Kim Forester

Aus dem Englischen
von Ulrike Köbele

Die Clans von Cavallon

Menschen wohnen im gebirgigen Norden Cavallons und in der Freien Stadt. Dort ist der Rat von Cavallon angesiedelt, in dem alle fünf Clans repräsentiert sind. Menschen spezialisieren sich darauf, Werkzeuge und Schmuck herzustellen und damit zu handeln. In der Freien Stadt leben die Clans friedlich zusammen. Im Rest des Landes jedoch bestimmen teilweise noch immer uralte Feindschaften und Aberglaube das Leben der Menschen.

 

Einhörner haben die Schwarzhornwälder im Osten Cavallons zu ihrem Territorium erkoren. Sie leben nach dem Recht des Stärkeren und sind geschickte Jäger und Krieger, die sich Menschen als Sklaven halten. Der Legende nach soll in früheren Zeiten einmal ein außergewöhnliches Band zwischen Menschen und Einhörnern bestanden haben, doch seit dem Krieg von Cavallon schürt diese Vorstellung unter Einhörnern große Angst.

 

Den Pegasus wird für den Krieg von Cavallon die Schuld gegeben. Sie gelten als extrem selten und sind als rachsüchtige Kriegstreiber gefürchtet. Nach der Unterzeichnung des Friedenspakts zog sich die einzig verbliebene Pegasusherde ins Wolkengebirge im Nordosten des Landes zurück. Ihre Federn werden auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Pegasus sind äußerst misstrauisch allen anderen Clans gegenüber.

 

Kelpies leben in der Kalten See im Nordwesten und sind vielerorts gefürchtet. Denn sie ziehen Menschen unter Wasser und töten sie – so heißt es. Tatsächlich sehen Wasserpferde mit ihren spitzen Zähnen und kräftigen Fischschwänzen gruselig aus. Sie jagen jedoch nur Fische und ernähren sich von Algen. Nach dem Friedenspakt haben sich die Kelpies in die Unterwasserhöhlen rund um die Festungsinsel zurückgezogen.

 

Zentauren leben in Corlandia, im Süden Cavallons an der Warmen See. Sie gelten als die Gelehrten von Cavallon und die übrigen Clans erweisen ihnen höchsten Respekt. Ihre Hauptstadt ist Coropolis, dort horten die zentaurischen Chronisten alles Wissen des Landes. Sie können als einziger Clan lesen und schreiben, Menschen arbeiten für sie als analphabetische Schreiblehrlinge. Doch die Zentauren haben einen grauenhaften Pakt geschlossen und hüten ein Geheimnis, das ganz Cavallon erschüttern wird …

Kapitel 1

Die Würfel rollten klackernd über das Spielbrett. »Zehnerpasch!«, rief Sam Quicksilver triumphierend. Mit beiden Händen schob er seine Miniatursoldaten von dem Feld »Wilde Lande« auf das mit der Aufschrift »Wald« hinüber. Dabei stieß er die Einhornfiguren, die dort aufgereiht standen, um und einige plumpsten ins Gras.

»Das zahl ich dir heim, Menschenjunge«, knurrte Kaisa, senkte ihr Horn und fixierte ihn mit ihren schwarzen Augen. Behutsam stupste sie die umgefallenen Spielfiguren mit dem Maul auf einen ihrer Hufe und setzte sie zurück aufs Spielbrett.

»Pass lieber auf, Sam«, mahnte Bodor, ein Zentaur mit ungezähmter brauner Lockenmähne. »Einhörner können furchtbar blutrünstig sein.«

Sam lachte bloß. In den Wäldern im Süden hätte er sich vielleicht Sorgen machen müssen, wenn er einem Einhorn begegnete, aber hier in der Freien Stadt lebten alle Clans friedlich zusammen. Außerdem versuchte Bodor nur, sich bei Kaisa einzuschleimen. Er war schon als Fohlen in sie verknallt gewesen.

Bodors Schwester Liana schnappte sich die Würfel. »Du hast noch nicht gewonnen, Sam. Werd mal nicht übermütig.«

Darauf brach der Rest der Gruppe, zwei Menschenjungen und ein Kelpie, in Gelächter aus.

»Du hast aber schon mal ›Waffenstillstand‹ mit Sam gespielt, oder?«, fragte Sammy, einer der Jungen.

