Ich bin sehr zufrieden mit mir. Wenn Nesrin jetzt hier wäre, hätte sie mich vielleicht sogar noch mal geküsst.

Was für ein Blödsinn. Wenn sie jetzt hier wäre, hätte ich mir die ganzen Lügen gar nicht ausdenken müssen. Ob die Suche nach ihr schon begonnen hat?

Ich sehe sie im Bootshaus vor mir stehen, denke an die glitzernden Tränen und ihre mutige Stimme. Die blauen Haare und das irre T-Shirt. Eine völlig andere Nesrin. Die mir noch besser gefällt als die, in die ich mich verliebt hatte. Wie ist das möglich? Ich schiebe den Gedanken beiseite.

Die Nesrin mit den blauen Haaren ist jedenfalls die, die mich geküsst hat. So viel mal zu den Fakten. Sie ist es, die ich unbedingt wiedersehen will. Vielleicht war die andere immer schon die falsche. Die mit dem Kopftuch, der hochgeschlossenen Bluse und dem abgesenkten Blick. Vielleicht war das die Verkleidung?

»Wann willst du das Ticket kaufen?« Die Stimme meines Vaters unterbricht meinen Gedankenfluss. Das mag ich an ihm. Sobald er begriffen hat, dass er nichts ändern kann, meldet sich sein praktischer Verstand, um das Beste aus der Sache zu machen.

»Heute Vormittag.«

Ich fahre mit der S-Bahn in die Innenstadt und besorge mir in einem Reisebüro das Interrail-Ticket. Dann kaufe ich einen großen Rucksack, eine Wasserflasche, ein Schweizer Taschenmesser und einen Stadtplan von Amsterdam. Für den Fall, dass mein Handy aus irgendeinem Grund schlappmacht. Genaue Vorstellungen, was ein Backpacker so bei sich führen sollte, habe ich nicht, aber wen juckt das schon. Ich will schließlich nur nach Holland.

Als ich mittags nach Hause komme, erwartet mich meine Mutter an der Tür. Sie sieht besorgt aus.

»Kennst du eine Nesrin Celik?«

»Klar! Aus der Schule.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie steckt?«

»Ich nehme an, sie ist mit ihren Eltern in die Türkei geflogen.«

»Eben nicht. Sie wird seit heute Morgen vermisst.«

»Wer sagt das?«

»Ihre Mutter. Die hat vorhin hier angerufen. Völlig aufgelöst. Sie telefoniert eine Liste mit den Nummern aller Schüler ab, die Nesrin kennen könnten. Die arme Frau.«

Ich mache ein betroffenes Gesicht und folge meiner Mutter durch den Korridor ins Haus.

»Kennst du das Mädchen näher?«

»Wir sind zusammen im Mathe-Leistungskurs. Wie man sich eben so kennt. Sie ist eine Art Mathegenie.«

Das ist sogar die Wahrheit. Was ich weiß, ist, dass Nesrin in allen Fächern extrem gut ist und ein herausragendes Talent für Mathematik hat. Doch genau genommen kenne ich sie nicht gut. Auch über ihre Familie weiß ich nichts. Irgendwer hat mal erwähnt, ihr Vater sei sehr streng. Wird wohl stimmen, sonst wäre sie nicht abgehauen, aber sie hat nie zu jemandem über ihr Elternhaus gesprochen. Geredet hat sie überhaupt nicht viel. Bevor ich sie aus der blöden Situation mit Max Keller loseisen konnte, hatten wir während des ganzen Schulhalbjahres keine drei Sätze gewechselt. Auch im Bootshaus hat sie nicht viel gesagt, aber was sie sagte, hat sich in mein Gehirn eingebrannt.

Du wirst mir auch fehlen.

Du bist der einzige nette Typ auf der ganzen Scheißschule.

Verlier den Zettel nicht.

In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl gehabt, sie schon lange zu kennen.

Der verdammte Zettel. Wo ist er? Während ich meiner Mutter ins Wohnzimmer folge, filzen meine Hände die Taschen meiner Jeans.

Nichts.

Verdammt, verdammt, verdammt! Ein Gefühl der Panik rollt auf mich zu. Mom spürt meine Unruhe und dreht sich um. Sie hat diesen speziellen »Benny-hat-Probleme-Riecher«.

»Ist was mit dir?«

»Die Jeans, die ich gestern angehabt habe … hast du die schon gewaschen?«

»Ich kann nicht zaubern, okay?!«

»Zum Glück!«, sage ich, rase ins Badezimmer, finde die Hose im Wäschekorb und den Zettel in der rechten Vordertasche. Ich lege das Stück Papier auf die Waschmaschine, streiche es glatt und fotografiere es mit dem Handy. Dann schicke ich das Foto zur Sicherheit noch an meinen PC.

Die Vorstellung, dass mein Überraschungsbesuch bei Nesrin schon jetzt hätte scheitern können, lässt meinen Magen krampfen. Alles gut! Reiß dich zusammen!

»Weißt du, dass Nesrin Celik verschwunden ist?«, frage ich.

»Yep! Hast du was damit zu tun?«

»Waaas?« Ich weiß, dass Arni ein schlauer Typ ist, aber das hier jetzt haut mich um. »Wie kommst du darauf?«

»Nach der letzten Stunde gestern bin ich erst mal fluchtartig abgehauen. So wie alle anderen auch. Doch dann hab’ ich gemerkt, dass ich das Ladekabel für mein Handy im Klassenraum vergessen hatte, und bin noch mal umgekehrt. Da habe ich dich gesehen. Als du quer über den Rasen zum Bootshaus gegangen bist. Das war schon komisch genug. Ich hatte dich nicht als Wassersportler in Erinnerung. Aber noch komischer fand ich, dass die Hütte nicht abgeschlossen war. Du bist da einfach so reinspaziert. Mir war natürlich klar, dass du jemanden triffst. Vermutlich die Person, die das Blockhaus aufgeschlossen hatte. Als du zehn Minuten später noch immer nicht aufgetaucht bist, wollte ich nach dir sehen, aber dann ist die Tür aufgegangen und dein Date kam heraus. Eine schmale Gestalt mit blauen Haaren und rosa T-Shirt, die sofort nach rechts abgebogen ist und dann hinter der Hütte verschwand. Ein Phantom in Bonbonrosa. Aber ich hab’ trotzdem erkannt, wer das war.«

Ich schweige eine Weile und versuche, den Schock zu überwinden. Nesrins Stimme flüstert in meinem Kopf: Wenn du mich nicht verrätst, werden sie nicht nach jemandem suchen, der so aussieht wie ich. »Arni, darüber darfst du mit niemandem reden!«, krächze ich schließlich.

»Schon klar, Alter, du kennst mich. Was genau ist passiert?«

Ich erzähle es ihm und auch dass ich ihr nach Amsterdam nachreisen will. Arni hört schweigend zu. Als ich fertig bin, seufzt er gequält. »Tut mir leid, aber da hast du ein Problem. Ich war nicht allein bei den Fahrradständern. Mindestens zwei weitere Leute waren dort. Ich habe mich nicht nach denen umgedreht, aber …«

»Du meinst …«

»Ja, meine ich«, sagt Arni ernst. »Ich glaube, die haben dasselbe gesehen wie ich.«