Liana lächelte nur und ließ die Würfel genau auf Sams Spielfiguren fallen. »Ups.«

Mit gespielter Verärgerung stellte Sam sie wieder auf, während Liana ihre Armee aus kleinen Zentauren gegen seine Stellung vorrücken ließ. Er liebte diese Nachmittage auf dem Marktplatz, wenn er mit seinen Freunden »Waffenstillstand« spielte, sie sich gegenseitig aufzogen, miteinander lachten und dabei zusahen, wie Bodor sich bei seinen Versuchen, Kaisa zu beeindrucken, regelmäßig zum Esel machte. An diesen Tagen war das Einzige, worum er sich Sorgen machen musste, die Windrichtung. Denn je nachdem, in welchem Winkel er zu Castiel saß, wehte ihm der durchdringende Geruch nach Salzwasser und Fisch um die Nase, der sich hartnäckig in der Mähne des Kelpiejungen hielt. Und das, obwohl die Freie Stadt meilenweit vom Ozean entfernt lag und Castiel im Süßwasser des Flusses Avalla lebte. Sam machten selbst die finsteren Blicke der beiden alten Menschen am Nachbartisch nichts aus, die sich mit ernsten Mienen über ihr Spielbrett beugten, als hätten sie noch nicht mitbekommen, dass der Krieg von Cavallon seit hundert Jahren vorbei war.

Die Turmuhr gab zwei dröhnende Glockenschläge von sich. Sam sprang auf. »Ich muss los. Tut mir leid, aber ich komme sonst zu spät.«

Liana verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte mit dem Vorderhuf auf. »Das sagst du nur, weil ich kurz davor bin, dich zu besiegen.«

Castiel stieß ein wieherndes Lachen aus, wobei seine abgefeilten Reißzähne aufblitzten. Im Gegensatz zu ihren Verwandten aus der Kalten See unternahmen die Kelpies der Freien Stadt alles, um ihre Mitbürger mit ihrem wilden Äußeren nicht in Angst und Schrecken zu versetzen.

Sam grinste. »Wir sehen uns heute Abend beim Jubiläumsfest. Treffen wir uns am Brunnen?« Er rannte los, während hinter ihm die Abschiedsrufe seiner Freunde durch die Straße hallten.

In der Freien Stadt liefen die Vorbereitungen für die Festparade am Abend auf Hochtouren. So unterschiedlich die Behausungen ihrer Bewohner auch waren – Holzhäuser für die Menschen und Zentauren, offene Unterstände für die Angehörigen der anderen Pferdeclans –, ging doch von allen die gleiche gespannte Vorfreude aus. Die breiten Hauptstraßen mit ihrem huffreundlichen Grasbewuchs waren so überlaufen, dass Sam in eine kopfsteingepflasterte Seitengasse auswich. Dort musste er sich in einen Hauseingang zwängen, um einen Verkäufer mit seinem Blumenwagen vorbeizulassen. Die Gasse führte auf einen weiteren Platz hinaus, den er im Laufschritt überquerte. Dabei musste er sich um eine Gruppe Menschen herumschlängeln, die gerade dabei waren, mit allerlei Werkzeug eine Tanzfläche zu errichten. Am anderen Ende des Platzes, vor dem himmelhohen Rathausturm, war bereits eine Bühne aufgebaut. Heute Abend würden sich dort die Chronisten der Stadt, eine Gruppe gelehrter Zentauren, versammeln und das Friedensabkommen verlesen. Es war genau an dieser Stelle vor hundert Jahren unterzeichnet worden und hatte dem Krieg von Cavallon ein Ende gesetzt. Die meisten Menschen, Einhörner und Kelpies in der Stadt konnten nicht lesen, sodass die bescheidene Menge, die sich Jahr für Jahr einfand, um der Verkündung beizuwohnen, immer in andächtiger Stille lauschte. Heute, zum hundertjährigen Jubiläum des Friedenspakts, würde dort jedoch garantiert die ganze Stadt zusammenkommen.

Als Sam endlich in der Apotheke eintraf, war der Verkaufsraum leer. Nur Nerissa, eine alte Zentaurin, stand hinter dem Tresen und las. Sie musterte ihn über den Rand ihrer Lesebrille hinweg, zog dann demonstrativ eine silberne Uhr aus ihrer Westentasche und warf einen Blick darauf.

»Du kommst schon wieder zu spät, Sam!«, tadelte sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme. »Hast du denn keine Lust, lesen und schreiben zu lernen?«

»Doch!«, keuchte Sam. »Tut mir leid.« Er zog den Kopf ein und versuchte, so zerknirscht wie möglich auszusehen. Er mochte den Unterricht bei Nerissa wirklich. Ihr Geschäft war von oben bis unten mit Tiegeln und Flaschen vollgestopft, auf deren Etiketten fein säuberlich vermerkt war, was sich darin befand und welche Bewohner von Cavallon man damit wie behandeln konnte. Doch was Sam schon immer am meisten fasziniert hatte, waren die Bücher, die in jeder freien Ritze dazwischenstanden.

Sam war direkt gegenüber groß geworden. Mit sechs hatte er schließlich all seinen Mut zusammengenommen und war im Laden geblieben, nachdem seine Mutter bei Nerissa eine Salbe für ihre wunden Finger gekauft hatte. Sobald der Laden leer war, war er auf eine Kiste gestiegen, um ein Buch herauszuziehen, dessen glänzend grüner Einband ihm besonders gut gefiel. Er hatte es gerade zu fassen bekommen, als hinter ihm Hufgeklapper ertönte und ihn jemand in die Luft hob. Vor Schreck hatte er das Buch fallen lassen. Nerissa, die sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters als erstaunlich stark erwies, hielt ihn weiter am Kragen gepackt, während sie mit der anderen Hand das Buch auffing.

»Ich wollte es mir nur ansehen!«, hatte er verängstigt gequiekt.

Nerissa hatte ihn auf dem wollenen Gewand abgesetzt, das ihren breiten Pferderücken bedeckte. Dann hatte sie das Buch aufgeschlagen und angefangen, daraus vorzulesen.

Er war so lange geblieben und hatte ihr zugehört, dass er schon fürchtete, seine Eltern würden wütend sein. Trotzdem hatte er nicht gehen wollen. In der Geschichte war es um Coropolis gegangen, die Hauptstadt der Zentauren, ein Ort voller Magie, in dem es vor tapferen Helden nur so wimmelte. Irgendwann hatte er jedoch so dringend auf die Toilette gemusst, dass er von ihrem Rücken gerutscht war und sich schüchtern bei ihr bedankt hatte.

»Wir machen morgen beim zweiten Glockenschlag weiter«, hatte sie brüsk erwidert.

Und das hatten sie tatsächlich. Sieben Jahre lang nun schon, fast jeden Tag. Irgendwann hatte Nerissa Sam beigebracht, selbst zu lesen: Geschichten aus den Schwarzhornwäldern, wo unerbittliche Einhörner Menschen als Sklaven hielten, Legenden aus dem Wolkengebirge, wohin sich die Pegasus nach dem Krieg zurückgezogen hatten, und die Chroniken der fleischfressenden Kelpies, die in der Kalten See rund um die weit entfernte Festungsinsel lebten. Obwohl Sam die Freie Stadt noch nie verlassen hatte, träumte er bis heute von all den spektakulären Orten, die er durch Nerissas Bücher kennengelernt hatte. Vielleicht würde er sie eines Tages mal in echt sehen.

Diesmal griff Nerissa unter ihren Tresen und reichte ihm einen medizinischen Almanach.

»Nerissa«, bettelte er. »Heute ist der hundertste Jahrestag des Friedenspakts! Können wir nicht eine von den Sagas lesen?«

»Ab und zu mal etwas Nützliches hilft dir, mit allen vier Hufen – na ja, in deinem Fall wohl eher beiden Füßen – auf dem Boden zu bleiben«, erwiderte Nerissa trocken. »Wenn dir das nicht gefällt, solltest du beim nächsten Mal lieber wieder pünktlich sein.« Sie schlug mit ihrem langen grauen Schweif, doch an ihrem Mundwinkel zupfte ein Lächeln.

Seufzend kletterte Sam auf den Hocker, der ihr gegenüberstand. »Ge-bro-che-ne Knochen richten«, las er vor und sah dann mit Leidensmiene zu ihr hoch. »Wirklich?«

»Weiter«, sagte sie und klopfte mit einem Huf auf den Boden.

Er fuhr die Wörter mit dem Finger nach. »Dafür be-nö-ti-gt man eine Sch…scheine?«

»Schiene«, korrigierte Nerissa.

»Ach so. Schiene. Dafür nehme man zwei gerade Äste und lege sie von beiden Seiten an den ge-bro-che-nen Köp-per-teil an …«

Nerissa schmunzelte. »Körperteil. Mit ›r‹.«

Sam holte tief Luft. »Dann schlinge man ein Tuch um die Äste und binde einen dünnen Zweig an die Enden der Schlinge, um sie fester zu-sam… zu-sam-men…«

»Zusammenzuziehen. Gut gemacht.« Nerissa schüttelte den Kopf. »Weißt du, wenn du so viel üben würdest, wie du ›Waffenstillstand‹ mit deinen Freunden spielst, könntest du irgendwann richtig gut werden.«

Das sagte sie immer und dabei hatte sie jedes Mal diesen stolzen Blick in den Augen. Allerdings änderte das auch nichts daran, dass er sich durch zwei weitere Seiten mit Anweisungen zum Richten gebrochener Knochen bei Menschen und den verschiedenen Pferdearten quälen musste, bevor sie endlich zufrieden war.

Zum Abschied tippte sie mit mahnendem Blick auf ihre Taschenuhr, um ihn daran zu erinnern, morgen gefälligst pünktlich zu sein. Sam überquerte die Straße zum Juweliergeschäft seiner Eltern. Das Innere des Ladens war spärlich eingerichtet und immer makellos sauber. So kamen die filigranen Kunstwerke seiner Eltern noch besser zur Geltung: juwelenbesetzter Hornschmuck aus einem hauchdünnen Goldgewebe für die Einhörner unter ihren Kunden, Hufreife aus gehämmertem Kupfer für die Zentauren und glitzernde Mähnenspangen für die Kelpies. Sogar eine Auswahl von Taschenuhren ähnlich der, die Nerissa besaß, gab es hier.

Die Werkstatt an der Rückseite des Gebäudes sah dagegen aus, als würde sie jeden Moment aus allen Nähten und durch die Seidenvorhänge platzen, die den Raum vor den Blicken der Kundschaft verbargen. An den Wänden stapelten sich Kisten mit Rohmaterialien und die beiden Arbeitstische waren mit Schmuckstücken in den verschiedensten Stadien der Fertigung übersät. Sam schob sich zwischen den Kisten hindurch, bis er seinen Vater erreicht hatte, der ihm einen Arm um die Schulter legte und ihm durchs Haar strubbelte.

»Hallo, Junge«, sagte sein Vater. Er war nur ein paar Zentimeter größer als Sam, doch durch seine Fröhlichkeit schien er immer sehr viel mehr Raum einzunehmen als alle anderen. »Komm, guck dir mal an, was wir für das Jubiläum heute Abend gemacht haben.«

Er zog Sam zu dem anderen Arbeitstisch, wo seine Mutter sich gerade über eine glitzernde Brosche beugte. Sam wusste, dass er sie in solchen Momenten nicht stören durfte: Ein kleiner Fehler und sowohl die filigrane Fassung der Brosche als auch das Blattgold, mit dem sie sie überzog, wären zerstört. Ihre braunen Locken hatten sich aus der Schleife gelöst, mit der sie sie zurückgebunden hatte. Sam hatte ihr störrisches Haar und ihre dunklen Augen geerbt, die kupferfarbene Haut hatte er von seinem Vater.

Schließlich war sie fertig und schob sich die Vergrößerungsbrille ins Haar. Lächelnd begrüßte sie Sam. »Und, freust du dich schon auf das Fest, Schätzchen?«

Sam schlang die Arme um sie und atmete den Geruch von Silberpolitur ein, der für ihn immer ein bisschen nach zu Hause duftete, nach Sicherheit und Geborgenheit. »Ja, Mam. Wir treffen uns nachher am Brunnen.«

»Wir werden jede Menge von diesen Friedensbroschen verkaufen«, meinte Sams Vater. »Mit dieser Gravur hast du dich wirklich selbst übertroffen, Liebes.« Er hielt Sam die Brosche hin. Die Farben der Emaillierung unter der gravierten Goldschicht funkelten im Licht.

»Ihr habt sie zweimal gebrannt!«, rief Sam, während er die schillernden Grün- und Blautöne betrachtete.

»In der Tat.« Sein Vater wechselte einen stolzen Blick mit seiner Mutter. Sam half im Geschäft aus, seit er laufen konnte. Er war ziemlich gut darin, auch wenn er noch nicht an den aufwendigen Stücken arbeiten durfte. Er wusste, wie sehr sich seine Eltern freuten, dass ihm die Arbeit Spaß machte. Seine ältere Schwester Rianne, die nach der Hochzeit zu ihrem Mann gezogen war, hatte für Schmuck und Juwelen nie viel übrig gehabt. Sie lebte im Norden von Cavallon auf einem Bauernhof und hütete lieber Schafe.

Die Emaillierung allein machte dieses Schmuckstück schon zu etwas Besonderem. Doch es waren die filigranen Details, die seine Mutter in die Goldschicht darüber eingearbeitet hatte, die ganz sicher ein hübsches Sümmchen erzielen würden. Ein Muster aus Blumen umrankte die Symbole der vier Clans, die in der Freien Stadt zu Hause waren: ein Horn für die Einhörner, eine Schriftrolle für die Zentauren, ein Fischschwanz für die Kelpies und eine Hand für die Menschen. Der einzige Clan von Cavallon, der fehlte, waren die Pegasus – allerdings hatte seit dem Ende des Krieges niemand mehr einen Pegasus zu Gesicht bekommen.

»Dann lasst uns mal einpacken«, sagte Sams Mutter.

Sam sah aus dem Fenster. Die Festparade hatte bestimmt schon begonnen. Seine Mutter schien seinen Ausdruck zu bemerken, denn sie strich ihm über die Wange und ergänzte: »Dein Vater und ich kümmern uns darum. Geh und triff dich mit deinen Freunden. Aber vorher …« Sie nahm ihm die Brosche aus der Hand und befestigte sie an seiner Tunika.

»Och, Mam!«, protestierte er. Er konnte sich bestens vorstellen, wie sich Sammy und Castiel über ihn lustig machen würden, wenn sie ihn mit so einem glitzernden Schmuckstück sahen.

Sie strich ihm erneut über die Wange. »Keine Widerrede. Du bist unsere Werbetafel.« Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und sein Ärger verflog augenblicklich. »Viel Spaß. Wir kommen gleich nach.«

Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lief los.

Draußen auf den Straßen hatten inzwischen die Fressbuden geöffnet. Sam kaufte sich eine Tüte gebackene Kartoffelschalen und setzte seinen Weg zum Marktplatz genüsslich mampfend fort. Er war wie immer spät dran, aber er blieb trotzdem kurz stehen, um einer Gruppe junger Einhörner mit bunten Schleifen in den Mähnen zuzusehen, die auf der Bühne vor dem Rathaus eine komplizierte Tanznummer aufführten. Die Zuschauer waren bester Laune und feuerten die Kleinen lautstark an, wenn sie über ihre eigenen Hufen stolperten.

Plötzlich fiel ein Schatten auf ihn. Verwirrt blickte Sam hoch. Die Sonne ging doch wohl noch nicht unter, oder?

Etwas Dunkles zog über ihn hinweg.

Ein Zentaurfohlen schrie.

Sam starrte zum Himmel hinauf. Seine Kartoffelschalen fielen unbemerkt ins Gras, während riesige pferdeartige Kreaturen mit breiten, ledrigen Flügeln, langen Hälsen und schuppigen Köpfen über der Menge kreisten. Die Musik brach ab und das Gelächter und die Anfeuerungsrufe gingen in verwirrtes Geschrei über.

Eine der Kreaturen riss das Maul auf und stieß ein schrilles Kreischen aus, das über den gesamten Platz hallte. Sam hielt sich die Ohren zu, doch das entsetzliche Geräusch ging ihm buchstäblich durch Mark und Bein. Er konnte es bis in die Zehen spüren.

Unter seinen Füßen bebte es, als die größte der Kreaturen mit den Vorderhufen voran in den Rathausturm krachte. Wie gelähmt sah er zu, wie das Gemäuer unter der Wucht des Aufpralls zerbrach und der Turm einstürzte. Zurück blieb ein klaffendes Loch am Horizont.

Die Freie Stadt wurde angegriffen.

Kapitel 2

Die Vormittagssonne tauchte Coropolis, die Hauptstadt der Zentauren, in sanftes Licht. Die Parks der Hochschule für Philosophie wimmelten von Besuchern und das Raunen von Gesprächen, in das sich vereinzeltes Gläserklirren mischte, erfüllte die Luft. Vor einem der Blumenbeete erklärte ein Gelehrter einer Gruppe Studenten, warum die Mohnblumen von Corlandia denen im restlichen Cavallon an Schönheit und Widerstandsfähigkeit überlegen waren. Er unterbrach seinen Vortrag nur, um einen menschlichen Diener herbeizuwinken und sich ein weiteres Glas Apfelsekt einschenken zu lassen.

Lysander Diomedes wünschte, der Gelehrte würde endlich zur Seite gehen. Er wollte sehen, wie das Sonnenlicht auf die Blüten drüben bei den Marmorsäulen des Zierpavillons am Ende des Beets fiel. Es juckte ihm in den Fingern; am liebsten hätte er seine Zeichenstifte geholt und losgelegt. Das Motiv war nicht ganz einfach, aber er war sich ziemlich sicher, dass es ihm gelingen würde, das Spiel aus Licht und Schatten einzufangen. Vor seinem inneren Auge konnte er das fertige Bild fast schon sehen, während er näher heranging, um das Ganze aus einem besseren Winkel zu betrachten …

»Hey«, brummte sein bester Freund, Alexos Archimedos, als Lysander ihm auf den Huf trat.

Schlagartig wurde Lysander in die Gegenwart zurückgeholt. »Tut mir leid!«, flüsterte er. Die ständigen Ermahnungen seines Vaters gingen ihm durch den Kopf. »Musst du immer mit dem Kopf in den Wolken stecken, Lysander? Warum kannst du dich nicht einmal konzentrieren?« Er sollte dankbar sein, dass er hier war – und das war er auch. Jeder junge Zentaur würde seinen Schweif dafür geben, die renommierteste Hochschule von ganz Corlandia besuchen zu dürfen.

Lysander und Alexos waren nicht laut gewesen, doch der Gelehrte durchbohrte sie trotzdem mit einem finsteren Blick. »Ich habe noch einige bedeutende Würdenträger zu begrüßen«, schnaubte er pikiert. »Bitte entschuldigt mich.«

Darauf löste sich die Studentengruppe ebenfalls auf. »Nicht zu fassen, dass der ein Diomedes ist«, raunte einer von ihnen, während er an Lysander vorbeiging. Ein paar andere musterten ihn verächtlich, doch die meisten waren froh, nun auf eigene Faust über den gepflegten Rasen zu streifen und sich unter die namhaften Gäste zu mischen. Sie hatten sich anlässlich des Tags des Friedensabkommens hier versammelt. An diesem Tag wurden alljährlich die Studenten geehrt, die sich durch besondere Leistungen in den Fächern Mathematik, Schreiben, Geschichte, Poetik und Philosophie hervorgetan hatten. König Orsino persönlich würde unter ihnen den allerbesten auswählen, dem daraufhin die größte nur denkbare Ehre zuteilwerden würde: eine Ausbildung zum Chronisten. Die Chronisten waren dafür zuständig, sämtliche Ereignisse in ganz Cavallon festzuhalten und zu interpretieren.

Neben Lysander strich Alexos sein ohnehin schon tadellos sitzendes blondes Kopf- und Schweifhaar glatt und stampfte nervös mit den Hufen.

Lysander warf einen Blick auf seinen eigenen Schweif – ein zotteliges schwarzes Gewirr, genau wie die Haare auf seinem Kopf – und wünschte sich, er hätte es bleiben lassen. Seine grüne Robe war bereits voller Erdbeersaftflecken und sein silberweißes Fell zerzaust. Er stupste seinen Freund an. »Mach dir keine Sorgen. Alle wissen, dass du zum Chronisten gewählt wirst. Du bist so schlau, ich wette, dass dein Hirn sogar ein eigenes Gehirn hat!« Er hielt inne, weil er sich unwillkürlich ausmalte, wie er ein derart abstruses Gebilde wohl zeichnen würde. Erst die Ankunft seiner Klassenkameradin Elanoth riss ihn aus seinen Tagträumen. Sie war in Begleitung einer anderen Zentaurin mit glänzenden braunen Locken, deren Namen sich Lysander einfach nicht merken konnte.

Elanoth lachte wehmütig. »Er hat recht, Alexos. Ich glaube nicht, dass sich irgendein anderer von uns große Hoffnungen machen kann.«

Ihre Freundin nickte. »Ich habe bereits entschieden, dass ich als Nächstes Astronomie studieren werde.«

»Und ich Philosophie«, verkündete Elanoth. »Was ist mit dir, Lysander?« Auch wenn ihr Tonfall neutral war, hätte sie genauso gut fragen können: Welche Schule würde dich schon aufnehmen? Jeder wusste, dass Lysander das letzte Jahr nur mit Alexos’ Hilfe überstanden hatte.

Lysander rang sich ein Lächeln ab. »Ach, ich will mich noch nicht auf eine Richtung festlegen. Zu viel zu lernen.« Er wusste, dass sein Vater ihm nie erlauben würde, sein Studium abzubrechen. Aber Sternenkunde? Viel lieber würde er den ganzen Tag zeichnen.

Zu seiner Erleichterung kamen Alexos’ Eltern zu ihnen herüber und Elanoth und ihre Freundin zogen weiter. Alexos’ Mutter strahlte übers ganze Gesicht und sein Vater konnte gar nicht aufhören, ihm auf die Schulter zu klopfen. Offensichtlich waren sie genauso überzeugt wie alle anderen, dass Alexos zum Chronisten berufen werden würde.

»Und wie geht es dir, mein Lieber?«, fragte Alexos’ Mutter Lysander. »Ist dein Vater auch hier?«

»Er … musste was erledigen. Ratsangelegenheiten«, log Lysander. »Deswegen konnte er nicht kommen.« Vater hatte zwar versprochen, den Feierlichkeiten beizuwohnen, doch Lysander hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, sich nach ihm umzusehen. Na gut … drei, vier Mal vielleicht schon. Aber er rechnete nicht damit, dass er sich wirklich blicken lassen würde. Vater kam nie zu Schulveranstaltungen.

Wozu auch, dachte Lysander missmutig. Ich habe schließlich noch nie einen Preis gewonnen, und das wird sich heute garantiert nicht ändern. Hätte es einen Preis fürs Zeichnen gegeben, hätte er den vielleicht tatsächlich gewinnen können. Aber die Hochschule für Philosophie maß dieser Kunst keinen hohen Wert bei. Und Lysanders Vater auch nicht.

»Na ja, er hat bestimmt viel um die Ohren«, erwiderte Alexos’ Mutter. Lysander konnte den mitleidigen Tonfall in ihrer Stimme hören, wodurch er sich nur noch mieser fühlte.

Er versuchte, sich seinen Neid nicht anmerken zu lassen. Alexos’ Mutter leitete immerhin die große Bibliothek im Stadtzentrum und trotzdem schaffte sie es sehr wohl, sich ihrem Sohn zuliebe freizunehmen. Lysanders Mutter war verschwunden, als er noch ein kleines Fohlen war. Es stimmte natürlich, dass sein Vater ein vielbeschäftigter Mann war, schließlich war er nicht nur Oberster Chronist, sondern auch Berater des Königs. Dennoch war sich Lysander sicher, dass er heute hier wäre, wenn sein Sohn nicht so eine Enttäuschung für ihn wäre.

Trompetenklänge schallten durch die marmornen Säulengänge, das Zeichen, dass sich alle im Amphitheater versammeln sollten. Mitten im Park der Hochschule für Philosophie waren mehrere Reihen halbkreisförmiger Zuschauerränge angelegt worden, die auf eine Bühne hinabsahen. Dem Anlass entsprechend, war alles aufwendig mit Seidengirlanden und Blumen dekoriert worden. Lysander folgte seinen Klassenkameraden zu ihren Plätzen in den vorderen Reihen, während die Eltern sich weiter hinten in den höher gelegenen Rängen versammelten. Dann begann die Preisverleihungszeremonie. Lysander schaffte es, aufmerksam zuzuhören, während der Rektor, ein grauhaariger Zentaur mit Hakennase, seine Einführungsrede hielt und anschließend den namhaften Schriftsteller willkommen hieß, der den Preis in der Kategorie Schreiben verleihen würde. Doch dann flog ein Schwarm Stare über das Amphitheater und Lysander verlor sich im Stakkato ihrer Flügelschläge. Seine Finger sehnten sich nach einem Stift. Während er noch über das Problem nachdachte, wie man wohl die verschiedenen Bewegungen der unzähligen Vögel auf einem einzigen Bild darstellen konnte, wurde Alexos’ Name für den Philosophiepreis aufgerufen. Lysander unterbrach seine Überlegungen, um lautstark zu applaudieren und mit den Hufen zu stampfen. Mit roten Wangen nahm Alexos seinen Preis – ein Buch über zentaurische Kultur – entgegen und blickte strahlend zu seinen Eltern hoch. Instinktiv drehte sich Lysander um und suchte die oberen Ränge ein weiteres Mal nach seinem Vater ab. Natürlich war er nirgends zu sehen.

Die restlichen Preise zogen wie im Nebel an Lysander vorbei, eine monotone Ansprache nach der anderen. Irgendwann nahm er eine leichte Unruhe in den obersten Rängen des Amphitheaters wahr. Zentauren traten beiseite, um jemanden durchzulassen. Der Rektor wirkte überrascht, als eine Zentaurin in einer blauen Samtweste die grasbewachsenen Ränge hinabstieg und auf ihn zutrat. Sie überreichte ihm eine Schriftrolle, die mit einer goldenen Schleife zugebunden war, und raunte ihm etwas ins Ohr, während er las, was darin geschrieben stand.

»Wer ist das?«, flüsterte Alexos.

»Sie arbeitet mit Vater zusammen«, antwortete Lysander. Er hatte sie bei einigen der Treffen gesehen, die sein Vater manchmal spätabends zu Hause abhielt. »Sie ist eine Chronistin.«

Gespannte Stille hing über dem Amphitheater. Die Chronistin beugte die Vorderbeine zu einer angedeuteten Verneigung und zog sich dann ans hintere Ende der Bühne zurück.

»Ich fühle mich geehrt, Euch eine Nachricht des Königs überbringen zu dürfen«, verkündete der Rektor mit lauter Stimme. »Zu Seinem großen Bedauern muss Seine Majestät die Teilnahme an den Feierlichkeiten zu diesem besonderen Anlass, dem hundertjährigen Jubiläum des Friedensabkommens, absagen. Leider ist Er immer noch nicht ganz genesen und braucht weiterhin Ruhe.« Mitfühlendes Gemurmel stieg aus der Zuschauermenge auf. Lysander verspürte einen Anflug von Enttäuschung – er hatte König Orsino erst einige wenige Male gesehen. »Er sendet jedoch allen heute ausgezeichneten Studenten seine Glückwünsche. Möget Ihr Eure Pflicht gegenüber Corlandia stets im Herzen tragen.« Der Rektor legte eine Pause ein und hielt sich die Schriftrolle vors Gesicht, als wolle er sichergehen, dass er sich auch wirklich nicht verlesen hatte.

Schließlich räusperte er sich. »Seine Majestät hat die Zeugnisse aller Studenten geprüft und einen unter Euch ausgewählt, der zum Chronisten ausgebildet wird. Ich muss niemanden der hier Anwesenden daran erinnern, was für eine große Ehre dies bedeutet und dass der oder die Auserwählte damit zu den namhaftesten Gelehrten des Landes zählen wird.«

Die Zuschauer lehnten sich in gespannter Erwartung vor.

Lysander spürte ein aufgeregtes Kribbeln im ganzen Körper: Das hier war Alexos’ großer Moment. Als Gewinner würde er nicht nur zum Chronisten ausgebildet, sondern wahrscheinlich irgendwann auch eine wichtige Rolle im Quorum spielen, dem politischen Zentrum von Coropolis. Viele Chronisten wurden früher oder später Berater des Königs, so wie Lysanders Vater.

Neben ihm vibrierte Alexos förmlich vor Anspannung. Lysander versetzte ihm einen leichten Stoß mit der Flanke und grinste ihn aufmunternd an.

Stirnrunzelnd überflog der Rektor den Text auf der Schriftrolle ein letztes Mal. »Neuer Chronist«, verkündete er, »wird Lysander Diomedes.«

Lysander hatte sich bereits halb zu Alexos umgedreht und hob gerade die Hand, um ihm gratulierend die Schulter zu drücken, als er begriff, was der Rektor gesagt hatte. Aus den Reihen der Würdenträger kam Applaus, doch die Studenten und Gelehrten waren vor Schock wie gelähmt. Genau wie Lysander.

Und wie Alexos, der sein Buch umklammerte und Lysander wortlos anstarrte.

»Nein.« In der Stille um ihn herum klang Lysanders Stimme überraschend laut. »Das muss ein Fehler sein.«

Einige Studenten murmelten zustimmend. Mehrere Gelehrte eilten auf die Bühne und redeten flüsternd auf den Rektor ein, doch der schickte sie mit einer abwehrenden Handbewegung weg. Die Chronistin, die die Nachricht überbracht hatte, stand schweigend und mit verschränkten Armen da.

Lysander hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Alexos schloss die Augen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug er sie wieder auf und sagte: »Glückwunsch.« Er schenkte Lysander ein sichtlich gezwungenes Lächeln. »Du solltest wohl besser da runtergehen.«

»Ich … ich bin nicht … Alexos, das hättest du sein …«

»Geh schon.« Alexos schob ihn in Richtung Bühne.

Vereinzelter Applaus begleitete Lysander, der mit zittrigen Hufen nach vorne stolperte. Er traute sich nicht, ins Publikum zu schauen. Doch während der Rektor ihm die strenge Ausbildung schilderte, die er als künftiger Chronist durchlaufen würde, konnte er sich einen kurzen Blick auf die Ränge nicht verkneifen. Die meisten Studenten wirkten verärgert, die meisten Gelehrten vollkommen perplex.

Nur einer in der Menge lächelte: ein großer Zentaur mit kurzem schwarzem Bart und glänzendem silbernem Fell. Cassio Diomedes, Lysanders Vater. Er stand am Eingang des Amphitheaters, als sei er gerade erst eingetroffen. Lysanders Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sein Vater ihm anerkennend zunickte.